Im mexikanischen Exil, wohin die Schriftstellerin aus Mainz wegen ihrer jüdischen Herkunft vertrieben wurde, schrieb Anna Seghers im Jahr 1944 die Erzählung DER AUSFLUG DER TOTEN MÄDCHEN, nach meinem Empfinden eines ihrer zentralen Werke, auf gleicher künstlerischer Höhe wie ihr berühmter Roman "Das siebte Kreuz", der sie weltbekannt gemacht hat.
Die von den Nazis aus Europa vertriebene und durch lange Krankheit geschwächte „Netty“ (das ist der eigentliche Vorname von Anna Seghers) wird während eines Spazierganges in einem mexikanischen Dorf, das der Exilantin Zuflucht gewährt hat, auf ein von einer weißen Mauer umgebenes Haus aufmerksam, wo sie in einer Fata Morgana einen Schulausflug von vor dem Ersten Weltkrieg wieder erlebt. Denn vor dem kleinen Lokal, wo sie Rast macht, entdeckt sie im Garten zwei Mädchen auf einer Wippschaukel, die in ihr die Erinnerung an diesen Ausflug wachrufen, der von ihrer Vaterstadt Mainz in den benachbarten Rheingau führte. Sie sieht zwei ihrer liebsten Schulfreundinnen, Marianne und Leni, vor sich, die in der Gartenwirtschaft, wo sie sich zu einer Kaffeepause eingefunden haben, bevor der Dampfer sie nach Mainz zurückbringen soll, sich voller Lebensfreude auf einer Wippschaukel vergnügen.
Im Zentrum ihrer Novelle steht die schier unverbrüchliche Freundschaft zwischen Leni und Marianne. Leni vermittelt zwischen Marianne, dem hübschesten Mädchen der Klasse, und Otto Fresenius, ihrem idealistischen Freund aus der Unterprima, der als Kriegsfreiwilliger bereits 1914 in Frankreich fällt. Marianne trauert lange, heiratet später aber Gustav Liebig, der SS-Mann ist und den Mann ihrer Freundin Leni denunziert, weil der sich geweigert hat, in die SS einzutreten.
Er wird in einer illegalen Druckerei der KPD bei der Herstellung verbotener Flugblätter verhaftet. Leni ebenfalls. Sie verhungert im zweiten Kriegswinter in einem Frauen-KZ.
Marianne, inzwischen selber überzeugte Anhängerin der Nazi-Partei, weigert sich, Lenis Kind retten zu helfen. Dadurch entgeht es dem Bombardement auf Mainz, in dem Marianne und einige ihrer Schulkameradinnen umkommen. Das Kind wird durch die Nazi-Behörden in ein abgelegenes Erziehungsheim eingewiesen. Dort überlebt es.
Die Geschichte weiterer Figuren:
Fräulein Mees, eine ältliche, leicht, aber entengleich hinkende Lehrerin, trägt immer ein großes Kreuz auf ihrer Brust, weswegen die Mädchen über sie lächeln, aber sie bleibt ihrem Glauben treu und sammelt trotz aller Schikanen und Bedrohungen der Nazis für die Bekennende Kirche.
Fräulein Sichel, eine jüdische Lehrerin, wird im Dritten Reich von einer sie ehemals bewundernden Schülerin von einer Bank verjagt, als "Judensau" beschimpft und schließlich nach Polen deportiert, wo eine ihrer Schülerinnen (Sophie Meier) in ihren Armen stirbt.
Lore bringt sich mit Schlafpulver um, weil ein abgewiesener nazistischer Liebhaber sie wegen Rassenschande mit dem KZ bedroht.
Ida, deren Bräutigam vor Verdun fiel, wird Krankenschwester und Diakonissin. Sie ist aus ideologischen Gründen gegen "falsches" Mitleid mit Kriegsgefangenen, kommt aber schicksalhaft beim gleichen Bombardement wie diese ums Leben.
Die immer hilfsbereite Gerda wird Lehrerin und heiratet den Lehrer Neeb, der aus Angst um seine Stelle gegen Gerdas Willen zum Tag der Nationalen Arbeit, dem 1. Mai, die Hakenkreuzfahne in sein Fenster hängt. Gerda, die mit den Nazis nichts zu tun haben möchte, begeht in ihrer Verzweiflung Selbstmord.
Lotte hört nach bei Anlegen des Ausflugsschiffes die Glocken des Doms zur Abendandacht läuten und beeilt sich, weil sie diese gerne mitfeiern möchte. Später tritt sie in das Frauenkloster Nonnenwerth auf einer Rheininsel bei Bonn ein. Von dort flieht sie mit ihren Mitschwestern vor den Nazis ins benachbarte Holland, doch auch dort wird sie vom Schicksal schließlich eingeholt, nachdem deutsche Truppen im Mai 1940 das kleine Land überfallen und besetzt haben.
Netty überlebt den Krieg als einzige ihrer Klasse. Alle anderen kommen in den Wirren des Krieges und durch die Repressalien der Nazis um. Nach der Rückkehr vom Ausflug gehen die Mädchen durch das noch unversehrte Mainz nach Hause. Gerade als Netty ihre Mutter auf dem Balkon ihres Hauses entdeckt, von wo sie ihr entgegen winkt, endet ihre visionäre Erinnerung. Sie vergißt aber nicht, daß Fräulein Sichel sie vor dem Heimgang bittet, einen Aufsatz über diesen Schulausflug zu schreiben.
Dann ist sie wieder in Mexiko und findet sich auf der Bank vor der Pulqueria des Dorfes wieder.
Ein zentraler Satz der Erzählung scheint mir zu sein: "daß die Schicksale der Knaben und Mädchen zusammen das Schicksal der Heimat, des Volkes ausmachen, daß darum über kurz oder lang das Leid oder Glück ihrer Klassenfreundinnen sie selbst beschatten oder besonnen könnte."
Hätte Anna Seghers nur diese eine Novelle geschrieben, so wäre ihr ein Platz unter den Autoren des 20. Jahrhunderts sicher.
Nemorino