Die Novelle "Tristan" von Thomas Mann entstand zu Beginn des Jahres 1901. Bekanntlich war der Schriftsteller dem Komponisten Richard Wagner auf vielfache Weise sehr zugetan. Er verstand ihn wie kaum ein anderer deutscher Intellektueller. Diese innere Bindung ist eine Voraussetzung für diese Novelle, die ich ohne Umschweife in Inhalt und Ausführung zu seinen besten zähle. Schon mit den ersten Worten sind wir mitten im Ort des Geschehens wie die sonderbaren Gäste selbst: Hier ist "Einfried", das Sanatorium!
Die weibliche Hauptgestalt, Frau Gabriele Klöterjahn, geborene Eckhof, die eben eingetroffen ist in Begleitung ihres rüstigen, lauten und gut gelaunten Gatten, den es nach "Bottersemmeln" verlangt und des gemeinsamen drallen Kindes, das sich ins Leben strampelt, wird es nicht wieder lebend verlassen. Sie trifft auf einen Gast des Hauses, Detlev Spinell. Ein Sonderling, der sich angeblich als Schriftsteller betätigt und ewig braucht, um einen Satz zu Papier zu bringen. Hier porträtiert sich der ähnlich langsam schreibende Thomas Mann selbst; auf sehr ironische Weise versteht sich. Die ganze Novelle ist bis zur völligen Respektlosigkeit ironisch zugespitzt. Die Gestalten sind meist überzeichnet. Vom Typ her tauchen einige von ihnen Jahre später im großen Romen "Der Zauberberg" wieder auf. Mit Spinell und Frau Klöterjahn begegnen sich zwei Außenseiter an einem stillen Nachmittag im Salon des Sanatoriums, während die anderen mit Schlitten ausgefahren sind. Bei ihnen sitzt nur die fast gänzlich taube Rätin Spatz, die nichts mitbekommt. Man könte in ihr eine Karikatur der wachsamen Brangäne vermuten. Auf dem Flügel liegen die Noten von Wagners "Tristan". Sie kommen sich sehr nahe und entdecken ihr eigentliches Ich wieder, das verschütt gegangen war.