Gustav Mahler: „Das Lied von der Erde“

  • Die Geschichte der Entstehung dieser Komposition ist von Bedeutung. Wenn man um sie weiß, wird eher verständlich, warum Mahler ein Werk schuf, das in kompositorisch singulärer musikalischer Gestalt auf erschütternde Weise die Erfahrung von existenzieller Verlassenheit, Einsamkeit und Abschied zum Ausdruck bringt.

    Die Arbeit an diesem Werk begann im Juni 1908, und schon am 1. September lag die Skizze zum letzten Satz vor. Die Partitur-Reinschrift erfolgte im September 1909, die Veröffentlichung im April 1912 unter dem Titel „Das Lied von der Erde. Eine Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton- ) Stimme und großes Orchester“ hat Mahler nicht mehr erlebt. Ganz geklärt ist die Entstehungsgeschichte allerdings nicht.

    Das Jahr 1907 war ein Schicksalsjahr in Mahlers Leben. Drei Ereignisse erschütterten ihn bis ins Innerste. Am 12. Juli starb seine geliebte Tochter Maria Anna, die er „Puzzi“ nannte, im Alter von nur fünf Jahren an Scharlach-Diphtherie, wenige Tage danach erhielt er die Diagnose eines angeborenen doppelseitigen Herzklappenfehlers, und am 5. Oktober trat er von seiner Stellung als Hofoperndirektor zurück und fasste das in seinem Abschiedsbrief vom 7. Dezember in die Worte: Statt eines Ganzen, Abgeschlossenen, wie ich geträumt, hinterlasse ich Stückwerk, Unvollendetes: wie es dem Menschen bestimmt ist.“

    „Das Lied von der Erde“ entstand in dieser Situation tiefgreifender menschlicher Erschütterung, die vor allem der Tod seines Kindes bei Mahler bewirkte. Es ist nicht ganz sicher, könnte aber sein, dass er schon 1907 mit Entwürfen zu diesem Werk begann. Das jedenfalls berichtet Alma Mahler in ihren „Erinnerungen“, in denen sie davon spricht, er habe schon im Sommer auf seinen einsamen Wegen in Schluderbach diese „maßlos traurigen Gedichte“ mit sich herumgetragen.

    Damit ist das kleine Buch von Hans Bethge mit dem Titel „Die chinesische Flöte“ gemeint, das Nachdichtungen chinesischer Lyrik von Li-Tai-Po, Tschang-Tsi, Mong-Kao-Jen und Wang-Wie enthielt, die Bethge allerdings nur in deutschen englischen und französischen Übersetzungen kannte, die aber, weil sie ganz in die geistige Situation des Fin de Siècle passten, eine Auflage von hunderttausend Stück erreichten. Wie er diese Lyrik erfuhr und erlebte, lässt sein Vorwort erkennen:
    „Was für eine hold lyrische Kunst trat mir da entgegen! Ich fühlte eine bang verschwebende Zartheit lyrischen Klanges, ich blickte in eine von Bildern ganz erfüllte Kunst der Worte, die hinableuchteten in die Schwermut und Rätsel des Seins.“

    Mahler dürfte das auch so empfunden haben. Er kam durch Theobald Pollak in den Besitz dieses Büchleins, das aber war erst im Herbst 1907, denn es ist vermutlich Anfang Oktober, also nach Mahlers Sommerurlaub erschienen. Alma Mahlers Zeitangaben sind also – wie so oft bei ihr - problematisch, aber dass die Beschäftigung mit diesen Gedichten zum Zwecke eines auf sie sich gründenden musikalischen Werks schon im Herbst des Jahres einsetzte, ist nicht ganz auszuschließen.

    Dass zwischen dem Sich-angesprochen-Fühlen Mahlers durch diese Lyrik und seiner damaligen Lebenssituation und geistig-seelischen Befindlichkeit ein klarer Zusammenhang besteht, dafür gibt es gleich mehrere Belege. Da ist einmal die Auswahl, die er aus der Sammlung Bethges getroffen hat, zum andern berichtet Bruno Walther von einem Brief, den Mahler ihm 1908 aus Toblach geschrieben hat, lautend:
    „Ich war sehr fleißig (woraus Sie ersehen, daß ich mich so ziemlich >akklimatisiert< habe). Ich weiß es selbst nicht zu sagen, wie das ganze benamst werden könnte. Mir war eine schöne Zeit beschieden und ich glaube, daß es wohl das Persönlichste ist, was ich bis jetzt gemacht habe.“

    Was das „Benamsen“ betrifft, so ist vielsagend, dass Mahler seiner Komposition ursprünglich den Titel „Das Lied vom Jammer der Erde“ geben wollte.
    In seinen „Erinnerungen“, die Bruno Walter 1936 zum 25. Todestag Mahlers verfasste, bemerkt er bezüglich des „Liedes von der Erde“:
    „Die Erde ist im Entschwinden, eine andere Luft weht herein, ein anderes Licht leuchtet darüber, und so ist es ein völlig neues Werk Mahlers, hat einen neuen Kompositionsstil, eine neue Art der Erfindung, der Instrumentation, der Satztechnik. Und es ist ein >Ich-Werk<, wie Mahler keines, auch nicht in seiner Ersten, geschaffen. (…) Und jeder Ton, den er schreibt, spricht nur von ihm, jedes von ihm komponierte Wort, das vor tausend Jahren gedichtet wurde, drückt nur ihn aus – das >Lied von der Erde< ist der persönlichste Laut in Mahlers Schaffen, vielleicht in der Musik. (…) Und in diesem Sinne ist es vollkommen richtig, das >Lied von der Erde< das >Mahlerischste< seiner Werke zu nennen.

    Aus den über achtzig Gedichten wählte Mahler sieben aus, legte allerdings den Text von „In Erwartung des Freundes“ nach Mong-Kao-jen und von „Der Abschied des Freundes“ nach Wang-Wie zusammen und macht daraus den sechsten und letzten Satz, betitelt „Der Abschied“. Und wie er bei den Texten aus „Des Knaben Wunderhorn“ verfuhr, griff er auch hier in vielfältiger Weise in die Gedichte Bethges ein. Das geschieht schon mit den Titeln der Lieder, bei denen er einen Übergang von Gegenständlichkeit zu allgemeingültiger Abstraktheit vornimmt: Aus dem Titel „Der Pavillon aus Porzellan“ wird „von der Jugend“ und den Titel des Gedichtes „Am Ufer“ wandelt er um in „Von der Schönheit“.

    Am stärksten sind diese Abänderungen bei „Der Abschied“. Aus diesen vier Schlussversen Bethges:

    „Ich werde nie mehr in die Ferne schweifen, -
    Müd ist mein Fuß, und müd ist meine Seele –
    Die Erde ist die gleiche überall,
    Und ewig, ewig sind die weißen Wolken.“

    macht Mahler eine Schlussstrophe aus neun Versen, endend in den Worten „Allüberall und ewig blauen licht die Fernen, / Ewig, ewig, ewig …“
    Es geht ihm, und das gilt ja generell für seine ganze Liedkomposition, nicht darum, den lyrischen Text in seinem Eigensein um seiner selbst willen ihn Musik zu setzen, ihn in diesem Zusammenhang natürlich auch interpretierend, vielmehr dient er ihm, ihn darin gleichsam benutzend und für seine Zwecke modifizierend, um sich selbst in seinem Denken und Fühlen auszudrücken.

    Wie sich das in den sechs Sätzen dieser Komposition darstellt, das soll in der nachfolgenden Betrachtung derselben aufgezeigt werden. Sie möchte sich, weil diese trotz der Tatsache, dass Mahler sie als Sätze einer Sinfonie verstanden hat und die Behandlung der Singstimme als integraler Bestandteil des Orchestersatzes tatsächlich aus symphonischem Denken hervorgegangen ist, hier als Orchesterlieder behandelt werden, auf diesen Aspekt beschränken. Das hat zur Folge, dass der kompositorische Orchester-Satz nicht in seiner ganzen spezifischen Eigenart berücksichtigt, dargestellt und in seiner Klanglichkeit beschrieben wird, sondern nur in den Aspekten, die für die Aussage der melodischen Linie der Singstimme von Belang sind.

    Grundsätzlich ist zur kompositorischen Faktur des „Liedes von der Erde“ vorab anzumerken:
    In allen Sätzen findet sich ein aus den Tönen „A“, „G“ und „E“ gebildetes Motiv, dem eine sie verbindende, also einheitsstiftende Funktion zukommt. Oft, schon im „Trinklied vom Jammer der Erde“, bringt Mahler das zum Einsatz, was Th. W. Adorno ein „unscharfes Unisono“ genannt hat, also eine Art heterophone Kontrapunktik, die darin besteht, dass parallele Stimmen sich nicht voll und ganz decken. Die Anmutung von chinesischer Klang erreicht er vor allem dadurch, dass er die Musik auf einer leittonlosen Pentatonik aufbaut.

    Dem Prinzip der Polarität, von dem die ganze Sinfonik Mahler maßgeblich geprägt ist, kommt hier eine die Gesamtanlage des Werks bestimmende Bedeutung zu. Die Tenor-Lieder sind zum Beispiel in ihrem Satz nahezu doppelt so dicht angelegt wie die für Alt-Stimme. Was die Architektur anbelangt, so kann man innerhalb des Rahmens, den die beiden Ecksätze bilden, eine Art polare Binnenspannung in der Haltung des lyrischen Ichs feststellen:
    Zwischen einer in Trunkenheit sich flüchtenden und in die Einsamkeit führenden Abwendung von einer als jammervoll erfahrenen, aus „morschem Tand bestehenden Welt auf der einen Seite und einer von leicht resignativer Trauer getragenen Hinnahme der Erde im Dennoch ihrer Schönheit auf der anderen.

    Vorbemerkung:
    Die nachfolgende analytische Betrachtung der sechs Sätze, zu deren Kommentierung, Ergänzung und Korrektur natürlich alle herzlich eingeladen sind, zielt darauf ab, die jeweilige kompositorische Faktur aufzuzeigen, dies aber nicht um ihrer selbst willen, sondern primär in der Absicht, die musikalische Aussage-Absicht herauszuarbeiten. Sie wird sich also nicht in gleichförmiger Wiese auf den ganzen Satz ausrichten, sondern auf dessen diesbezüglich jeweils relevante Teile. Gleichwohl ist sie (ist halt ein Übel bei mir) recht umfangreich ausgefallen. Ich bitte dafür um Verständnis und werde den Text, um das Lesen nicht zu einer Tortur werden zu lassen, in kleinen Portionen präsentieren. Aus dem gleichen Grund, nämlich das kritische Mitverfolgen der Ausführungen zu erleichtern, wird an den Anfang der sechs Kapitel ein Link zu einer Aufnahme des Satzes gestellt.

  • Ich bin sehr gespannt lieber H.Hofmann ! :)


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ich bin sehr gespannt ...

    Vergiss es, lieber Fiesco!

    Eben, beim Korrekturlesen der nachfolgenden Beiträge hat mich das Entsetzen gepackt.

    Das wird nichts!

    Die Beiträge zu den einzelnen Sätzen des Werks sind nicht nur lang geraten, endlos lang wäre die eher treffende Beschreibung.

    Kein Mensch kann ihnen lesend folgen, wenn er sich nicht in gleicher Weise in die Musik vertieft, wie ich das tun musste, um das Zustandekommen ihrer Aussage wirklich zu verstehen und eine Antwort auf die vielen Fragen zu finden, die dabei auftauchten.


    Das Problem ist ja doch:

    Diese Sätze sind selbst sehr lang und komplex; vor allem der erste und der letzte, bei denen es sich de facto nicht um Orchesterlieder, sondern um Musik in Gestalt und Umfang eines sinfonischen Satzes handelt. Wenn man da mit analytischem Ohr und Blick eintaucht, wird das zu einem entsprechend langen Schwimmen, bis man, will man möglichst alles erfassen und mitnehmen, wieder an Land kommt.


    Was also tun?

    Ich denke, ich fange morgen erst mal damit an. Das Ergebnis langer und durchaus mühevoller Arbeit einfach in die Tonne zu kübeln, ist ja auch keine Lösung. Im übrigen steht und steht dahinter ja die Absicht, dass das Thema "Gustav Mahlers Liedmusik" hier im Tamino-Kunstliedforum in vollständiger, alle Werke umfassender Weise präsent ist.

    Das wäre, sollte das "Lied von der Erde", in musikanalytischer Betrachtung vorliegen, dann ja auch tatsächlich der Fall.

    Wenn, so sage ich mir in diesem Augenblick, ausweislich der "Zugriffe" das Interesse an diesem Thread gegen Null geht, könnte ich ja die Beiträge reduzieren oder, wenn´s ganz schlimm kommt, den Thread einfach abbrechen.

  • Mich würden diese Beiträge ebenfalls sehr interessieren, werter Helmut Hofmann - das "Lied von der Erde" ist eines meiner Lieblingswerke, bei dem ich für weitere Zugänge immer dankbar bin. Ich wäre auch bereit, jeweils sehr lange Artikel dazu zu lesen...

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Als ich Deine Ankündigung las, lieber Helmut, nun auch das "Lied von der Erde" analytisch zu betrachten, freute ich mich sehr. Ich hatte schon ein paar Zeilen als Antwort verfasst, die meiner besonderen Beziehung zu diesem Werk Ausdruck gaben. Aber dann dachte ich mir, dass das nun doch zu persönlich sei, und löschte diesen Beitrag wieder. Auf jeden Fall kann ich Dir versichern, dass das Interesse an diesem Thread nicht gegen Null gehen wird - ganz im Gegenteil.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Zitat von Helmut Hofmann

    Was also tun?

    Ich denke, ich fange morgen erst mal damit an. Das Ergebnis langer und durchaus mühevoller Arbeit einfach in die Tonne zu kübeln, ist ja auch keine Lösung. Im übrigen steht und steht dahinter ja die Absicht, dass das Thema "Gustav Mahlers Liedmusik" hier im Tamino-Kunstliedforum in vollständiger, alle Werke umfassender Weise präsent ist.

    Das wäre, sollte das "Lied von der Erde", in musikanalytischer Betrachtung vorliegen, dann ja auch tatsächlich der Fall.

    Wenn, so sage ich mir in diesem Augenblick, ausweislich der "Zugriffe" das Interesse an diesem Thread gegen Null geht, könnte ich ja die Beiträge reduzieren oder, wenn´s ganz schlimm kommt, den Thread einfach abbrechen.

    Lieber H.Hofmann, wie immer du dich entscheiden magst, ich lese jedenfalls alles was du zu schreiben gedenkst! :)

    Im voraus vielen Dank, aber BITTE tue was du für RICHTIG erachtest!

    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • "Das Trinklied vom Jammer der Erde"

    Schon winkt der Wein im gold´nen Pokale,
    Doch trinkt noch nicht, erst sing´ ich euch ein Lied!
    Das Lied vom Kummer soll auflachend in die Seele euch klingen.
    Wenn der Kummer naht, liegen wüst die Gärten der Seele,
    Welkt hin und stirbt die Freude, der Gesang.
    Dunkel ist das Leben, ist der Tod.

    Herr dieses Hauses!
    Dein Keller birgt die Fülle des goldenen Weins!
    Hier, diese Laute nenn' ich mein!
    Die Laute schlagen und die Gläser leeren,
    Das sind die Dinge, die zusammen passen.
    Ein voller Becher Weins zur rechten Zeit
    Ist mehr wert als alle Reiche dieser Erde!
    Dunkel ist das Leben, ist der Tod.

    Das Firmament blaut ewig, und die Erde
    Wird lange fest stehen und aufblüh´n im Lenz.
    Du aber, Mensch, wie lang lebst denn du?
    Nicht hundert Jahre darfst du dich ergötzen
    An all dem morschen Tande dieser Erde!

    Seht dort hinab! Im Mondschein auf den Gräbern
    hockt eine wildgespenstische Gestalt -
    Ein Aff ist's! Hört ihr, wie sein Heulen hinausgellt
    in den süßen Duft des Lebens!

    Jetzt nehmt den Wein! Jetzt ist es Zeit, Genossen!
    Leert eure gold´nen Becher zu Grund!
    Dunkel ist das Leben, ist der Tod!

    Ein „Trinklied“, ein dem Geist des frohgemuten „Prosits“ entspringender Gesang also, der den „Jammer der Erde“ zum Gegenstand hat und drei Mal, und dies auch noch auf es beschließende Weise in seinen Strophen in den Ausruf „Dunkel ist das Leben, ist der Tod“ mündet, das ist ein Widerspruch in sich. Es sei denn, die ihm zugrundeliegende Intention ist eine andere: Eine wesenhaft finale, ein dem Elend der Erde und dem Ende des Lebens auf ihr ins Auge schauende und es im Rausch bewusst annehmen und erleben wollende Haltung des Sängers.

    Das ist hier der Fall, und es macht das Erschreckende und Verstörende an dieser Lyrik aus, dass sie in ihrem appellativen Gestus so nüchtern-prosaisch, weil von Reflexion durchsetzt auftritt und dabei immer wieder einen unvermittelten Umschlag vom Lobpreis des Weines und seines Genusses zum Benennen des „morschen Tandes dieser Erde“ und der wesenhaften Endlichkeit menschlicher Existenz auf ihr übergeht. Das ereignet sich zwei Mal, mitten im vierten Vers der ersten und im Übergang vom sechsten zum siebten Vers der zweiten Strophe, und es mündet schließlich in das verstörende Schreckensbild der dritten, - der „wildgespenstischen“ Gestalt des „Affen“, der mit der urtümlich-brutalen Vitalität seines Heulens auf verstörende, ja zerstörerische Weise in den „süßen Duft des Lebens“ einbricht.

    Hier, in diesem - wieder in dem für diesen lyrischen Text so typisch prosaischen sprachlichen Gestus entworfenen - Bild ereignet sich die die ersten beiden Strophen prägende Polarität der lyrischen Aussage in einer gleichsam aufs Höchste komprimierten Gestalt. Und so bleibt diesem lyrischen Ich denn am Ende, in den drei Versen der letzten Strophe, nur noch der zutiefst resignative Aufruf, die „gold´nen Becher“ „zu Grund“ zu leeren. Dieser Appell ist mit einem zweimaligen „jetzt“ versehen. Es bringt seine situative Zeitlichkeit auf deutliche Weise zum Ausdruck. Und deren Wesen rufen die eindringlichen, weil in mit dem zweimaligen „ist“ in eminent konstatierender Sprachlichkeit als Refrain auftretenden Worte auf: „Dunkel ist das Leben, ist der Tod!“

    Dieses „Trinklied“ soll, bevor dem Wein „im gold´nen Pokale“ zugesprochen wird „auflachend in die Seele“ dringen, und es ist doch eines, das den „Kummer“ anspricht, der die „Gärten der Seele“ „wüst“ werden und Freude und Gesang sterben lässt. Seine Intention ist also die eines trotzigen, in eben diesem „Auflachen“ sich ereignenden Aufbegehrens gegen den „Jammer der Erde“, der wesenhaft in der Endlichkeit von Leben, in seinem Sein zum Tode gründet, und die Vision vom auf den Gräbern hockenden Affen ist in diesem Zusammenhang deshalb so schreckenerregend, weil es die Destruktion der Sinnhaftigkeit eines solchen Aufbegehrens im Gesang darstellt: Denn dieser Affe heult gellend über den Orten, in die menschliches Leben mündet.

    Wenn Mahler diesen lyrischen Text aus der Bethge-Sammlung mit seinen zutiefst negativ-pessimistischen Aussagen über Erde, Welt und Leben an den Anfang seiner Folge von sechs Orchesterliedern gestellt hat, denen er ursprünglich den Titel „Lied vom Jammer der Erde“ geben wollte, so sagt das viel aus über die kompositorische Intention, die mit diesem Liederzyklus verfolgte.
    Er hielt diese Aussagen wohl für wahr und zutreffend und wollte sich mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, der Musik also, auseinandersetzen mit diesem Bild von der „Erde“ als Ort eines wesenhaft jammervollen, weil als Sein zum Tode erfahrenen menschlichen Lebens.
    Und dabei stellte sich für ihn die Frage, wie die andere Seite dieses Lebens, die Möglichkeit der Erfahrung von Schönheit, Jugend, Frühling berauschender Trunkenheit und Liebe damit in Einklang zu bringen ist. Dies in dem Sinne, dass ihr das Gewicht eines dieses Bild zumindest ergänzenden, wie nicht gar zurechtrückenden, weil Sinnerfahrung beinhaltenden Korrektivs zukommt, ohne dass allerdings die Wahrhaftigkeit des mit dem auftaktigen Eingangslied evozierten Bildes von „Erde“ damit in Frage gestellt würde.

    Ich denke, dass man die Musik dieses Werkes, aus dessen ursprünglichem Titel Mahler wohlweislich das Wort „Jammer“ herausgenommen hat, in der Aufeinanderfolge seiner Sätze und ihrer jeweiligen musikalischen Aussage so verstehen kann. Die polare Grundstruktur, die sich darin abzeichnet, dieser immer wieder sich ereignende Wechsel der Perspektive hinsichtlich dieser beiden Seiten von „Erde“ und die vielsagende Beziehung, die zwischen dem Auftakt- und dem Schlusslied besteht und sich in diesem wie eine Antwort auf die in jenem aufgerissenen Fragen darstellt, spricht, wie ich finde, für die Berechtigung einer solchen Rezeption und Interpretation des Werkes.


  • „Das Trinklied vom Jammer der Erde“. Zur Faktur der Komposition und ihrer musikalischen Aussage

    Mit einer vierzehntaktigen Introduktion, einem „Allegro pesante“, setzt das „Trinklied vom Jammer der Erde“ in a-Moll ein. Es ist ein klanglich mächtiger, geradezu gewaltiger, im Fortissimo erfolgender Auftakt der Musik, und auch die Tenorstimme, die in Takt 15 in hoher Lage einsetzt und sich erst einmal auch darin entfaltet, soll das laut Anweisung „mit voller Kraft“ tun. Diesen hochexpressiven Fortissimo Gestus, dem durch einen massiven Einsatz der Holz- und der Blechblässer hoher Nachdruck verliehen wird, bleibt erhalten bis zu dem Augenblick, wo sich die Singstimme mit den Worten „Wenn der Kummer naht...“ dem seelischen Innenraum, den „Gärten der Seele“ zuwendet. Da geht die Musik ins Pianissimo über, und die Singstimme, die sich bislang fortissimo in hoher Lage artikulierte und selbst dann, wenn sie einmal, wie bei den Worten „das Lied“, mit einem in tiefer Lage ansetzenden Sextsprung einsetzt, dies „immer machtvoll“ tun muss, darf sich jetzt im Pianissimo tieferen tonalen Lagen zuwenden.

    Wie ist dieser Fortissimo-Auftakt der Musik zu verstehen?
    Mit einem Hornsignal in Gestalt eines Quartsprungs, das sich später zu den Tönen „E-A-E- D“ erweitert, setzt sie ein, sofort fallen die Holzbläser mit einer aufsteigend angelegten Zweiunddreißigstel-Kette ein, die Trompeten treten, darin unterstützt von den zweiten Violinen und den Bratschen, mit triolischen Terzrepetitionen hinzu, und dann geht das Ganze in den verschiedenen Instrumentengruppen bis hin zu den Kontrabässen in ein permanentes Auf und Ab von Achteln, Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln über, bis sich schließlich, mit einer harmonischen Rückung nach C-Dur einhergehend, in der Gruppe der Holzbläser, bei der ersten Trompete und den ersten Violinen ein über zwei Takte sich erstreckender und aus hoher in tiefe Lage führender Fall von Vierteln und Achtel ereignet, der den Einsatz der Singstimme einleitet.

    Man liegt wohl nicht falsch, wenn man das als eine im Vorab erfolgende Einstufung und Hervorhebung der Bedeutsamkeit dessen, was der Sänger anschließend zu sagen hat, vernimmt und auffasst. Und man könnte sogar noch weiter gehen und die These wagen, dass Mahler mit dieser Eröffnung der Musik seines Werkes auf die hochgradige existenzielle Relevanz seiner musikalischen Aussage verweisen möchte. Dafür spräche schon in diesem ersten Satz die zwischen Fortissimo und Pianissimo sich entfaltende Polarität in der Dynamik zwischen der ersten und der mit den Worten „Wenn der Kummer“ naht“ einsetzenden zweiten Strophenhälfte. Sie ist von Mahler vermutlich deshalb als so extrem angelegt, weil er dort in den Worten ein Wesensmerkmal der „Erde“ als Ort lebensweltlichen menschlichen Seins ausgedrückt sah.

    Mit einem auf einem hohen „C“ ansetzenden dreischrittigen Sekundanstieg setzt die melodische Linie auf den Worten „Schon winkt der Wein im gold´nen Pokale“ ein. Jeder deklamatorische Schritt ist mit einem Portamento versehen und soll, wie Mahler noch einmal ausdrücklich hinzufügt, „mit voller Kraft“ vorgetragen werden. Danach geht die melodische Linie bei dem Wort „Wein“ zu einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines hohen „F“ über, die nicht nur eben deshalb so strahlend anmutet, sondern auch, weil sie mit einer harmonischen Rückung nach F-Dur verbunden ist. Nach einer neuerlichen, in der tonalen Ebene um eine Sekunde abgesenkte tonalen Ebene auf dem Wort „gold´nen“, die, wie auch schon zuvor bei „Wein“, diesem Wort einen starken Akzent verleiht, geht die melodische Linie auf „Pokale“ in einen leicht gedehnten Sekundfall über, der sie aber in mittlerer Lage verbleiben lässt, denn von dort schwingt sie sich, nach einer sechstaktigen, von den Hörnern und den Streichern mit einer Fallbewegung erfüllten und in Violinen-Triller übergehenden Pause, nun ins Forte zurückgenommen, in Sekundschritten zu hoher Fis-Lage auf, um dort erneut in eine Dehnung überzugehen, der ein Fall nachfolgt.

    Aber die Worte „sing´ ich euch ein Lied“ bewegen sie nun dazu, von ihrem Sich-Ergehen in langen Dehnungen abzulassen und auf „sing´“ eine melismatische Sechzehntelfigur zu beschreiben und danach in einem markanten, weil über Portamento-Viertelschritte erfolgenden Fall auf einem gedehnten „A“ in mittlerer Lage erst einmal zu enden.
    Diese Doppelschlag-Figur erklingt in der melodischen Linie auf den Worten „goldenen Weins“ im zweiten Vers der zweiten Strophe in identischer Gestalt noch einmal, und darin drückt sich nicht nur die seelisch beflügelnde Kraft von Gesang und Wein aus, es wird auch eine innere Zusammengehörigkeit von beiden hergestellt.
    Dass im letzten Lied diese Doppelschlag-Figur auf gleich mehrfache Weise zum Einsatz kommt, zeigt, welch tiefe Bedeutung Mahler ihr im Sinne einer Auslotung der seelischen Dimensionen des lyrischen Textes ihr bemisst.

  • „Das Trinklied vom Jammer der Erde.“ (2)

    Wie im Nachklang zu dieser Ankündigung des Sängers erklingen im zweitaktigen Zwischenspiel hüpfende triolisch-repetierende Figuren bei den Oboen und den Violinen und Triller bei den Klarinetten. Bei den Worten „Das Lied vom Kummer“ steigt die melodische Linie mit einem auftaktigen Sextsprung erst zu einer Dehnung auf „Lied“ in obere Mittellage empor und setzt diese Aufstiegsbewegung mit einer sie bis zu einem hohen „F“ führenden Kombination aus Quartsprung und Sekundfall auf „Kummer“ fort, wobei sich hier bemerkenswerterweise eine harmonische Rückung nach A-Dur ereignet. Das Wort „Kummer“ ist also nicht, wie man eigentlich erwarten würde, in Moll-Harmonik gebettet. Warum dieser Übergang zu Dur-Harmonisierung der melodischen Linie erfolgt, das geht aus den nachfolgenden Worten „soll auflachend in die Seele euch klingen“ hervor. Sie beinhalten als Ankündigung ein trotzig gegen den Kummer sich aufbäumendes Geschehen im Raum der Seele, und das bringt auch die auf ihnen liegende und wieder fortissimo vorzutragende Melodik zum Ausdruck.

    Auf hochexpressive Weise schwingt sie sich mit einem sich über das große Intervall einer Dezime erstreckenden Anlauf zu einer langen und nach zwei Takten in einen Fall übergehenden Dehnung auf der tonalen Ebene eines hohen „G“ auf, wobei die Harmonik, das eingenommene Tongeschlecht beibehaltend eine Rückung erst nach G-Dur und dann nach B-Dur beschreibt. Die Streicher begleiten das mit über große Intervalle sich erstreckenden Achtel-Fallfiguren. Aber als wäre der Expressivität noch nicht genug, schwingt sich die melodische Linie bei dem Wort „klingen“ mit einem verminderten Sextsprung zu einem „B“ in extrem hoher Lage empor und senkt sich nach einem Takt über einen Sekundfall zu einer sehr langen, drei Takte einnehmenden Dehnung auf einem hohen „A“ ab.

    Dies ist nun aber wieder in Moll, b-Moll nämlich, harmonisiert, und das lässt vernehmen und zeigt, auf wie hochgradig differenzierte Weise Mahler die affektiv-seelischen Dimensionen der lyrischen Aussage auslotet. Dieser Sänger weiß im Grunde, dass er mit seinem „Lied“ gegen den „Kummer“ letzten Endes nichts wird ausrichten können. Und das Orchester bringt das, bei schweigenden Streicher, im viertaktigen Nachspiel mit seinen lang gehaltenen, von allen Bläsern ausgeführten und von Glockenspiel begleiteten b-Moll-Klängen auch zum Ausdruck.

    Nun setzt – „sempre l´istesso tempo – mit den Worten „Wenn der Kummer naht“ die Musik auf den Worten der zweiten Hälfte der ersten Strophe ein. Und das im Pianissimo und g-Moll-Harmonik. Nun wird er angesprochen vom lyrischen Ich, der „Kummer“, und dies auf direkte Weise, nicht mehr aus der Haltung des Sängers, der mit gerade noch verkündete, mit einem „auflachenden“ Lied gegen ihn antreten zu wollen. „Düster, zart“ lautet die Anweisung für den Vortrag der nun folgenden Melodik, die sich nun in ruhig verhaltenen Schritten in mittlerer tonaler Lage entfaltet, weitab von ihrem vorangehend extrem lauten, sich in hohe Dehnungen steigernden Gestus.

    Von der Ebene eines tiefen „D“ steigt sie über zwei Terzschritte und einen über eine Sekunde zu einem „B“ in mittlerer Lage auf und verharrt dort bei „Kummer naht“ nach einem kurzen Sekundfall in einer Dehnung. Die nachfolgende eintaktige Pause verleiht dem, was auf das temporal-konditionale „wenn“ nachfolgt, besonderes Gewicht. Es ist das Bild von den „wüst“ liegenden „Gärten der Seele“. Mahler verleiht ihm besondere musikalische Expressivität dadurch, dass er die Melodiezeile in drei erst durch eine und dann durch zwei Viertelpausen voneinander abgehobene Teile untergliedert und diese so anlegt, dass die deklamatorischen Schritte sich wiederholen. Das verleiht der Aussage der Melodik hohe Eindrücklichkeit, zumal die Worte „wüst“, „Gärten“ und „Seele“ durch Dehnungen eine Hervorhebung erfahren. Auf den Worten „die Gärten“ und „der Seele“ liegt beide Male die gleiche melodische Figur aus auftaktartigem Terzsprung und einem gedehnten verminderten Sekundfall. Der Vortrag dieser Melodiezeile soll, so die ausdrückliche Anweisung, „trotz zarter Tongebung stets mit leidenschaftlichem Ausdruck“ erfolgen, und das Orchester unterstützt das dadurch, dass es mit einem ebenfalls gleichsam stockenden, durch permanente kleine Pausen unterbrochenen Piano-Gestus begleitet.

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  • „Das Trinklied vom Jammer der Erde.“ (3)

    Die Melodik auf den nachfolgenden Worten „Welkt hin und stirbt die Freude, der Gesang“ setzt aus den gleichen Gründen ebenfalls erst nach einer eintaktigen Pause ein. Ihr semantischer Gehalt bringt sogar noch eine Steigerung der Expressivität mit sich und Mahler setzt dafür das gleiche melodisch deklamatorische Mittel der Wiederholung ein, dies aber auf höherer tonaler Ebene und verbunden mit einer ausdrucksstarken Rückung nach As-Dur. Diese ereignet sich nach dem mit einem Crescendo versehenen, gewichtig anmutenden dreischrittigen, am Ende auf dem Wort „und“ eine Dehnung beinhaltenden und mit einem verminderten Sekundsprung bei dem Wort „stirbt“ zu einer langen Dehnung in hoher Es-Lage übergehenden Anstieg der melodischen Linie. Es erfährt dadurch eine starke Akzentuierung. Auf den Worten „die Freude, der Gesang“ beschreibt die melodische Linie, den Aufzählungsgestus reflektierend und darin von einer Viertelpause unterbrochen, zwei Mal den gleichen gedehnten Sekundfall in hoher Lage. Auch hier folgt das Orchester in klanglich zurückgenommener Weise dem deklamatorischen Gestus der melodischen Linie, und eben deshalb auf stärker gebundener Weise mit Trillern bei den Flöten und fallend angelegten Terzfolgen bei den Fagotten, den zweiten Violinen und den Bratschen.

    Von dem As-Dur, in dem die melodische Linie auf dem zweitletzten Vers der ersten Strophe endet, wendet sich die Musik nun „zurückhaltend ruhig“ mit zarten Flöten- und Harfenklängen ab und moduliert hin zu C-Harmonik. Diese klingt aber nur kurz auf und schlägt danach unerwartet in ein g-Moll um. Es ist die Harmonik, in die die Melodik auf den Worten „Dunkel ist das Leben, ist der Tod“ gebettet ist. Ihnen kommt, weil sie als Refrain auftreten, eine zentrale Funktion für die lyrische Aussage zu, und Mahler hat diesen Sachverhalt nicht nur berücksichtigt, er hat diesen Worten durch ihre spezifische Melodik, die Variation ihrer Harmonisierung und die ihnen jeweils zugeordnete und sie gleichsam interpretierende Nach- , bzw. Zwischenspiel-Musik eine weit über den Bethge-Text hinausgehende, weil ihren existenziell relevanten Gehalt musikalisch auslotende Bedeutsamkeit verliehen.

    „Sehr getragen“ soll die auf ihnen liegende melodische Linie vorgetragen werden. Und ihre Bedeutsamkeit manifestiert sich schon in der klanglichen Sparsamkeit, mit der das Orchester sie begleitet: Nur – zum Teil lang gehaltene- Piano-Einzeltöne von Flöte, Englischhorn, Klarinette und Violine sind das. Die Harfe lässt dazu ihre Arpeggien erklingen, und aus all dem bildet sich das schmerzlich anmutende g-Moll, in dem die melodische Linie mit nur einer kurzen Zwischenrückung in die Dur-Dominante bei den Worten „ist der“ harmonisiert ist. Sie stellt einen großen und überaus gewichtig anmutenden, weil wie unter einer Last erfolgenden Fall dar. Nicht nur das große Intervall von einem hohen zu einem tiefen „G“, einer Oktave also, bringt diese Anmutung hervor, es sind vor allem die ruhigen, weil jeweils den ganzen Takt einnehmenden deklamatorischen Schritte, in denen er erfolgt, und die Zweistufigkeit, in der die melodische Linie aus hoher in tiefe Lage absinkt.

    Denn nach dem auf einem hohen „G“ ansetzenden Fall erst über eine Quarte, dann über zwei Terzen bei den Worten „dunkel ist das“ setzt die melodische Linie bei dem Wort „Leben“ mit einem Sextsprung zu einem hohen „Es“ zu einer Wiederholung ihrer Fallbewegung an, nun aber wie unendlich müde wirkend, weil nur noch über verminderte Sekund- und Terzintervalle erfolgend und am Ende bei „Tod“ auf dem gleichen tiefen „G“ endend wie beim ersten Mal.
    Diesem Wort „Tod“ wird dadurch ein besonderes Gewicht verliehen, dass der zu ihm hinführende melodische Sekundfall nun ein großer ist und der ihm vorabgehende kleine auf den Worten „ist der“ in der Dominante D-Dur harmonisiert ist und das Hilfsverb „ist“ dabei genauso lang und ruhig deklamiert wird wie alle anderen Worte auch.

    Was hat Mahler musikalisch hier aus diesen Worten gemacht?
    Er hat die ihnen innewohnende Ambivalenz annulliert und zu einer Eindeutigkeit werden lassen.
    Denn Bethge hat ja durch die Wiederholung des Hilfsverbs „ist“ unter Vermeidung jeglicher Konjunktion eine Gleichsetzung von „Leben“ und „Tod“ insinuiert. Mahler macht mittels dieser Melodik und ihrer Harmonisierung daraus eine faktische Identität. „Leben“ das ist für ihn „Sein zum Tode“.
    Womit dieser Refrain das substanzielle Zentrum anspricht, um das die musikalischen Aussagen der einzelnen Lieder dieses Werkes kreisen.

  • „Das Trinklied vom Jammer der Erde.“ (4)

    Ein schriller, überaus schmerzerfüllt anmutender Fortissimo-Aufschrei ist das, was sich nun im Orchester noch im Ausklang der melodischen Linie auf dem Wort „Tod“ im Orchester ereignet. Die Flöten lassen einen In hohe Lage schießenden Zweiunddreißigste-Aufstieg erklingen und gehen danach mit den Klarinetten zusammen in ein lang anhaltendes Tremolo über, derweilen die Hörner das Signal anschlagen, mit dem sie im Vorspiel einsetzten, die Trompeten gesellen sich dazu und die zweiten Violinen fallen mit steigenden und wieder fallenden Sechzehntel-Triolen ein. Und dies alles im Fortissimo.

    Mit einer neuerlichen, nun von den Fagotten und den Kontrabässen ausgeführten Achtelanstiegsfigur steigert sich das Orchester in ein klanglich wildes Auf und Ab in Gestalt von fallenden und wieder steigenden Achteln in nahezu allen Instrumentengruppen, nur die Trompeten setzen in Sekundschritten aufsteigende Viertel hinein, die in eine Dehnung übergehen. Die Harmonik ist dabei zu Des –Dur und Ges-Dur übergegangen, und die Dynamik steigert sich weiter bis ins Forte-Fortissimo, bis, einhergehend mit einer harmonischen Rückung nach B-Dur, von Takt 109 an die Violinen eine Fallbewegung erklingen lassen, die zum Einsatz der der Singstimme auf den Worten der zweiten Strophe überleitet.

    Über 23 Takte erstreckt sich dieses Zwischenspiel, und wenn man es als Kommentar zur musikalischen Aussage des die erste Strophe beschließenden Refrains auffasst und versteht, dann will es wohl mit seiner hohen und ins klanglich Schrille ausbrechenden Expressivität im Nachhinein das Schreckenerregende und tief Verstörende von deren Gehalt ins Bewusstsein rufen. Denn sie steht ja, artikuliert von dem gleichen lyrischen Ich, das gerade ein von ihm ausgebrachtes „Trinklied“ zum „Wein im goldenen Pokal“ angekündigt hat, in schroffem Kontrast zu der damit einhergehenden Beschwörung von Lebensfreude und Lebensbejahung.

    In dieser, im Grunde unvermittelten und in ihrer Polarität hart aufeinandertreffenden musikalischen Ambiguität klingt schon gleich hier im ersten Satz dieses „Liedes von der Erde“ dessen seine Aussage maßgeblich prägendes musikalisches Wesen auf. Es ist – so verstehe ich es jedenfalls – Ausdruck einer sich durch das ganze sinfonische Werk bis hin zur Neunten und dem Adagio der Zehnten hinziehenden und im Grunde menschlich-persönlich nicht bewältigten Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Vergänglichkeit von Welt und Leben und dem darin sich aufdrängenden Bewusstsein des existenziellen Seins zum Tode.

    Das „Lied von der Erde“ mit seiner musikalischen Beschwörung von „Jugend“, „Schönheit“ und „Trunkenheit im Frühling“ ist für mich so zu hören und zu rezipieren. Denn es findet zu keiner Antwort auf das damit einhergehende und explizit gemachte Phänomen der Vergänglichkeit, vielmehr bleibt seine Musik bis hin zu „Der Abschied“ mit seinem kein Ende finden wollenden „ewig“, ewig“… in diesem Gestus der geradezu ins Extrem gesteigerten Beschwörung.

    Mit den ersten beiden – sprachlich einen mit einem Ausrufezeichen versehenen Anruf beinhaltenden – Versen der zweiten Strophe kehrt die Melodik zum Fortissimo-Gestus ihres Anfangs zurück. Ja sie steigert sich sogar noch darin. Bei „Herr dieses Hauses!“ beschreibt sie einen dreischrittigen Sekundanstieg, der mit einem Terzsprung in einen emphatischen, zwei Takte einnehmenden verminderten Sekundfall in hoher Lage übergeht, bei dem die Harmonik eine Rückung nach B-Dur vollzieht. Und das setzt sich bei den Worten „Dein Keller birgt die Fülle des goldenen Weins!“ im gleichen Gestus fort: Wieder ein dreischrittiger Sekundanstieg, danach eine Dehnung auf dem Wort „Fülle“, und dann eine weitere, nun sogar mit einem Melisma versehene und in einen Sekundsprung mit nachfolgendem Terzfall mündende bei „goldenen“. Bei dem wiederum lang gedehnten „A“ in mittlerer Lage, auf dem die melodische Linie bei dem Wort „Weins“ endet, ist vollzieht die Harmonik aber – überraschenderweise – eine Rückung vom vorangehenden B-Dur nach b-Moll.

  • „Das Trinklied vom Jammer der Erde.“ (5)

    Da ist er wieder, dieser Bruch der sich permanent in der Musik dieses ersten Liedes ereignet, und er will wohl zum Ausdruck bringen, dass dieses Ich in all seinem emphatischen Lobpreis von Leben und trunkenem Sich-Hineinsteigern sehr wohl um dessen Vergeblichkeit weiß. Denn er vermag ja nichts anderes zu erbringen, als das Bewusstsein der Vergänglichkeit des Lebens nur vorübergehend, nur für einen Augenblick zu verdrängen. Aber den Willen dazu will der Sänger wenigstens die ganze Strophe über beibehalten, was zur Folge hat, dass das Orchester in seiner viertaktigen Kommentierung dieser ersten Melodiezeile auf das musikalische Material der ersten Hälfte der ersten Strophe zurückgreift.

    Man meint, in der Melodik und der ihr zugeordneten orchestralen Musik auf den nachfolgenden Versen so etwas wie sich aufbäumenden, vom Appell „die Laute schlagen und die Gläser leeren“ beflügelten Trotz zu vernehmen. Dies schon allein deshalb, weil sie sich nach einem nur kurz währenden anfänglichen Moll beharrlich in Dur-Harmonik entfalten will. B-Dur und seine Dominante F-Dur dominieren, allerdings vollzieht die Harmonik am Ende, bevor es mit Moll-Harmonisierung bei der Melodik auf den Worten der zweiten Strophenhälfte weitergeht, bei dem Vers „Das sind die Dinge, die zusammen passen“ eine davon weit abweichende Rückung nach Ges- und Ces-Dur. Trotzig mutet die melodische Linie auf den – ja wieder mit einem Ausrufezeichen versehenen – Worten „Hier, diese Laute nenn' ich mein!“ durchaus an, - mit ihrem auf eine Tonrepetition und der anschließenden, kurz durch eine Achtelpause unterbrochenen Fallbewegung folgenden ausdrucksstarken und in eine Dehnung in hoher Lage mündenden Septsprung auf den Worten „ich mein“.

    Bei den Worten „Die Laute schlagen und die Gläser leeren, / Das sind die Dinge, die zusammen passen“ wirkt die melodische Linie, nun in B-Dur mit kurzen Rückungen zur Dominante F-Dur harmonisiert, immer noch wie von der Emphase ihres Anfangs inspiriert und getragen, sie entfaltet sich aber nun in weiterer Phrasierung und stärkerer deklamatorischer Gebundenheit. Und das ist ja auch angebracht, liefert das lyrische Ich ja doch hier eine Art Hinweis auf den tieferen Zusammenhang von Gesang und Wein. Aber das innere Beschwingt-Sein vom Gestus der trotzigen Auflehnung gegen die Vergänglichkeit bleibt weiter in der Musik vernehmlich: In dem Legato-Aufschwung der melodischen Linie über das Intervall einer Sexte bei „Laute“ und dem weit gespannten Bogen, den sie in hoher Lage bei „Gläser leeren“ beschreibt.

    Das Orchester hat sich hierbei stark zurückgenommen und begleitet, wie das ja immer wieder vorkommt und typisch für die ganze Komposition ist, in eher kammermusikalischem Gestus unter Beteiligung der Flöten, Oboen, Klarinetten und beider Harfen. Und mit einem in hoher Ges-Lage ansetzenden vierschrittigen Sekundfall, der schließlich bei „passen“ in einen gedehnten Sekundfall in hoher Lage mündet, klingt diese melodische Phrase aus. Harmonisiert ist sie in einer Rückung von Ges- nach Ces-Dur, und darin drückt sich der in der Melodik ja auch vernehmliche Übergang des lyrischen Ichs zu einer Reduzierung seiner Emphase aus.

    Aus dieser Haltung heraus entfaltet sich die Melodik und die die begleitende Musik auf den Versen sechs und sieben der zweiten Strophe. Der deklamatorische Gestus, die Untergliederung der in mittlerer tonaler Lage verbleibenden melodischen Linie in kleine, durch Pausen eingegrenzte Einheiten, die mehrfachen Wiederholungen von Figuren darin und die durchgehende Moll-Harmonisierung (as-Moll) sind wohl so zu verstehen, dass sich das lyrische Ich hier wieder, wie auch in der zweiten Hälfte der ersten Strophe, des wahren Seins der realen Welt bewusst wird.
    Und daher die von Mahler vorgenommene und vom Bethge-Text abweichende dreimalige Deklamation der Worte „ist mehr wert“ auf einer zunächst identischen melodischen Figur aus Terzsprung und gedehntem Sekundfall, die aber dann beim dritten Mal zu den Worten „als alle Reiche dieser Erde“ in einen Sekundanstieg übergeht, um sich danach einem wiederum dreimaligen, in der tonalen Ebene ansteigenden und dann wieder sich absenkenden Sekundfall und am Ende als gedehntes Legato erfolgenden Sekundfall hinzugeben.

    Auch dieser mutet, wie auch die Wiederholung der melodischen Figur auf „ist mehr wert“, als beharrlich-trotzige Beschwörung der Sinnhaftigkeit der propagierten Feier des Lebens mit Wein und Gesang an. Aber diese erfolgt im Piano, ist in as-Moll-Harmonik gebettet und wird vom Orchester in stockender und klanglich sparsamer, also keineswegs Akzentuierung ausdrückender Kammermusik begleitet. Der Ausruf-Gestus des „Trinkliedes“ ist hier so stark zurückgenommen, dass er den Anschein macht, als richte das lyrische Ich diese Worte eher an sich selbst als an die Welt da draußen.

  • „Das Trinklied vom Jammer der Erde“ (6)

    Nun lassen die Holzbläser und die Streicher zusammen, begleitet von den Harfen, eine klanglich zart, fast schon lieblich anmutende Sekundfallbewegung erklingen, die in eine triolische Achtelfigur mündet und in einer Rückung von Des-Dur nach As-Dur harmonisiert ist. Und sie erweist sich unmittelbar darauf als Einleitung zur neuerlichen Deklamation des Refrains durch den Tenor. Das ist eigentlich verwunderlich, denn die darauf liegende melodische Linie ist die gleiche wie beim ersten Mal, und sie ist, wie zu erwarten bei dieser Aussage, wieder in Moll-Harmonik gebettet. Nur dass es dieses Mal ein as-Moll ist, das bei dem Sekundfall von „Ces“ nach „Hes“ auf den Worten „ist der“ in ein es-Moll übergeht, was ihm noch mehr klangliche Schwere verleiht als ihm ohnehin ja schon dadurch eigen ist, dass er in deklamatorischen Schritten im Wert von punktierten halben Noten erfolgt.
    Und viele gesangliche Interpreten legen in ihn ein mehr oder weniger langes (besonders ausgeprägt René Kollo bei Leonard Bernstein) Ritardando. Das findet sich zwar nicht in den Noten, aber es ist sinnvoll angesichts dessen, was sich nun ereignet: Das „As“, das nun auf dem Wort „Tod“ liegt, ist dieses Mal als Ende der melodischen Fallbewegung nicht nur mit einer längeren, den Takt überschreitenden Dehnung versehen, es ist darüber hinaus auch – anders als beim ersten Mal in g-Moll – in Dur-Harmonik gebettet, As-Dur nämlich.

    Wie will das verstanden werden?
    Ich denke, dabei ist zu beachten, was dieses Mal – wiederum anders als beim ersten Mal – dem Refrain im Orchester vorausgeht und nachfolgt. Was vorausgeht, wurde schon beschrieben, und was nachfolgt, wirkt wie eine Fortsetzung desselben: Eine geradezu lyrisch-idyllische melodische Linie, die, darin stark geprägt von den Sexten bei den Klarinetten, Fagotten und Hörnern, eine sich langsam absenkende wellenartige Fallbewegung beschreibt, in die allerdings dadurch eine Anmutung von Wehmut dadurch tritt, dass das As-Dur, in dem sie einsetzt, in as-Moll umschlägt.

    Und abrupt erklingt danach, und das im Sforzato, ein nach dem vorangehenden Pianissimo regelrecht schroff auftretender f-Moll-Akkord. Soll diese Einbettung des Wortes „Tod“ in ein unerwartetes As-Dur zusammen mit seiner Rahmung durch ein idyllisch anmutendes Orchester- Vor- und Nachspiel so aufgefasst werden, dass das lyrische Ich dieses Mal sein Einverständnis mit dem zum Ausdruck bringen will, was der Refrain in seinem Kern sagen will:
    Dass die „Dunkelheit“ , in der das Leben erfahren werden kann, Manifestation seines wesenhaften Seins zum Tode ist?

    Ich denke, dass man das so verstehen kann. Und ich fasse das nachfolgende, sechzig Takte in Anspruch nehmende und mit eben diesem schroffen f-Moll-Akkord einsetzende Zwischenspiel wie eine Bestätigung dafür auf. Es mutet in dem kammermusikalischen Zusammenspiel der einzelnen Orchesterstimmen so an, als würde es um die Ambiguität der Aussagen beider Refrains kreisen, - dem leiderfüllten Ertragen dieses Seins zum Tode und dem zugleich damit einhergehenden Einverständnis damit.

    Dieser Eindruck stellt sich ein, weil sich die Musik wie ein dialogisches Hin und Her zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen auf der Grundlage bestimmter, oft pentatonischer Motive präsentiert, und dies unter mehrfachem Wechsel des Tongeschlechts. Das Hauptmotiv ist dabei die immer wieder erklingende Kombination aus Sextsprung und Terzfall. Fortlaufend ereignet sich eine harmonische Rückung von f-Moll nach As-Dur, Es- und Des-Dur, und gegen Ende geht die Musik zu c-Moll-Harmonik über. Der Orchestersatz bleibt dabei durchweg in kammermusikalisch anmutender und zuweilen sogar lyrische Anflüge aufweisender Sparsamkeit, woran auch die leichte Verdichtung, die sich im Zusammenspiel von Hörnern, Posaunen und Streichern in den letzten zwölf Takten einstellt, nichts ändert.

    Im Grunde behält die Musik, und das ist bemerkenswert, diesen kammermusikalischen, vom permanenten Wechsel im Tongeschlecht geprägten und dadurch zwischen lyrischer Positivität und elegischer Negativität pendelnder Anmutung auch noch während der ganzen dritten Strophe bei. Bezeichnend ist ja, dass dem Einsatz der Singstimme auf den Worten „Das Firmament blaut ewig“ das Sextsprung-Terzfall-Grundmotiv, hier vorgebracht durch das Englischhorn, vorausgeht und danach noch einmal begleitend weitererklingt. Der Gestus klanglicher Verhaltenheit, der das Zwischenspiel auszeichnet, wird zunächst von der Melodik auf den ersten beiden Versen der dritten Strophe aufgegriffen und fortgesetzt.
    Das, was der Sänger da zu verkünden hat, legt es ja nahe, dass sich die melodische Linie in Gestalt von durch z.T. längere Pausen eingehegten kleinen Zeilen in leicht gedehnten Sprungbewegungen auf mittlerer tonaler Lage entfaltet, wobei sich eine harmonische Rückung von c-Moll über As-Dur nach f-Moll ereignet. Erst bei den Worten „und aufblüh´n“ geht sie mit einem Legato-Oktavsprung mit nachfolgend gedehntem Sekundfall in eine Emphase über, nimmt sich aber nach einer eineinhalbtaktigen Pause bei den Worten „im Lenz“ schon wieder mit einem schlichten Sekundfall ins Piano zurück.

    Dieser kurze Ausbruch in einen emphatischen, aber nach einer Pause wieder zurückgenommenen Gestus, ist ein schönes Beispiel dafür, in welch hoher Binnendifferenzierung Mahler die melodische Linie anlegt, - sie darin tatsächlich wie das Element eines Liedes behandelnd, obwohl sie ja doch eigentlich Bestandteil des Orchestersatzes ist.
    Diese Zurücknahme der Emphase will wohl besagen, dass dem lyrischen Ich am Ende der das Firmament und die Erde betreffenden und deren „Ewigkeit“ und ihr „Fest-Stehen“ hervorhebenden Aussagen mit einem Mal bewusst wird, dass es – und damit kommt ja das zentrale Thema dieses Liedes wieder auf - mit dem menschlichen Leben anders ist. Und im dreizehntaktigen Nach- und Zwischenspiel deutet das Orchester das auch an, indem es wieder das Sextsprung-Terzfall-Motiv in mehreren Orchesterstimmen erklingen und aus anfänglich dominantischer f-Moll-Harmonik in b-Moll absinken lässt.

  • „Das Trinklied vom Jammer der Erde“ (7)

    Mit dem „aber“, des nächsten Verses wird dieses – ja den Kern des „Liedes von der Erde“ bildende - Thema „Vergänglichkeit menschlichen Lebens“ auf sprachlich harte, weil durch das in Komma-Parenthese Setzen des Wortes „Mensch“ erfolgende Weise angerissen und darin noch gesteigert, weil es in die in ihrer sprachlichen Gestalt wie exponiert wirkende Frage „wie lang lebst denn du?“ übergeht. Auch hier erweist sich Mahler in der Umsetzung dieser Worte in Melodik als der große Liedkomponist, der er ist. Die melodische Linie, die „leidenschaftlich“ vorgetragen werden soll, steigt in gedehnten Sekundschritten bis zu einem hohen „Ges“ empor und überlässt sich dort bei dem Wort „du“ einer langen, fast zwei Takte einnehmenden Dehnung, die auch deshalb so eindringlich wirkt, weil die Harmonik dabei eine Rückung in das weitab liegende Ces-Dur vollzieht und das Orchester mit einem lang gehaltenen Fortissimo-Akkord begleitet und danach das gestaffelt-repetitive Fallmotiv erklingen lässt.

    Auf den Worten „nicht hundert Jahre“ beschreibt die melodische Linie im Fortissimo einen hochexpressiven, weil in hohe Lage ausgreifenden und aus triolisch gedehnten deklamatorischen Schritten bestehenden Bogen, der danach bei „darfst du dich ergötzen“ in einen neuerlichen übergeht, der nun aber in der tonalen Ebene um eine Sekunde abgesenkt ist und anfänglich aus kürzeren triolischen Schritten besteht. Die Harmonik, die schon bei dem Wort „Jahre“ eine Rückung vom vorangehenden Ces-Dur nach Es-Dur vollzogen hat, geht nun über ein B-Dur bei dem gedehnten Sekundfall auf den Silben „-götzen“ nach As-Dur über. Auch hier beschränkt sich das Orchester, ganz in seinem kammermusikalischen Gestus verbleibend, auf lang gehaltene Akkorde als Begleitung und lässt auf diese Weise die Aussage der melodischen Linie auf markante Weise hervortreten. Sie hat ja auch im Grunde Schreckliches zu sagen, - das Menschenleben und seinen Lebensraum „Erde“ betreffend.

    Es gipfelt in den Schlussworten: „An all dem morschen Tande dieser Erde“. Und ganz dem entsprechend erreicht die melodische Linie hier den Gipfelpunkt ihrer Expressivität, - freilich nur diese Strophe betreffend. Nach einem fortissimo ausgeführten, an einem hohen „A“ ansetzenden und sich über das große Interfall einer None bis hinab zu einem tiefen „G“ erstreckenden Fall springt sie „sempre ff“ über eben dieses, nun aber verminderte Intervall zu einem hohen „As“ empor und geht dort in einen extrem lang wirkenden, weil in seinen deklamatorischen Schritten den Takt voll ausfüllenden dreistufigen Sekundfall über, wobei die Harmonik, auch das ein die Expressivität mit bedingender Faktor, eine Rückung von Gis-Dur nach a-Moll (hes-Moll) vollzieht. Und das Orchester bricht in einen geradezu klanglich schrill wirkenden, aus einem Akkord hervorgehenden und von den Holzblasinstrumenten, den Hörnern und den ersten Violinen ausgeführten Wirbel von fallenden Achteln und wieder emporschießenden Zweiunddreißigsteln aus.

    Das ist Kommentar und Auftakt zu dem, was sich nun in der vierten Strophe ereignet. Die Worte „seht dort hinab“, auf denen eine mit einem verminderten Nonensprung einsetzende und in hoher Lage in ein Auf und Ab in Sekunden übergehende und fortissimo auszuführende Melodik liegt, weist auf geradezu schreiend anmutende Weise darauf hin. Es ist das im Zentrum stehende lyrische Bild vom „wildgespenstischen“, über den Gräbern hockenden und in den „süßend Duft des Lebens“ sein Schreien hineingellen lassenden Affen, auf das die Singstimme mit dieser Aufforderung abzielt.
    Und dieses weist als solches eine solch extremes evokatives Potential auf, dass Mahler gar nicht anders kann, als seine Musik in den Gipfel einer nun geradezu schmerzend anmutenden Expressivität ausbrechen zu lassen. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich nun durchgehend in hoher Lage, und dies im Fortissimo, die einzelnen Instrumentengruppen des Orchesters lassen, ebenfalls im Fortissimo wie wild durcheinander wirbelnde und partiell große tonale Räume durchlaufende Achtel- und Sechzehntelfguren erklingen, und in die bislang von Diatonik und Pentatonik geprägte Harmonik bricht schmerzliches Chroma ein.

    Und Mahler geht noch weiter im Einsatz solcher extrem laute und schmerzliche Expressivität bewirkender kompositorischer Mittel. Nachdem die Singstimme, von einer eintaktigen Pause unterbrochen, auf den Worten „im Mondschein“ und „auf den Gräbern“ zwei Mal fortissimo einen gedehnten Sekundfall in der hohen Lage eines „A“ deklamiert, geht sie bei den Worten „hockt eine wildgespenstische Gestalt“ mit einem dreifachen Sekund- und einem Terzanstieg erneut zu dieser Lage zurück und beschreibt nach einer taktübergreifenden Dehnung bei der Silbe „wild-“ daselbst eine geradezu abenteuerliche quartolische Sturzbewegung bis hinunter zu einem „E“ in tiefer Lage. Mit diesem Fall aus hoher Diskantlage in extreme Tiefe bringt die melodische Linie die Schrecknis zum Ausdruck, die diesem lyrischen Bild vom Affen innewohnt. Und um dem Einbruch von chaotisch-vitaler Wildheit in den kultivierten Raum vom „süßen Duft des Lebens“, der sich hier ereignet, den angemessenen Ausdruck zu verleihen, setzt Mahler kompositorisch das ein, was Th. W. Adorno auf begrifflich höchst treffende Weise ein „unscharfes Unisono“ genannt hat.

    Während der vier Takte, in denen die melodische Linie die in den tiefen Fall übergehende Bogenfigur beschreibt, erklingen gleichzeitig – und alles natürlich im Fortissimo – Terzfall-Figuren im Glockenspiel, quartolische Achtelfall-Figuren bei den Violinen und den Bratschen und ein leicht nachgesetzter quintolischer Achtelfall bei den Celli. Und dem folgt bei den Holzblasinstrumenten und den Streichern bis hinab zu den Celli und den Kontrabässen eine hohe Lage aufschießende Fortissimo-Achtelfigur nach. Die heteronomische Störung des Metrums, die sich hier ereignet und sich klanglich als „unscharfes Unisono“ darstellt (Adorno ist ein eminent musikalischer und diesbezüglich wortschöpferischer Philosoph wie kein zweiter sonst), bringt mit musikalischen Mitteln eben diesen Einbruch von zerstörerisch-chaotischer Vitalität in kultiviert-schöne Lebenswelt zum Ausdruck, wie das lyrischer Gegenstand der vierten Strophe ist.

    Und weil das ein für die um das Thema „Vergänglichkeit“ kreisende Thematik dieses Bethge-Gedichts – und damit auch für Mahler – ein so wichtiges lyrisches Bild ist, behalten die Melodik und der Orchestersatz diesen Gestus extremer Expressivität bis zum letzten Vers der vierten Strophe bei, und es ereignet sich darin sogar noch einmal, und das auf in der Expressivität gesteigerte Weise, dieser das tiefe innere Erschrecken bekundende Absturz in die Tiefe.
    Schon Bethge hat diese Schreckensfigur exponiert, indem er sie lyrisch-sprachlich gleichsam komprimiert hat und aus „es ist ein Affe“ „ein Aff´ ist´s“ machte. Mahler verstärkt diesen Effekt noch, indem er auf diese Worte einen melodischen Terzsprung legt, der in hoher Lage in einen gedehnten und verminderten Sekundfall übergeht, dem eine lange Pause nachfolgt, in der die Streicher einen mit Portamenti versehenen Fall von Vierteln aus hoher Lage erklingen lassen, dem die Fagotte und die Englischhörner einen doppelten Aufstieg von Achteln entgegensetzen. Und auch die Harmonik trägt zu der musikalischen Exposition dieser drei Worte bei, indem hier eine Rückung nach F-Dur als Dominantseptakkord vollzieht.

  • „Das Trinklied vom Jammer der Erde“ (8)

    Den appellativen Aufforderungscharakter der Worte „Hört ihr, wie sein Heulen hinausgellt“ setzt Mahler melodisch dergestalt um, dass er die melodische Linie zwei Mal und ausdrücklich noch einmal mit einem, „ff“ versehen einen auf einem hohen „A“ ansetzenden und in a-Moll harmonisierten Quartfall beschreiben lässt und auf das in seiner Semantik schrille Wort „hinausgellt“ eine jede Silbe erfassende Terzsprung- und verminderte Fallbewegung legt. Und nun, bei den Worten „den süßen Duft des Lebens“, erreichen Melodik und Orchestersatz den Gipfel ihrer ohnehin schon extremen Expressivität.
    Und das hat seinen Grund darin, dass für Mahler in diesem visionären Schreckensbild die ihn selbst zutiefst quälende Frage von Zeit und Vergänglichkeit auf hoch evokative Weise lyrisch angerissen wird. Das Heulen des Affen gellt in den süßen Duft eines Lebens, das damit in seiner Existenz infrage gestellt wird.

    Aber weil es sich doch so gerne darin behaupten möchte, in Wirklichkeit das aber nicht kann, beschreibt die melodische Linie hier eine hochexpressive und darin überaus vielsagende Bewegung und wird darin von den Violinen und der Harmonik unterstützt.
    Auf den Worten „süßen Duft“ liegt eine melodische, ihren semantischen Gehalt reflektierende und in B-Dur harmonisierte Pendelbewegung in verminderten Sekundschritten auf hoher tonaler Lage, die vom Orchester mit repetierenden Achtel-Terzen begleitet wird. Bei den Worten „des Lebens“ geht die melodische Linie aber mit einem auf einem „Fis“ ansetzenden Terzsprung zu einer extrem langen, nämlich vier (!) Takte einnehmenden Dehnung auf der tonalen Ebene eines „B“ in hoher Lage über, und alle Streicher, bis hinab zu den Kontrabässen, lassen dazu eine über ein großes Intervall sich erstreckende, bei den ersten Violinen in extrem hoher Lage ansetzende Fallbewegung von Vierteln erklingen.
    Und bei zweiten Silbe von „Lebens“ geschieht es: Die melodische Linie geht in einen Legato-Sturz über eine verminderte None bis hinab zu einem tiefen „As“ über, den die Streicher mitvollziehen und der mit einer Rückung vom vorangehenden B-Dur nach dem tiefen As-Dur einhergeht. Er erfährt eine starke Akzentuierung durch einen As-Dur-Akkord im Orchester und eine nachfolgende Wiederholung der Fallbewegung durch die Streicher.

    Mit der Aufforderung „Jetzt nehmt den Wein!“ kehrt der Sänger wieder zu der Haltung zurück, in der er am Anfang aufgetreten ist. Und das tut auch die Liedmusik, indem sie nach den geradezu gewaltsam anmutenden Ausbrüchen in Fortissimo-Chromatik zu wieder ruhigerer Entfaltung übergeht. So dominiert jetzt wieder die a-Moll-Harmonik der ersten Strophe, die melodische Linie der Singstimme wird nun wieder in deklamatorisch gebundener und weiter phrasierter Weise deklamiert, mit sogar melismatischen Figuren in sich, wie auf dem Worten „Zeit“ und – in noch ausführlicherer Weise –„gold´nen Becher“, wo sie aus einer Dehnung heraus in eine triolische Achtelfigur übergeht und danach in eine lange Dehnung mit Sekundfall. Mit Ausnahme des emphatischen, auf einem hohen „A“ ansetzenden gedehnten Quartfalls auf dem Wort „Genossen“ verbleibt sie in ihrer Entfaltung in mittlerer Lage und beschreibt, als wolle sie zu einem Ende finden, bei den Worten „zu Grund“ einen Sekundschritt zu dem Grundton „A“ in unterer Mittellage, bei dem die Harmonik von a-Moll zu A-Dur übergeht. Das Orchester begleitet dabei durchweg in einem stark ausgedünnten Satz in Gestalt eines Zusammenspiels von Einzelstimmen der verschiedenen Instrumentengruppen, wobei der Harfe eine herausragende Rolle zukommt.

    Die Liedmusik ist aber noch nicht zu Ende. Der Refrain muss noch einmal erklingen, kommt ihm doch die für die musikalische Gesamtaussage maßgebliche Rolle zu. Und wieder nimmt Mahler im dritten Auftritt eine nur scheinbar leichte, aber doch vielsagende Variation vor. Die melodische Linie ist in ihrer Struktur die gleiche wie immer, weist nun aber keine so lange Dehnung auf dem Wort „Tod“ auf, die beim zweiten Mal ja auf einem „As“ liegt und in As-Dur harmonisiert ist. Nun ist sie ganz in a-Moll-Harmonik gebettet und endet auch darin, mit einer allerdings bemerkenswerten Zwischenrückung zur Dominante E-Dur auf dem zweiten „ist“. Sie verleiht der Aussage die Anmutung von faktischer Endgültigkeit. Und dazu gehört, dass sie dieses Mal von einem auffällig lyrisch-lieblichen Vorspiel der ersten und zweiten Violinen in Gestalt einer aus sehr hoher Lage sich absenkenden, dabei einen melismatisch-triolischen Schlenker beschreibenden und nach dem Wort „Lebens“ noch einmal erklingenden melodischen Linie eingeleitet wird. Das mutet an, als habe sich das lyrische Ich mit dieser existenziell so gravierenden Aussage des Refrains endgültig abgefunden.

    Aber da sie eine im Grunde ja doch schreckliche ist, beschreibt das Orchester unmittelbar darauf einen jener stark von den Hörnern und den Trompeten ausgeführten Ausbrüche ins a-Moll-Fortissimo, wie man sie schon aus der ersten Strophe nur allzu gut kennt. Sie mündet nach einem geradezu schrillen, von Flöten, Klarinetten und Trompeten ausgeführten Achtel-Aufstieg in hohe Lage in einen überraschend dumpfen, schroffen und darin regelrecht lakonisch wirkenden a-Moll-Fortissimo-Schlussakkord.

    Es ist die eigenartige, hier noch einmal aufklingende, das erste Lied prägende und wie im Auftakt für die Aussage der Musik des „Liedes von der Erde“ bestimmend werdende Ambiguität von Lebensbejahung einerseits und auf der anderen Seite, nach trotziger Auflehnung gegen die Vergänglichkeit, einem resignativen Sich-Einfinden in das Wesen von menschlicher Existenz als ein Sein zum Tode.

  • „Der Einsame im Herbst“

    Herbstnebel wallen bläulich überm See,
    Vom Reif bezogen stehen alle Gräser;
    Man meint', ein Künstler habe Staub von Jade
    Über die feinen Blüten ausgestreut.

    Der süße Duft der Blumen ist verflogen;
    Ein kalter Wind beugt ihre Stengel nieder.
    Bald werden die verwelkten, gold´nen Blätter
    Der Lotosblüten auf dem Wasser zieh´n.

    Mein Herz ist müde. Meine kleine Lampe
    Erlosch mit Knistern; es gemahnt mich an den Schlaf.
    Ich komm zu dir, traute Ruhestätte!
    Ja, gib mir Ruh, ich hab´ Erquickung not!

    Ich weine viel in meinen Einsamkeiten.
    Der Herbst in meinem Herzen währt zu lange.
    Sonne der Liebe, willst du nie mehr scheinen,
    Um meine bittern Tränen mild aufzutrocknen?

    Die lyrischen Bilder von Herbst, die Inhalt der beiden ersten Strophen sind und von Zartheit, wie dem „Wallen von bläulichen Nebelnd“ bis zur Grobheit wie dem die Blütenstengel beugenden „kalten Wind“ reichen, enthüllen ihren tieferen Sinn in den Aussagen der beiden nachfolgenden Strophen: Mit ihrem evokativen Potential sind sie metaphorisches Pendant und darin Ausdruck der seelisch-existenziellen Befindlichkeit eines lyrischen Ichs, das schon lange, zu lange den „Herbst in seinem Herzen“ verspürt.

    Die Art und Weise, wie es davon spricht, vom Weinen in der Einsamkeit, von der Müdigkeit, die eine untergründige ist, von der erlöschenden kleinen Lampe, dem im Zusammenhang damit durchaus ambivalenten, weil mit dem Wort „Ruhestätte“ den Tod beinhaltenden Schlaf, von der Sehnsucht nach einer Sonne, die die „bitteren Tränen“ aufzutrocknen vermöchte, - der sprachliche Gestus, in dem all das geschieht, und der bemerkenswerterweise dem der ersten beiden Strophen entspricht, lässt diese lyrischen Aussagen zu tief erschütternden werden.

    Es ist die sachlich-konstatierende, darin geradezu unlyrisch, eher prosaisch anmutende und sich deshalb sogar, wie in der ersten Strophe, mit einem „man meint“ auf die reflexive Ebene begeben könnende Sprachlichkeit der Aussagen, die das bewirkt. Ein durchgängiges Metrum oder gar eine Reimbindung der Verse gibt es nicht. Zwar meint man immer wieder einen vierfüßigen Jambus zu vernehmen, der aber erfährt in jeder Strophe eine Destruktion durch metrische Irregularität. Und das ist, wie auch die Entfaltung der lyrischen Sprache im konstatierend sachlichen Gestus des „das ist“, Niederschlag der existenziell tiefen Müdigkeit dieses lyrischen Ichs und seiner Sehnsucht nach Erlösung daraus.

    In dieser existenziellen Müdigkeit des lyrischen Ichs, das sich nach erquickender Ruhe und einer die Tränen trocknenden Ruhe sehnt, aber im Grunde keine Hoffnung hat, dass ihm das zuteil wird, muss sich - der an sich ansonsten ja hyperaktive - Gustav Mahler, wie die schriftlichen Quellen erkennen lassen, in seiner damaligen Lebenssituationen wiedergefunden haben. Eben deshalb hat er wohl diese Verse Bethges, die auf ein Gedicht von Tschang-Tsi zurückgehen, ausgewählt, und wie tief sie ihn berührt haben, das lässt die Liedmusik auf höchst eindrückliche Weise vernehmen.

    Sie ist in Moll gebettet, mit d-Moll als Tonika. Die immer wieder erfolgenden Ausbrüche ins Tongeschlecht Dur, die sich darin ereignen, wirken wie dem Moll abgetrotzt, abgerungen, ohne sich aber wirklich lange halten zu können. Aber aus dieser Binnenspannung zwischen den beiden Tongeschlechtern bezieht die Musik einen wesentlichen Teil ihrer Aussagen. Vielsagend ist die Vortragsanweisung. Die Worte „Etwas schleichend“ haben ja noch einen Bezug zur Art und Weise, wie der Notentext in Musik umgesetzt werden soll, aber der Zusatz „Ermüdet“ hat das nicht. Er ist nur als Hinweis auf die Haltung zu verstehen, die die Interpreten, der Dirigent und die Altistin (oder auch der Bariton), bei dieser Umsetzung einnehmen sollen.


  • Zitat von Helmut Hofmann

    „Das Trinklied vom Jammer der Erde“

    Zwischendurch mal ein gaaaaaanz herzliches DANKESCHÖN für das erste Lied, ich bin noch völlig geplättet! :hail::hail::hail::hail::hail::hail:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Also wenn man sich durch meine hiesigen Ausführungen zu Mahlers Musik "geplättet" fühlen sollte, dann tut mir das leid.

    Das ist nicht meine Absicht. Ich versuche einfach nur wiederzugeben, wie ich sie gehört und verstanden habe.

  • „Der Einsame im Herbst“. Zur Faktur der Komposition und ihrer musikalischen Aussage

    Mit einem vierundzwanzigtaktigen Vorspiel setzt die Musik ein. Es lässt gleich deren Geist vernehmen und erkennen: Es ist der einer klageerfüllten Lebensmüdigkeit, zum Ausdruck gebracht in wesenhaft kammermusikalischem Gestus. Nur durch die Oboe und die ersten Violinen wird sie in den ersten sechs Takten, in d-Moll-Harmonik gebettet, vorgebracht. Und so sehr pianissimo, dass die Violinen einen Dämpfer tragen müssen. Im siebten Takt treten die Hörner hinzu, im achten die zweiten Violinen, diese ebenfalls sordiniert, im neunten die Klarinetten, im siebzehnten die Bratschen und schließlich noch die Celli und die Flöten. Das ist es dann aber auch, - zunächst jedenfalls.

    Aber bemerkenswert ist: Diese Musik will ohne lautes Blech und ohne tiefes Bass-Fundament auskommen, will hell und leise bleiben und selbst dort, wo sie meint, anlässlich der lyrischen Aussage in ein „leidenschaftliches“ Forte ausbrechen zu müssen, mag sie ihren kammermusikalischen Geist nicht aufgeben. Es ist ein „Einsamer im Herbst, der sich in ihr ausdrückt, wobei es sich bei dem „Einsamen“ nicht um einen Mann, sondern menschliches Wesen gleich welchen Geschlechts handelt, ersichtlich daraus, dass Mahler die gesanglichen Partien in diesem Werk mit „Tenor- “ und „Alt- oder Bariton-Stimme“ besetzt hat.

    Zwei Takte lang erklingen im Vorspiel, bevor im dritten Takt die Oboe hinzutritt, nur die von den ersten Violinen ausgeführte wellenartige Bewegung von Achtel-Quartolen in mittlerer tonaler Lage, die von Takt acht an von den zweiten unisono verstärkt werden. Das ist ein wesentlicher Bestandteil des Orchestersatzes, zwar immer wieder einmal unterbrochen, aber bis zum Ende des Liedes vorhaltend und darin auch ausklingend. In seiner wesenhaften, wie schwebend wirkenden und das Dreivierteltakt-Metrum ignorierenden Unverortbarkeit verkörpert er, so kann man ihn verstehen, die existenziell-lebensweltliche Ortlosigkeit des lyrischen Ichs. Und der sich schrittweise vollziehende Aufbau der Musik aus der Einstimmigkeit zur Zehnstimmigkeit kann wohl so verstanden werden, dass das lyrische Ich langsam aus einer Einsamkeit herausfindet und sich zum Bekenntnis seiner existenziellen Befindlichkeit durchringt.

    Welcher Art diese ist, das lässt, gleichsam vorausklingend, die Oboe vernehmen. Es ist ein eindringlicher, „molto espressivo“ vorgetragener Klageton, den sie von sich gibt, eindringlich, weil er aus einer Folge von gedehnten Fallbewegungen besteht, die sich im Intervall von der Sekunde zur Quarte erweitern. Mit dem Hinzutreten der Hörner und der Klarinetten erfährt diese melodische Klagefigur eine Verstärkung dadurch, dass das ihr immanente Moll nun klangliche Gestalt annimmt, wobei sich eine Rückung von d-Moll nach a-Moll ereignet. Das ortlose um sich selbst Kreisen der Achtel-Quartolen, das gleichsam das klangliche Bett für diese Klagetöne bildet, erfährt ebenfalls eins Verstärkung durch die zweiten Violinen.

    Nach einem seltsam kläglich anmutenden Zweiunddreißigstel-Melisma gehen die Fallfiguren der Oboe in einen lang gestreckten Fall aus hoher in mittlere Lage über, und als wollten sie diesen auffangen, treten in Takt 22 die Flöten hinzu, ebenfalls mit einem Legato-Sekundfall, der sich kurz vor dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme zu einem Quartfall ausweitet. Sie ist, was die erste lyrische Strophe anbelangt, in vier Zeilen untergliedert, die die vier Verse beinhalten und durch mehrtaktige Pausen voneinander abgesetzt sind. Die Melodik auf den Worten „Herbstnebel wallen bläulich überm See“ mutet wie eine Aus- und Fortführung dessen an, was die Bläser des Vorspiels an Klagefiguren vorgegeben haben. Die melodische Line beschreibt anfänglich einen in Moll (g-Moll) gebetteten und auf einem hohen „F“ absetzenden Fall in vier deklamatorischen Sekundschritten und bringt auf diese den Klage-Gestus intensivierende Weise die Haltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck.

    Aber weil es hier ja um den – von ihm artikulierten - lyrischen Entwurf von herbstlicher Landschaft geht, kann es bei diesem melodischen Fall nicht bleiben. Das Bild vom „bläulichen Wallen“ der Herbstnebel nötigt die melodische Linie, von diesem Gestus abzulassen und zu einer zweimaligen, in der tonalen Ebene allerdings sich absenkenden Kombination aus partiell gedehntem Sprung und Fall überzugehen, wobei das Wort „bläulich“ dadurch eine besondere Hervorhebung erfährt, dass die melodische Linie hier einen mit einem Terzsprung einsetzenden lang gedehnten Quartfall beschreibt.

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  • Also wenn man sich durch meine hiesigen Ausführungen zu Mahlers Musik "geplättet" fühlen sollte, dann tut mir das leid.

    Das ist nicht meine Absicht. Ich versuche einfach nur wiederzugeben, wie ich sie gehört und verstanden habe.

    Ach lieber H.Hofmann, ich bin geplättet vor Begeisterung:!:Siehe meine Smileys!

    Liebste Grüße Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Also wenn man sich durch meine hiesigen Ausführungen zu Mahlers Musik "geplättet" fühlen sollte, dann tut mir das leid.

    Das ist nicht meine Absicht. Ich versuche einfach nur wiederzugeben, wie ich sie gehört und verstanden habe.

    :thumbup:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • :thumbup:

    Was soll denn das, aber OK, bei solchen befürwortungen brauch ich dann den Thread nicht weiter zu verfolgen!

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • „Der Einsame im Herbst“ (2)

    Mahler will in den ersten beiden Strophen, darin ganz die kompositorische Haltung des Liedmusikers einnehmend, mit den Mitteln von Melodik und Orchestersatz die lyrische Herbstszenerie aufbauen, wie sie in diesen lyrisch evoziert wird. Dabei lässt er allerdings, darin über Bethge hinausgehend, auf immer mehr sich steigernde Weise die Grundhaltung des lyrischen Ichs einfließen, wie sie sich von der dritten Strophe an auf sprachlich direkte Weise artikuliert. Das wiederum bedingt, dass er der melodischen Linie der Singstimme nicht die Dominanz verleiht, die sie in einem wirklichen Lied hätte, sie vielmehr als integraler Teil des Orchestersatzes anlegt und einsetzt. Auch wenn die vier mittleren Sätze, anders als sie Ecksätze eins und sechs auf weniger markante Weise sinfonischen, sondern eher liedmusikalischen Geist atmen, sie sind Bestandteil eines wesenhaft sinfonischen Werkes.

    Das zeigt sich an dieser Stelle darin, dass die Klarinette die melodische Figur von „überm See“ aufgreift, fortführt und in einen d-Moll-Akkord übergehen lässt, in dem die Singstimme nun mit dem Vortrag der melodischen Linie auf den Worten „Vom Reif bezogen stehen alle Gräser“ einsetzt. Diese besteht aus einem langen und ruhigen, auf einem tiefen „A“ ansetzenden Sekundanstieg, der bei „Gräser“, verbunden mit einer kurzen Zwischenrückung nach A-Dur in einen gedehnten und verminderten deklamatorischen Sekundschritt zu einem hohen „D“ hin übergeht.
    Weil auf dieser Melodiezeile sogar die Violinen mit ihren wellenartigen Achtelquartolen aussetzen und das Orchester nur mit lang gehaltenen Akkorden begleitet, kann sich die Ruhe, die in der Reflexion des lyrischen Bildes von der melodischen Linie ausgeht, voll entfalten. Wieder zeigt sich, dass es Mahler tatsächlich darum geht, in der ersten Strophe den semantischen Gehalt der lyrischen Metaphorik in Musik umzusetzen.

    Und so lässt denn das Orchester mittels der Hörner und den Terzen der Oboen und der Klarinetten im nachfolgenden achttaktigen Zwischenspiel eine Musik erklingen, die in ihren Sekundfallfiguren leicht schmerzlich angehauchte und wehmütig anmutenden Klanglichkeit entfaltet und darin die Stimmung aufgreift, die von dem in den ersten beiden Versen entworfenen lyrischen Bild ausgeht. Mit Takt 39 setzt die Singstimme mit der Melodik auf den Worten „Man meint', ein Künstler habe Staub von Jade / Über die feinen Blüten ausgestreut“ ein. Sie ist nach dem Versende bei dem Wort „Jade“ nur durch eine halbtaktige Pause unterbrochen und wird bei „über“ mit einem nur kurzen Sekundanstieg in der tiefen Lage fortgeführt, so dass es sich hier eigentlich um eine zwei Verse beinhaltende, also weit phrasierte Melodiezeile handelt. Und das ist ja auch von der Syntax des lyrischen Textes her angebracht.

    Der aber ist von seinem semantischen Gehalt her von anderer Art als das erste Verspaar. Das lyrische Ich tritt mit den einleitenden Worten „man meint“ und in dem nachfolgenden Vergleich mit dem von einem Künstler ausgestreuten Jade-Staub erstmals als reflexiver Interpret des anfänglichen lyrischen Bildes auf. Und dementsprechend legt Mahler die melodische Linie und die sie begleitende Orchestermusik an. Die Violinen setzen wieder mit ihren Achtelquartolen ein, die nun aber eine aufsteigende Linie beschreiben und von den Celli mit einem Quinten-Auf und Ab akzentuiert werden. Die Klarinetten lassen, darin der Melodik folgend, eine Linie fallender Terzen erklingen, darin ein g-Moll zum Ausdruck bringend, und der sich nach der über den ganzen dritten Vers erstreckenden Sekundfallbewegung ereignende und geradezu emphatisch anmutende Aufschwung der melodischen Linie, der einer gedehnten und mit einer Rückung nach D-Dur einhergehenden Bogenbewegung in hoher Lage aufgipfelt, wird anschließend drei Takte lang in einer sich in höhere Lage hinaufsteigernden Wiederholung dieser melodischen Bogenbewegung in Gestalt von Terzen der Flöten, der Oboen und der Klarinetten fortgesetzt.

    Die Musik reflektiert darin dieses so überaus zarte Bild von der „über die feinen Blüten“ ausgestreuten „Jade“. Aber weil das ja ein fiktives, nur der imaginativen Welt des lyrischen Ichs zugehöriges und der Reflexion entspringendes ist, hat Mahler die melodische Linie nach dem gedehnten Sekundfall auf „man meint“ erst einmal eine Pause einlegen und dann in einer ruhigen Folge von deklamatorischen Sekundschritten bis in die tonale Lage ein „D“ in tiefer Lage absinken lassen, bevor sie sich dann, wieder in Sekundschritten daraus erheben und schließlich bei den Worten „Blüten ausgestreut“ in Dur-Harmonisierung aufgipfeln darf. Der große, am lyrischen Wort ansetzende und seine Metaphorik reflektierende Liedkomponist zeigt sich hier auf beindruckende Weise.

  • „Der Einsame im Herbst“ (3)

    Das nachfolgende und zur zweiten Strophe überleitende fünftaktige Zwischenspiel besteht wieder aus einem Nachvollzug der die melodische Linie der Singstimme beschließenden Aufgipfelungsfigur durch die Oboen, die Klarinetten und die Streicher, dies allerdings in g-Moll-Harmonisierung, aber auf eine sie in ihrer Emphase steigernden Art und Weise. „pp, sehr gehalten“ lautet die Anweisung für den Vortrag der melodischen Linie auf den Worten der ersten beiden Verse, und es folgt sogar noch eine ungewöhnliche Ergänzung. Bei den Worten „ein kalter Wind“ schreibt Mahler „schauernd“ vor. Und da das lyrische Bild ein bedrückendes, schmerzliche Gefühle auslösendes ist, beschreibt die melodische Linie bei den Worten „Der süße Duft der Blumen ist verflogen“ eine in d-Moll gebettete und in der Tat wehmütig-schmerzlich anmutende Sekundfallbewegung, die bei dem Wort „Blumen“ mit einem Terzsprung in eine Folge von ausdrucksstarken, weil gedehnten und sich in der tonalen Ebene absenkenden Fallbewegungen erst über eine Terz und dann über Sekunden übergeht.

    Erst nach einer Viertelpause setzt sich die melodische Linie auf den Worten „ein kalter Wind“ fort, dies mit aus einem Sekundfall hervorgehenden Sekundanstiegs-Schritten, die so eindrucksvoll „schauernd“ wirken, weil sie überaus ruhig im Wert von halben Noten erfolgen und mit einer harmonischen Rückung von g-Moll zur Dur-Parallele B-Dur einhergehen. Noch länger und mit einer kläglichen Moll-Figur der Flöten und der Klarinetten ausgefüllt ist die Pause vor der Weiterführung der Melodik auf den Worten „beugt ihre Stengel nieder“. Mahler untergliedert den Vers also liedmusikalisch, um ihm seinen ganzen semantischen und affektiven Gehalt abgewinnen zu können.

    Und eben deshalb legt er auf dieses lyrische Bild, obwohl es doch eine Abwärtsbewegung enthält, keinen melodischen Fall, sondern einen vierschrittigen Sekundanstieg, der am Ende, also bei dem Wort „nieder“ in einen weiteren, nun aber legato gedehnten in hoher Lage übergeht. Hierbei ereignet sich eine harmonische Rückung vom vorangehenden d-Moll nach B-Dur, aber unmittelbar darauf lässt die Oboe, begleitet von den fallend angelegten Achtel-Quartolen der Violinen, eine überaus kläglich anmutende gedehnte und in d-Moll harmonisierte Terzfall-Figur erklingen. Und Melodik, Harmonik und Orchestersatz sind bei diesen Schlussworten des zweiten Verses wohl deshalb so angelegt, weil das lyrische Bild einen Akt der Gewaltsamkeit enthält, der eine entsprechende musikalische Hervorhebung erfordert.

    Weil sich beim zweiten Verspaar das lyrische Ich wieder als ein reflektierendes, zu einer Voraussage übergehendes präsentiert, geht das Orchester nach dem Ausklingen des dünn-kläglichen Tons mit Takt 60 zu einer klanglich volleren, von allen in diesem Werk agierenden Instrumentengruppen mit Ausnahme der Flöten und der Trompeten ausgeführten „fließend“ sich entfaltenden Musik über, die freilich immer noch aus, nun aber mit einem steigenden Auftakt eingeleiteten, von Dur- zu Moll-Harmonik übergehenden Fallfiguren besteht. Und das ist ja auch angebracht, als Hinführung zur Melodik auf diesen Versen, die in ihrer prognostischen Aussage ein wiederum betrübliches, weil eminent herbstliches, den Geist der Vergänglichkeit evozierendes lyrisches Bild enthalten. Auf beiden Versen beschreibt die melodische Linie wieder eine Fallbewegung, aber dieses Mal ist die Anmutung von schmerzlicher Wehmut noch stärker ausgeprägt, als dies bei der Melodik auf den vorangehenden Versen der Fall ist. Das liegt daran, dass die in Moll gebettete (g-Moll), auf einem hohen „E“ ansetzende und sich in Sekundschritten abwärts bewegende melodische Linie am Ende in einen lang gedehnten Sekundfall übergeht.

    Bei den Worten „gold´nen Blätter“ ist es ein sich wiederholender, in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgender Sekundfall in tiefer Lage, bei dem sich eine Rückung von g-Moll nach f-Moll ereignet und der mit der Anweisung „mit zärtlichem Ausdruck“ versehen ist. Bei den Worten „auf dem Wasser zieh´n“ entfaltet die melodische Linie einen noch gesteigerten Ausdruck. Nun geht sie während einer Dehnung auf „Wasser“ auf der tonalen Ebene eines tiefen „G“ in einen verminderten Sekundfall über, macht danach eine Pause im Wert eines halben Taktes, um danach bei „zieh´n“ einen Sekundfall zu beschreiben, wobei die Harmonik von g-Moll nach B-Dur rückt. Die Klarinetten und die Fagotte begleiten das mit gehaltenen Einzeltönen, bzw. bitonalen Akkorden, die erste Oboe vollzieht aber diese Fallbewegung der melodischen Linie mit.

  • „Der Einsame im Herbst“ (4)

    Ein achttaktiges Zwischenspiel folgt nach und leitet zur Melodik der dritten Strophe über. „Zart drängend“ und „zart leidenschaftlich“ lauten hier die Anweisungen. Und in der Tat: Die terzenbetonten, in Es-Dur harmonisierten und aus einem Fall sich immer wieder erhebenden Figuren, die von den Streichern ausgeführt werden, entfalten hohe, nun aber gar nicht mehr schmerzlich anmutende Wehmut und steigern sich am Ende ins Fortissimo, bevor sie mit einem starken Decrescendo in eine sich in immer tiefere Lage absenkende Folge von
    Fallbewegungen über sich erweiternde Intervalle übergehen, die nun wieder in g-Moll harmonisiert sind.
    Es ist, als hielte die Musik den Atem an, auf dass Herzschlag vernehmlich würde. Und das Herz wird ja auch in den ersten Worten, mit denen das lyrische Ich nun zu sich selbst und seiner existenziellen und seelischen Befindlichkeit kommt, direkt und unmittelbar angesprochen. „Mein Herz ist müde“ lautet die Aussage im sprachlich harten Feststellungs-Gestus. Mahler verleiht ihm starken Ausdruck.

    Die melodische Linie beschreibt nach einer dreimaligen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlere Lage bei dem Wort „müde“ einen gedehnten, zu dieser Ebene wieder zurückkehrenden Sekundfall, der, weil zudem noch in d-Moll-Harmonik gebettet und von nichts anderem als einem Quinten-Auf und Ab der Bratsche begleitet, wie der Inbegriff musikalischer Evokation von Müdigkeit anmutet. Es ist das klassische Seufzer-Motiv, das hier erklingt. Eigenartig aber die ihm beigegebene Vortragsanweisung Mahlers: „p ohne Ausdruck“. Sie macht sprachlich manifest, wie er diese melodische Figur verstanden wissen will. Sie soll nicht, wie das ja eigentlich bei ihr naheliegend ist, mit Emphase, sondern mit zurückgenommener Stimme vorgetragen werden, darin zum Ausdruck bringend, dass dieses lyrische Ich in fundamentaler Müdigkeit und Einsamkeit auf sich selbst zurückgeworfen ist. Daher die Kraft- und Ausdruckslosigkeit seines auf der tonalen Ebene verharrenden, nach nur kleiner Erhebung davon wieder auf sie zurückfallenden und fast schon wortlosen Bekenntnisses.

    Eine lange, dreitaktige Pause folgt ihm nach, in der die ersten Violinen eine ruhige Sekundanstiegsbewegung vortragen, die die Oboen, die Klarinetten und die Fagotte in einen Fall übergehen lassen, damit den Geist, in dem es erfolgt, nochmals zum Ausdruck bringend. Die melodische Linie auf den nachfolgenden Worten „Meine kleine Lampe erlosch mit Knistern“ mutet in dem fünfmaligen, in d-Moll harmonisierten und immer wieder gedehnten Fall über Sekunden und eine Terz wie ein neuerlicher Ausdruck dieser fundamentalen Müdigkeit. Und weder stimmt das Orchester ein. Diesmal sind es die Flöten, die eine fallend angelegte Linie in hoher Lage artikulieren. Dann aber gehen ersten Violinen zur Ausführung einer mit einem Portamento versehenen Anstiegsbewegung über, die in C-Dur mit Rückung nach F- und B-Dur harmonisiert ist. Und in diese stimmt die Singstimme mit den Worten „es gemahnt mich an den Schlaf“ ein. Sie trägt dabei eine melodische Linie vor, die in ruhigen, im Wert eines Viertels ausgeführten deklamatorischen Sekundschritten von einem tiefen „C“ bis zu einem „H“ in mittlerer Lage ansteigt, und dann bei letzten Schritt bei dem Wort „Schlaf“ in eine sehr lange (ganze Note!) Dehnung auf der tonalen Ebene eines „B“ übergeht, wobei die Harmonik ebenfalls eine vom Orchester in einem lang gehaltenen Akkord vorgetragene Rückung nach B-Dur vollzieht.

    Er geht in eine melodische Fallbewegung bei den Flöten und den Violinen über, der ein zweimaliger verminderter Quintfall bei den Oboen nachfolgt. All das geschieht im Pianissimo. Und was will die Musik hier sagen? Wenn sie in dieser Gestalt das Bekenntnis des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, in einer aufsteigend angelegten, in fortschreitende Dur-Harmonik gebetteten melodischen Linie und einem in harmonischer Verminderung der Fallbewegungen endenden Kommentar des Orchesters, dann will das wohl so verstanden werden, dass der „Schlaf“, an den sich das lyrische Ich „gemahnt“ fühlt, der des Todes ist. Wobei die nun gar nicht mehr kläglich fallende und tiefe existenzielle Müdigkeit zum Ausdruck bringende Melodik wohl sagen will, dass dieser „Schlaf“ als Erlösung empfunden wird. Daher die lange Dehnung auf dem Grundton bei diesem Wort.

    Und daher auch die Emphase, die der „innig“ vorzutragenden Melodik auf den Worten „Ich komm zu dir, traute Ruhestätte! Ja, gib mir Ruh“ innewohnt. Ganz und gar in Dur-Harmonik gebettet (D-Dur mit Zwischenrückung zur Dominante) beschreibt die melodische Linie einen ausdrucksstarken Legato-Sextfall auf „zu dir“, dem ein mit einem Bogen eingeleiteter gedehnter Sekundfall auf dem Wortteil „-stätte“ nachfolgt. Eine über eine verminderte Quinte bis zu einem hohen „D“ ausgreifende und wieder in einem Legato-Sextfall endende Bogenbewegung liegt auf den Worten „Ja, gib mir Ruh“. Das „Ja“ trägt dabei eine Dehnung, die es hervorhebt, ebenso das Wort „Ruh“, und dies, wie ihm das zugehört, in tiefer Lage, aber in d-Moll harmonisiert.

  • „Der Einsame im Herbst“ (5)

    Dem Bekenntnis des lyrischen Ichs „ich hab´ Erquickung not!“ wird durch die Anlage der Melodik und ihrer Harmonisierung starke Eindrücklichkeit verliehen. Das Wort „not“ bringt ja eine Bedürftigkeit von hoher existenzieller Relevanz zum Ausdruck, und so beginnt die melodische Linie denn in A-Dur-Harmonisierung mit einem auf einem tiefen „H“ ansetzenden Sekundanstieg, beschreibt einen gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage bei „Erquickung“ und geht auf dem Wort „not“ in einen ungewöhnlichen Fall über: Einen über das Intervall einer verminderten Quinte, der als Glissando ausgeführt wird und auf einem tiefen „B“ endet, wobei die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden A-Dur nach g-Moll vollzieht.

    Bei diesen bekenntnishaft vorgebrachten und aus dem tiefsten Innern kommenden Aussagen des lyrischen Ichs ist die Musik am dem Kern angelangt, um den sie in diesem Werk kreist: Dem aller menschlichen Existent, allem Leben wesenhaft innewohnenden Sein zum Tode, das als Vergänglichkeit erfahren wird und dem, wie im trotzigen Aufbegehren gegen diese Erfahrung die Feier des Lebens und das Besingen von Jugend und Schönheit entgegengesetzt wird.

    Aber das lyrische Ich ist in zweiten liedhaften Satz mit seinen die eigene existenzielle Befindlichkeit betreffenden Aussagen noch nicht am Ende. Und so erklingt in dem der letzten Strophe vorausgehenden zehntaktigen Zwischenspiel eine Musik, die wie ein klangliches Ersterben wirkt. Die Violinen gehen wieder zu ihren lange nicht mehr vorgebrachten und beharrlich auf der tonalen Ebene ziellos um sich selbst kreisenden Achtel-Quartolen über, und die einzigen, die etwas dazu beizutragen haben, sind die Oboe und das Fagott, in dies in Gestalt von kläglichen, weil nur aus Einzeltönen bestehenden und in d-Moll harmonisierten gedehnten Legato-Fallfiguren im Pianissimo.

    Schmerzlich tiefe Klage bringt die melodische Linie mit ihren in einem auftaktigen Sekundsprung einsetzenden und dann in einen sehr lang gedehnten und ganz in Moll gebetteten Fall auf den Worten „Ich weine viel“ zum Ausdruck. Und der ebenfalls in ruhigen, weil durchweg in Schritten im Wert von halben Noten erfolgende melodische Bogen auf den Worten „in meinen Einsamkeiten“ verleiht diesem schmerzlichen Geständnis große, weil die existenziellen Gründe benennende Eindrücklichkeit. Auf dem Wort „Einsamkeiten“ beschreibt die melodische Linie einen extrem lang gedehnten, weil sie in seiner deklamatorisch ruhigen Vierschrittigkeit von einem hohen „D“ bis zu einem tiefen F“ führenden, also eine ganze Sexte übergreifenden und in g-Moll gebetteten Fall.

    Die Flöte lässt danach immer wieder, wie sie das ja schon einmal getan hat, einen Klageton in Gestalt eines sich erweiternden und langsam in tiefe Lage absinkenden Intervalls erklingen, der in ein Tutti des ganzen Orchesters mündet, in dem die Singstimme den Vortrag der melodischen Linie auf den Worten „Der Herbst in meinem Herzen währt zu lange“ fortsetzt. Das soll, so die Anweisung, „mit voller Empfindung, leidenschaftlich“ erfolgen. Und dafür liefert sie in ihrer Anlage auch sehr wohl die Grundlage, denn sie besteht aus einer Folge von vier Fallbewegungen in Sekundschritten, die sich in der tonalen Ebene nach einer Pause erst um eine Sekunde absenken und weiter in die Tiefe vorstoßen, dann aber mit einem Quartsprung in oberer Mittellage ansetzen, um im letzten Schritt bei dem Wort „lange“ einen um eine weiteren Sekunde angehobenen gedehnten Fall über eine verminderte Sekunde zu beschreiben, bei dem die Harmonik, die sich bislang in B- und F-Dur bewegte, eine Rückung nach d-Moll vollzieht, die Schmerzlichkeit dieser affektiv hoch aufgeladenen melodischen Aussage zum Ausdruck bringend.

    Dann aber wird, aus der tiefen Resignation und Depression, vom lyrischen Ich die „Sonne der Liebe“ wie in einem Akt der Verzweiflung angerufen. Das Orchester bereitet das vor, indem es im Tutti in ein Fortissimo ausbricht, das in D-Dur harmonisiert ist. „Mit großem Aufschwung“ deklamiert die Singstimme diese Worte forte in Gestalt einer in Es-Dur gebetteten melodischen Linie, die sich erst in Legato-Sekundschritten auf den Worten „Sonne der“ in tiefe Lage absenkt, um dann über einen veritablen Oktavsprung zu einer geradezu endlos anmutenden, am Ende in einen Legato-Terzfall mit nachfolgendem Sekundanstieg übergehenden Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „Sonne“ überzugehen, die die Holzbläser mit einer fallend angelegten Folge von Terzen begleiten.

    Darin drückt sich die Leidenschaftlichkeit dieses Anrufs aus, den man freilich nicht anders als einen verzweifelten verstehen kann. Und die Melodik auf den nachfolgenden, ja in eine Frage mündenden Worten „willst du nie mehr scheinen“ lässt das geradezu überdeutlich vernehmen, steigt sie doch, in B-Dur harmonisiert und „sehr leidenschaftlich“ vorzutragen, erst in Sekundschritten in hohe Lage auf und beschreibt dann zweimal und sich dabei in der tonalen Ebene um eine Sekunde absenkend, einen gedehnten Sekundfall auf den Worten „nie mehr“ und „scheinen“, der sie, auch weil der zweite ein Legato-Fall in Gestalt von halben Noten ist, mit einem starken Akzent versieht.

  • „Der Einsame im Herbst“ (6)

    Mahler untergliedert hier, am Ende des Liedes, die Melodik mit großen Pausen, damit der extrem hohe affektive Gehalt der Frage, die aus dem lyrischen Ich in der Hoffnungslosigkeit seiner Situation regelrecht herausbricht, hinreichend zum Ausdruck kommen kann. Nach einer fast eintaktigen Pause setzt die Singstimme mit der Deklamation der Worte „um meine bittern Tränen“ ein. Sie erfolgt, wie so oft in diesem Lied, wieder in Gestalt einer melodischen Linie, die, in B-Dur harmonisiert, aus einem Sekundanstieg mit einem Sprung – hier über das Intervall einer Quarte – zu einer bogenartigen und am Ende gedehnten Fallbewegung übergeht, die dem Wort „Tränen“ einen starken Akzent verleiht. Das Orchester verstärkt diesen durch eine von den Violinen vorgetragenen Legato-Fall von Vierteln, in den die Bratschen und die Celli Sechzehntel-Bögen hineinsetzen und die Harfe triolische Achtelfiguren.

    Und wieder lautet die Anweisung für den Vortrag der – nun nach einer Pause von fast zwei Takten einsetzenden - Melodik auf den die Frage beschließenden Worten „mild aufzutrocknen: „Ohne Ausdruck“. Und wieder will die Musik damit sagen, dass das lyrische Ich in seiner Hoffnungslosigkeit so sehr auf sich selbst zurückgeworfen und in sich selbst versunken ist, dass es ihm sinnlos erscheint und es wohl auch gar keine Kraft mehr dazu hat, seine existenzielle Situation und seine seelische Befindlichkeit nach außen zu tragen. Dementsprechend erhebt sich die melodische Linie auf diesen Schlussworten nach einer dreimaligen Tonrepetition in mittlerer Lage nur mit einem Sekundschritt aus dieser nach oben, um danach, und dies auf gedehnte Weise, wieder auf diese tonale Ebene zurückzukehren. Begleitet wird sie bei dieser Bekundung tiefer Müdigkeit nur von den Celli, die ein triolisches Auf und Ab im Intervall einer Quinte erklingen lassen.

    Dem Orchester bleibt nun im zwölftaktigen Nachspiel nur noch, nach einem langen Sekundfall des Fagotts, zum Gestus des Vorspiels zurückzukehren und die Oboe die in d-Moll gebetteten Klagefiguren erklingen zu lassen, mit denen sie dort die Liedmusik einleitete. Und begleitet werden sie auch von den um sich selbst kreisenden Achtelquartolen der ersten Violinen, die zwar, derweilen die Fagotte und die Hörner ebenfalls Sprungfiguren mit Falltendenz artikulieren, in eine Anstiegsbewegung übergehen, aber weil die Figuren der Oboe in immer tiefere Lage absinken, folgen ihnen die Violinen darin.

    Bis dann alles erlischt. Die Oboe lässt nur noch ein lang gehaltenes „D“ in tiefer Lage erklingen und verstummt danach, die B-Klarinette greift ihn auf und lässt ihn in die Tiefe sinken, wo er am Ende, nachdem auch die Violinen von ihren Quartolen abgelassen haben, „morendo“ mit einer Sexte der Hörner im Piano-Pianissimo zu einem d-Moll-Akkord verschmilzt und in der Unhörbarkeit ausklingt.

    Der „Einsame im Herbst“ hat vergeblich nach der Sonne gerufen, die seine „bittern Tränen“ trocknen könnte. Alles um die Hoffnung auf Erlösung kreisende Fühlen und Denken ist im Wissen um seine Vergeblichkeit in ihm erloschen.

  • „Von der Jugend“

    Mitten in dem kleinen Teiche
    Steht ein Pavillon aus grünem
    Und aus weißem Porzellan.

    Wie der Rücken eines Tigers
    Wölbt die Brücke sich aus Jade
    Zu dem Pavillon hinüber.

    In dem Häuschen sitzen Freunde,
    Schön gekleidet, trinken, plaudern,
    Manche schreiben Verse nieder.

    Ihre seidnen Ärmel gleiten
    Rückwärts, ihre seidnen Mützen
    Hocken lustig tief im Nacken.

    Auf des kleinen Teiches stiller
    Wasserfläche zeigt sich alles
    Wunderlich im Spiegelbilde,

    Alles auf dem Kopfe stehend
    In dem Pavillon aus grünem
    Und aus weißem Porzellan;

    Wie ein Halbmond steht die Brücke,
    Umgekehrt der Bogen. Freunde,
    Schön gekleidet, trinken, plaudern.

    Mahler hat die sechste und die siebte Strophe Bethges ausgetauscht und textliche Veränderungen vorgenommen. Bei diesem endet das Gedicht nach LI-TAI-PO so:

    Wie ein Halbmond scheint der Brücke
    Umgekehrter Bogen. Freunde,
    Schön gekleidet, trinken plaudern,

    Alle auf dem Kopfe stehend,
    In dem Pavillon aus grünem
    Und aus weißem Porzellan.

    Die Lyrik entwirft ein feinen Strichen gezeichnetes, völlig in sich ruhendes und nur geringe innere Bewegung aufweisendes, also wesenhaft statisches Bild, das exotisch-chinesisches Flair atmet: Mit einem Pavillon, der anmutet, als wäre er aus grünem und weißem Porzellan gebildet, mit einer Brücke, die an den Rücken eines Tigers erinnert und mit „Freunden“, die, schön in seidenen Mützen und Ärmeln gekleidet, nichts anderes tun als trinken, plaudern und Verse schreiben, also in wenig aktivistischer Haltung an Ort und Stelle verweilen.

    Und dann erfährt die Statik dieses Bildes eine erstaunliche lyrische Steigerung: In Gestalt einer neuerlichen lyrischen Zeichnung dieser Szene als Spiegelbild, in dem alles auf dem Kopf steht, - der Pavillon, die jungen Menschen und die Brücke. In der Spiegelung, die eine Perversion von Realität mit sich bringt, wird das lyrische Bild gleichsam entmaterialisiert und seiner ohnehin schon nur gering ausgeprägten Zeitlichkeit entledigt.

    Bei Bethge sind diese Verse mit dem Titel „Der Pavillon aus Porzellan“ versehen. Mahler aber überschreibt seine Komposition mit den Worten „Von der Jugend“. Und das ist nicht alles, was er abändert. Gravierender ist sein Eingriff in die Strophenfolge: Er vertauscht die beiden Schlussstrophen und muss in diesem Zusammenhang um der Aussage-Logik willen, aus dem Wort „alle“ ein „alles“ machen. Überdies macht er, was das Bild anbelangt, aus dem „wie ein Halbmond Scheinen“ ein Sein. Bei ihm „steht“ die Brücke „wie ein Halbmond“.

    Mit diesem Eingriff in die strophische Struktur hat er deren Spiegel-Symmetrie annulliert, die sich darin zeigt, dass bei Bethge in der letzten Strophe die Verse zwei und drei der ersten wortgetreu wiederkehren. Mahler wollte diese Identität von Inhalt und Struktur, wie sie den Reiz des Bethge-Gedichts ausmacht, also nicht in seine Musik übernehmen. Und schaut man sich deren Anlage an, so findet man darin auch eine Erklärung dafür. Und es wird auch ersichtlich, dass dieser Eingriff in die Textstruktur auch mit der Abänderung des Titels in unmittelbarem Zusammenhang steht.

    Mahler setzt einen anderen thematischen Schwerpunkt. Ihm geht es im Kern nicht um dieses artifizielle lyrische Bild vom „Pavillon aus Porzellan“, es bildet für ihn nur den Rahmen für das, worauf seine Musik eigentlich ausgerichtet ist und was sie mit ihren Mitteln in seiner existenziellen Relevanz ausloten soll:
    Es ist – um einen philosophischen Terminus zu bemühen – das Existenzial „Jugend“, das er in diesem dritten Lied-Satz seines „Liedes von der Erde“ zum kompositorischen Gegenstand macht.

    Und das hat zur Folge, dass diese Komposition eine andere strophische Gliederung erhält als das Gedicht Bethges, das ihr zugrunde liegt. Dem analytischen Blick erweist sie sich als viergliedrig. Die Textstrophen eins und zwei bilden die erste, und die Textstrophen drei und vier die zweite Liedstrophe. Die fünfte Strophe Bethges wird zur dritten, mittels kompositorischer Mittel im Umfang vergrößerten Liedstrophe, und die lyrischen Strophen sechs und sieben bilden die Schlussstrophe der Komposition, die sich vom aus den ersten beiden Strophen sich speisenden Wiederholungcharakter ihrer Musik strukturell als Reprise erweist. Und damit ist auch klar, warum Mahler die Schlussstrophen Bethges umgestellt und sprachlich verändert hat.

    Da es um das Thema „Jugend“ geht, bildet die zweite Liedstrophe das Zentrum und den Kern der Komposition. Die erste liefert gleichsam den Rahmen zu ihrer Aussage, steht darin aber von ihrer Musik her zu ihr in einer Art dialektischem Spannungsverhältnis. Die dritte Strophe erweist sich als Vertiefung der zweiten im Sinne einer Problematisierung ihrer musikalischen Aussage. Von daher muss dann die vierte, die deshalb umgestellten lyrischen Schlussstrophen beinhaltend, die Aufgabe einer Synthese der mit den ersten beiden Strophen in die Liedmusik gekommenen Ambiguität übernehmen, und ist deshalb als deren Musik in ihren zentralen melodischen Motiven aufgreifende und zusammenführende Reprise angelegt.

    In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich dieser lyrische Text von den beiden vorangehenden: Er weist kein lyrisches Ich auf und keinerlei narratives Geschehen. Das ist, worauf ja schon hingewiesen wurde, Folge der zugrunde liegenden poetischen Intention, ein gleichsam statisches lyrisches Bild zu entwerfen. Aber es wirft eine die kompositorische Intention Mahlers berührende Frage auf: Wenn es kein lyrisches Ich gibt, das ihm, es gleichsam als Portal nutzend, die Möglichkeit bietet, sich selbst darin auszudrücken – was ja, siehe die Bemerkung vom „persönlichsten Werk“, sein zentrales Anliegen beim „Lied von der Erde“ ist -, warum hat er dann zu diesem Gedicht Bethges gegriffen?

    Es war wohl das Thema, das ihn dazu bewog, und der Grund für die Berechtigung dieser Annahme findet sich in der Funktion, die der Musik der fünften Liedstrophe zugewiesen ist. Hier ereignet sich, so mein interpretatorisches Verständnis derselben, dieses Sich-selbst-Aussprechen Mahlers. Und bei Art und Weise, wie das Thema „Jugend“ musikalisch dargestellt und in eben dieser dritten, angesichts der kleinen Textbasis auf bemerkenswerte Weise mit großem Gewicht versehenen Musikstrophe gleichsam problematisiert wird, hatte er möglicherweise auch seine eigene subjektive Erfahrung von „Jugend“ im Auge. Um dies – freilich nur unter anderem – nachzuweisen, ist ein näheres Eingehen auf die Musik des ganzen Liedes erforderlich.


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