Dieser Thread verdankt eine Entstehung einer Äußerung unseres geschätzten Tamino-Kollegen Bertarido im Thread Was bedeutet euch die Sparte "Lied" ?. Er merkte dort an:
„Ein Komponist, dessen Liedschaffen mir besonders viel bedeutet, ist Benjamin Britten, der bislang im Liedforum kaum vorkommt. Er hat in diesem Genre ein umfassendes Œuvre vorgelegt, das meiner unmaßgeblichen Meinung nach zu dem Bedeutendsten gehört, was im 20. Jahrhundert an Liedern geschaffen wurde.“
Und damit hat er natürlich in allem recht.
Das liedkompositorische Werk Benjamin Brittens ist gewaltig. Dieses Wort ist angebracht, schaut man sich seinen Umfang und die Vielfältigkeit seiner Gestalt an. Ein Musikwissenschaftler (Norbert Abels), der sich u.a. mit Brittens „literarischer Welt“ befasst hat, stellte fest: Es „sucht nicht nur im Kontext des zwanzigsten Jahrhunderts seines gleichen. Lässt man die stattliche Anzahl seiner Folksong-Arrangements einmal aus dem Spiel und wirft nur einen kurzen Blick auf die Reihe der Poeten, die er in seinen Liedern vertont, gerät man ins Staunen.“ Und dann führt er eine „Auswahl“ von 35 Namen an, worunter nicht nur englische sind, sondern auch Victor Hugo, Paul Verlaine, Arthur Rimbaud, Alexander Puschkin, Goethe, Brecht, Hölderlin, Vergil und Ovid.
Britten hat sein ganzes Leben lang Liedmusik komponiert, und das in verschiedener Gestalt, nicht nur Klavierlieder, sondern auch solche mit kammermusikalische, bzw. orchestraler Begleitung. Als Neunjähriger nahm er sich einen lyrischen Text von Robert Burns vor und machte daraus in Schuberts Manier das Lied „O That I Had Ne´et Been Maried“, Im März 1975, also schon nahe vor seinem Tod, schuf er den Zyklus „A Birthday Hansel“, und buchstäblich im Angesicht desselben arbeitete er an einer Kantate auf Texte von Edith Sitwell mit dem Titel: „Praise We Great Men“. Die Liebe zum Lied, die mit einer zur Lyrik einherging, wurde bei ihm wohl im Elternaus geweckt, denn seine Mutter war eine leidenschaftliche Sängerin. Und vermutlich rührt von daher auch, dass er in seinen Liedkompositionen der Melodik, und damit auch der menschlichen Stimme, eine so große Bedeutung beimaß. Für ihn war Musik als Äußerung der menschlichen Seele wesenhaft vokalen Ursprungs. Und bestärkt wurde er in dieser Auffassung durch die Begegnung mit Peter Pears.
Die Zusammenarbeit mit ihm beschreibt er mit den Worten:
„In harter Arbeit lernten wir gemeinsam die großen klassischen Lieder, wobei ich über den Bau eines Liedes und vor allem, wie man für Singstimmen schreiben und Texte aller Sprachen vertonen muss, mehr lernte, als ich sagen kann. So fing ich an, für diese Konzerte auch selber Lieder zu schreiben oder Volkslieder auszusetzen.“
Im Grunde war seine daraus hervorgehende Liedsprache in ihrer Ausrichtung auf kantable Melodik und dem darin einhergehenden Festhalten an der Tonalität alles andere als zeitgemäß. Das wusste er sehr wohl und wehrte sich gegenüber entsprechender Kritik trotzig mit den Worten, ein moderner Komponist müsse „sich als Folge der Explosionen in der musikalischen Welt der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts seine eigene Tradition aufbauen.“ Darin sah er seinen ganz eigenen kompositorischen Auftrag, und den Anknüpfungspunkt dafür fand er bei Henry Purcell, in dessen Musik er den Bruch mit der kompositorischen Orthodoxie, also den revolutionären Individualisten vernahm.
Bezeichnend, weil im Grunde auf seine eigene übertragbar, sind die Worte, mit denen er sie charakterisierte:
„Man Denke an seine ungestümen Rhythmen, seine gewagten misstönenden Akkordverbindungen, seine ausladenden Melodiebildungen ohne mechanische Wiederholungen ohrenfälliger Phrasierungen, insbesondere auch an seine Liebe zum Virtuosen, zum Opernhaften und zu bewussten Anwendung wirklich klingender Brillanz.“
Dieser Thread will der Frage nachgehen, worin die spezifische Eigenart der Liedsprache Benjamin Brittens besteht und welchen Beitrag er mit seinem einschlägigen kompositorischen Schaffen zur Geschichte des Kunstliedes geliefert hat. Zu diesem Zweck sollte, so das ursprüngliche Konzept, ein analytischer Blick auf eine repräsentative Auswahl aus dem liedkompositorischen Werk erfolgen. Das aber erwies sich nach einem ersten Einhören in dieses, das mir bislang bis auf wenige Kompositionen unbekannt war, als undurchführbar. Selbst die sich auf das absolute Minimum beschränkende Auswahl an repräsentativen Werken erwies sich als nicht zu bewältigen. Hinzu kam ein Problem, das sich für mich als gravierend erwies: Fremdsprachige Lyrik.
Liedmusik auf eine lyrische Sprache, die ich leidlich gut verstehe, zu hören und mich daran zu erfreuen, stellt für mich kein Problem dar. Aber zu hören und darüber zu schreiben, das sind zwei Paar Stiefel. Ich äußerte mich darüber – unter Bezugnahme auf Benjamin Britten - bereits einmal im Thread Was bedeutet euch die Sparte "Lied" ? und muss das deshalb hier nicht noch einmal wiederholen. Um es auf den Nenner zu bringen: Wenn ich eine Sprache im Kopf erst übersetzen muss, statt sie wie eine Muttersprache unmittelbar in ihrer ganzen Semantik zu erfassen, bereitet es mir erhebliche Probleme, die daraus hervorgegangene und eben diese Semantik in allen ihren sprachlichen Formen reflektierende Liedmusik in allen kontextualen Bezügen zu ihr zu erfassen und zu beurteilen.
Als ich mich an den „Seven Sonnetts of Michelangelo“, Op. 22 versuchte, musste ich sehr bald die Flinte ins Korn werfen. Bei den englischsprachigen Klavierlieder-Zyklen wie etwa „The Holy Sonnetts of John Donne“, Op.35 oder „Winter Words“, Op. 52 hatte ich keine Probleme, auch „Les Illuminations“ Op. 18 auf Gedichte von Rimbaud lockte mich. Aber am meisten zogen mich die Hölderlin-Vertonungen Brittens an.
Und hier nun kam es zu einem Ereignis, das ich nicht erwartet hatte, mir aber hätte denken können. Es geschah eine Wiederbegegnung mit meiner poetischen Jugendliebe, was zur Folge hatte, dass ich mich viel intensiver, als ursprünglich beabsichtigt war, in diese Hölderlin-Fragmente Brittens vertiefte, weil sich bei jedem einzelnen Lied eine Konfrontation von meiner Interpretation des Gedichts mit der Brittens ereignete. So wurde dann aus dem ursprünglich geplanten Überblicks- und Einblicks-Thread, Brittens Liedkomposition betreffend, einer, der nur ein Thema hat.
Mit Brittens mir bislang nur wenig bekanntem liedkompositorischem Werk werde ich mich natürlich weiter beschäftigen, so dass nicht ausgeschlossen ist, dass wenigstens noch ein Thread daraus hervorgeht.