Ich höre keine ALTE MUSIK!

  • Das Interesse der Mitglieder an den Beiträgen in diesem Bereich des Forums hält sich in Grenzen, soweit ich das überblicke. Eher selten äussert man sich zu den Themen. In den Anfängen des Forums war dies anders. Da wurden rege geschrieben und man setzte sich mit der Alten Musik intensiv auseinander.


    Jeder hat seine Vorlieben in der Musik, mit der er sich beschäftigt. Sei es Opern, Liedgesang, sinfonische Werke, Streichquartette. Die Liste lässt sich weiterführen.


    Ich schätze die Alte Musik sehr. Mein Geschmack ist breit gefächert und ich bin neugierig Unbekanntes hörend zu erforschen.


    Man erfährt über Instrumente und ihre Spielweisen, die sich im Laufe der Zeit verändert haben. Wer kennt noch das Serpent? Es ist in nicht mehr im Gebrauch. Berlioz setzte es noch ein. Für Ensembles, die sich mit mittelalterlicher Musik beschäftigen, ist der charakteristische Klang unverzichtbar. Die Musikgeschichte widmet sich diesen Fragen und liefert Erkenntnisse, die für die historische Aufführungspraxis wichtig sind.


    Die Alte Musik tönt für manche Ohren heutiger Hörer fremd und nicht zugänglich. Wenn man geschichtlich interessiert ist, erfährt man viel darüber, was für Menschen vergangener Epochen wichtig war. Welche Themen beschäftigten sie? Das teilt sich mit der Musik weit zurückliegender Zeiten unmittelbar mit.


    Vieles muss in der Aufführungspraxis Spekulation bleiben.


    Meine Frage: Was hält euch ab, Alte Musik zu hören oder sich darüber zu informieren?

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Meine Frage: Was hält euch ab, Alte Musik zu hören oder sich darüber zu informieren?

    .

    Lieber moderato ,


    ich habe hier hin und wieder schon einmal reingesehen und mir auch ein paar Dinge angehört. Insgesamt macht es auf mich einen interessanten, aber doch entlegenen Eindruck. Es ist ein bisschen, wie ein Klosterbesuch.


    Durch das Forum habe ich nun Biber und Lully kennengelernt, die jetzt bei mir zur ältesten Musik meines Hörbestandes gehören, und die ich noch mit meinem Leben einigermaßen verbinden kann. Meistens halte ich mich musikalisch doch eher im zwanzigsten Jahrhundert auf und da gibt es auch noch sehr viel zu entdecken .....

  • Die Alte Musik tönt für manche Ohren heutiger Hörer fremd und nicht zugänglich.

    Wir, die wir alle durch und auf die terzenreiche Dur-Moll-Tonalität geprägt sind, müssen echt viel Mühe und Toleranz investieren, um mit der auf Quarten und Quinten (auch in Parallelen!) basierenden Harmonik des ausgehenden Mittelalters klarzukommen (Machaut etc.). Ich selbst investierte da bereits einiges Geld und mühsames Bestreben. Es klingt mir oft immer noch sehr fremd. Auch wenn ich weiß, dass sich die Beschäftigung mit beispielsweise "isorhythmischen Motetten" etc. auf jeden Fall lohnen würde, weil das ganz große Kunst und Wissenschaft ist.

    Ab etwa Palestrina fühle ich mich Zuhause in der Alten Musik.

    Er hat Jehova gesagt!

  • Leider teile ich die Auffassung von Johannes Schlüter. Mit den Verzierungen und Koloraturen kann ich wenig anfangen.

    Besonders in der Gegenüberstellung der im barocken Stil geschriebenen Werke von Respighi und seiner römischen Trilogie ist der Unterschied für mich völlig frappierend. Die "Brunnen", "Feste" und "Pinien" begeistern mich. Die dem 16. und 17. JH nachempfundenen Stücke habe ich versucht zu verstehen. Es blieb beim Versuch. Leider.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Leider teile ich die Auffassung von Johannes Schlüter.

    Schaut nicht so aus ... bei ihm beginnt das Problem irgendwo zwischen Palestrina und Machaut, bei Dir schon im Barock.


    Ich habe mal konsequent monatelang nur Musik vor Monteverdi gehört, das hilft.

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  • Meine Hörgewohnheiten haben sich in letzter Zeit immer weiter auf dem Zeitstrahl nach links verschoben, durchaus bis Mittelalter und Renaissance...

    Anregungen aus dem Forum nehme ich immer gern auf, besonders Fiesco ist an einigen Neuerwerbungen "schuld".


    R-11970901-1525732185-2345.jpeg.jpg


    Besonders schade finde ich es, daß der Thread von Kurzstückmeister keine Fortsetzung gefunden hat.

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Ich kann hier keinen Beitrag leisten, weil ich gerne und oft Alte Musik höre, und zwar auch ganz alte, d.h. noch vor Beginn der Polyphonie. Interessant wäre hier auch die Frage, welchen Bereich "Alte Musik" in der Fragestellung umfassen soll. Mein Verdacht ist, dass viele Klassikliebhaber wie La Roche schon mit dem Barock nichts anfangen können, was mir immer ein völliges Rätsel war, während ich es bei den ganz alten schon eher verstehe. Aber das ist vielleicht ein anderes Thema, denn zwischen sagen wir mal Perotin und Bach liegen ebenso viele Welten wie zwischen Bach und Wagner.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Zitat von Reinhard

    besonders Fiesco ist an einigen Neuerwerbungen "schuld".

    Lieber Reinhard, hoffentlich haben dir die Aufnahmen gefallen und ich muss kein schlechtes Gewissen haben! ;)


    Zitat von kurzstueckmeister
    Ich habe mal konsequent monatelang nur Musik vor Monteverdi gehört, das hilft.

    Diese Phase hatte ich auch mal, jedoch höre ich mir Monteverdi nach wie vor liebend gerne an! :)


    Heute muss ich allerdings sagen, das war nicht immer so, ich habe die sog.Alte Musik auch erst verhältnismäßig spät entdeckt, aber dann hat es mich mit Wucht getroffen bis HEUTE!

    Im Nachhinein würde ich sagen, ohne diese Musik wäre mein Leben um viele wunderschöne Musik ärmer.


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ich möchte nur mal auf meinen "Schreibtisch" verweisen, dort findet sich eine Menge Alter Musik, vor allem auch "Alte Musik", die man sofort versteht, alte Musik, die auch mitreißend gespielt wird. Mein Lieblingsthema ist natürlich die Polyphonie ("Mille regretz oder der Trost der Polyphonie"). Josquin, Victoria, Palestrina, Monteverdi, Cavalli, Schütz, Bach sind Komponisten, die absolut in der Reihe von Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms (und weitere B...). Dann die großartigen Ensembles, meist Chor und kleines Orchester, die findet man da auch. Ich muss sagen, dass ich vor 20 Jahren noch einen guten Überblick über die Ensembles für Alte Musik hatte (Harnoncourt, Herreweghe, Savall, Junghänel, Kujken usw.). Heute ist das nicht mehr möglich. Im Chorbereich sind die Engländer unübertroffen, aber inzwischen haben auch die deutschen, österreichischen, italienischen Ensembles aufgeholt. Für eine Überraschung gut sind immer die amerikanischen Ensembles, vor allem die an den Universitäten.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Bei mir lief das so /läuft...

    Als männlicher Jugendlicher war Beethoven mein Gott. Chopin und Debussy kamen in der Folge dazu, glaubte damals, C. und D. sei ähnliche Musik. Beim Jazz fand ich ziemlich schnell New Orleans- und Dixieland- Klänge altertümlich und komisch, wenn nicht ganz und gar zickig. Freejazz wollte ich ein paar Monate/ Jahre lang mögen, bis ich schliesslich dessen Chaos / Lautstärke usw. fast schon abstossend fand.

    Ich lernte allmählich und wusste dann - es kam wie aus einem Nebel unglaublich langsam zum Vorschein, mit Umrissen - oder waren es zuerst die Details ? - was ich wollte: es waren Melodien, dann zugewählte Harmonien, was mich interessierte. Begleitet durch Rhythmus und "Sound", die ganz schön variieren konnten.

    Ein entscheidender Punkt war nun: ich las über Kunst, Physik, u.v.a. Doch nichts über Musik ! Die hörte, spielte und tanzte ich nur. Unter wachsender beruflicher Anspannung hörte ich nun immer weniger Musik, zuletzt empfand ich in einem Jahr mit acht Todesfällen die Vier letzten Lieder und die Regerschen Fantasiewerke auf der Orgel als schönste und gleichwohl "beste" Musik überhaupt. Am Interessantesten erschienen mir Saxophon und Posaune als unbegleitete Soloinstrumente im modalen Jazz. Und unbegleitete Cello- und Violinestücke bzw. -werke. Und von allem möglichst wenig...


    Mir war klar, dass ich nun etwas für mich Wichtiges in der Musik gefunden hatte, irgend etwas Verstecktes darin, das sich mir offenbart hatte. Doch warum gefiel mir Bach nicht, und das über Jahrzehnte hinweg ?

    Warum fing die Musik (früher) für mich erst nach Bach an ?

    Vor einigen Jahren nun hörte ich gesungene Renaissancemusik, erst ein- und mehrstimmig, was mir über die Maßen gefiel. Dann so allmählich alles mögliche, was es so gibt ab 1400 und später. C.Ph.E. Bach finde ich sehr reizvoll und einnehmend, aber eben net den alten Bach. Auch finde ich Musik aus afrikanischen Quellen tief berührend und ausdrucksvoll (z.B. Kulu se mama, )

    Und den Gesang von Anouar Brahem.


    Mit den vielen Fragen zur Musik, warum dieses und warum jenes nicht ? kann ich gut leben. :yes:

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  • Ich möchte nur mal auf meinen "Schreibtisch" verweisen, dort findet sich eine Menge Alter Musik, vor allem auch "Alte Musik", die man sofort versteht, alte Musik, die auch mitreißend gespielt wird

    Da war ich schon hin und wieder und kann nur bestätigen, dass es sich um schöne Musik handelt. Es muss bei mir überhaupt schon sehr dick kommen, dass ich Musik partout nicht mag.


    Aber, wenn man so vor sich hin im Sessel sitzt, dann höre ich eben doch andere Musik. Ich mag es häufig nicht zu feierlich und ich habe schon den Eindruck, dass Musik à la Monteverdi diesen Charakter hat oder auch religiösen Impetus, den ich nicht immer wegblenden kann. Abends mag ich es gerne ruhig und da gibt es klare Favoriten Bach-Cello Suiten, Kunst der Fuge, Haydn, Feldman, Hindemith und Cage oder Scelsi. Diese Rosenkranz-Sonaten von Biber haben auch gewaltiges Potential.


    Wenn es eine Empfehlung gäbe für alte Musik, die nicht so viel von einem möchte, würde ich wahrscheinlich noch einmal einen Versuch wagen ....8-)

  • ich höre Alte Musik regelmässig und mit Freude. Mittelalter bis Ende der Renaissance zähle ich dazu.


    Bei meiner ersten Begegnung mit Alter Musik war ich hin und weg: Es war die Musik des Perotinus Magnus. Er lebte von 1165-1220, vor 800 Jahren. Das nicht mehr bestehende Hilliard-Ensemble hatte diese A Capella Chormusik 1988 eingespielt.



    Spannend finde ich zu verfolgen, wenn die Komponisten Neues wagen, frische Luft eingelassen wird und die Hörerwartungen der damals lebenden Menschen strapaziert wurden. (Aufschlussreich ist es, wenn man die bisherigen Statements im Thread liest, die ähnlich jedoch mit anderem Background auf diese Musik der Vergangenheit reagieren. Wenn man sich bewusst ist, dass die heutigen musikalischen Gepflogenheiten der Musik auf der Vorarbeit unserer Ahnen gründen, umso mehr.) Die Gregorianische Musik kennt keine Mehrstimmigkeit Léonin in Frankreich, der Vorgänger Perotins, wagte erste Versuche mit zwei Stimmen, seine Nachfolger entwickelten die Mehrstimmigkeit bis hin zur kunstvollen Polyphonie der Renaissance. Die Verehrung der A Capella Gruppe The King's Singers kommt daher, die mir diese Musik nahe gebracht hatten.



    Die Konzept Alben, die Jordi Savall herausgibt, die sich einem geschichtlichen oder kulturvermittelnden Thema widmen, bringen Geschichte und die Kulturen mit den ausgewählten Musikbeispiele näher. Die Texte vermitteln Informationen auf wissenschaftlicher Basis, die aber in verständlicher Sprache geschrieben sind.





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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
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  • Ich kann hier keinen Beitrag leisten, weil ich gerne und oft Alte Musik höre, und zwar auch ganz alte, d.h. noch vor Beginn der Polyphonie. Interessant wäre hier auch die Frage, welchen Bereich "Alte Musik" in der Fragestellung umfassen soll. Mein Verdacht ist, dass viele Klassikliebhaber wie La Roche schon mit dem Barock nichts anfangen können, was mir immer ein völliges Rätsel war, während ich es bei den ganz alten schon eher verstehe. Aber das ist vielleicht ein anderes Thema, denn zwischen sagen wir mal Perotin und Bach liegen ebenso viele Welten wie zwischen Bach und Wagner.

    Jahre liegen etwa viermal so viele zwischen Perotinus und Bach wie zwischen Bach und Wagner.

    Ich habe relativ viel Alte Musik im Regal, wg. vieler Anthologien u. Boxen schwer zu schätzen, etwa ein Meter bis um 1600 und noch einer bis Purcell (ab da ist es meist relativ vertraute Musik). Ich muss aber zugeben, dass ich mich nicht nur mit der "ganz alten" (Gregorianik bis 14. Jhd.) sondern auch mit der Musik des 15./16. Jhds. kaum je länger befasst habe. Musik kurz vor und am Beginn des Barock (also ab irgendwann im späten 16. Jhd.) habe ich aber vorübergehend mal relativ viel gehört, hauptsächlich Monteverdi und Dowland u.ä. Elisabethaner.

    Ebenso wie bei den vielen Sachen aus dem 17. Jhd. ist allerdings viel dabei, was mehr im Regal steht, als regelmäßig gehört wird. Es ist der Fluch, dass man erstmal relativ viel Zeit und Energie investieren müsste, um die Vertrautheit zu haben, dass man die Musik gerne häufiger hört. Was schon über der Schwelle ist, hat es leichter.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ein Zwischenspiel:


    Alte Musik und Richard Wagner? Musikalisch hatte der Komponist des 19. Jahrhunderts nichts, rein gar nichts aus der mittelalterlichen sowie der Zeiten davor übernommen, aber bezog sich sehr wohl auf die schriftlichen Zeugnisse. Die haben ihren Ursprung in der mündlichen Überlieferung des Gesungenen, die von Generation an Generation weitergegeben wurde, die irgendwann aufgeschrieben wurde. Es gibt in der heutigen Altern Musik-Szene durchaus Musiker, die mit diesen alten Quellen musikalisch umgehen.


    Zur Erinnerung:

    Richard Wagners Stoffe seiner Opern nutzte zu einem grossen Teil die literarischen Überlieferungen der Edda sowie mittelalterliche Vorlagen. Ohne Kenntnis und das Verhandensein dieser Quellen wäre das Werk Richard Wagners nicht entstanden. Er ist tief in der Geschichte verwurzelt, den Zeiten in der die Alte Musik entstand.


    Vorbemerkung: Als Edda werden zwei verschiedene, in altisländischer Sprache verfasste literarische Werke bezeichnet. (Snorra-Edda (1220), Lieder-Edda (1270)) Beide wurden im 13. Jahrhundert im christianisierten Island niedergeschrieben und behandeln skandinavische Götter- und Heldensagen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten unterscheiden sie sich ihrem Ursprung nach und im literarischen Charakter


    Auf welche schriftlichen Quellen bezieht sich Richard Wagner? (Ich habe mich der Wikipedia Einträge bedient.)


    Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg

    Tannhauser ist eine Volksballade mit einem Thema aus der religiösen Überlieferung, genauer eine Legendenballade (Untergattung der Volksballade) vom Sünder, dem der Papst den Sündenablass (Vergebung) verweigert. Um eine Verwechslung mit dem historischen Minnesänger Tannhäuser (13. Jahrhundert) auszuschließen, wird die Ballade Tannhauser genannt – bei Richard Wagner sind in seiner Oper Tannhäuser mehrere Stoffe miteinander vermischt.


    Lohengrin

    Das vom Komponisten verfasste Libretto basiert auf dem Sagenkreis um Lohengrin und Elsa, die in verschiedenen Fassungen überliefert ist. Die meisten Übereinstimmungen bestehen zur 536. der Deutschen Sagen der Brüder Grimm (Lohengrin zu Brabant) sowie zur Prosa-Nacherzählung in C.T.L. Lucas Ueber den Krieg von Wartburg (1838). Die literarische Figur des Loherangrin taucht im letzten Kapitel des mittelalterlichen Versepos Parzival Wolframs von Eschenbach als Seitenfigur auf. Der Gralsritter Loherangrin, Sohn des Gralskönigs Parzival, wird auf einem Schwan der Herzogin von Brabant als Helfer und Beschützer gesandt. Als Bedingung für seine Hilfe darf sie ihn niemals nach seinem Namen fragen. Als sie sein Verbot bricht, muss er sie verlassen. Wagner griff die Figur auf und baute das Frageverbot zum Kern einer Geschichte aus, die das Verhältnis zwischen göttlicher Sphäre und irdischem Jammertal und zwischen frühmittelalterlichem Christentum und germanischer Götterwelt darstellt. Gleichzeitig versuchte Wagner, Elemente der griechischen Tragödie in die Handlung einzuflechten.


    Der Ring des Nibelungen mit vier Teilen:

    Vorabend: Das Rheingold

    Erster Tag: Die Walküre

    Zweiter Tag: Siegfried

    Dritter Tag: Götterdämmerung

    Die ersten Ideen zum „Nibelungenwerk“ Wagners gehen auf das Jahr 1843 zurück, und sich u. a. intensiv mit den deutschen Sagen, der nordischen Edda, der griechischen Mythologie und dem Grals-Mythos beschäftigte. Ursprünglich wollte Wagner nur die bekannte Sage unter dem Titel Siegfrieds Tod (d. i. die spätere Dichtung der Götterdämmerung) musikdramatisch bearbeiten. Nachdem er das Textbuch zu Siegfrieds Tod im November 1848 vollendet hatte und es zu komponieren versuchte, erkannte er aber, dass zu viel Vorgeschichte fehlte, die nur episch, nämlich in der Erzählung der Nornen, ins Drama eingefügt war.


    Tristan und Isolde

    Die Tristan-Handlung stützt sich auf den keltischen Sagenkreis um König Artus und Tristan – letzterer überliefert in dem großangelegten Versroman Tristan des Gottfried von Straßburg (13. Jahrhundert).


    Die Meistersinger von Nürnberg

    Das Werk hat im Gegensatz zu den meisten anderen Musikdramen Wagners keinen erkennbaren mythologischen Hintergrund. Die Oberfläche des Werks stützt sich ganz auf Historisches. Wagner lässt Personen aus der Zeit Nürnbergs im Zeitalter der Reformation, im 16. Jahrhundert, auftreten, darunter den Dichter Hans Sachs. Dieser in Nürnberg und ganz Süddeutschland verehrte Dichter und Schustermeister (1494–1576) war mit über 6.000 Werken (ca. 4.000 Meisterlieder, ca. 1800 Spruchgedichte, ca. 200 Dramen, Fabeln und Schwänke) einer der produktivsten deutschen Dichter. Richard Wagner entnahm sein Wissen um die Regeln der Meistersinger (die „Tabulatur“) vor allem der 1697 erschienenen Nürnberg-Chronik mit einem Anhang „Von der Meister-Singer holdseligen Kunst“ Johann Christoph Wagenseils (1633–1705), der im Übrigen dieses pedantische Regelwerk auf die strengen Regeln und Vorschriften des jüdischen Talmud zurückführt. Die angeblich bereits im 14. Jahrhundert schriftlich fixierte Tabulatur, welche die Musik der höfischen Minnesänger dem Bedarf ihrer bürgerlichen Nachfolger adaptieren sollte, gibt zugleich einen detaillierten Einblick in das damalige Leben der Handwerkermeister.


    Parsifal

    Einige der Figuren, insbesondere Titurel, Amfortas, Klingsor und Parsifal, gehen aus den Anfang des 13. Jahrhunderts entstandenen Versepos Parzival zurück, der im 8. Jahrhundert spielt. Die eigentliche Handlung basiert aber nur lose auf dem Versepos und ist in vielen Details Wagners eigene Schöpfung. Insbesondere die Anlage der Figur der Kundry als zugleich Zauberweib und Büßerin, aber auch die Schreibweise Parsifal (und die wissenschaftlich nicht haltbare Etymologie, die Parsifal mit dem Fal Parsi, dem reinen Toren, gleichsetzt) sind Schöpfungen Wagners. Die christlichen Reliquien Gral und Heiliger Speer stehen Seite an Seite mit buddhistischen Ideen und insbesondere der Idee von Reinkarnation, die dem Parzival-Epos völlig fremd sind

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  • Das Ensemble Sequentia beschäftigte sich mit der Musik längst vergangener Zeiten. Vieles ist Spekulation, die Musiker haben sich intensivst mit der Aufführungspraxis auseinandergesetzt. Die Booklets sind jeweils sorgfältig gestaltet. Leider sind die CDs vergriffen. Antiquarisch wird man noch fündig.


    Hier ist es die Edda, die isländische Versdichtung.



    Die Nibelungen sind in der Edda enthalten:


    Die Produktinformation beschreibt den Zwiespalt, in dem sich Musiker befinden, die sehr alte Quellen nutzen:


    "Es ist stets eine Reise in musikalische Grauzonen, wenn man im musikalischen Mittelalter nach Authentizität sucht. Der Weg ist stets mühsam, oft bleibt er ohne Lohn. Benjamin Bagby, Gründer und Leiter von Sequentia, hat sich nun auf Spurensuche nach Island begeben: Unternehmen 'Edda'. Als Hauptquelle diente ihm der 'Codex Regius'. Herausgekommen ist eine CD-Fassung, bei der die Nibelungensage umrahmt wird von der 'Voluspä', einer ebenfalls altisländischen Lieddichtung. Näheres über die Schwierigkeiten, wie man an verlässliches Material zur Rekonstruktion solcher Musik kommt, findet sich in den Booklet-Texten. Sehr empfehlenswert. Das gilt auch fürs Musikalische. Das (hier neu zusammengestellte) Sigurd-Lied markiert auf überzeugende Weise die Dramatik der alten Heldensagas: Herausforderung, Zuspitzung, Zuspitzung von Situationen, Unbändigkeit. Alt-Island ? unverfälscht, glasklar, anregend."



    Die Texte des Rheinland Sängers aus dem 10. und 11. Jahrhundert sind in überliefert. Musikalisch hat man versucht, die Zeilen umzusetzen. So könnte es geklungen haben.




    Weitere Werke des Mittelalters, die Sequentia eingespielt hat, findet man in dieser Box, leider ebenfalls vergriffen:


    1.CD Dante and the Troubadours - Werke von Peguilhan, Daniel, Born, d'Alvernhe, Bornhelh, Marseilla

    2.CD Englische Lieder des Mittelalters (Anonymus)

    3.CD Philippe le Chancelier: Conductus, Lai, Sequence, Rondellus

    4./5.CD Trouveres - Höfische Liebeslieder aus Nordfrankreich: Lieder von Bethune, Anonymus, Brule, Blondel De Nesle, De La Hale, De Lescurel, De Cruce

    6.CD Heinrich von Meissen: "Frauenlob" - Preisgesänge auf die "Himmlische Frau", komponiert ca. 1290 unter anderem auf Texte des salomonischen Hoheliedes

    7.CD Philippe de Vitry: 20 Motetten & Lieder

    8.CD Oswald von Wolkenstein: Balladen & Lieder

    9./10.CD Bordesholmer Marienklage (Ein geistliches Spiel aus Bordesholm 1475 / 76)




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  • Was schon über der Schwelle ist, hat es leichter.

    :thumbup::thumbup::thumbup: So ist es. Leider nehme ich mir nicht diese Zeit, da meine Restlebenszeit sicher nicht ausreichen wird, diese Schwelle auch nur zu erreichen. Ich habe noch verdammt viel aufzuholen aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Ich gehe davon aus, daß der "durchschnittliche Klassikhörer" nicht für "alte Musik" zu gewinnen ist - und auch für Barockmusik nur in Ausnahmefällen - von "früher Musik" gar nicht zu sprechen.

    Das fängt schon bei den Interpreten an, die alle ein bisschen was "verschrobenes" an sich haben - was hier keineswegs negativ verstanden werden soll - vor allem deshalb n icht, weil ich mich selbst als "verschroben" einschätze - und gut damit leben kann.

    Hier hatten wir dereinst einige Liebhaber alter Musik versammelt, die ann irgendwann ziemlich geschlossen das Forum verliessen und ein spezifisches "Alte Musik-Forum" gründeten. Ich gestehe, daß mir - von allen Mitgliedern, die je dieses Forum verliessen - umd diese Gruppe am meisten leid tat. Deren Forum war - wie auch einst unseres - nicht meh - weiter betriebsfähig und es wäre ein relativ aufwändiges Upgrade erforderlich gewesen, daß entweder ein technikaffines Mitglied hätte durchführen müssen oder ein professioneller Anbieter - was teuer gewesen wäre. Man konnte oder wollte es nicht leisten und so gab man dieses Forum dem Verfall preis...

    Ein Rückkehr von Mitgliedern ist zwar bei Tamino explizit ausgeschlossen - aber hier hätte ich eine Ausnahme gemacht. Sie kehrten nicht zurück und es kamen auch keine "Neuen" mit diesem Interessenbereich ins Forum. Klassikliebhaber sind introvertiert, aber bei Liebhabern alter Musik ist das besonders ausgeprägt. Nicht mal die Serie "Die Protagonisten der Alten Musik", die einst einst das Mitglied "Salsburgensis" gestartet hatte - und später ich und "moderato" fortgesetzt und stark erweitert haben konnte Interessenten gewinnen. Dazu kommt naoch, daß die Tonträgerindustrie ebenfalls resigniert hast und wegen mangelnder Nachfrage Aufnahme unm Aufnahme abverkauft und gestrichen hat. Ich nehme diesen Zustand als gegeben und unabänderbar hin...


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wer seine Wurzeln nicht kennt, irrt in der Gegenwart umher und torkelt in die Zukunft dem Abgrund entgegen.


    Die Musiker, die sich Alter Musik annehmen, sie spielen und veröffentlichen, sind Fachleute. Da gibt es eine nicht geringe Anzahl, auch junger Leute, die das Erbe pflegen und weitergeben.


    Es ist an uns Zuhörern dass ihre Saat aufgehen kann, den ohne ein interessiertes und empfängliches Publikum sind alle Mühen vergebens.

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  • Wer seine Wurzeln nicht kennt, irrt in der Gegenwart umher und torkelt in die Zukunft dem Abgrund entgegen.

    Lieber moderato ,


    ich hatte mir meinen Zustand etwas euphemistischer ausgemalt. Für mich war bisher Musikhören unkomplizierter. Aber bevor ich nun haltlos in die Zukunft torkele, habe ich mir den Perotin mal angehört. Was hört ihr gerade jetzt? (Klassik 2021)


    Sehr schöne Musik, aber man hat den Eindruck, man erhebt die Stimme nur zum Lobe Gottes und der Jungfrau Maria. Du musst schon zugeben, dass das in heutiger Zeit nicht immer nur der Fall ist und manche Musik eventuell auch einen anderen Zweck haben kann und sich deswegen auch anders anhört. (Messiaen ist eine große Ausnahme)

  • Lieber astewes


    Wovon gesungen wird, ist mir egal. Da bin ich pragmatisch und konzentriere mich auf die Musik. Und die hat es in sich.

    Du brauchst nicht in Mönchskutte zu wandeln, wenn du diese Musik hörst. Wenigstens ist das bei mir so.


    Da die Musiker Léonin und Magnus Pérotin Mönche waren, was ich annehme, und an der Kathedrale Notre Dame in Paris wirkten, war ihre Musik Ausdruck ihres Glaubens. Sie und ihre Klosterbrüder haben die Notation, das schriftliche Fixieren der Musik entwickelt. Ohne ihre Vorarbeit, wäre es nicht möglich geworden, Musik aufzuschreiben.


    https://de.wikipedia.org/wiki/Léonin


    https://de.wikipedia.org/wiki/Pérotin


    Die in meinem Beitrag 15 erwähnte Musik der Edda ist weitaus blutrünstiger und bodenständiger. Da tun sich menschliche Abgründe auf.

    Oder die Schönheit der Liebe, wenn du die Musik der nordfranzösischen Trouvères dir anhörst.


    Im Denken der Menschen dieser frühen Epochen hat sich ein steter Wandel vollzogen. In der Musik, den Bauwerken und der Malerei kommt dies zum Ausdruck. Das ist für mich das Faszinierende.

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  • Sehr schöne Musik, aber man hat den Eindruck, man erhebt die Stimme nur zum Lobe Gottes und der Jungfrau Maria.

    Ja, das ist für den Großteil der älteren Kunst so. Immerhin hat das aber den Vorteil, dass es nicht so arg desillusionierend-depressiv zugeht wie oft in jüngerer Kunst.

  • Wenn man, wie ich, in der frühen Jugendzeit mit Renaissance-Musik beispielweise der drei großen "SCH" (Schein, Scheidt, Schütz) und anderer Komponisten dieser Zeit singend groß geworden ist, wird man diese Erlebnisse nicht mehr los und auch nicht missen wollen. Ich gebe allerdings zu, dass die Melodien eines Perotin oder Leonin (und der Musiker dieser Zeit) nicht in mein Ohr gehen wollen - das funktioniert bei mir nicht. Der älteste Musiker in meiner Sammlung alter Musik ist der um 1300 geborene Guillaume de Machaut. Bei älteren Musikern fällt mir nur der französische Trouvère Adam de la Halle (um 1235-1287) als eine Ausnahme ein. Dessen "Le Jeu de Robin et de Marion" hat mich mal zum Kauf einer LP (lang ist's her) veranlasst; die ist aber den Weg alles Irdischen gegangen und als CD habe ich sie nicht mehr gekauft (ich weiß auch jetzt nicht zu sagen, ob es dieses Spiel auf CD gibt - es wäre einer Suche wert!).


    Ob Instrumentales oder auch Gesungenes - die alte Musik kann mich auch heute noch begeistern. Mir fällt in diesem Zusammenhang ein, dass man mal die originale, rhythmisch völlig anders geartete Luther-Melodie von "Ein feste Burg" mit dem heute üblichen Melodienfluss vergleichen sollte. Mir kommt es wie eine komplett andere Musik vor. Dieses Beispiel kann man übrigens auf viele Kirchenchoräle anwenden. Das, was wir heute kennen, ist eine Vereinfachung.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Im Denken der Menschen dieser frühen Epochen hat sich ein steter Wandel vollzogen. In der Musik, den Bauwerken und der Malerei kommt dies zum Ausdruck. Das ist für mich das Faszinierende.

    Lieber moderato


    Hier muss ich Dir einschränkungslos recht geben. Für mich war jetzt Perotin auch ein echtes Erlebnis und ja, damals lebte man anders, hatte ein anderes Zeitverständnis über die Entfaltung der Musik, durchaus auch faszinierend. Ich muss bescheiden bleiben. Ich habe jetzt zum erstenmal diese Art von Musik gehört (Ich habe noch einen Orlando di Lassus gefunden sehr vieeeel später komponiert..) und sollte mit Äußerungen vorsichtig sein.


    Wenn man aber (als Genussmensch, nicht als Bildungsmensch, am Abend Musik hört, benutzte ich die Musik ganz frevelhaft, um akustische Eindrücke des Tages (leider auch viel Müll) zu verarbeiten. Für mich sind da die Cello-Suiten von Bach viel einfacher zu benutzen, als dieser (man möchte fast sagen) geweihte Stimmklang. Das mag allerdings auch nur eine Sache der Gewohnheit sein. kurzstueckmeister sagt ja an einer Stelle, er hätte sich mal eine zeitlang bewußt nur mit dieser Musik beschäftigt.


    Also Perotin bleibt mal auf der Liste (Orlando kommt ggf. noch hinzu) und ich werde sehen. Danke für das Eröffnen des Threads!

  • Zitat von musikwanderer

    (ich weiß auch jetzt nicht zu sagen, ob es dieses Spiel auf CD gibt - es wäre einer Suche wert!).


    Hier ein Link zur Aufnahme Le Jeu de Robin et de Marion die Aufnahme gefällt ausgesprochen gut!

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    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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  • Ja, das ist für den Großteil der älteren Kunst so. Immerhin hat das aber den Vorteil, dass es nicht so arg desillusionierend-depressiv zugeht wie oft in jüngerer Kunst.

    "Vorteil"?

    In ihrer desillusionierenden Depressivität, in die die Musik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in der Tat zuweilen verfällt, reflektiert sie moderne Lebenswelt und Daseinsbefindlichkeit.

    Geht dann der angesprochene "Vorteil" nicht einher mit einer Flucht aus derselben, - Flucht in eine Welt der "alten Musik", in der man als Rezipient derselben wie in einem wohlgeordneten barocken Garten vergnüglich umherspazieren kann, ohne Gefahr zu laufen, auf erschreckende Weise angesprochen und zu Erkenntnissen über sich selbst und die eigene Lebenswelt gebracht zu werden?

  • Mein Verständnis von "Klassikern" im weiten Sinne war eigentlich, dass man von denen auch nach 2000 oder mehr Jahren (oder bei Musik des MA eben 700) "auf [nicht notwendig immer] erschreckende Weise angesprochen... wird"

    Rilke schreibt das berühmte Gedicht angeregt von einem antiken Torso, nicht von einer Skulptur von ca. 1900...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Damit man sich einen Höreindruck verschaffen kann, habe ich als Hörbeispiel des Perotinus Magnus, der von 1165 bis 1220 oder nach anderen Quellen bis 1245 lebte, Viderunt omnes ausgewählt. Musik die vor 800 Jahren komponiert wurde.


    Der Notentext in moderner Notation ist zum Mitverfolgen sichtbar.


    Was auffällt, die drei der vier Sänger müssen rhythmisch präzise singen. Anders als im einstimmigen gregorianischen Choral. Das muss für die Hörer der damaligen Zeit revolutionär geklungen haben. Ein Teil der Musik des Perotinus Magnus ist ebenfalls einstimmig, was eine Ruhe vermittelt. Ein Kontrast, der durchaus gewollt war.


    Bei dieser bewegten Musik habe ich nicht den Eindruck in einer Möchskutte wandeln zu müssen.

    Einige Mitglieder des Forums werden sich mit Schaudern abwenden.

    Es wird übrigens nur ein Teil des lateinischen Textes vertont.


    kurzstueckmeister erwähnt das Stück in Beitrag 5 hier: Einführung zur Musik des Mittelalters


    Viderunt omnes fines terræ

    salutare Dei nostri.

    Iubilate Deo, omnis terra.

    Notum fecit Dominus salutare suum;

    ante conspectum gentium

    revelavit iustitiam suam.


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Mein Verständnis von "Klassikern" im weiten Sinne war eigentlich, dass man von denen auch nach 2000 oder mehr Jahren (oder bei Musik des MA eben 700) "auf [nicht notwendig immer] erschreckende Weise angesprochen... wird"

    Rilke schreibt das berühmte Gedicht angeregt von einem antiken Torso, nicht von einer Skulptur von ca. 1900...

    Entschuldigung, geschätzter Johannes Roehl, - aber was meinst Du mit dem Wort "Klassiker"?


    Wenn in diesen Begriff allseits bekannte und aufgeführte Musik des europäischen Mittelalters und des Barocks (so verstehe ich den unscharfen, hier gebräuchlichen Begriff "alte Musik) einbezogen sein sollte, so möchte ich infrage stellen, dass sie einen heutigen Rezipienten auf existenziell relevante, also Betroffenheit beinhaltende Weise anzusprechen vermag.


    Diese Musik kommt aus einer Welt, zu der selbst ein Historiker, der sich unter Zuhilfenahme aller relevanten Quellen darum bemüht (ich weiß, wovon ich rede), einen nur ansatzweisen, aber keinen wirklich Zugang zu finden vermag. Wie soll man als "Normalhörer" des 21. Jahrhunderts unter diesen Umständen die Musik, aus der dieser Welt kommt, wirklich verstehen und sich von ihr sogar auf existenziell tiefgreifende Weise angesprochen fühlen können?


    Dein Beispiel "Rilke" ist vielsagend. Die Antike hat mit dieser mittelalterlichen und barocken Welt nicht das Mindeste zu tun. Sie wurde kulturell erst im achtzehnten Jahrhundert (Winckelmann) wiederentdeckt, und damit wurde die literarische und allgemein geistesgeschichtliche Entwicklung eingeleitet, die schließlich zu der Epoche führte, aus der die Musik stammt, auf die ich oben Bezug nahm.


    Dass Rilke von einem antiken Torso zum Verfassen eines lyrischen Gedichts angeregt wurde, kann doch im Ernst nicht als Gegenargument für meine These dienen. Es ist ein Sachverhalt, der gleichsam in der Logik der historischen Entwicklung der europäischen Kultur liegt.


    Aber ich möchte das hier nicht weiter fortführen. Wir kämen vom Hundertsten in Tausendste, und das wäre ganz gewiss nicht im Sinne des Initiators dieses Threads.

  • Lieber Helmut Hofmann


    Bei aller unklaren Quellenlage dieser weit zurückliegenden Zeiten, sind es nicht die Musik, die Baukunst, die Malerei, die Dichtkunst aus der Vergangenheit, die uns das Leben der Menschen, die damals gelebt haben, nahe bringen?


    Die Kunstwerke wirken unmittelbar auf mich. Sei es beim Hören der Musik eines Pérotin, beim Betreten einer romanischen Kirche, bei der vertieften Betrachtung eines Tafelbildes, bei der Lektüre eines Textes eines Minnegesanges. Ich kann, ich gebrauche deine Worte, durchaus auf "existentiell tiefgreifende Weise" angesprochen werden. Wenn es so nicht wäre, könnten alle Museen, Kirchen, ganze Bibliotheken geschlossen werden.


    Es ist durchaus in meinem Sinne, wenn die Mitglieder des Forums sich auch über diese Fragen Gedanken machen. Ich hatte es im Eröffungsbeitrag erwähnt.

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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