Hugo von Hofmannsthal (1874-1929):
JEDERMANN
Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes
Tragödie in einem Aufzug
Uraufführung am 1. Dezember 1911 im Berliner Zirkus Schumann unter Max Reinhardt
DIE PERSONEN DER HANDLUNG
Gott, der Herr / Erzengel Michael / Tod / Teufel / Mammon / Werke / Glaube
Jedermann / Jedermanns Mutter / Jedermanns guter Gesell / Jedermanns Tischgesellen
Der Hausvogt / Der Koch
Ein armer Nachbar / Ein Schuldknecht / Sein Weib und Kind
Buhlschaft / Dicker Vetter / Dünner Vetter / Junge Fräulein / Büttel / Knechte / Spielleute / Buben / Mönch / Engel
INHALTSANGABE DES EINZIGEN AKTES
Der Herrgott klagt über die Undankbarkeit der Menschen. Sie kennen nur das Vergnügen, den Erwerb von Reichtum und haben ihn, den Herrscher des Himmels und der Erden, vergessen. Und Gott beschließt, ein Exempel zu statuieren, ruft Gevatter Tod zu sich und gibt ihm den Auftrag, den Jedermann zu ihm zu bringen.
Und dieser Herr Jedermann kommt gerade aus seiner Villa. Selbstverliebt preist er nicht nur seine Reichtümer, sondern beauftragt seinen Koch, ein opulentes Festmahl für Gäste herzurichten. Dann ruft er einen seiner Knechte zu sich und wünscht, dass er ihm ein gut gefülltes Geldsäckchen holt, denn er will sich mit seinem Freund, dem guten Gesellen, ein vor der Stadt liegendes Grundstück kaufen – er will es in einen Lustgarten verwandeln.
Doch gerade als er sich mit jenem Freund auf den Weg machen will, tritt ihm sein armer Nachbar in den Weg und bettelt ihn an. Jedermann ist – nach eigener Einschätzung – nicht geizig, und er zückt sofort seine Geldbörse und übergibt seinem Nachbarn eine kleine Münze. Damit ist dem armen Nachbarn allerdings nicht geholfen und er bittet den Reichen um den vollen Geldbeutel. Jedermann reagiert entrüstet: Wie käme er dazu? Er hätte, wenn sich das herumsprechen würde, nur noch bettelnde Leute am Hals. Aber nachtragend ist Jedermann nicht und hält dem armen Kerl die Münze noch einmal hin – der nimmt sie und geht ab.
Jedermann und sein Geselle wollen weiter gehen, doch kommt ihnen, von zwei Bütteln geführt, der Schuldknecht mit seiner Frau und ihren Kindern entgegen. Der arme Kerl konnte seine Schulden bei Jedermann nicht bezahlen und soll nun in den Schuldturm gebracht werden. Als wäre die Lage für den Schuldner und seine Familie nicht schon schrecklich genug, wird er – und damit natürlich auch seine Frau und die Kinder – von Jedermann und seinem Spießgesellen übel verspottet. Der lässt sich das jedoch nicht gefallen und findet Worte, die Jedermann an sein eigenes „Schuldbuch vor Gott“ erinnern sollen – was jedoch an dem Hartherzigen abprallt: Kann er etwas dafür, dass der Mann nicht mit Geld umgehen kann? Des Schuldners Frau mischt sich ein und warnt Jedermann mit resignierendem Tonfall vor Gottes Strafgericht. Aber auch das lässt den Gescholtenen kalt; er lobt stattdessen den Mammon und behauptet, dass Wohlstand und Glauben nichts miteinander zu tun haben. Doch kommt plötzlich bei Jedermann menschliche Rührung ins Spiel, denn er ordnet an, dass man für die Frau und ihre Kinder eine Unterkunft sucht – für die Kosten will er aufkommen.
Weil es nun für die Besichtigung des Gartengrundstücks zu spät ist, gibt Jedermann seinem guten Gesellen den Auftrag, für ihn den Kauf abzuwickeln. Selbst stellt er sich den Lustgarten als ein Paradies zur Erholung von den Alltagssorgen vor: Es soll einen von Säulen umrahmten Altar geben, es soll ein Badehaus für Spiele im Wasser gebaut werden und es müssen unbedingt verführerische und süße Blumendüfte den Garten erfüllen. Jedermann ist von seinen Ideen begeistert...
...wird aber durch seine Mutter in die Realität zurückgeholt: Sie tritt zu ihm und klagt ihn wegen seiner mangelnden Gottesfurcht an und muss sich im Gegenzug von ihrem Sohn anhören, dass die Kirche doch nur sein Geld will. Die Antwort der Mutter hebt auf die Allmacht des Todes ab, er aber fühlt sich mit 40 Jahren noch viel zu agil und will sich Bußfertigkeit für später vornehmen. Die Mutter aber lässt nicht locker und moniert seine vielen Frauen, erinnert ihn an das Sakrament der Ehe. Und tatsächlich kann sie ihm ein – wenn auch nur halbherziges – Versprechen abringen, dass er sich darüber Gedanken machen will. Als sie, auf irgendeine Weise zufriedengestellt, davongeht, hört sie „Flöten und Schalmeien“, und – merkwürdig – Jedermann hört sie auch. Diese verstörenden Klänge setzen ihm zu, doch wird er in diesem Augenblick von der Buhlschaft, die mit Spielleuten auf ihn zukommt, sofort in eine frohe Stimmung versetzt. Sie macht ihm jedoch Vorwürfe, weil er die Verabredung nicht eingehalten und sie deshalb schon Schlimmes befürchtet hat. Obwohl Jedermann durch die Musik nun erleichtert ist, kann er seine melancholische Stimmung nicht ganz abschütteln. Die Buhlschaft bemerkt das und versucht ihn aufzuheitern. Aber ihre Bemerkung, dass der Tod wie eine schlafende Schlange sei, die auf keine Fall geweckt werden sollte, lässt Jedermann wieder nachdenklich werden. Schließlich sagt er, sich aufbäumend, er wolle nur noch „zwei besondere Schlangen“ spüren, nämlich ihre Arme, die ihn umfassen sollen. Das lässt sich die Buhlschaft nur einmal sagen, küsst ihn und setzt ihm einen Blumenkranz auf.
Eine neue Szene zeigt einen üppig gedeckten Tisch für eine große Gesellschaft. Jedermann heißt die Gäste willkommen. Aber plötzlich bildet er sich ein, dass alle im Totenhemd an der Tafel sitzen. Er fragt unvermittelt die Buhlschaft, ob sie ihm in den Tod folgen würde. Diese Frage lässt die Gäste aufhorchen und bestürzt reagieren; schließlich beraten sie, wie man den beliebten, großzügigen und geschätzten Gastgeber auf andere Gedanken bringen kann. Ein Vetter des Jedermann will es mit Wein versuchen, andere wollen lustige oder zotige Lieder singen. Der Gastgeber hat derweil ein Glas Wein getrunken und ist dadurch sofort in eine andere Stimmung gekommen. Er bittet seinen Vetter, für die Gesellschaft ein Lied zu singen. Der lässt sich nicht lumpen und stimmt den Gesang vom „kalten Schnee“ an – als Jedermann plötzlich ein dumpfes Glockenläuten wahrnimmt. Er horcht auf und bemerkt, dass die Gäste weiter albern – offensichtlich haben sie den Glockenklang nicht gehört. Aber: kaum ist der Glockenklang verstummt, hört Jedermann von allen Seiten die Rufe seines Namens – schrecklich und mahnend zugleich. Und wieder stellt er fest, dass nur er die Stimmen gehört hat, denn seine Gäste lachen und singen weiter. Jedermann nimmt sich vor, am nächsten Tag seinen Arzt aufzusuchen.
Dem Arztbesuch kommt allerdings ein ungebetener Gast zuvor: Gevatter Tod tritt zu ihm und ruft ihn zu Gott. Der Besucher und seine Worte schreckt die Gäste auf und sie fliehen entsetzt. Der Todgeweihte fängt sich und fleht den Tod inständig um einen kurzen Aufschub an: Er möchte erst sein Schuldbuch in Ordnung bringen. Mit so einer Bitte – wenn auch flehentlich vorgetragen – kann Jedermann bei Gevatter Tod aber nichts ausrichten. Unerbittlich und ohne Erbarmen lehnt der Tod ab – um sich ebenso plötzlich anders zu besinnen: Er gewährt den Aufschub und gibt Jedermann sogar Zeit, einen Reisegefährten zu finden (wohl wissend, dass kein Mensch freiwillig mitkommen wird).
Der erste, an den sich Jedermann wendet, ist sein bester Freund, der gute Geselle. Tatsächlich will der ihm überallhin folgen. Als ihm aber klar wird, dass er für immer Frau, Kinder und Freunde, das schöne Leben eben, zurücklassen müsste, weicht er protestierend zurück. Das ist zu viel verlangt. Er rennt davon und lässt in Jedermann die Erkenntnis reifen, dass auch auf die besten Freunde kein Verlass ist.
Enttäuscht wendet sich Jedermann nun seinen Vettern zu. Die beschwören natürlich zunächst das dicke Band der Blutes – brauchen aber auch nicht lange, hinter ihres Cousins Absicht zu kommen und beenden das Spielchen mit ihrem Abgang. Der eine Vetter ruft ihm dabei noch zu, dass er gerne seine unangenehme Frau mitnehmen könne, während der andere Vetter Jedermann entrüstet für den Versuch, die Verwandten mit in den Tod reißen zu wollen, tadelt. Er weist dann auch noch auf die große Zahl von Leibeigenen hin, die er mitnehmen könnte – ein bestechender Gedanke, der bei Jedermann aber Zweifel aufkommen lässt, dass die vor Gott für ihn sprechen würden.
Was bleibt ihm nun noch übrig? Die Zeit ist unerbittlich weiter gegangen und als einzige Alternative kommt ihm die große Truhe mit den Reichtümern in den Sinn. Also befiehlt er den Knechten, jene Truhe zu holen und sich auf eine lange Reise vorzubereiten. Doch Jedermanns Zeit ist vorbei und aus dem Hintergrund kommt wieder Gevatter Tod auf ihn zu. Die Knechte rennen entsetzt davon und Jedermann wirft sich auf die Truhe und gelobt, nicht ohne sie zu gehen. In diesem Moment springt die Truhe auf und Mammon erhebt sich, für Jedermann zunächst nicht erkennbar. Als sich Mammon jedoch vorstellt, besteht er darauf, dass er ihn auf die Reise in den Tod begleitet. Der aber lacht höhnisch-böse und macht Jedermann klar, dass er, der Mammon, ihn an der Nase herumgeführt hat: Der Reichtum sei ihm nur geliehen worden, ins Grab werde er so nackt wie ein Neugeborenes gehen! Mammon springt höhnisch lachend wieder in die Truhe und der Deckel fällt herab.
Jedermann muss sich eingestehen, dass er sich überschätzt hat. Plötzlich ruft eine zerbrechlich klingende Stimme seinen Namen – eine alte und krank aussehende Frau schlurft heran: Es sind, aber das erkennt Jedermann nicht, seine Werke. Er wendet sich also ab – doch die gebrechliche Alte gibt sich als seine Wohltaten zu erkennen und will mit ihm auf die Reise gehen. Jedermann glaubt aber, dass sie ihn bei Gott, dem Richter, nicht angemessen vertreten kann. Doch die Alte gibt nicht auf und behauptet, dass sie ihm immer nahe gestanden habe, er sich jedoch vom Glanz seines Reichtums habe blenden lassen. Jetzt aber ist sie alt und schwach geworden und rät Jedermann, die Schwester „Glaube“ zu konsultieren...
...die steht plötzlich vor ihm und schilt, dass er sie in seinem Leben unbeachtet ließ, nun aber ihre Hilfe benötige. Jedermann muss an Glaubensartikel denken, die er als Kind und Jugendlicher zum letzten Mal gesprochen hat, nun jedoch ausspricht. Für Glaube ist das aber zu oberflächlich, sie erinnert ihn an den Dreieinigen Gott, dessen Barmherzigkeit und die Vergebung der Sünden durch den Tod Jesu und ruft ihn auf, jeglichen Zweifel an einen rächenden Gott zu vergessen. Glaube weist Jedermann zu dem hinzugekommenen Mönch, der Buße und Sündenbekenntnis abnehmen und die Absolution erteilen soll.
Jedermann kniet nieder und betet, während seine Mutter gerade zur Frühmesse geht und mit Freude ihren betenden Sohn sieht. Sie ist überzeugt, dass ihr Sohn den Weg zum Glauben gefunden hat und kann nun, gewiss, dass sie ihn am Jüngsten Tag vor Gottes Thron wiedersehen wird, sterben. Aber auch Jedermanns Werke haben diese Veränderung bemerkt, entledigen sich der Krücken und geben das Versprechen ab, auch den letzten Gang, aus dem es kein zurück mehr geben wird, mitzugehen.
Doch da ist einer, der nicht mit dieser Wendung einverstanden ist, der schon einige Zeit aufgeregt im Hintergrund hin und her gelaufen ist und jetzt in den Vordergrund tritt: Der Teufel ist gekommen um einen seiner treuesten Gefolgsleute abzuholen – und sofort auf energischen Widerspruch von Glaube und Werke trifft. Auch angedrohte Gewalt bringt dem Teufel keinen Erfolg, denn zu den beiden allegorischen Figuren treten von der Höhe eine Schar Engel, die ihn zum Verzicht auf die so sicher geglaubte Seele Jedermanns zwingen. Die Schimpfkanonade, die er loslässt, ist seiner würdig, bleibt aber auch erfolglos. Glaube erinnert den Teufel an den Opfertod Jesu für die Sünden eines jeden Menschen, auch für Jedermann! Und der so Belehrte hält sich mit verzerrtem Gesicht bei der Nennung von Jesu Namen die Ohren zu und schimpft dann weiter, dass er es nicht verstehen kann und will, dass jemand zu seinen Lebzeiten alle Gesetze Gottes missachten, durch Reue jedoch alles ungeschehen machen kann. Der Glaube antwortet, dass Gott anderen Gesetzen folgt, als es der Höllenfürst sich vorstellt. Wütend und geschlagen geht der Teufel schimpfend ab.
Jedermann erhält nun die Sterbesakramente und schreitet mit einem Pilgerstab versehen mit Glaube und Werke auf sein Grab zu. Gemeinsam steigen sie dann in die Gruft. Der Glaube spricht ihm Mut zu und als Sterbender bittet er in einem Gebet Gott um die Rettung seiner Seele und bittet, am Jüngsten Tag als Erlöster die Auferstehung zu erleben. Der liebliche Gesang der Engel sind ein Zeichen für die Aufnahme von Jedermanns Seele in den Himmel...
© Manfred Rückert für den Tamino-Schauspielführer 2021