Schubert und Mayrhofer. Liedkomposition im Geist der Freundschaft


  • Bei wohl keinem der großen deutschsprachigen Komponisten spielte die Freundschaft im Leben eine so große Rolle, wie das bei Schubert der Fall war: Freundschaft als personale Beziehung zu einem anderen Menschen und in Gestalt der Zugehörigkeit zu einem Freundeskreis. Dass es sich dabei nicht nur um einen im engeren Sinne biographischen, sondern darüber hinaus um einem musikgeschichtlich relevanten Sachverhalt handelt, insofern in diesen Kreisen nicht nur ein Freundschaftskult als Grundlage von Tugend und Bildung betrieben wurde, sondern auch eine intensive Kommunikation über Kunst und Musik, etische und politische Fragen stattfand und all das Auswirkungen auf Schuberts kompositorisches Schaffen hatte, ist ausführlich erforscht und liegt in biographischem und musikwissenschaftlichem Schrifttum vor, so das hier nicht näher darauf eingegangen werden muss.

    Dieser Thread will der Frage nachgehen, welche Auswirkungen dieser Faktor „Freundschaft“ auf Schuberts Liedkomposition hatte. Dass es solche Auswirkungen gab, zeigt ja allein schon die Vielzahl von Liedern, denen Texte von Mitgliedern dieser Freundeskreise zugrunde liegen.
    Folgende Einzelfragen stellen sich mir in diesem Zusammenhang:
    --- Welche Motive liegen – vermutlich - bei Schubert diesem kompositorischen Zugriff auf diese lyrischen Texte zugrunde?
    --- Hat er eine Erweiterung des inhaltlich-thematischen Themenspektrums seiner Lieder zur Folge? Wenn ja, lassen sich darin Schwerpunkte ausmachen?
    --- Geht er mit einer Modifizierung seiner Liedsprache und einer Bereicherung von deren Ausdruckspotential einher?

    Ihnen soll im Folgenden nachgegangen werden, und zwar in Gestalt einer Betrachtung der Kompositionen auf lyrische Texte von Johann Baptist Mayrhofer. Schließlich ist er nach Goethe mit rund fünfzig (47 allein zwischen 1814 und 1824) Liedkompositionen der am meisten von Schubert vertonte Lyriker. Dabei sind diese Betrachtungen allerdings nicht direkt auf diesen Fragenkomplex ausgerichtet, er soll ihnen nur in gleichsam begleitender Weise inhärent sein. Denn im Zentrum steht natürlich die Liedmusik und die Art und Weise, wie sie ihren Rezipienten klanglich entgegentritt.

    Die erste Begegnung Schuberts mit Mayrhofer ereignete sich Ende 1814. Josef von Spaun macht ihn mit ihm bekannt, und Schubert hatte sogar etwas vorzuweisen: Die am 7. Dezember zustande gebrachte Vertonung der umfangreichen Ballade „Am See“ (D 124).
    Wer war das, mit dem Schubert da bekannt gemacht wurde, und welche Folgen hatte diese Begegnung für sein weiteres Leben und sein kompositorisches Schaffen?

    Johann Baptist Mayrhofer wurde am 3. November 1787 geboren. Er sollte nach dem Willen seines Vaters Priester werden und kam deshalb nach seiner gymnasialen Ausbildung in Linz 1806 als Novize nach St. Florian, begann 1807 mit dem Studium der Theologie, schloss dieses auch ab und war bis 1810 Kleriker. Danach begann er Rechtswissenschaft zu studieren und beendete das mit einem Abschluss 1813. In diesem Jahr noch wurde er als Praktikant im Revisionsamt aufgenommen und dort dann 1832 zum 2. Bücherrevisor ernannt. Seine Hauptaufgabe in diesem Amt war das Erstellen von Gutachten, als Zensor im direkten Sinne war er nicht tätig. Schon früh betätigte er sich als Verfasser von Gedichten. Sie wurde 1824 bei Friedrich Volke in Wien auf der Grundlage einer Subskribentenliste publiziert. 1843, also nach seinem Tod, gab sein Freund Ernst von Feuchtersleben eine Ausgabe aller seiner lyrischen Texte heraus, die mit einer kurzen Biographie versehen war. Nach einem ersten Selbstmordversuch 1830 nahm er sich 1836 aus Angst vor der damals in Wien grassierenden Choleraepidemie mit einem Sturz aus dem Fenster seines Büros das Leben.

    Nach dem Zeugnis von J. v. Spaun besaß Mayrhofer „ein ausgezeichnetes feines Gehör und eine große Liebe für Musik. Er gehörte dem sog. „Linzer Kreis“ an, der sich 1815 um Anton von Spaun gebildet hatte und dem u.a. auch Anton Ottenwalt und Josef Kenner angehörten. Schubert kam in Zusammenhang mit seinen Reisen nach Öberösterreich in Kontakt mit diesem Kreis, überdies gab es in Wien einen Ableger davon. „Freundschaft“ galt nach den Worten von Anton von Spaun unter seinen Mitgliedern „als eine der wirksamsten Triebfedern der Tugend“. In einem Aufsatz den er zu den von ihm und von Mayrhofer herausgegebenen „Beyträgen zur Bildung von Jünglingen“ verfasst hatte, vertrat er die Auffassung, dass Freundschaft Bürgertugend lehre, die „verfallenden Staaten mit frischem Geiste“ belebe, zum „Schrecken der Tyrannen“ werde, und dieser Aufsatz mündet schließlich in emphatische These: „Gleichwie Bösen unmöglich wäre Freunde zu seyn, so sey es auch den Guten unmöglich nicht Freunde zu seyn“.

    Zu dem in diesem Kreis reflektierten und diskutierten Begriff der „Bürgertugend“ gehörten neben politischer und moralscher Bildung als wesentliche Komponenten auch Kunst und Musik. Das, was Mayrhofer, auch in Gestalt von Versen, zu den „Beyträen zur Bildung für Jünglinge“ verfasste, lässt erkennen, dass für ihn Kunst und Musik einen wesentlichen Beitrag für die Ausbildung des Charakters leisten, und seine Grundauffassungen zur Ästhetik orientierten sich dabei wesentlich an der griechisch-römischen Antike und der deutschen Klassik. Horaz und Herodot, den er sogar ins Deutsche zu übertragen versuchte, galt sein besonderes Interesse. Er vertrat eine Art sich von Heraklit herleitenden Pantheismus, in dem das Universum einen lebendigen Organismus darstellt. Und was die deutsche Klassik anbelangt, so ging seine Verehrung für Goethe so weit, dass er Verse verfasste und sich dabei vorstellte, dass sie von diesem gesungen würden.

    Sein zwanzig Gedichte umfassender Zyklus „Heliopolis“, der 1820/21 entstand und offiziell Schober, inoffiziell aber auch Schubert gewidmet war, kreiste um die Themen „Kunst“ und „Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. Die Kunst bietet die Möglichkeit, den Leiden dieser Welt und einer feindlichen Gesellschaft zu entfliehen, andererseits aber kommt dem Künstler – frei nach Schiller – eine wesentliche Aufgabe bei der „ästhetischen Erziehung des Menschen“ zu. Wie das erste Gedicht („Ein Fischer fuhr den Strom hinab“) zeigt, spielt das Wasser in den von Mayrhofer verwendeten lyrischen Bildern eine besondere Rolle zu. Er setzt es, darin seine Heraklit-Anhängerschaft bekundend, metaphorisch für die ewige Bewegung des menschlichen Lebens und des Geschehens in der Welt ein.

    Schubert vertonte vier Gedichte aus diesem Zyklus: „Lied eines Schiffers an die Dioskuren“ (D 360), „Nachtviolen“ (D 752), „Im kalten rauhen Norden“ (D 753) und „Fels auf Felsen hingewälzet“ (D 754). Dass es nicht mehr wurden, hing vermutlich damit zusammen, dass sich die relativ enge Bindung an Mayrhofer damals schon gelockert hatte. Eng war sie, weil er fast zwei Jahre lang, von November 1818 bis Ende des Jahres 1820 mit Mayrhofer zusammen ein Zimmer bewohnte. In dieser Zeit dürfte es zu einem lebhaften und intensiven Austausch der Ansichten und Einsichten in alle Fragen gekommen sein, die in den Freundeskreisen diskutiert wurden, insbesondere die Kunst und Musik betreffenden. Dass dies tatsächlich so war, lässt sich dem Nachruf auf Schubert entnehmen, den Mayrhofer 1829 verfasst hat. Dort schildert er ihr Zusammenleben mit den Worten:

    Das „Gewahrwerden“ der „produktiven Kraft“ und „die Liebe für Dichtung und Tonkunst machten unser Verhältnis inniger; ich dichtete, er komponierte, was ich dichtete und wovon vieles seinen Melodien Entstehung, Fortbildung und Verbreitung verdankt. (…) Während unseres Zusammenlebens konnte es nicht fehlen, daß Eigenheiten sich kundgaben (…). Seine frohe, gemütliche Sinnlichkeit und mein in sich geschlossenes Wesen traten schärfer hervor und gaben Anaß uns mit entsprechenden Namen zu bezeichnen, als spielten wir bestimmte Rollen. Es war leider meine eigene, die ich spielte.“

    Die wechselseitige Inspiration in der künstlerischen Produktivität und die damit einhergehende Einflussnahme auf diese werden von Mayrhofer deutlich angesprochen. Bei ihm ging das so weit, dass er, wie Schubert 1824 seinem Bruder Ferdinand mitteilte, an seinen Gedichten erst dann wirklich Gefallen fand, wenn Schubert sie vertont hatte. Dieser wiederum dürfte mit Mayrhofers klassisch-romantischer Ästhetik voll vertraut geworden sein. Die Verschiedenheit der Charaktere der Beiden, vor allem Mayrhofers verschlossenes und hypochondrisches Wesen, führt dazu, dass die Wohngemeinschaft nach zwei Jahren beendet wurde. Das Verhältnis zwischen ihnen kühlte sich zwar ab, der Kontakt, die Kommunikation und der geistige und künstlerische Austausch blieben aber bis zum Tod Schuberts weiter bestehen.

  • „Am See“, D 124

    Sitz' ich im Gras am glatten See,
    Beschleicht die Seele süßes Weh,
    Wie Aeolsharfen klingt mich an
    Ein unnennbarer Zauberwahn.

    Das Schilfrohr neiget seufzend sich,
    Die Uferblumen grüßen mich,
    Der Vogel klagt, die Lüfte wehn,
    Vor Schmerzeslust möcht' ich vergehn!

    Wie mir das Leben kräftig quillt
    Und sich in raschen Strömen spielt.
    Wie's bald in trüben Massen gärt,
    Und bald zum Spiegel sich verklärt.

    Bewußtsein meiner tiefsten Kraft,
    Ein Wonnemeer in mir erschafft.
    Ich stürze kühn in seine Flut
    Und ringe um das höchste Gut!

    O Leben bist so himmlisch schön,
    In deinen Tiefen, in deinen Höhn.
    Dein freundlich Licht soll ich nicht sehn,
    Den finstern Pfad des Orkus gehn?

    Doch bist du mir das Höchste nicht:
    Drum opfr' ich freudig dich der Pflicht.
    Ein Strahlenbild schwebt mir voran,
    Und mutig wag' ich's Leben dran!

    Das Strahlenbild ist oft betränt,
    Wenn es durch meinen Busen brennt,
    Die Tränen weg vom Wangenrot,
    Und dann in tausendfachen Tod.

    Du warst so menschlich, warst so hold,
    O großer deutscher Leopold!
    Die Menschheit füllte dich so ganz
    Und reichte dir den Opferkranz.

    Und hehr geschmückt sprangst du hinab,
    Für Menschen in das Wellengrab.
    Vor dir erbleicht, o Fürstensohn,
    Thermopylae und Marathon!

    Das Schilfrohr neiget seufzend sich,
    Die Uferblumen grüßen mich,
    Der Vogel klagt, die Lüfte wehn,
    Vor Schmerzeslust möcht' ich vergehn!

    Zehn Strophen, alle gleich angelegt in ihren vier vierfüßig jambischen Versen mit stumpfer Kadenz, kreisen um eine Situation, in der ein lyrisches Ich, an einem See sitzend, des Herzogs Leopold von Braunschweig gedenkt und sich mit den Gedanken und Gefühlen auseinandersetzt, die sich in diesem Augenblick bei ihm einstellen.
    Dieser von ihm als „großer deutscher Leopold“ titulierte Herzog war im April 1785 bei dem Versuch ertrunken, in Frankfurt an der Oder Menschen aus dem über die Ufer getretenen Fluss zu retten. Die Verse, die in den ersten fünf Strophen ausschließlich die existenzielle und seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs zum Gegenstand haben, beginnen sich in der sechsten Strophe mit den einleitenden Worten „Doch bist du mir das Höchste nicht“ dieser historischen Gestalt zu nähern. Sie tritt als „menschliches“ und „holdes Strahlenbild“ an dieses Ich heran, ein Held, der, in seiner Haltung ausgerichtet an der ganzen Menschheit, sein Leben in Erfüllung seiner „Pflicht“ hingab.

    Formal stellt sich dieses Gedicht als ein sprachlich zwischen lyrischem und narrativ epischem Gestus sich entfaltender Text dar. Die ersten Strophen entwerfen mit durchaus lyrischen Mitteln ein Bild der Situation am See, wobei sprachlich deskriptive und konstatierende Elemente ineinander übergehen. Dabei stellt sich das lyrische Ich als ein Wesen dar, in dem das das Leben „kräftig quillt“, von einem „Bewusstsein tiefster Kraft“ erfüllt ist, gleichwohl inmitten der Idyllik, die es umgibt, „vor Schmerzeslust vergehen“ möchte.

    Mayrhofer belässt diese Aussage in bewusster Ambivalenz. Es bleibt unklar, ob sich diese „Schmerzeslust“ im Zusammenhang mit dem Gedenken an den Tod seiner Heldenfigur steht, oder ob es sich um ein Lustgefühl handelt, das sich bei der Imagination eigenen heldenhaften, den Tod in Kauf nehmenden Handelns einstellt. Denn die sechste Strophe spricht von dem gerade beschworenen „himmlisch schönen Leben“ in den Worten: „Doch bist du mir das Höchste nicht: / Drum opfr' ich freudig dich der Pflicht“.

    Diesem Gedicht und seiner Umsetzung in Liedmusik, die am 7. Dezember 1814 erfolgte, kommt, wie einleitend dargestellt wurde, eine Art Schlüsselfunktion in der Beziehung zwischen Schubert und Mayrhofer zu. Denn dieser konnte sich, als Josef Spaun beide Ende Dezember 1814 miteinander bekannt machte, bereits ein erstes Bild davon machen, was dieser Komponist mit seiner Lyrik anzufangen wusste. Und vielleicht stellte sich bei ja damals schon der Eindruck ein, dass diese erst dann zu sich selbst kommt und zu der ihr innewohnenden Aussage findet, wenn sie von diesem Schubert in Liedmusik gesetzt wurde. Leider gibt es kein schriftliches Zeugnis davon, wie er diese im Fall seines Gedichts „Im See“ beurteilte.

    Dabei hätte er durchaus beeindruckt sein können davon, wie Schubert die durchaus ein kompositorisches Problem darstellende Ambiguität von Lyrik und Epik, die ein Spezifikum dieser Balladengeist atmenden lyrischen Verse darstellt, liedmusikalisch umgesetzt und damit bewältigt hat: Durch eine Kombination von lyrisch-melodischen und rezitativischen Passagen, die, und das müsste Mayrhofer eigentlich als Ausweis großer Könnerschaft erkannt haben, nicht als additives Nebeneinander, sondern als kunstvoll zustande gebrachte liedmusikalische Synthese auftritt.
    Das Mittel, das Schubert dabei kompositorisch einsetzt, ist der Klaviersatz. Ihm kommt diesbezüglich eine konstitutive Funktion zu, und entsprechend komplex sind seine Binnenstruktur und umfangreich der Raum, den er in der Faktur der Komposition in Anspruch nimmt.


  • „Am See“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Bemerkenswert ist, dass das Klavier auf ein Vorspiel verzichtet und sich im Nachspiel mit drei Takten begnügt, in denen es zwei fallend angelegte Sechzehntelketten erklingen lässt, die am Ende in einem Auf und Ab von Sechzehnteln im Intervall einer Sekunde zur Ruhe kommen. Ganz offensichtlich hat Schubert ihm die Aufgabe zugewiesen, dort klanglich auf markante Weise in Erscheinung zu treten, wo die Melodik zum Gestus der Deklamation übergeht, weil sie die bekenntnishaften Ausbrüche des lyrischen Ichs in die Bekundung seiner Seelenlage bewältigen muss. Da bleibt, weil sprachlich der Gestus des emphatischen Konstatierens zugrunde liegt, vieles ungesagt, so dass das Klavier, neben seiner Aufgabe, der lyrischen Aussage Nachdruck zu verleihen, auch deren semantischen Gehalt nachträglich auszudeuten hat.

    Entsprechend umfangreich sind an dieser Stelle, und das betrifft insbesondere die ausdrücklich mit der Anmerkung „Recit“ versehenen Strophen drei bis sieben, die zugleich als Überleitung zur nächsten Strophe fungierenden Nachspiele. Sie können zwei bis sieben Takte in Anspruch nehmen und beziehen ihre musikalische Aussage nicht nur aus den Figuren, in denen sie sich entfalten, sondern, und das zu einem wesentlichen Teil, auch aus ihrer Harmonik und den weit ausgreifenden Rückungen, die sich darin ereignen. Klangmalerische Aspekte spielen dabei eine wichtige Rolle.

    Die beiden ersten lyrischen Strophen sind stark von genuin lyrischen Bildern geprägt. Diese präsentieren sich allerdings sprachlich als Aussagen des lyrischen Ichs, sind also gleichsam vermittelte, die Gedanken und Emotionen des lyrischen Ichs in sich tragende. Und diese wiederum haben als Zentrum das Bekenntnis „Vor Schmerzenslust möcht´ ich vergehn“, das eben deshalb von Schubert eine Wiederholung erfährt. Das „süße Weh“, von dem der zweite Vers der ersten Strophe spricht, stellt gleichsam einen Vorab-Verweis auf diese den lyrischen Aussagen zugrundliegende seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs dar.
    Diese dem ganzen dichterischen Text zugrundeliegende und für die Lyrik Mayrhofers typische und repräsentative Bipolarität von idyllisch schöner realer Außenwelt und affektiv und kognitiv verstörter seelischer Innenwelt reflektiert Schuberts Liedmusik auf vollkommene, alle ihre Aspekte erfassende und in ihren Tiefen auslotende Weise, - und dies nicht nur in diesem, sondern, wie sich zeigen wird, allen Liedern auf Mayrhofers Gedichte.

    Eben deshalb, weil die so idyllischen lyrischen Bilder als wesenhaft gebrochene auftreten, liegt der Liedmusik zwar ein sie in ihrer Entfaltung beschwingender, später vorübergehend gar auf drei Viertel reduzierter Sechsachteltakt zugrunde, die als Grundtonart vorgegebenen zwei „Bs“ enthüllen sich schon von der mit einem Sechzehntel-Sekundsprung ohne Begleitung auftaktig einsetzenden Melodik auf den Worten „Sitz' ich im Gras am glatten See“ nicht als ein B-Dur, sondern als die Moll-Parallele g-Moll. Und das Moll erweist sich, unbeschadet der Rückungen, die sich immer wieder einmal nach B-Dur, seine Dominante F-Dur und gar zur Dur-Dominante D-Dur ereignen, als das die Harmonisierung der melodischen Linie der ersten beiden Gedichtstrophen – und damit auch des Liedschlusses – beherrschende Tongeschlecht.

    Dem entspricht, dass die Melodik dieser Strophen auf sie in ihrer Aussage maßgeblich prägende Weise vom Gestus des Falls geprägt ist. Schon die auf den Worten des ersten Verses liegende melodische Linie lässt das auf eindrückliche Weise vernehmen und erkennen. Nach dem Sekundsprung in hoher Lage auf „sitz“ geht sie bei „ich im Gras“ in einen Fall erst über eine Sekunde, dann eine doppelte Terz über, schwingt sich zwar danach bei den Worten „am glatten See“, den Gehalt des Bildes reflektierend, zu einem Anstieg bis zu der tonalen Ebene auf, von der aus sie in ihren Bewegungen mit dem Sekundsprung einsetzte, zu dem Wort „See“ hin beschreibt sie aber schon wieder einen Sekundfall, der sich über eine Terz zu ihrer Entfaltung auf dem zweiten Vers fortsetzt. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von g-Moll nach c-Moll, und das Klavier begleitet mit einer tänzerisch wirkenden Folge von Viertelton im Bass und einer Achtelakkord-Repetition im Diskant. Das bleibt auch die Struktur des Klaviersatzes in der ganzen ersten Strophe. Erst in der zweiten nimmt er eine neue an.

  • „Am See“ (II)

    Die drei nachfolgenden Strophen konnte Schubert nicht im Geist der Liedmusik der ersten beiden kompositorisch aufgreifen. Schließlich werden sie in ihrer lyrischen Aussage von Worten wie „Wie mir das Leben kräftig quillt“, „Wie's bald in trüben Massen gärt“ und „Ich stürze kühn in seine Flut“ geprägt. Auf je zwei Versen der dritten und der vierten Strophe liegt eine in rezitativischem Gestus sich entfaltende Melodiezeile, deren Aussage jeweils von einer umfangreichen, zwei bis zuletzt gar sieben Takte in Anspruch nehmenden Folge von teils triolisch fallenden, teils in hohe Lage aufsteigenden und dynamisch sich bis ins Fortissimo steigernden Achteln im Diskant kommentiert und akzentuiert wird. Die lyrische Aussage der fünften Strophe, eingeleitet mit den emphatischen Worten „O Leben bist so himmlisch schön“ fordert vorübergehend eine Abkehr vom rezitativischen Gestus dergestalt, dass sich die melodische Linie auf ruhige, weil auf der Grundlage eines Dreivierteltaktes erfolgende Weise in mittlerer Lage entfaltet und nur bei den Worten „in deinen Höhen“, deren Semantik reflektierend, sich mit einem Quintsprung zu hoher Lage aufschwingt, um danach in einen partiell triolischen Fall über das Intervall einer Septe überzugehen. Auch das Klavier übt sich in lyrischer Verhaltenheit und begleitet durchweg pianissimo mit zwei- und dreistimmigen Akkordrepetitionen im Diskant.

    Doch mit den die sechste Strophe einleitenden Worten „Doch bist du mir das Höchste nicht“ kehrt die Melodik wieder zum Gestus des Rezitativs zurück, und in den drei nachfolgenden Versen steigert sie sich in hohe Expressivität. „Taktlos“ und „sehr schnell“ lautet hier die Vortragsanweisung, und bei den Worten „und dann in tausendfachem Tod“ ereignet sich, versehen mit der Anweisung „mit voller Kraft“, ein Sextsprung zu einem extrem hohen „B“, von dem aus die melodische Linie in einen Fall bis hinab zu einem „Ces“ in mittlerer Lage übergeht, das auf dem Wort „Tod“ eine lange, den ganzen Takt einnehmende Dehnung trägt. Die Harmonik beschreibt hier eine Rückung vom vorangehenden Es-Dur über h-Moll zu verminderter Des-Tonalität.

    Wieder folgt ein, nun fünf Takte einnehmendes, in der rhythmisierten und permanent von Achtelpausen unterbrochenen Folge von Sechzehntel- und Viertalakkorden hochexpressives Nachspiel, das in einem lang gehaltenen, weil fermatierten Akkord endet. Er steht in der Dominantseptvariante der Tonart „F“ und leitet auf diese Weise zu der nun wieder ruhig, weil erneut im Dreivierteltakt sich entfaltenden Melodik auf den „großen deutschen Leopold“ ansprechenden und preisenden Melodik über, die aber mit den Worten „Und hehr geschmückt sprangst du hinab“ wieder im Vierviertelmetrum ins Rezitativ übergeht, um bei den Worten „Thermopylae und Marathon“ in deklamatorischen Tonrepetitionen erst auf der Ebene eines „B“ in mittlerer, dann auf der eines „D“ in tiefer Lage zur Ruhe zu finden.

    Das Klavier begleitet hier nur noch mit lang gehaltenen fünfstimmigen Akkorden. Die Harmonik muss, der Gewichtigkeit und dem tiefen Ernst entsprechend, den die Melodik zum Ausdruck bringt, von dem anfänglichen „c-Moll“ bei der Tonrepetition auf „Wellengrab“ und einem „As-Dur“ auf den Worten Vor dir erbleicht“ schließlich zu einer Rückung von Fis-Dur über eine vermindertes „E“ und ein „D7“ zu einem Ende in g-Moll übergehen.

    Warum lässt Schubert am Ende des Liedes die zweite Strophe in im wesentlichen unveränderter Liedmusik noch einmal erklingen?
    Vielleicht hat er, so darf man vermuten, den Lobpreis des Heldentodes als ein wenig peinlich empfunden und ihm, darin der Lyrik Mayrhofers in ihrer poetischen Aussage einen eigenen Akzent verleihend, das idyllisch-lyrische Bild vom Seeufer und vom „Vergehen in Schmerzeslust“ entgegengesetzt.
    Denn dieses ist in seiner Liedmusik die genuin romantische Evokation eines Aufgehens des Ichs in einer es in den „Uferblumen“ grüßenden und letzten Endes bergenden Natur.

  • „Lied eines Schiffers an die Dioskuren“, D 360

    Dioskuren, Zwillingsterne,
    Die ihr leuchtet meinem Nachen,
    Mich beruhigt auf dem Meere
    Eure Milde, euer Wachen.

    Wer auch, fest in sich begründet,
    Unverzagt dem Sturm begegnet,
    Fühlt sich doch in euren Strahlen
    Doppelt mutig und gesegnet.

    Dieses Ruder, das ich schwinge,
    Meeresfluten zu zerteilen;
    Hänge ich, so ich geborgen,
    Auf an eures Tempels Säulen.

    Dieses Gedicht entstand 1816 und wurde von Mayrhofer in seine Lyriksammlung „Heliopolis“ aufgenommen.
    Die lyrische Sprache entfaltet sich im durchweg gleichförmig geregelten Metrum vierfüßiger Trochäen im Gestus der Ansprache. Diese richtet sich an das Sternenpaar „Dioskuren“, und sie kommt von einem lyrischen Ich, das, wie die dritte Strophe ausweist, das in seinem Nachen auf den „Meeresfluten“ unterwegs ist. Wie jeder Seefahrer weiß es um die Gefahren, die mit einer solchen Fahrt verbunden sind, und obgleich es kraftvoll in sich selbst ruht und dem Sturm zu begegnen weiß, weiß es sich doch geborgen in dem Schutz, den die Dioskuren über es, wie über alle Seefahrer, walten lässt und deshalb weiht es ihnen gleichsam sein Ruder, indem es verspricht, dieses nach seiner Rückkehr an die Säulen von deren Tempel zu hängen.

    Diese Verse kreisen um die für Mayhofer zentrale Thematik: Einerseits das Wasser als alles Leben hervorbringendes, tragendes, zugleich aber auch gefährdendes Element; andererseits „Freundschaft“, denn die „Dioskuren“ stehen in der antiken Mythologie auch als Beschützer derselben.

    „Freundschaft“, - das ist auch eines der Themen, die für Schubert von existenziell hoher Relevanz sind und mit denen er sich in seiner Liedmusik kompositorisch auseinandersetzt. Es lag also nahe für ihn, zu diesen Versen Mayrhofers zu greifen, und es ist eines seiner bedeutenden Lieder daraus hervorgegangen. Die Liedmusik ist als Strophenlied nach dem Schema „A-B-A`“ angelegt, ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde, als Grundtonart ist As-Dur vorgegeben, und sie soll „langsam“ vorgetragen werden.


  • „Lied eines Schiffers an die Dioskuren“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Mit arpeggierten As-Dur-Akkorden, denen jeweils eine Folge von repetierend angelegten achtstimmigen Akkorden im Wert eines punktierten Achtels und eines Sechzehntels nachfolgt, setzt die Liedmusik im zweitaktigen Vorspiel ein. Eine Anmutung des Wiegens geht von dieser Akkordfolge aus, und ganz offensichtlich soll damit die lyrische Szene des schaukelnden Dahinfahrens auf den „Meeresfluten“ klanglich imaginiert werden. Aber da ist noch etwas, das sich beim Hörer dabei einstellt. Es geht von den pianissimo angeschlagenen Arpeggien aus und bringt eine Art weihevolle Gestimmtheit in die Liedmusik ein.

    Die im zweiten Takt auftaktig einsetzende melodische Linie greift beides auf: In ihrer Entfaltung in Gestalt einer Folge von zwei kürzeren und zwei längeren Schritten die wiegend-schaukelnde Rhythmik; und in ihrer strukturellen Anlage als bogenförmige , im tonalen Ambitus einer Quinte erfolgenden Bewegung den Geist der weihevoll gestimmten Ansprache.
    Fast alle Melodiezeilen setzen mir einer deklamatorischen Tonrepetition in Gestalt einer Aufeinanderfolge von punktiertem Achtel und Sechzehntel ein, - in eben jenem Grundrhythmus, wie er im Vorspiel aufklingt. Nur bei der Melodik auf dem Vers der ersten Strophe, wie sie auf den anderen Versen in der dritten Strophe wiederkehrt, ist das nicht der Fall. Sie ist, darin die von den Worten „beruhigt“ und „geborgen“ geprägte Semantik reflektierend, stark von einem sich wiederholenden zweifachen Sekundfall in tiefer Lage geprägt. Aber schon mit dem nachfolgenden Vers, dem letzten der beiden Strophen also, kehrt die melodische Linie wieder zu diesem Gestus des repetitiven Einsatzes zurück.

    Da er sich jeweils in hoher Lage ereignet und diese bei der Wiederholung sogar noch eine Anhebung um eine Terz oder – wie in der zweiten Strophe – eine Sekunde erfährt, wirkt er auf maßgebliche Weise prägend für den hymnisch-weihevollen Ton, der der Liedmusik der ersten und der dritten Strophe innewohnt. Dieser erfährt aber, wie das bereits in der ersten Melodiezeile vernehmlich wird, in der Melodik auf der Wiederholung des letzten Verses der ersten Strophe und der von Schubert vorgenommenen Erweiterung der letzten Strophe durch die Wiederholung des ersten Verses eine Ergänzung durch den Gestus der emotional innigen Ansprache.
    Darin reflektiert die Liedmusik, auch weil Schubert den Klaviersatz in der dritten Strophe zur Entfaltung in Arpeggien übergehen lässt, auf eindringliche Weise den spezifischen lyrischen Geist dieser Mayrhofer-Verse, und das macht ihren ganz eigenen klanglichen Zauber aus.

    Diese Anmutung von Innigkeit der Ansprache geht immer wieder von dem auf die deklamatorische Tonrepetition folgenden melodischen Fall aus, der aber auf der Stelle revidiert wird, um anschließend in eine gleichsam abgemilderte, nämlich nicht mehr über eine Terz, sondern nur noch in Gestalt von zwei Sekundschritten zu erfolgen. So erstmals bei den Worten „Dioskuren, Zwillingsterne“ zu vernehmen und sich auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene bei „Die ihr leuchtet meinem Nachen“ noch einmal wiederholend. Das Klavier akzentuiert sie dadurch, dass es zunächst im Gestus des Vorspiels die deklamatorische Tonrepetition synchron mit einer Folge von drei achtstimmigen Akkorden begleitet, von denen der dritte ein lang gehaltender arpeggierter ist, dann aber der melodischen Linie in ihren Bewegungen mit zwei- und dreistimmigen Akkorden folgt. Die Harmonik beschreibt dabei jeweils eine Rückung von der Tonika As-Dur zur Dominante, um bei dem Sekundanstieg auf dem Wort „Nachen“ wieder zur Tonika zurückzufinden.

    Am Ende der ersten Liedstrophe lässt Schubert die Worte des letzten Verses der ersten lyrischen Strophe noch einmal deklamieren. Zunächst erklingen die Worte des dritten Verses („Mich beruhigt auf dem Meere“) wie bereits beschrieben auf einer melodischen Linie, die vom Klavier in einem eintaktigen Zwischenspiel gleichsam vorgegeben wird und aus einer zweimaligen, in Des-Dur mit Rückung nach As-Dur harmonisierten und mit einem Quartsprung neu ansetzenden Fallbewegung aus zwei Sekundschritten in mittlerer tonaler Lage besteht.

    Bei den Worten „Eure Milde, euer Wachen“ aber kehrt die melodische Linie zu ihrem Grundgestus zurück, und er erfährt hier, ganz offensichtlich um dieser, das Wesen der Dioskuren ansprechenden lyrischen Aussage den ihr gebührenden musikalischen Nachdruck zu verleihen, sogar noch eine Steigerung. Gleich zwei Mal ereignet sich die rhythmisierte Tonrepetition mit nachfolgendem Terzfall: Zunächst auf einem hohen „Es“ ansetzend und in F-Dur harmonisiert, danach in der tonalen Ebene um eine Sekund abgesenkt und in b-Moll-Harmonik gebettet, das den affektiven Gehalt dieser Aussage zum Ausdruck bringt.

    Aber Schubert setzt nun sogar noch das Mittel der Wiederholung ein, eben weil es ihm darum geht, die geradezu liebevolle Verehrung, die er in dieser Ansprache vernimmt, in angemessener Weise liedmusikalisch zu erfassen. Und dabei kommt wieder die zweite, aus zwei fallend angelegten Sekundschritten bestehende und klanglich wärmer wirkende melodische Grundfigur zum Einsatz. Und dies, nun in Rückungen von der Dominante zur Tonika harmonisiert, wieder zwei Mal, jetzt aber auf gleichbleibender tonaler Ebene. Und das Klavier intensiviert den affektiven Gehalt der melodischen Linie dadurch, dass es deren Fallbewegungen in Gestalt von dreistimmigen Akkorden legato und pianissimo mitvollzieht.

  • „Lied eines Schiffers an die Dioskuren“ (II)

    Dieses Pianissimo, in das sich die Liedmusik am Ende der ersten Strophe zurückgezogen hat, erweist sich in seiner, die Innigkeit der Haltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringenden Bedeutsamkeit in dem Augenblick, in dem die Liedmusik zur zweiten Strophe übergeht. Noch in der nach dem gedehnten Sekundfall auf dem Wort „Wachen“ einsetzenden ganztaktigen Pause für die Singstimme lässt das Klavier zwei in einen gedehnten dritten übergehende fünfstimmige Akkorde erklingen, - und diese fortissimo und in der von der Tonika As-Dur geradezu radikal sich abhebenden Tonart C-Dur. Auf beeindruckende Weise vernimmt und erlebt man, wie Schubert unter Nutzung des Prinzips der Variation den Grund-Gestus der Melodik dieses Liedes nutzt, um den in der zweiten Gedichtstrophe sich ereignenden Übergang der lyrischen Aussage von der Ebene der gleichsam subjektiven Ansprache des lyrischen Ichs zu der allgemeiner Gültigkeit liedmusikalisch zum Ausdruck zu bringen.

    Auf den Worten „Wer auch, fest in sich begründet“ setzt die melodische Linie, nun aber forte, wieder mit ihren dreischrittigen und rhythmisierten Tonrepetitionen ein, nun aber auf der tonalen Ebene eines „C“ in oberer Mittellage und in C-Dur harmonisiert. Das Klavier vollzieht diese Repetitionen mit Achteln und Sechzehnteln in Diskant und Bass mit und folgt auch bei den weiteren, die Worte des ersten Verses beinhaltenden Bewegungen der melodischen Linie in Gestalt von Einzeltönen. Diese aber weichen, weil sie die um das Bild des fest in sich ruhenden Menschen kreisende lyrische Aussage reflektieren, auf markante Weise von jenen der ersten Strophe ab, und dies auch beim zweiten Vers der zweiten Strophe.

    Nach der Dehnung auf dem Wort „fest“ geht die melodische Linie in einen Quartfall über und setzt danach die damit eingeleitete Abwärtsbewegung nach einem nur kurzen Sekundanstieg weiter bis zu einem tiefen „C“ hin fort. Und ähnliches ereignet sich, nur auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene einsetzend, bei den Worten „unverzagt dem Sturm begegnet“. Nun werden die Tonrepetitionen vom Klavier mit fortissimo angeschlagenen achtstimmigen b-Moll-Akkorden begleitet, und zu den Worten „dem Sturm“ hin beschreibt die melodische Linie sogar einen Sextfall. Sie verharrt anschließend dann aber, in Rückung von f-Moll nach C-Dur harmonisiert, auf der damit erreichten tonalen Ebene und endet nach einer kleinen Bogenbewegung auf der Quinte zum Grundton „C“.

    Von dem auf geradezu kontrastive Weise sich ereignenden Umschlag der Melodik, der sich nach einer kurzen Pause im Wert eines halben Taktes bei den Worten „Fühlt sich doch in euren Strahlen / Doppelt mutig und gesegnet“ ereignet, geht ein großer klanglicher Reiz aus. Nach den hoch expressiven und dynamisch extremen, anfänglich sogar in tiefe Lage führenden Fallbewegungen bewegt sich die melodische Line nun wieder im Grund-Gestus, mit dem sie in der ersten Strophe aufgetreten ist, und entfaltet in den sich wiederholenden, beim zweiten Mal aber nicht in einem Sekundfall, sondern in eine Kombination aus Terz- und Sekundsprung mündenden Sekund-Abwärtsschritten nach der dreimaligen Tonrepetition eine deutlich ausgeprägte Anmutung von klanglicher Lieblichkeit.

    Dazu liefern auch die Harmonik und der Klaviersatz einen wesentlichen Beitrag. Dieser vollzieht ihre Bewegungen mit zwei- und dreistimmigen Akkorden im Diskant mit, und jene beschreibt bei ihrer ersten Fallbewegung eine Rückung von B-Dur über As-Dur und f-Moll nach c-Moll, und bei der zweiten, in jener Kombination aus gedehntem Terzsprung und Sekundanstieg endenden, eine Rückung von Es-Dur über B-Dur zurück nach Es-Dur.
    Es ist wieder dieser von Schubert mit dem Unterton von liebevoller Verehrung versehene Gestus der an die Dioskuren sich richtenden Ansprache, der hier seinen ihm voll und ganz gerecht werdenden musikalischen Ausdruck findet.

    In der die Worte der dritten Strophe beinhaltenden letzten Liedstrophe wiederholt die melodische Linie die Bewegungen der ersten, sie wird aber nun vom Klavier mit mehrstimmigen Akkorden im Diskant und aufsteigend angelegten Sechzehntel-Arpeggien im Bass begleitet. Das verleiht der Haltung geradezu anbetender Verehrung, die sie nun zum Ausdruck bringt, liedmusikalisch nicht nur große Nachdrücklichkeit, sondern gibt ihr überdies auch noch die affektive Komponente von Liebe und Zärtlichkeit bei.
    Und so ist es denn für Schubert nur konsequent, dass er diese Liedstrophe in einer Wiederholung des Anfangsverses enden lässt. Nun aber legt er auf ihn gestisch die fallend angelegte Melodik, die auf dem letzten Vers der ersten Strophe liegt, - dieses Mal aber in einem extrem lang gedehnten und in den Grundton „As“ mündenden Dehnung endend.

    Weil alles gesagt ist, klingt das Lied im dreitaktigen Nachspiel aus Legato-Akkordfolgen im Diskant und aufsteigenden Arpeggien im Bass bei permanenter harmonischer Rückung von der Dominante Es-Dur zur Tonika im dreifachen Piano einfach nur noch aus.

  • Fragment aus dem Aeschylus, D 450

    So wird der Mann, der sonder Zwang gerecht ist,
    Nicht unglücklich sein;
    Versinken ganz in Elend kann er nimmer,
    Indes der frevelnde Verbrecher
    Im Strome der Zeit gewaltsam untergeht,
    Wenn am zerschmetterten Maste
    Das Wetter die Segel ergreift.

    Er ruft von keinem Ohr vernommen,
    Kämpft in des Strudels Mitte hoffnungslos.
    Des Frevlers lacht die Gottheit nun,
    Sieht ihn, nun nicht mehr stolz,
    In Banden der Not verstrickt,
    Umsonst die Felsbank fliehn;
    An der Vergeltung Fels scheitert sein Glück
    Und unbeweint versinkt er.

    Das sind Verse aus dem Chor der Erinnyen in der Aischylos-Tragödie „Die Eumeniden“, dem dritten Teil der „Orestie“. Mayrhofer hat einen Teil dieses Werkes übersetzt, erhalten haben sich nur die hier von Schubert in Liedmusik umgesetzten Verse. Zum Gegenstand haben sie den Menschen, der Schuld auf sich geladen hat. Er wird in ethischer Qualifizierung ausdrücklich als „frevelnder Verbrecher“ bezeichnet und damit – was hier nicht erkennbar ist – von Orest abgehoben, der zwar auch Schuld auf sich geladen hat, aber eine ethisch vertretbare, so dass er freigesprochen werden kann. Der Verbrecher hingegen ist, auch wenn er mit allen Mitteln dagegen ankämpft, dem Tod geweiht. Im Unterschied zum Gerechten vermag er nicht mehr glücklich zu sein und muss, weil die Götter ihn strafen, wie ein an der Felswand scheiternder einsamer Schiffer „unbeweint versinken“.

    Schubert Komposition auf diese Verse entstand im Juni 1816. Sie ist ein repräsentatives Beispiel für die neue Liedsprache, die er in der kompositorischen Auseinandersetzung mit Mayrhofers Antiken-Lyrik entwickelt. In ihrer Melodik ist sie stark vom Rezitativ geprägt und allgemein auf dramatischen Ausdruck ausgerichtet. Der Musikologe Walther Dürr kommentiert diese Lieder mit den Worten:
    „Mayrhofers >Antikenlieder< bringen einen neuen Ton in Schuberts Liedschaffen: Sie sind weder lyrisch noch erzählend, es sind gedanklich-reflektorische Gesänge, die vor allem in den Jahren 1816/17 Schuberts dann folgende Hinwendung zur Dichtung der Romantik vorbereiten.“


  • „Fragment aus dem Aeschylus“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, sie steht in As-Dur als Grundtonart und soll „mäßig geschwind“ vorgetragen werden. Mit einem siebentaktigen Vorspiel setzt sie ein, und man könnte es durchaus als gleichsam programmatisches Vorab ihres klanglichen Wesens auffassen und verstehen. Im ersten Teil erklingen, forte angeschlagen, am Anfang von vier Takten vier- und fünfstimmige Akkorde im Wert von halben Noten, denen ein Viertel-Achtel-Sekundfall von bitonalen Akkorden nachfolgt, wobei die Harmonik erst eine Rückung von der Tonika zur Dominante und danach eine zur Subdominante beschreibt, um dann schließlich zur Tonika zurückzukehren.

    In diesen vier Takten mutet das Vorspiel mächtig, gewichtig und bedeutsam an, und genau so tritt auch die nachfolgende Liedmusik in ihrem, die erste Strophe beinhaltenden rezitativischen Teil auf. Mit dem fünften Takt geht das Vorspiel in Gestalt von fallend und steigend angelegten Achtel-Sechzehntel-Figuren zu einer Art melodiösem Gestus über, und es nimmt darin den liedmusikalischen Geist der zweiten Strophe vorweg. Es ist, um in den Kategorien zu verbleiben, der eines auf das Rezitativ folgenden Ariosos.

    Ausdrücklich überschrieben ist die Melodik der ersten Strophe mit der Anweisung „Recit.“. Und in diesem deklamatorischen Gestus entfaltet sie sich auch, darin vom Klavier mit lang gehaltenen, teilweise sogar taktübergreifenden und schließlich gar in ein „fp-Tremolando“ übergehenden Akkorden begleitet, wobei die Harmonik, nach anfänglichen Rückungen im Bereich der Tonika und ihren beiden Dominanten, dort zum Tongeschlecht Moll (f-Moll, b-Moll) übergeht. Und schließlich lässt die Liedmusik zum Strophenende hin sogar von diesem Geist des Rezitativs langsam ab. Die Melodik geht, als wolle sie zur zweiten Strophe überleiten, mit den Worten „Wenn am zerschmetterten Maste / Das Wetter die Segel ergreift“, dies allerdings unter Beibehaltung ihres repetitiven deklamatorischen Gestus, in eine sich langsam absenkende Linie über, und das Klavier lässt von seinem Tremoli ab und begleitet sie nun im Diskant mit sich ebenfalls absenkenden drei- und zweistimmigen Akkorden, im Bass mit als Oktaven angelegten Achtel-Sprüngen. Das Bild vom „zerschmetterten Mast“ bewirkt diesen Wandel, und es ist auch verantwortlich dafür, dass die Harmonik hier eine Rückung von Des-Dur nach b-Moll vollzieht.

    Ohnehin hat – wie könnte es anders sein bei Schubert – die Aussage des lyrischen Textes starken Einfluss auf die Struktur der Melodik, unbeschadet des rezitativischen Geistes, der sie prägt. Bei den Worten „nicht unglücklich sein“ geht die melodische Linie mit einem Quartsprung in eine mit einem gedehnten Sekundanstieg eingeleitete Sekundfallbewegung aus Sechzehntelschritten über, der am Ende ein mit einem Legato-Achtelvorschlag versehender Sekundanstieg nachfolgt. Das Wort „versinken“ ist mit einem ausdrucksstarken und in der Subdominante harmonisierten leicht gedehnten Septfall verbunden. Und durch einen solchen melodischen Fall über ein großes Intervall, dieses Mal sogar über eine große None, erhält das Wort „gewaltsam“ einen starken Akzent, dies auch deshalb, weil ihm bei den Worten „im Strom der Zeit“ in der tonalen Ebene ansteigende deklamatorische Tonrepetitionen vorausgehen.

    Die Melodik der zweiten Strophe, die nach einer Pause im Wert eines halben Taktes einsetzt, entfaltet sich, darin von dem durch Tonrepetitionen geprägten Gestus ablassend, nun in stärker gebundenen deklamatorischen Schritten, dies aber in sich steigernder dramatischer Expressivität. Den Worten „er ruft“ kommt dabei eine Schlüsselstellung zu, denn sie werden nicht nur am Anfang der auf den ersten beiden Versen liegenden Melodik wiederholt, sondern dieses Verspaar erfährt selbst noch einmal eine Wiederholung, wobei diese Worte wiederum zwei Mal dem zweiten Vers vorangestellt werden, so dass man sie insgesamt sechs Mal vernimmt. Und dies in Gestalt einer selbst schon höchst expressiven melodischen Figur, die ihrerseits in eben diesem Ausdruckspotential eine mehrfache Steigerung erfährt.

    Zunächst werden diese beiden Worte auf einer in eine lange Dehnung mündenden Sprungbewegung deklamiert, die beim ersten Mal, und das in der Tonika harmonisiert, über das Intervall einer Terz, beim zweiten Mal, nun in Des-Dur-Harmonik gebettet, über das einer Quarte erfolgt. Bei der Wiederholung des ersten Verses liegt aber auf ihnen erst ein in der Tonika As-Dur harmonisierter leicht gedehnter Sekundfall in hoher Lage, aus dem dann eine auf der gleichen tonalen Ebene (einem hohen „F“) ansetzende Vorhalt-Figur in Gestalt eines in eine Dehnung übergehenden Achtel-Sechzehntel-Sekundfalls wird. Bei der dritten Wiederholung vor den – ebenfalls wiederholten – Worten „kämpft in des Strudels Mitte hoffnungslos“ wird daraus ein nicht auf einem hohen „F“, sondern einem „Ges“ ansetzender und nun verminderter, also die Anmutung von Schmerzlichkeit steigernder Sekundfall, der in b-Moll-Harmonik gebettet ist und beim zweiten Mal in nun unveränderter Gestalt erklingt.

  • „Fragment aus dem Aeschylus“ (II)

    Schubert macht aus dem ersten Verspaar der zweiten Strophe eine weit über dessen lyrische Aussage hinausgehende regelrecht dramatisch angelegte Szene, in der das verzweifelte, aber von keinem Ohr vernommene und deshalb hoffnungslose Rufen eines schuldbeladenen und deshalb dem Untergang geweihten Menschen auf liedmusikalisch höchst expressive Weise zum Ausdruck gebracht wird.
    Denn es bleibt ja nicht bei diesen vielgestaltigen, in der Expressivität sich steigernden melodischen „Er ruft“-Figuren, auch auf den Worten „von keinem Ohr vernommen“ liegt eine ausdrucksstarke und darin bei der Wiederholung sich steigernde melodische Fallbewegung, und das Wort „hoffnungslos“ erfährt durch einen extrem lang gedehnten, aus einer Repetition in hoher Lage hervorgehenden und vom Klavier am Ende mit einer langen Es-Oktaven-Repetition begleiteten Sekundanstieg in hoher Lage eine regelrechte liedmusikalische Exposition.

    Bei der Wiederholung wird daraus eine gedehnte bogenförmige Bewegung, die in Des-Dur-Harmonik gebettet ist. Sie wirkt darin wie ein Ausklang dieser dramatischen Szene, der gerade ihr Höhepunkt vorausgegangen ist. Die Worte „Er ruft, kämpft in des Strudels Mitte“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die nach dem bereits beschriebenen verminderten Sekundfall in hoher Lage auf „er ruft“ mit einem eine Quarte tiefer ansetzenden Sekundsprung in eine rhythmisierte Tonrepetition auf der tonalen Ebene eine hohen „Des“ übergeht, der ein mit einem verminderten Quartsprung zu einem hohen „Ges“ einsetzender expressiver, weil lang gedehnter, mit einer harmonischen Rückung von Ges-Dur nach Ces-Dur einhergehender und fortissimo vorgetragener Fall der melodischen Linie über zwei verminderte Terzen nachfolgt.

    Das alles stellt eine durch die kompositorische Auseinandersetzung mit Mayrhofers Lyrik generierte Bereicherung von Schuberts Liedsprache um die Komponente szenisch ausgerichtete Dramatik dar. Nach dieser so umfangreichen, tatsächlich neunzehn Takte in Anspruch nehmenden Liedmusik auf die beiden ersten Verse behält Schubert diesen dramatischen Gestus ja auch bei. Zwar nimmt er ihn in seiner Expressivität bei den Worten „Des Frevlers lacht die Gottheit nun, / Sieht ihn, nun nicht mehr stolz“ ein wenig zurück, indem er die melodische Linie zunächst wieder in deklamatorische Tonrepetition verfallen lässt, im Klavierdiskant ebenfalls mit Akkordrepetitionen begleitet und in einer Rückung von B-Dur über as-Moll nach Ces-Dur harmonisiert.

    Aber schon die Worte „in Banden der Not verstrickt“ bewirken, dass sie bei „in“ einen vierfachen Sechzehntel-Sekundfall beschreibt, um danach zu einem bogenförmigen Anstieg und Fall überzugehen, der bis zu einem hohen Ges“ hinaufreicht, in Ges-Dur harmonisiert ist und in einer mit Rückung nach Es-Dur einhergehenden Dehnung auf einem „Es“ in hoher Lage endet. Auf den Worten „umsonst die Felsbank fliehn“ liegt dann ein die lyrische Aussage gleichsam abschließender melodischer Sekundfall in mittlerer Lage, der bei „fliehn“ in eine den ganzen Takt einnehmende und überdies auch noch eine Fermate tragende und von einem entsprechend lang gehaltenen Es-Dur-Akkord begleitete Dehnung auf einem „B“ in mittlerer Lage mündet.

    Am Ende, nämlich bei den Worten „An der Vergeltung Fels scheitert sein Glück“ kehrt die Melodik noch einmal zu dem rezitativischen Gestus zurück, in einer Rückung von As-Dur über Des-Dur nach Es-Dur harmonisiert und vom Klavier mit den ganzenTakt einnehmenden sechs- und fünfstimmigen Akkorden begleitet. Der affektive Gehalt der letzten Worte hat Schubert freilich dazu bewogen, diesen wieder zurückzunehmen und die melodische Linie in einen gewichtigen, weil in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgenden Fall übergehen zu lassen, der sich in einem Terzfall, einem verminderten Terzsprung und einer Kombination aus kleinem Sext- und großem Terzfall über das große Intervall einer Dezime erstreckt und auf einem „C“ in tiefer Lage endet.
    Die Harmonik weicht dabei, eben dieses affektiven Gehalts der Aussage wegen, zunächst von Es-Dur nach as-Moll aus, kehrt aber schließlich in klassischer Kadenzrückung von der Dominante her zur Tonika As-Dur zurück.

    Das nur vier Takte umfassende Nachspiel ist schlicht angelegt. Es ist ja alles gesagt, und so bleibt dem Klavier nur noch, darin vom Pianissimo ins dreifache Piano versinkend, diesen Schlussfall der melodischen Linie in akkordischer Gestalt bis in tiefe Basslage weiterzuführen und alles in einem schlichten fünfstimmigen, kaum noch vernehmlichen As-Dur-Akkord enden zu lassen.

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  • „Abschied“, D 475

    Über die Berge
    Zieht ihr fort;
    Kommt an manchen
    Grünen Ort,
    Muß zurücke
    Ganz allein;
    Lebet wohl!
    Es muß so sein.
    Scheiden,
    Meiden,
    Was man liebt,
    Ach wie wird
    Das Herz betrübt!
    O Seenspiegel,
    Wald und Hügel
    Schwinden all';
    Hör' verschwimmen
    Eurer Stimmen
    Widerhall.
    Lebt wohl!
    Klingt klagevoll.
    Ach wie wird
    Das Herz betrübt!
    Scheiden,
    Meiden,
    Was man liebt.

    Das ist eines von den Gedichten, in denen neben der griechischen Antike die zweite Themengruppe angeschnitten wird, der Mayrhofer sich lyrisch widmete: Abschied, Heimweh, Klage über die Nichtigkeit der Welt und Sehnsucht nach dem Tod.
    In sechsundzwanzig Kurzversen, manche nur aus einem Wort bestehend, im Metrum unregelmäßig angelegt und zuweilen eine über einen bis zum vierten Vers reichende Reimbindung aufweisend wird von einem lyrischen Ich, das sich als solches aber nicht ausweist, ein schmerzlicher Abschieds-Klageruf einer ebenso anonym und in der Zahl unbestimmt bleibenden Gruppe nachgeschickt, die gerade davongezogen und dieses Ich zurückgelassen hat.

    Die ganz und gar ungeregelte Weise, in der das lyrisch-sprachlich geschieht, bringt das Überwältigt-Werden von all den sich dabei einstellenden Emotionen zum Ausdruck. Die Bindung an diese Gruppe muss eine tief reichende sein, denn das lyrische Ich hebt die hier gemachte subjektive Erfahrung auf die Ebene objektiver Allgemeingültigkeit, indem es bekennt: „Scheiden, meiden, was man liebt, ach wie wird das Herz betrübt!“.

    Schuberts Komposition auf diese Verse entstand im September 1816. Der Notentext weist im Titel eine nicht recht verständliche Angabe auf. Sie lautet: „Nach einer Wallfahrtsarie“. Walther Dürr meint (in: Schubertlied-Lexikon), sie beziehe sich auf das Gedicht selbst, dies dergestalt, dass es sich dabei um ein Lied handele, dass „bei Wallfahrten zu dem steirischen Mariazell in der Nähe des Erlaufsees gesungen wurde.“ Und er begründet das damit, dass Mayrhofer den Titel für die Drucklegung in „Lunz“ abgeändert hat. Der Ort Lunz liegt in der Nähe von Mariazell.
    Was ich an dieser Deutung aber nicht so recht schlüssig finde, ist die Tatsache, dass die für lyrische Aussage so konstitutive emotionale Ich-Du-Komponente. In ein „Wallfahrtslied“ will diese für mich nicht so recht passen.
    Ich denke, dass Schubert mit dieser Anmerkung, die sich ja im Druckbild unmittelbar unter seinem Namen als Komponist findet, darauf hinweisen wollte, dass er sich in der Melodik des Liedes von einem solchen Wallfahrtslied hat inspirieren lassen.


  • „Abschied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Liedmusik steht in G-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „langsam, wehmütig“ vorgetragen werden. Es handelt sich um ein Strophenlied nach dem Schema „A-B-A“, denn Schubert hat diesen lyrischen Text kompositorisch untergliedert in drei, nicht nur durch eine fermatierte Viertelpause, sondern auch durch eine unterschiedliche Melodik voneinander abgehobene Liedstrophen. Die erste umfasst die Verse eins bis acht, die zweite die Gruppe neun bis neunzehn, und mit Vers zwanzig kehrt die Melodik mit nur kleinen, nicht wirklich wesentlichen Variationen wieder zu der der ersten Strophe zurück. Auch der Klaviersatz ist mit jenem dort identisch.

    Eingeleitet wird das Lied durch ein achttaktiges Vorspiel, das, weil es, mit Ausnahme des Schlussakkords in unveränderter Gestalt als Nachspiel wiederkehrt, wie eine in sich geschlossene klangliche Verkörperung des Geistes dieser Liedmusik anmutet: Es ist der einer höchst schmerzlichen, weil in der Einsamkeit des Zurückgebliebenen ihren Ausdruck suchenden Wehmut des Abschieds. Im Pianissimo senken sich in Diskant und Bass aus hoher Lage Terzen im Wert von halben Noten in die Tiefe ab, gehen dabei in dreistimmige Akkorde über und halten in tiefer Basslage schließlich in einem lang gehaltenen und mit einer Fermate versehenen vierstimmigen D-Dur-Akkord inne. Diese Fallbewegung ist so eindrücklich, weil sie auch eine harmonische ist: Sie schreitet von G-Dur über C-Dur, D-Dur bis nach Es-Dur fort, und das Innehalten ereignet sich in Gestalt einer zweimaligen Rückung von einem verminderten „Cis“ nach D-Dur.

    Um die Situation, in der das sich selbst als solches gar nicht zu erkennen gebende lyrische Ich das Ereignis des Abschieds erfährt, und die Haltung, in der es dieses innerlich verarbeitet, musikalisch zum Ausdruck zu bringen, setzt Schubert in der A-Strophe ein überaus wirkungsvolles kompositorisches Mittel ein. Diese Situation ist ja eine des in der Einsamkeit Zurückgebliebenen und in Ferne Blickenden, in der die Lieben ihm entgleiten. Dieses Mittel ist das Echo. Jede der jeweils zwei Verse umfassenden und pianissimo vorgetragenen Melodiezeilen wird vom Klavier noch einmal wiederholt, und das im dreifachen Piano und in tiefer Basslage.
    Auf diese Weise ereignet sich die musikalische Evokation von situativer Einsamkeit: Das Ich hört den Worten nach, die es den „über die Berge“ Fortziehenden nachschickt.

    Es sind melodisch wehmütige. Alle vier Zeilen weisen in ihrer Melodik eine bogenförmige, mit einer Sprungbewegung einsetzende und danach in einen Fall übergehende Anlage auf, wobei die melodische Linie am Ende ihre Bewegung entweder abbricht oder in eine Dehnung verfällt. Letzteres tut sie, wenn das lyrische Ich in seiner Aussage im Gestus der Feststellung verbleibt, und das ist bei den Worten „kommt an manchen grünen Ort“ der Fall, oder schiere Faktizität zum Ausdruck bringt, wie das bei den Worten „lebet wohl, es muss so sein“ der Fall ist. Sind aber Emotionen im Spiel, wie bei den Worten „über die Berge zieht ihr fort“ und „muß zurücke ganz allein“, endet die melodische Fallbewegung in einer Dehnung, die Schubert – auch das ist Ausweis der hohen kompositorischen Kunstfertigkeit im Detail – vom Klavier mit einer Terz oder einer Sexte wiederholen lässt.

    Die Sprungbewegungen am Anfang der kleinen Melodiezeilen erfolgen allemal über ein großes Intervall, wobei dieses bei den Zeilen, die in einer Dehnung enden, nur aus einer Quarte besteht, dort aber, wo das lyrische Ich in den schmerzlichen Feststellungsgestus verfällt, ist es beide Male ein von einer Achtel-Tonrepetition aus erfolgender Sprung über das Intervall Septe, und anschließend geht die melodische Linie in eine Dehnung über, der ein gleichsam gestaffelter, weil von einem Sekundschritt unterbrochener Fall in Sekundschritten nachfolgt. So ist die Melodik auf den Worten „kommt an manchen grünen Ort“ und auch bei „lebet wohl, es muß so sein“ angelegt. Auch Harmonisierung und Klaviersatz sind identisch. Diese beschreibt zwei Rückungen von der Dominante D-Dur zur Tonika, und jener vollzieht die Bewegung der melodischen Linie in Gestalt von Akkorden mit, wobei sich während der langen Dehnung auf „manchen“ und „wohl“ im Diskant ein melismatischer Sechzehntel-Sprung ereignet.

  • „Abschied“ (II)

    Die Melodik der beiden mit einem Quintsprung einsetzenden Zeilen ist zwar nicht identisch, aber in der Grundstruktur ähnlich angelegt: Am Anfang ebenfalls eine deklamatorische Tonrepetition und anschließend eine in eine Dehnung in mittlerer Lage übergehende melodische Bogenbewegung. Auch diese Melodiezeilen sind in Rückungen von der Dominante zur Tonika harmonisiert, und das ist bemerkenswert, würde man angesichts der hier sich artikulierenden schmerzlichen Emotionen doch Einbrüche des Tongeschlechts Moll in die Dur-Harmonisierung der melodischen Linie erwarten. Aber Schubert will offensichtlich von seinem Konzept des Arbeitens mit dem Echo-Prinzip her das lyrische Ich in der A-Strophe als eines verstanden wissen, das sich mit der Trennung als Faktum abgefunden hat und in dieser Haltung das „Lebet wohl“ den Davonziehenden hinterher schickt.

    Die Artikulation der diese Haltung begleitenden schmerzlichen Emotionen ereignet sich liedmusikalisch in der elf Verse umfassenden B-Strophe. Ist die Melodik der A-Strophe von der die Zeilen einleitenden Sprungbewegung und von permanent vorherrschender Dur-Harmonisierung geprägt, so sind es nun der – wiederum über ein großes Intervall erfolgende – deklamatorische Fall und das zwar nicht ungebrochene, aber doch auf dominante Weise Vorherrschen einer Moll-Harmonisierung der melodischen Linie. Mit einer lang gedehnten, in e-Moll gebetteten Tonrepetition auf der Ebene eines „H“ in mittlerer Lage setzt sie bei dem Wort „scheiden“ ein, um bei dem nachfolgenden Wort „meiden“ in Fortsetzung dieser Repetition in einen ausdrucksstarken, weil wiederum gedehnten und mit einer harmonischen Rückung nach H-Dur einhergehenden Fall über das große Intervall einer Oktave überzugehen.

    Dem affektiven Gehalt dieser beiden Worte wird auf diese Weise starker musikalischer Ausdruck verliehen, dies auch deshalb, weil das Klavier diese lang gedehnten Repetitionen mit bogenförmig sich entfaltenden Terzen begleitet, die beim Oktavfall in einen taktlang gehaltenen und von der Quinte beherrschten vierstimmigen H-Dur-Akkord übergehen. Und überdies ereignet sich an dieser Stelle auch noch ein dynamischer Ausbruch vom bislang die ganze A-Strophe beherrschenden Pianissimo ins Mezzoforte. Und dabei verbleibt die Dynamik, bis sie sich bei den Worten „wird das Herz betrübt“ wieder ins Piano zurücknimmt. Die bogenförmig angelegte, in eine Dehnung übergehende und Rückung von e-Moll nach H-Dur harmonisierte Bewegung auf den Worten „was man liebt“ vollziehen die melodische Linie und das Klavier gemeinsam. Sie setzt den schmerzlichen Grundton, der mit den Worten „scheiden, meiden“ liedmusikalisch angeschlagen wird, fort.

    Bei den nachfolgenden Worten „ach, wie wird das Herz betrübt“, die ohne das „ach“ wiederholt werden, erfährt er eine Steigerung. Die melodische Linie geht zu Tonrepetitionen auf ansteigender tonaler Ebene über, wobei die Harmonik eine Rückung von e-Moll nach c-Moll beschreibt, und bei der Wiederholung vollzieht sie eine Anstiegsbewegung in Sekundschritten, die deshalb so eindringlich wirkt, weil sie in ruhigen Schritten im Wert von Vierteln vollzogen wird und die Harmonik von e-Moll zu C-Dur übergeht. Auf den Worten „Herz betrübt“ liegt nun, die schmerzlichen Emotionen des lyrischen Ichs im Ausdruck noch einmal steigernd, eine aus einer Dehnung hervorgehende melismatische, weil wellenartig angelegte und erneut in eine Dehnung mündende Achtelfigur, die das Klavier im Diskant mitvollzieht und in D-Dur mit Zwischenrückung nach g-Moll harmonisiert ist.

    Die Melodik auf den Worten O Seenspiegel, Wald und Hügel schwinden all' Ist wieder stark von Fallbewegungen geprägt, die sich, und das verleiht ihnen einen so starken Ausdruck, in einem kontrastiven Verhältnis zu den gedehnt repetitiven deklamatorischen Schritten entfalten, die ihnen vorangehen und nachfolgen. Und was sie in ihrem expressiven Gehalt auch noch steigert, ist die Tatsache, dass dem in H-Dur stehenden gedehnten (halbe Noten) Oktavfall auf dem Wortteil („Seen-)spiegel“ bei dem Wort „Hügel“ ein wiederum gedehnter Quartfall in tiefer Lage nachfolgt. Diese, den tiefen Abschiedsschmerz des lyrischen Ichs auf so berührende Weise zum Ausdruck bringende Melodiezeile endet bei den Worten „schwinden all“ in einem auf eine deklamatorisch gedehnt-rhythmisierte und in c-Moll gebettete Tonrepetition folgenden Sekundfall von einem hohen „C“ zu einem „H“, das einen ganzen Takt lang gehalten wird, vom Klavier mit einem vierstimmigen e-Moll-Akkord begleitet und getragen.

  • „Abschied“ (III)

    Wie eng die Bindung an den lyrischen Text ist, in der Schuberts Melodik sich entfaltet, das ist bei den diese B-Strophe abschließenden Worten „hör' verschwimmen eurer Stimmen Widerhall“ zu vernehmen. Das lyrische Schlüsselwort ist hier „Widerhall“. Und seinen semantischen Gehalt im Kontext der vom lyrischen Ich vernommenen „Stimmen“ der geliebten entschwindenden Menschen bringt die melodische Linie in Einheit mit dem Klaviersatz auf höchst eindrückliche Weise zum Ausdruck. Mit einer deklamatorischen Tonrepetition, nun aber – im Unterschied zur A-Strophe – in hoher Lage, setzt sie ein. Und dies, darin sich von der vorangehenden Melodik absetzend, in C-Dur-Harmonisierung.

    Danach geht sie in einen langsamen, weil drei Mal in Tonrepetitionen kurz innehaltenden Fall in Sekundschritten über, der bei „Widerhall“ in einen verminderten übergeht. Dieser aber mutet wie ein deklamatorischer Schritt an, der dem was nachfolgt, umso stärkeres Gesicht verleiht: Es ist die Rückkehr der melodischen Linie zu der nur kurz verlassenen tonalen Ebene, auf dass sie sich dort nun einer sehr langen, den ganzen Talkt einnehmenden Dehnung auf der Silbe „-hall“ überlassen kann. Sie ist, nach der mit dem verminderten Sekundfall einhergehenden harmonischen Rückung von e-Moll nach cis-Moll, in klarem H-Dur harmonisiert.

    Diese, den vom Klavier im Diskant mitvollzogenen und die lange, wehmütig anmutende Fallbewegung beschließende lange melodische Dehnung auf der letzten Silbe von „Widerhall“ fängt den semantischen Gehalt des Wortes „verschwimmen“ ein und löst ein neuntaktiges Zwischenspiel aus, bei dem es sich eigentlich um ein die melodische Fallbewegung fortsetzendes und in ihrer Aussage kommentierendes und interpretierendes Nachspiel handelt, das Schubert eben deshalb auch in einem fermatierten D-Dur-Akkord enden lässt, dem überdies auch noch eine Viertelpause nachfolgt, bevor die Liedmusik erneut einsetzt, - in Gestalt einer unveränderten Wiederkehr ihres Anfangs, nun aber die letzten sieben Verse beinhaltend.

    Im Pianissimo senken sich, nach einem Anstieg in Terzschritten in hoher Diskantlage einsetzend, legato lang gehaltene (halbe Noten) bitonale Akkorde im Intervall von Sexten und Terzen, am Ende in die Dreistimmigkeit übergehend in tiefe Basslage ab, und das gleichsam zögerlich, weil in Sekundschritten und mehrfachem kurzem Innehalten sich vollziehend und schließlich in einer Wiederholung der Fallbewegung endend. Die Harmonik beschreibt dabei, bevor sie am Ende in der Dominante zur Ruhe findet, in ihren Rückungen ebenfalls eine fallende Linie und schließt dabei das Tongeschlecht Moll ein: Vom anfänglichen H-Dur über c-Moll, e-Moll C-Dur, Dis-Dur und am Ende gar noch ein vermindertes Cis.

    Das ist, so mutet es jedenfalls an, eine überaus eindringliche musikalische Evokation der Emotionen, die sich im lyrischen Ich beim Hören des Widerhalls der Stimmen der Davongezogenen einstellen.
    Und weil hier der Frage nachgegangen wird, welche Auswirkungen die Begegnung mit der Lyrik Mayrhofers auf Schuberts Liedmusik hat, ist dieses Nachspiel ein bemerkenswerter Sachverhalt. Man trifft in ihm auf ein durchaus neues Element derselben.

  • „Sehnsucht“, D 516

    Der Lerche wolkennahe Lieder
    Erschmettern zu des Winters Flucht.
    Die Erde hüllt in Samt die Glieder,
    Und Blüten bilden rote Frucht.
    Nur du, o sturmbewegte Seele,
    Nur du bist (M.: ohne „nur du“) blütenlos, in dich gekehrt,
    Und wirst in goldner Frühlingshelle
    Von tiefer Sehnsucht aufgezehrt.

    Nie wird, was du verlangst, entkeimen
    Dem Boden, Idealen fremd;
    Der trotzig deinen schönsten Träumen
    Die rohe (M.: rauhe) Kraft entgegen stemmt.
    Du ringst dich matt mit seiner Härte,
    Vom Wunsche heftiger entbrannt:
    Mit Kranichen ein strebender Gefährte
    Zu wandern in ein milder Land.

    Ein typisches Mayrhofer-Gedicht ist da entstanden, - in der poetischen Auseinandersetzung mit dem Thema „Frühling“. Die ersten vier Verse entfalten tatsächlich Frühlingsmetaphorik, auf partiell (und auch das typisch für ihn) sprachlich nicht ganz gelungene Weise, - mit den ihre Lieder „erschmetternden“ Lerchen. Dann aber wird diesen geradezu schroff die Bilder der „sturmbewegten Seele“ des lyrischen Ichs entgegengesetzt, das sich als „blütenlos“, in sich gekehrt und „von tiefer Sehnsucht“ aufgezehrt offenbart.

    Mayrhofer bleibt in der zweiten Strophe beim Thema „Frühling“, indem er, typisch für die im Grunde intellektuelle Genese seiner Lyrik, die diesen in seinem Wesen repräsentierenden lyrischen Bilder durch Einbindung in die existenzielle Situation des lyrischen Ichs ihrer selbst entfremdet, ja regelrecht pervertiert.
    Dem lyrischen Ich „entkeimt“ nichts mehr, seinen „schönsten Träumen“ stemmt der Boden, auf dem es lebt, trotzig seine „rohe Kraft“ entgegen. Und so bleibt ihm nur das als Wunsch geäußerte visionäre Bild, mit „Kranichen“ als ein „strebender Gefährte“ (auch das ein typisch Mayrhofersches lyrisch-sprachliches Konstrukt) „in ein milder Land“ zu wandern.

    In diesen Versen drückt sich die tiefe Frustration Mayrhofers – und des ganzen Freundeskreises um ihn herum – aus, wie sie die Restauration für die politische und geistige Situation der Zeit mit sich brachte. Ihre sich aus dem aufklärerischen Geist der Französischen Revolution herleitenden Ideale sind zerbrochen. Ihr Denken und Fühlen finden sie Schillers Gedicht „Die Ideale“ zum Ausdruck gebracht:

    „Erloschen sind die heitern Sonnen,
    Die meiner Jugend Pfad erhellt,
    Die Ideale sind zerronnen,
    Die einst das trunkne Herz geschwellt.“

    Bezeichnenderweise wird ja im zweiten Vers der zweiten Strophe dieses Gedichts der „Boden“ als „den Idealen fremd“ charakterisiert, und darin deutet sich an, dass für diesen Kreis von Künstlern und Intellektuellen, dem Mayrhofer und auch Schubert angehörten, ihre um eine neue Welt kreisenden „Ideale“ zu solchen der „Sehnsucht“, also der Transzendenz geworden sind, weil ihre Realisierung auf dem Weg politischer Aktivität nicht mehr möglich erscheint.

    Für Schubert, den Künstler und Musiker, ereignet sich diese Transzendenz als eine Beschwörung der Ideale mit den Mitteln von Kunst und Musik. Aber wie ist das bei dem Intellektuellen Mayrhofer, dessen Lyrik eigentlich nur als Flucht eines wesenhaften Nicht-Künstlers in die Kunst zu verstehen ist?
    Ist deshalb das dieses Gedicht beschließende lyrische Bild von der Wanderschaft in ein „milder Land“ als Metapher für Tod aufzufassen und zu verstehen?
    Es wäre angesichts seiner Biographie kein so abwegiger Gedanke.

    Schuberts Komposition auf diese Verse entstand wahrscheinlich schon 1816, wurde aber erst im Mai 1822 als Nummer zwei im Opus 8 publiziert. Genau ist das Datum ihres Zustandekommens nicht auszumachen, weil sie als Entwurf auf der Rückseite eines undatierten Manuskripts eines anderen Liedes vorliegt.
    Dietrich Fischer-Dieskau hört aus ihr eine „Diskrepanz zwischen Poet und Musiker“ heraus. Ihr sei, so meint er, „anzumerken“, wie Schubert „mit dem Abbruch der eben noch so fröhlich begonnenen Frühlingsverherrlichung kämpft“. Und er geht sogar noch weiter, indem er in ihr „verschiedene Elemente“ „unter ein Joch gezwungen“ sieht (in: „Franz Schubert und seine Lieder, S.378).


  • „Sehnsucht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der sonst so oft in seinen Kommentaren den Wesenskern der Schubertlieder treffend erfassende Fischer-Dieskau dürfte in diesem Fall in seinem Urteil danebenliegen. Was er an dieser Liedkomposition bemängelt, ist von Schubert gewollt.
    Der „Abbruch“, womit Fischer-Dieskau die geradezu schroff anmutenden Brüche meint, die sich von der mit Tremoli im Klaviersatz verzierten Liedmusik auf den ersten vier Versen der ersten Strophe und jener auf der zweiten Vers-Vierergruppe und – in noch gesteigerter Form – auf fast der ganzen zweiten Strophe ereignen, sind keine Folge einer kompositorischen Nötigung, der sich Schubert vom lyrischen Text her gegen seinen Willen ausgesetzt sah, - sie sind ein von ihm gewolltes liedkompositorisches Ausdrucksmittel.
    Denn die lyrische Aussage, die Mayrhofer mit der harten Konfrontation von „Frühling in der Außenwelt“ und dem schmerzlichen, von „Sehnsucht aufgezehrten“ Leid in der seelischen Innenwelt macht, ist für Schubert nicht nur nachvollziehbar, - dieses Leid ist sein eigenes, wie man aus vielen Quellenzeugnissen weiß und wie sich vielen seiner Kompositionen, und nicht nur den liedmusikalischen, entnehmen lässt.

    In Konzentration und Beschränkung auf eben diesen Aspekt soll die Liedmusik einer kurzen Betrachtung unterzogen werden. In der Tat wird in ihr auf den ersten vier Versen Frühlingsatmosphäre evoziert. Schon im viertaktigen Vorspiel geschieht das. Ein Zwölfachteltakt liegt ihm, wie auch der ganzen nachfolgenden Liedmusik, zugrunde, und es tritt in „langsamem“ (Anweisung) Vortrag mit C-Dur als Grundtonart auf. In den Legato-Bewegungen von Vierteln und Achteln zeichnet sich, von vielerlei Sechzehntel- und sprunghaften Achtelfiguren ausgeschmückt und tänzerischen anmutenden auftaktig eingeleiteten akkordischen Dreiergruppen begleitet, eine melodische Linie ab, die sich alsbald als diejenige erweist, die auch die Singstimme auf dem ersten Vers anschlägt und in der ihr eigenen Struktur den melodischen Geist der Liedmusik auf den ersten vier Versen verkörpert.
    Es ist ein beschwingter, geradezu beseligt anmutender, sich ausdrückend in immer neuen, aus einem Sprung zu Dehnungen auf hoher Lage übergehenden und den nachfolgenden Fall alsbald wieder mit neuerlichem Anstieg hinter sich lassenden, wesenhaft legato erfolgenden Bewegungen.

    Bei den Worten „Der Lerche wolkennahe Lieder“ steigt die melodische Linie mit einem auftaktigen Sextsprung in hohe Lage empor, überlässt sich dort einer Dehnung, lässt sich danach über eine Terz und eine Quarte wieder zur Ausgangslage herabfallen, um dort nun in eine Dehnung überzugehen, den Sextsprung anschließend erneut zu vollziehen und sich schließlich mit einem Sekundsprung zu noch höherer Lage aufzuschwingen und nach einem neuerlichen Fall mit einer melismatischen Sechzehntelfigur auf „Lieder“ auf der tonalen Ebene zu enden, von der aus sie einsetzte. In dieser Weise entfaltet sie sich auch auf dem zweiten Vers, nur dass dort die Harmonik, die zuvor nur Rückungen von der Tonika C-Dur zur Dominante beschrieb, bei den Worten „zu des Winters Flucht“ zu einer Rückung von a-Moll nach d-Moll übergeht. Das Klavier begleitet diese frühlingshafte Beschwingtheit der melodischen Linie drei Mal mit einer klangmalerischen Figur aus einem Triller, der in eine aufsteigend oder fallen angelegte Sechzehntel-Kette übergeht.

    Mit den Worten "Die Erde hüllt in Samt die Glieder, / Und Blüten bilden rote Frucht“ lässt die melodische Linie von diesem großen Ambitus ab und beschreibt Anstiegs- und Fallbewegungen über Terzintervalle, die von als Ruhepunkt fungierenden Dehnungen ausgehen, wobei das Klavier ihnen im Diskant entweder folgt oder gegenläufig angelegte Dreierfiguren aus Achteln erklingen lässt. Auch im Bass ist der Klaviersatz von solchen Achtel-Dreierfiguren geprägt, nur dass sie dort partiell akkordisch auftreten und auf der eingenommenen tonalen Ebene verharren.

    Harmonisiert ist die melodische Linie nun nicht mehr in dem als Grundtonart vorgegeben C-Dur und seiner Dominante, vielmehr in mit einem c-Moll eingeleiteten Rückungen von As-Dur zur Dominante Es- und zur Subdominante Des-Dur. Die Liedmusik setzt sich also bereits hier, noch innerhalb des von der ersten Vers-Vierergruppe entworfenen lyrischen Frühlingsbildes von der spezifischen Klanglichkeit der ersten beiden Verse ab. Dies allerdings nicht in der Form eines Bruchs, sondern, darin die lyrische Metaphorik reflektierend, in Gestalt einer Ergänzung der anfänglichen emphatischen Beschwingtheit durch die Anmutung von Lieblichkeit in der Melodik und klanglicher Statik im Klaviersatz.

    Immerhin lässt die Liedmusik auf den ersten vier Versen der ersten Strophe in ihrer inneren Differenziertheit vernehmen und erkennen, wie wichtig es Schubert ist, das die Lyrik Mayrhofers einleitende lyrische Frühlingsbild in all seinem Dimensionen musikalisch zu erfassen. Nur dann nämlich ist deren auf dem kontrastiven „Aber“ basierende poetische Aussage auf adäquate Weise in Liedmusik umzusetzen und mit deren Mitteln in ihrer Tiefe auszuloten. Darin zeigt sich, um noch einmal auf Fischer-Dieskaus Verständnis dieses Liedes zurückzukommen, der hohe Grad an Identifikation zwischen „Poet und Musiker“, die er in ihm nicht zu vernehmen vermochte.

  • „Sehnsucht“ (II)

    Mit den Worten „Nur du, o sturmbewegte Seele“ nimmt dieses „Aber“ auf höchst eindrückliche Weise musikalische Gestalt an. Nach einer eintaktigen Pause, in der das Klavier in as-Moll harmonisierte und in ihrer Statik wie ein Innehalten anmutende Achtelrepetitionen im Diskant und lang gehaltene, ebenfalls repetierende Akkorde im Bass erklingen lässt, setzt die melodische Linie mit einem auftaktigen Quartsprung ein, der sie zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage führt, und dort verharrt sie, nach einer anfänglichen Dehnung auf „du“ in silbengetreuer Deklamation bis hin zu dem Wort „Seele“, wo sie dann in einen Terzfall übergeht, der nicht nur deshalb schmerzlich anmutet, weil es ein verminderter ist, sondern auch, weil er mit einer Rückung von dem E-Dur, in dem die deklamatorischen Tonrepetitionen harmonisiert sind, nach cis-Moll verbunden ist. Das Klavier hat hier ganz und gar von seinen zierlich wirkenden Figuren der Begleitung Anstand genommen und ergeht sich nun, nach einem lang gehaltenen E-Dur-Akkord, wie die melodische Linie in Bass und Diskant übergreifenden sechsstimmigen Akkord-Repetitionen.

    Den Worten „nur du“ verleiht Schubert, eben weil sich in ihnen dieses „Aber“, die Verlorenheit des lyrischen Ichs in der zu neuem Leben aufbrechenden Frühlingswelt sprachlich verdichtet, eine hohe Expressivität dadurch, dass er auf sie bei der Wiederkehr am Anfang des sechsten Verses eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines hohen „Fis“ legt, die – und das ist geradezu eine kompositorische Kühnheit – in Gis-Dur harmonisiert ist. Und bei den nachfolgenden Worten „bist blütenlos, in dich gekehrt“ lässt er die melodische Linie in wellenartiger Bewegung und cis-Moll-Harmonisierung in mittlere tonale Lage absinken, wobei dies durchweg in Gestalt von partiell gedehnten und das jeweilige lyrische Wort akzentuierenden Legato-Fallbewegungen geschieht. So bei „blütenlos“ und „in sich gekehrt“, wobei hier in die Dehnung sogar noch ein Sechzehntel-Vorschlag eingelagert ist.

    Bei beiden Schlussversen der ersten Strophe behält die melodische Linie zwar den Gestus der in großem Ambitus erfolgenden expressiven Entfaltung in Gestalt von aus Dehnungen hervorgehenden Fallbewegungen und Sprüngen über große Intervalle bei, sie ist aber, weil der lyrische Text hier die Feststellung eines Sachverhalts beinhaltet, durchweg im Tongeschlecht Dur harmonisiert, in immer neuen Rückungen von H-Dur nach Fis-Dur nämlich. Bei der hochexpressiv langen, legato über einen Sekundanstieg in einem verminderten Sextfall endenden Dehnung auf dem Wort „tiefer“ ereignet sich dann aber eine genauso ausdrucksstarke harmonische Rückung nach D-Dur, und in dieser Tonart ist auch, mit einer Zwischenrückung nach A-Dur, die bogenförmige, das Wort „Sehnsucht“ mit einem gedehnten Sekundanstieg akzentuierende melodische Linie auf den Schlussworten harmonisiert. Das Klavier begleitet hier durchweg mit Oktaven im Bass, denen im Diskant ein Sprung aus bitonalen Achtelakkorden nachfolgt.

    Diese, den beschwingten Geist des zugrundeliegenden Zwölfachteltakts zum Ausdruck bringende und darin den wesenhaft introvertiert-monologischen Charakter der lyrischen Aussage reflektierende Anlage des Klaviersatzes erfährt einen radikalen Bruch mit dem Übergang der Liedmusik zur zweiten lyrischen Strophe. Mitten in der zweitaktigen Pause für die Singstimme reißt die Piano-Folge von Oktave und bitonalem Achtelsprung in einem forte angeschlagenen sechsstimmigen Akkord schroff ab, und das Klavier geht im Diskant zur Artikulation von triolischen Achtel-Oktavrepetitionen über, denen im Bass eine spärliche, weil von Zweiachtelpausen unterbrochene Folge von Einzel-Achteln beigegeben ist. Die melodische Linie setzt bei den Worten „Nie wird, was du verlangst“ mit einer kläglich anmutenden, weil in h-Moll harmonisierten, in Sekundschritten erfolgenden und über das Intervall einer Septe bis in tiefe Lage sich erstreckenden Fallbewegung ein.

    Aber die lyrischen Aussage ist ja von den ein hohes vitales Potential beinhaltenden Worten „entkeimen“ und „trotziges Entgegenstemmen“ geprägt, und das schlägt sich in der Liedmusik dergestalt nieder, dass die melodische Linie nach dem Fall auf den Worten „nie wird, was du verlangst“ bei „entkeimen“ zu einem gedehnten Quartsprung ansetzt und danach auf „dem Boden“ die Aufwärtsbewegung in hohe Lage fortsetzt, um nach der Aufgipfelung auf der tonalen Ebene eines hohen „G“ mit den Worten „Idealen fremd“ in einen Fall über das Intervall einer verminderten Septe überzugehen.
    Diese expressive, weil in großem Ambitus erfolgende und mit einer Rückung von h-Moll nach Fis-Dur einhergehende Bogenbewegung auf den ersten beiden Versen ist typisch für den Gestus, zu dem die Melodik in der zweiten Strophe übergegangen ist. Sie reflektiert darin, dabei unterstützt von den permanenten Achtel-Oktavrepetitionen, die später erst akkordische Gestalt annehmen, dann aber in Einzelton-Repetitionen zurückfallen, den hohen affektiven Gehalt, den Schubert in den lyrischen Aussagen der zweiten Gedichtstrophe wahrnimmt.

    Und so beschreibt die melodische Linie bei den Worten „deinen schönsten Träumen“ erneut einen mit einem Legato-Sextsprung eingeleiteten, wieder zur tonalen Ebene des hohen G“ reichenden und nun mit einer harmonischen Rückung von h-Moll zum fern liegenden G-Dur verbundenen Bogen, die nachfolgenden Worte „rohe Kraft“ erfahren eine Akzentuierung durch eine lange, mit einer Sekundaufgipfelung samt Achtelvorschlag versehene und in e-Moll harmonisierte Dehnung, und auf dem Wort „entgegenstemmt“ beschreibt die melodische Linie wieder den auf einem hohen „G“ ansetzenden verminderten Septfall wie zuvor bei den Worten „Idealen fremd“, nur dieses Mal abrupt, ohne Zwischenschritte und in einer Rückung von Fis- nach H-Dur harmonisiert. Für die nun dreistimmig akkordischen Achtelrepetitionen gilt allemal die Vortragsanweisung „fp“.

  • „Sehnsucht“ (III)


    Auf den Worten „Du ringst dich matt mit seiner Härte, / Vom Wunsche heftiger entbrannt“ beschreibt die melodische Linie, darin die lyrische Aussage auf eindringliche Weise zum Ausdruck bringend und vom Klavier „fz“ mit aus einem Akkord hervorgehenden Achtel-Einzeltonrepetitionen begleitet, drei Mal eine aus einer Dehnung hervorgehende und in einer Rückung von H-Dur nach e-Moll harmonisierte Fallbewegung, die erst beim dritten Mal, den semantischen Gehalt der lyrischen Aussage „heftiger entbrannt“ reflektierend, in einer Dehnung auf der tonalen Ebene eines hohen „E“ innehält, um erst danach wieder in ihren Fall überzugehen. Dies aber nun verbunden mit einer harmonischen Rückung von D-Dur nach G-Dur.

    Das ist die Tonart, die nun, und das ist bemerkenswert, als Tonika für die Harmonisierung der Melodik auf den beiden letzten Versen fungiert, - jenem Bild von der „Wanderschaft“ mit den Kranichen „in ein milder Land“. Bemerkenswert ist dies deshalb, weil man Schuberts Liedmusik auf diesen Schlussversen durchaus als eine eigenwillige Interpretation von deren lyrischer Aussage verstehen kann.

    Das ist die Tonart, die nun, und das ist bemerkenswert, als Tonika für die Harmonisierung der Melodik auf den beiden letzten Versen fungiert, - jenem Bild von der „Wanderschaft“ mit den Kranichen „in ein milder Land“. Bemerkenswert ist dies deshalb, weil man Schuberts Liedmusik auf diesen Schlussversen durchaus als eine eigenwillige Interpretation von deren lyrischer Aussage verstehen kann. Es ist ja offen, wie dieses Bild vom „milderen Land“ zu verstehen ist, wobei die Deutung als Erlösung von allem Leid durch den Tod durchaus eine der möglichen Interpretationen ist.
    Schuberts Liedmusik scheint diese aber auszuschließen. Die Anmutung von ganz und gar ungebrochener, in reiner Diatonik sich entfaltender klanglicher Lieblichkeit, die von ihr ausgeht, ist wohl eher als Beschwörung eines Eintauchens in eine mit den Mitteln der Kunst imaginierte Welt zu verstehen, - ein Weg der Bewältigung fundamentaler existenzieller Krise, den Schubert ja immer wieder in seiner Liedmusik entworfen und beschworen hat.

    Auffällig und ihr klangliches Wesen maßgeblich prägend ist der dreischrittige Sekundanstieg, bzw. –fall, der sich permanent in der Melodik auf diesen beiden Schlussversen ereignet. Mit dieser Figur setzt die melodische Linie bei dem Wort „mit“ auftaktig ein, nach dem zweimaligen Sekundfall auf „Kranichen“ geht sie noch innerhalb dieses Wortes schon wieder zu ihr über, nutzt sie danach als Anlauf zur expressiven Aufgipfelung in Gestalt eines gedehnten Legato-Terzsprungs mit nachfolgendem Terzfall auf „Gefährte“, und bei den Worten „zu wandern in ein milder Land“ liegt sie wieder auftaktig auf dem einsilbigen Wort „zu“ und erklingt danach noch weitere drei Mal, jeweils aus einer Dehnung oder – nämlich bei „milder“ – einem gedehnten Terzsprung heraus. Das Klavier vollzieht alle diese melodischen Bewegungen, also auch diese Dreischritt-Sekundfigur, im Diskant mit und verleiht ihnen damit Nachdruck.

    Bei der Wiederholung der Worte des letzten Verses behält die melodische Linie diesen Gestus der Entfaltung bei, steigert ihn aber in seiner Expressivität dadurch, dass sie sich nun in gleichsam komprimierter Weise im Dreier-Sekundschritt entfaltet, indem auf dem Wort „wandern“ nun ein gedehnter Terzsprung zu einem „E“ in hoher Lage liegt, der anschließend in einen zweimaligen, bei „milder“ noch einmal mit einem Terzsprung neu ansetzenden Dreischritt-Sekundfall übergeht.

    Vielsagend ist das dreitaktige Nachspiel, was die Aussage dieser in der reinen Diatonik von Rückungen der Tonika G-Dur zur Dominante harmonisch sich entfaltenden Melodik anbelangt. Eine Folge von Achteln, bitonalen und dreistimmigen Akkorden steigt über den in extrem tiefe Lage absinkenden Achtelrepetitionen im Bass in hohe Lage auf und mündet in einen fermatierten sechsstimmigen G-Dur-Akkord. Die Harmonik beschreibt dabei zwei Mal eine Rückung von c-Moll nach G-Dur.

    Dieses kurze Ausweichen ins Tongeschlecht Moll wirkt, weil es alsbald durch ein Dur korrigiert wird, wie eine Bekräftigung des Willens der Liedmusik, im klanglich reinen und hellen G-Dur zu verbleiben und auch darin zu enden. Und es ist ein „Enden“, das sich im Nachspiel wie ein Aufstieg in die klangliche Transzendenz ausnimmt.
    In ihrer reinen und hohen Dur-Helligkeit ist sie eine der Erlösung, aber keine in der Welt des Todes.

  • „Der Alpenjäger“, D 524

    Auf hohen Bergesrücken,
    Wo frischer alles grünt,
    In's Land hinab zu blicken,
    Das nebelleicht zerrinnt,
    Erfreut den Alpenjäger.
    Je steiler und je schräger
    Die Pfade sich verwinden,
    Je mehr Gefahr aus Schlünden,
    So freier schlägt die Brust.

    Er ist der fernen Lieben,
    Die ihm daheim geblieben,
    Sich seliger bewußt.

    Und ist er nun am Ziele:
    So drängt sich in der Stille
    Ein süßes Bildnis vor;
    Der Sonne goldne Strahlen,
    Sie weben und sie malen,
    Die er im Tal erkor.

    Das lyrische Bild vom „Alpenjäger“, in dem dieser allerdings nicht als „Jäger“, sondern als Bergsteiger auftritt, wird in Versen entfaltet, die als einzig durchgehendes prosodisches Merkmal den dreifüßigen Jambus aufweisen. Die Kadenzen sind mal stumpf, mal klingend, mal gibt es eine Reimbindung in Kreuz- oder Paargestalt, mal nicht, und darin ist keinerlei Regelmäßigkeit auszumachen. Das kann man durchaus als ein poetisches Ausdrucksmittel für die zentrale lyrische Aussage auffassen und verstehen: Die Erfahrung von Freiheit in der Höhe der Gebirgslandschaft. Je höher es hinaufgeht, je mehr Gefahren aus „Schlünden“ drohen, je weiter das Land abrückt und nebelleicht zerrinnt, desto „freier schlägt die Brust“.

    Bedenkt man, dass diese Verse unter den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Metternich-Restauration entstanden sind, dann gewinnt dieses zentrale lyrische Bild eine besondere historische Relevanz. Der „Alpenjäger“ lässt bei diesem Aufstieg in die Freiheit allerdings seine „daheim gebliebenen“ Lieben zurück, also in der Welt der Unfreiheit, aus der er gerade ausgestiegen ist, er wird sich aber eben gerade deshalb ihres Wertes bewusst, und am Ziel in der Höhe angelangt, krönt er seine Freiheits- und Glückserfahrung mit der Imagination des Bildes seiner Liebsten, wie es der Sonne goldene Strahlen gerade malen. Dieses „süße Bildnis“ ist freilich eine Irrealität, das Leben in Freiheit mit der Liebsten wird nur beschworen, indem sie imaginativ in die Höhe der Bergwelt heraufgeholt wird. Die, die er „im Tal erkor“, lebt in der Welt der Unfreiheit.

    Hier stellt sich die Frage, wie Schubert diese Verse seines Freundes Mayrhofer gelesen hat. Ob seiner Liedmusik darauf die Erkenntnis zu entnehmen ist, dass dieser sich im Grunde ja doch poetisch einer schönen Illusion hingegeben hat, der Imagination von Freiheit, wie sie in ihrer gemeinansamen realen Welt nicht möglich ist. Dass der Alpenjäger das „süße Bildnis“ seiner Liebsten unten im Tal oben in der freien Welt der Höhen und Lüfte nicht wirklich halten kann, dass es ihm vielmehr entgleiten muss.

    Das Lied, das er im Januar 1817 auf dieses Gedicht komponiert hat, überschreitet dessen Umfang deutlich, denn es ist, mit Zwischenspielen angereichert, viergliedrig angelegt: Die Liedmusik der ersten Strophe wird als vierter Teil in Gänze und in unveränderter Gestalt wiederholt, die zweite und die dritte Gedichtstrophe stellen in diesem liedmusikalischen Rahmen den Mittelteil dar, der aber in sich, was die Struktur der Liedmusik anbelangt, noch einmal eine deutliche Untergliederung aufweist.
    Ist diese formale Anlage des Liedes als äußerliches Indiz für eine intensive liedkompositorisch reflexive Auseinandersetzung mit Mayrhofers Versen aufzufassen? Man darf mit guten Gründen davon ausgehen.


  • „Der Alpenjäger“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Sechsachteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und sie soll „frisch, doch nicht zu schnell“ vorgetragen werden. Als Grundtonart ist F-Dur vorgegeben, aber das ist nur in ihrem ersten und dritten Teil von Belang. Dass sie sich im zweiten weit davon entfernt, ist allein schon ein vielsagender Sachverhalt, die Frage des liedkompositorischen Vordringens in das Potential der lyrischen Aussage betreffend. Ein schlichtes Vorspiel geht der melodischen Linie voraus. In zwei Takten lässt das Klavier forte drei arpeggierte Akkorde erklingen: Zwei in F-Dur, der dritte in der Dominante C-Dur, um darin die harmonische Eröffnung für die auf einem tiefen „C“ auftaktig einsetzende, aber in ihren ersten Bewegungen in der Tonika F-Dur harmonisierte Melodik zu liefern.

    Der Einsatz der Melodik erfolgt, darin vom Klavier mit bitonalen Akkorden im Diskant begleitet, bei den Worten „auf hohen Bergesrücken“ im Gestus eines frischen und munteren, weil in Achtel-Sekundschritten sich ereignenden Anstiegs. Der geht zwar auf dem Wortteil „-rücken“ zwar erst einmal in einen gedehnten Terzfall über, das ist aber nur ein dieses Wort akzentuierendes melodisches Ereignis, keines, das diesen Aufstiegsgeist infrage stellt. Denn die melodische Linie auf den zu dieser Melodiezeile gehörenden Worten „wo frischer alles grünt“ setzt, bezeichnenderweise nun in Rückung von der Doppeldominante über die Dominante zur Tonika harmonisiert, mit einem Sekundsprung ein, geht danach in eine Tonrepetition über und endet in einem neuerlichen Sekundanstieg.

    Der Geist des An- und Aufstiegs prägt alle Melodiezeilen dieser ersten Liedstrophe. Als seine Verkörperung empfindet man die Melodik auf den Worten „Erfreut den Alpenjäger“, bei der Schubert auch prompt zum Mittel der Wiederholung greift und in der damit einhergehenden Variation diesen Geist am Ende noch steigert. Denn beim ersten Mal beschreibt die melodische Linie hier einen aus einer vierfachen Tonrepetition hervorgehenden Sekundanstieg, der bei dem Wortteil „-jäger“ in einen gedehnten Quartfall in mittlerer Lage übergeht. In der Wiederholung aber wird daraus ein in hoher Lage ansetzender Oktavfall.

    Und selbst die Fallbewegungen, die in Gestalt von Variationen in die anfänglich sich wiederholende Melodik auf der zweiten Vers-Vierergruppe der ersten Strophe treten, und die in einem Terzfall und in der Wiederholung in einem über eine Quarte endende Melodik auf dem letzten Vers („so freier schlägt die Brust“) empfindet man nicht als Abkehr von diesem Geist. Denn ihnen geht allemal eine – in diesem Fall sogar energische, weil über eine Terz und eine Quarte erfolgende -. Aufstiegsbewegung voraus.

    Nachdem die Melodik auf den Versen der ersten Gedichtstrophe mit der Wiederholung der bogenförmig fallenden, ansteigenden und in einen Quintfall übergehenden melodischen Linie auf den Versen „so freier schlägt die Brust“ an ihrem Ende angelangt ist, tritt im Anschluss an das Ausklingen des Klaviersatzes mit seinen Achtelakkord-Repetitionen eine Generalpause in die Liedmusik.
    Das ist ungewöhnlich und wohl so zu verstehen, dass Schubert die Liedmusik, mit der der Inhalt der drei Verse der zweiten lyrischen Strophe aufgegriffen wird, in ihrem markant andersartigen klanglichen Charakter von der der ersten Strophe abgehoben werden soll. Ein zweieinhalb Takte einnehmendes Vorspiel leitet sie ein. Es ist eine Art Seufzermotiv, das das Klavier hier erklingen lässt: Ein auftaktiger Terzfall, der über einer verminderten Sekundfall in einen neuerlichen, nun aber gedehnten Terzfall übergeht, und das in f-Moll gebettet. Wie in einer Art positivem Kontrapunkt folgt ihm eine nun in C-Dur harmonisierte Kombination aus Quart- und gedehntem Sekundfall nach, der auf einem tiefen „C“ endet.

    In diesen beiden melodischen Figuren und in der mit ihnen verbundenen Harmonik entfaltet sich auch die melodische Linie auf den Worten „Er ist der fernen Lieben, / Die ihm daheim geblieben“, darin vom Klavier mit lang gehaltenen, den ganzen Takt einehmenden Akkorden begleitet. Die Liedmusik reflektiert mit dem Fall-Gestus der Melodik und ihrer zwischen den beiden Tongeschlechtern wechselnden Harmonik die Emotionen, die sich in der Vergegenwärtigung der Daheimgebliebenen beim in die ferne Höhe sich bewegenden Wanderer einstellen. Und weil ihm dabei der Wert dieses Schatzes bewusst wird, geht die melodische Linie bei den Worten „sich seliger bewusst“ nun wieder in einen mit einem Quintsprung einsetzenden Anstieg zu Tonrepetitionen in mittlerer Lage und einem Sekundsprung am Ende über, wobei eine ganze Oktave in Anspruch genommen wird und die Harmonik von dem anfänglich noch fortdauernden f-Moll eine geradezu erfrischende Rückung nach Es-Dur und As-Dur vollzieht.

    Weil diese Erfahrung für Schubert eine so bedeutsame und wichtige ist, lässt er diese Worte wiederholen: Dies unter Beibehaltung der As-Dur- Harmonik, aber in Gestalt einer melodischen Figur, die mit ihrem in Achtelschritten erfolgenden Fall über eine ganze Oktave und dem nachfolgenden bogenförmigen, eine Sexte überspannenden Wiederaufschwung wie der Inbegriff von Lebensmut wirkt.

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  • „Der Alpenjäger“ (II))

    Dass die Liedmusik auf die Verse der zweiten und die der dritten lyrischen Strophe trotz der dreitaktigen Pause in der Melodik und der strukturellen und harmonischen Andersartigkeit derselben eine musikalische Einheit bildet, wird darin vernehmlich und erkennbar, dass die melodische Linie auf den Worten „Und ist er nun am Ziele“ die gleiche Bewegung beschreibt wie auf dem ersten Vers der zweiten, nur dieses Mal – und das ist vielsagende kompositorische Kunst – in gleichsam gegensätzlicher Weise harmonisiert, nämlich nicht von f-Moll nach C-Dur, sondern in der Dominantsept-Version dieser Tonart, und das vom Klavier mit energisch anmutenden triolischen Akkordrepetitionen im Diskant und einem Auf und Ab von Vierteln im Bass begleitet.

    Zwar geht dieses C7 bei dem Terzfall auf „Ziele“ kurz in ein f-Moll über, das aber nur, um sofort danach, bei der melodischen Tonrepetition auf den Worten „drängt sich in der Stille“ wieder die harmonische Regie zu übernehmen. Die harmonische Rückung in ein vermindertes Cis, die sich auf dem verminderten Quintfall bei „Stille“ ereignet, stellt kein Infrage-Stellen der mit Akkordrepetitionen im Klaviersatz einhergehenden Dominanz von Dur-Harmonik in der Liedmusik der dritten Gedichtstrophe dar. Sie bringt lediglich die semantische Ambivalenz dieses lyrischen Wortes zum Ausdruck.

    Diese Dur-Harmonisierung der Melodik ist allerdings angesichts der anfänglich vorgegebenen Grundtonart F-Dur durchaus bemerkenswert. Sie entfaltet sich nämlich in Rückungen von einem nun als Tonika fungierenden D-Dur zur Dominante A-Dur und vereinzelten auch zur Subdominante G-Dur. Es ist offensichtlich die im Zentrum dieser dritten Strophe stehende Imagination des geliebten Menschen unten im Tal, die diesen Übergang der Harmonik vom B-Bereich in den der Kreuztonarten bewirkt hat. Er ereignet sich bei Worten „So drängt sich in der Stille / Ein süßes Bildnis vor“ auf modulatorisch kunstvolle Weise in Gestalt einer enharmonischen Verwechslung von „Des“ und „Cis“. Der Quintfall auf „Stille“ setzt auf einem hohen „Des“ an, auf den Worten „ein süßes Bild“ beschreibt die melodische Linie dann aber eine auf diesem „Des“ ansetzende, danach mit einen Sekundschritt zu einem „Cis“ erfolgende Abwärtsbewegung, geht, nun in A-Dur harmonisiert, auf diesem Ton erst einmal in eine Dehnung über, um schließlich in einen sie bis hinab zu einem tiefen „D“ führenden Fall überzugehen, der, weil er in Achtel-Sekundschritten erfolgt und bei „Bild“ noch einmal in Gestalt einer Dehnung kurz innehält, eine durchaus melismatische Anmutung aufweist.

    Pianissimo wird die melodische Linie auf diesen Versen vorgetragen, dem lyrischen Schlüsselwort „Stille“ entsprechend, und das bleibt auch so, bis die Liedmusik nach einer viertaktigen Pause für die Singstimme mit der unveränderten Wiederholung der ersten Strophe wieder einsetzt. Die melodische Linie auf den letzten drei Versen der dritten Strophe ist, nun in hell wirkendem D-Dur und A-Dur harmonisiert, in der Art ihrer Entfaltung ganz von dem lyrischen Bild des „Webens“ und „Malens“ der Sonnenstrahlen geprägt, das sich beim lyrischen Ich in dem mit der Erfahrung von Freiheit einhergehenden Erreichen der Bergeshöhe einstellt. Bei den Worten „Der Sonne goldne Strahlen, / Sie weben und sie malen“ beschreibt sie zwei Mal die gleiche zierlich wirkende Bewegung aus einer nach einem Terzfall sich ereignenden Rückkehr zur tonalen Ebene, in der sie in Gestalt von Repetitionen verharrt, um am Ende dann in einen ausdrucksstarken Fall zu dieser Ebene eine Oktave tiefer überzugehen.

    Auf dieser Ebene des hohen „D“ setzt die melodische Linie dann auch bei den sich wiederholenden Worten „die er im Tal erkor“ ein. Sie geht nun, den Gestus der Entfaltung in kleinen Sekundschritten beibehaltend, erst in einen Fall in mittlere tonale Lage über, erhebt sich daraus aber und steigert sich bei dem Wort „erkor“ auf durchaus expressive, freilich im Pianissimo verbleibende Weise mit einem Legato-Terzsprung bis hinauf zu einem hohen „Fis“, darin die Emotionen zum Ausdruck bringend, die sich beim lyrischen Ich in der imaginativen Vergegenwärtigung der Liebsten in diesem Augenblick einstellen. Bei der Wiederholung beschreibt sie dann anfänglich zwar die gleiche Bewegung noch einmal, geht aber bei „erkor“ in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene dieses hohen „D“ über, die es ihr, seit aus dem „Des“ bei dem Wort „Stille“ ein „D“ geworden ist, regelrecht angetan hat, so dass sie bei all ihren im Ambitus durchaus weitreichenden deklamatorischen Ausflügen immer wieder zu ihr zurückkehrt.

    Aber, und das ist ein bemerkenswerter Sachverhalt, im Nachspiel gehen die dreistimmigen Akkordrepetitionen, mit denen das Klavier die melodische Linie in dieser dritten lyrischen Strophe durchweg begleitet hat, von D-Dur nach d-Moll über, bevor die Harmonik über eine Rückung von B-Dur nach einem als Dominantsepte fungierenden C-Dur die Wiederkehr der Liedmusik der ersten Strophe vorbereitet. Auf liedkompositorisch höchst subtile Art und Weise, hat Schubert mit der Dominanz der tonalen Ebene eines hohen “D“ dieses imaginative Verharren des lyrischen Ichs in der Freiheit der Höhe musikalisch zum Ausdruck gebracht.
    Dass er es im Nachspiel in Mollharmonik münden lässt, darf man wohl so verstehen, dass er in diesem vom Mayrhofer lyrisch entworfenen „Hinauf zu den hohen Bergesrücken“ nicht wirklich einen Gewinn von wahrer, im realen gesellschaftlichen Leben Bestand habender Freiheit zu sehen vermag.

  • „Wie Ulfru fischt“, D 525

    Der Angel zuckt, die Rute bebt,
    Doch leicht fährt sie heraus.
    Ihr eigensinn'gen Nixen gebt
    Dem Fischer keinen Schmaus!
    Was frommet ihm sein kluger Sinn,
    Die Fische (M.: Fischlein) baumeln spottend hin -
    Er steht am Ufer fest gebannt,
    Kann nicht in's Wasser, ihn hält das Land.

    Die glatte Fläche kräuselt sich,
    Vom Schuppenvolk bewegt,
    Das seine Glieder wonniglich
    In sichern Fluten regt.
    Forellen zappeln hin und her,
    Doch bleibt des Fischers Angel leer,
    Sie fühlen, was die Freiheit ist,
    Fruchtlos ist Fischers alte List.

    Die Erde ist gewaltig schön,
    Doch sicher ist sie nicht!
    Es senden Stürme Eiseshöh'n;
    Der Hagel und der Frost zerbricht
    Mit einem Schlage, einem Druck,
    Das gold'ne Korn, der Rosen Schmuck.
    Den Fischlein unterm weichen Dach,
    Kein Sturm folgt ihnen vom Lande nach.

    Das lyrische Bild vom Fischer, der hier den Namen „Ulfru“ trägt, wird für Mayrhofer in diesen Versen zur Metapher, in der er zwei seiner zentralen, in seiner Lyrik immer wieder aufgegriffenen Themen ansprechen kann: Das Wasser und die Freiheit. Er gibt sich ja nicht zufrieden mit der lyrisch-narrativen Abhandlung der Aktivitäten dieses Fischers, in der dritten Strophe weitet er die szenische Perspektive des Ufers zu der der ganzen Erde aus und verfällt in den Gestus der Reflexion, die Gefahren des Lebens auf ihr betreffend.
    Man kann sie als den Akt des Fischens begleitende Gedanken dieses „Ulfu“ auffassen. Sie werden nicht als solche lyrisch-sprachlich ausgewiesen, wohl aber münden sie in die Aussage, auf die die Metaphorik dieser Verse hinausläuft: Die Fische führen ein Leben in Freiheit, spotten darin des Fischers, der ihnen mit der Angel erfolglos nachstellt, und das können sie, weil das Wasser sie birgt, sie schützt, ihnen sein solche Leben allererst ermöglicht.

    Die dritte Strophe setzt den Bildern der Gefahr für Leib und Leben auf dieser Erde, den stürmischen Eiseshöhen, dem Hagel und dem Frost, die alles Schöne auf dieser Erde, das „goldene Korn“ und „der Rosen Schmuck“ zu zerstören vermögen, das „weiche Dach“ des Wassers entgegen. Das Leben in ihm vermag sich in Geborgenheit zu entfalten, weil kein Sturm vom Lande es zu erreichen vermag. Diese bergende und schützende Funktion des Wassers wird, neben der als Quelle und Träger des Lebens, von Mayrhofer in vielen seiner Gedichte behandelt. Die Tatsache, dass er sich bei seinem ersten Selbsttötungsversuch in die Donau gestürzt hat, macht in diesem Zusammenhang nachdenklich und wirkt anrührend.

    Schubert hat aus diesem Gedicht ein Strophenlied gemacht, und das im Januar 1817. Es wurde danach in einer leicht überarbeiteten Fassung im Juni 1823 als dritte Komposition in seinem Opus 21 publiziert. Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, sie steht in F-Dur als Grundtonart und soll „mässig“ vorgetragen werden. Die melodische Linie der Singstimme ist für Basslage komponiert. Das ist, was den gesanglichen Vortrag anbelangt, in diesem Fall kein unerheblicher Sachverhalt, wie man sehr wohl feststellen kann, wenn man die verschiedenen Aufnahmen von diesem Lied vergleichend nebeneinander hört.

    Schubert wollte wohl, dass sich die melodische Linie in zwischen Klavierdiskant und –bass gleichsam eingebetteter Weise entfaltet, so dass sie mal voll in den Klaviersatz integriert wirkt, indem sie Figuren aus diesem übernimmt, mal aber in ihren Spitzen aus diesem hervortritt, also als Bestandteil von drei Stimmen fungiert, die sich in einem durchaus divergenten Ineinander entfalten.

    Das ist eine kompositorische Eigenart dieses Liedes, und man liegt wohl nicht falsch, wenn man darin den musikalischen Reflex des zentralen lyrischen Bildes von den im Wasser „zappelnd“ sich tummelnden und der Angel des Fischers spottenden Forellen sieht. Weil die lyrische Aussage der zweiten und der dritten Strophe im letzten Verspaar jeweils auf ihren Punkt kommt, insofern die Themen „Freiheit“ und „schützendes Wasser“ angesprochen werden, und selbst im Falle der ersten das Thema „Wasser“ indirekt angesprochen ist, hat Schubert hier das kompositorische Mittel der Wiederholung zum Einsatz gebracht. Dabei wird allerdings die melodische Linie nur im Falle des letzten Verses in identischer Gestalt wiederholt. Beim zweitletzten Vers wird diese variiert.


  • „Wie Ulfru fischt“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Im dreitaktigen Vorspiel senken sich dreistimmige Achtel-Akkorde und -Terzen im Wechsel mit Einzeltönen aus mittlerer in tiefe Lage ab, wobei die Harmonik eine Rückung von d-Moll über g-Moll und A-Dur zurück zur Tonika beschreibt. In dieser im Tongeschlecht Moll harmonisierten fallenden Linie wird ein leicht melancholischer Ton angeschlagen. Und auch die Lebhaftigkeit, die diesem Auf und Ab der Achtel-Quartolen innewohnt, mutet, da sie ja in ihrer Abfolge eine fallende Linie beschreiben, leicht gedämpft an. Das ist ein Grundton, der für die ganze Liedmusik gilt. Zwar schwingt sich die melodische Linie in ihr gleich zwei Mal zur Lage eines hohen „C“ auf, davon einmal sogar über einen Oktavsprung, und sie entfaltet sich lange, bis hin zu den letzten beiden Versen, in Gestalt einer Auf-und-Ab-Bewegung in der jeweils eingenommenen tonalen Ebene. Aber mit dem letzten Vers und der Wiederholung des letzten Verspaares geht sie zum Gestus dieses Falls über, der mit Ausnahme der Wiederholung des zweitletzten Verses allemal im Tongeschlecht Moll harmonisiert ist.

    Schubert ist mit dieser Anlage der Melodik und ihrer Harmonisierung ganz offensichtlich in die semantische Tiefe dieser Mayrhofer-Verse vorgedrungen und hat die – für diesen typische – untergründige Melancholie ihrer lyrischen Aussage erfasst und musikalisch zum Ausdruck gebracht. Sie gründet ja nicht etwa darin, dass der Fischer Ulfru keinen Erfolg in seinem Tun hat, vielmehr darin, dass er, und damit der Mensch ganz allgemein, keinen Zugang zu jener Welt des Wassers hat, in der sich friedvolles, weil in vollem Einklang mit der Natur stattfindendes Leben ereignet. Die, partiell unter Einbeziehung des musikalischen Ausdrucksmittels der Variation erfolgende, Wiederholung der beiden letzten Verse erschließt sich hier in ihrem tiefen liedkompositorischen Sinn.

    Formal besteht die Liedstrophe aus drei, jeweils durch eine Viertelpause voneinander abgehobenen Melodiezeilen, von denen die ersten beiden je zwei Verse beinhalten, die dritte aber aus den restlichen vier besteht. Nach einer halben Pause für die Singstimme schließt sich dann die Wiederholung in Gestalt zweier, wiederum durch eine Achtelpause getrennter Melodiezeilen an. Auf der Grundlage des Textes der ersten Strophe soll nun kurz eine analytische Betrachtung der Struktur der melodischen Linie, des Klaviersatzes und ihres Zusammenspiels erfolgen.

    Bei den Worten „Der Angel zuckt, die Rute bebt, / Doch leicht fährt sie heraus“ setzt die melodische Linie auftaktig mit einem Achtel-Sechzehntel-Sekundsprung ein, schwingt sich bei „die Rute“ über das Intervall einer Quinte in hohe Lage empor, um sich, nachdem sie bei „doch“ noch einen weiteren Sekundanstieg beschrieben hat, dann einer Fallbewegung in Sekundschritten zu überlassen, die sie allerdings nur in mittlere Lage führt und schließlich in einer Aufwärtsbewegung in Gestalt eines Sekundschritts mit Dehnung auf einem „F“ in oberer Mittellage endet. Sie mutet also in dieser ersten Melodiezeile wie vom Geist des Aufstiegs beflügelt an, und das drückt sich auch darin aus, dass die d-Moll-Harmonisierung nicht konstant bleibt, sich vielmehr zwei Mal eine Rückung ins Tongeschlecht Dur ereignet: Bei dem Quintsprung auf den Worten „die Rute“ (nach A-Dur) und bei dem Sekundfall und Wiederanstieg auf „sie heraus“. Hier ist die harmonische Rückung sogar eine markante, nämlich eine von C- nach F-Dur.

    Der Klaviersatz entfaltet dabei eine durchaus eigenständige musikalische Aussage. In sprunghaft angelegten Achtel-Quartolen, die später in bitonale Figuren übergehen, folgt das Klavier im Diskant der Bewegung der melodischen Linie, im Bass aber erklingen dabei in gegenläufiger Bewegung rhythmisierende und akzentuierende, von Achtelpausen voneinander abgehobene Achtel-Oktaven. Diese Struktur des Klaviersatzes bleibt die ganze Strophe über erhalten, wobei allerdings vielerlei Variationen in den Figuren erfolgen. Aus den Oktaven im Bass können Quinten und Sexten werden, sie können sogar, wie das im Übergang von der zweiten zur dritten Melodiezeile der Fall ist, auf Einzel-Achtel reduziert werden, und die Achtel-Quartolen treten, was ihr Binnen-Intervall in den Sprüngen und ihre Anreicherung mit bitonalen Akkorden anbelangt, in vielerlei Gestalt auf. Dem Klaviersatz kommt also in dieser Liedmusik eine wichtige, der Melodik durchaus gleichrangige Funktion zu.

    Auch die zweite Melodiezeile, die auf den Worten „Ihr eigensinn'gen Nixen gebt / Dem Fischer keinen Schmaus“ also, setzt mit einem auftaktigen Sprung ein, nur dass es dieses Mal einer ist, der sich gleich über eine ganze Oktave erstreckt, die melodische Linie danach in rhythmisierten Tonrepetitionen auf der tonalen Ebene eines hohen „C“ verharrt und sich danach bei den Worten „Nixen gebt dem Fischer“ zwar vorübergehend in Gestalt von Terzfallbewegungen auf obere Mittellage absenkt. Der zweifache Sekundfall auf dem Wort „keinen“ setzt auf einem hohen „F“ an und geht erst am Ende über einen Quartfall zu einer Dehnung auf einem „A“ in mittlerer Lage über. Durchweg ist diese Melodiezeile in Dur harmonisiert, in Rückungen von F-Dur über B-Dur hin zu C-Dur am Ende. Sie bringt ja schließlich hier nur den einen Sachverhalt konstatierenden lyrischen Text zum Ausdruck.

  • „Wie Ulfru fischt“(II)

    Ganz anders ist das bei der – eine eigene Zeile bildenden - Melodik auf den letzten vier Versen. Sie weisen in ihrer lyrischen Aussage für Schubert einen hohen affektiven Gehalt auf, und so tritt denn der Gestus des Falls in die melodische Linie und das Tongeschlecht Moll drängt sich mehrfach in deren Dur-Harmonisierung, um am Ende bei der für die Gesamtaussage des Liedes konstitutiven Melodik des letzten Verses und deren Wiederholung die Vorherrschaft zu übernehmen.
    Schließlich geht es hier bei allen drei Strophen um die für Mayrhofer heile Welt des Wassers, in der die „alte List“ des Fischers und der „Sturm vom Land“ nichts auszurichten vermögen. Die Dominanz der Tonika d-Moll, die hier mit kurzer Zwischenrückung nach a-Moll vorherrscht ist von der Aussage der melodischen Linie her wohl als musikalischer Ausdruck von schmerzlich angehauchter Sehnsucht aufzufassen und zu verstehen: Sehnsucht nach einer Welt, die dem Menschen in seiner gegenwärtigen unzugänglich und verschlossen bleibt.

    In der ersten Fassung der Verse „Er steht am Ufer fest gebannt, / Kann nicht in's Wasser, ihn hält das Land“ geht die melodische Linie nach einer auftaktigen, über einen gedehnten Sekundfall erfolgenden Abwärtsbewegung in einen Anstieg über, verharrt bei „festgebannt“ in einem kurzen Auf und Ab in oberer Mittellage und geht dann mit einem Quintsprung in hohe Lage über, um mit den Worten des letzten Verses eine kontinuierliche, weit gespannte und auf einem „D“ in mittlerer Lage endende Fallbewegung zu vollziehen. Die Harmonik beschreibt bei beiden Versen zwar eine Rückung vom vorherrschenden Moll zum Tongeschlecht Dur, aber bei dem melodischen Auf und Ab in Sekundschritten auf „festgebannt“ dient das C-Dur nur dazu, diesem Wort einen Akzent zu verleihen, und die harmonische Rückung von d-Moll nach A-Dur, die sich am Ende dieser Zeile bei dem zweifachen Sekundfall auf den Worten „hält das Land“ ereignet, erfüllt eine reine Kadenzfunktion, denn das „D“ auf „Land“ ist in d-Moll-Harmonik gebettet.

    Bei der Wiederholung dieser beiden Verse, die dadurch eingeleitet wird, dass das Klavier, das mit der ersten Achtel-Quartole im Diskant den melodischen Fall auf „hält das Land“ noch mitvollzogen hat, nun während der Pause für die Singstimme mit der zweiten eine Anstiegsbewegung beschreibt, tritt in die melodische Linie auf dem ersten ein Steigerungseffekt dergestalt, dass sich der rhythmisierte Sekundfall auf „er steht“ bei „am Ufer“ auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene wiederholt und sich auf dem Wort „festgebannt“ nun kein schlichtes Auf und Ab in Sekundschritten, vielmehr ein in hoher Lage ansetzender und am Ende in eine lange Dehnung mündender zweifacher Sekundfall ereignet. Harmonisiert ist diese Variation, ganz ihrer gesteigerten Expressivität entsprechend, nun ganz und gar im Tongeschlecht Dur, und zwar in Gestalt einer Rückung von B-Dur zu dem als Doppeldominante fungierenden C-Dur.

    Auch der Klaviersatz erfährt dabei eine markante Variation. Nun verharren die Quartolen im Diskant auf unterer tonaler Ebene und auch die Oktaven im Bass tun das und entfalten sich, dies sogar taktübergreifend, in gedehnter Legato-Bindung, als wollte das Klavier nur die klangliche Grundlage für die in ihrer Expressivität deutliche gesteigerte Aussage der melodischen Linie liefern. Denn in dieser geht es Schubert ja darum, mit dem kompositorischen Mittel der Wiederholung die Semantik der für die intendierte musikalische Aussage des Liedes höchst relevanten beiden letzten Strophenverse bis in die Tiefendimensionen liedmusikalisch auszuschöpfen.

    In diesem Zusammenhang kommt dem zweitletzten Vers eine besondere Funktion zu, denn er liefert lyrisch sozusagen den Einstieg in die Semantik des letzten. Insofern ist es kompositorisch angebracht, dass Schubert hier die Variation in Melodik, Harmonik und Klaviersatz vornimmt. Beim letzten kann er sich dann damit begnügen, ihn auf liedmusikalisch identische Weise noch einmal erklingen zu lassen.

  • „Fahrt zum Hades“, D 526

    Der Nachen dröhnt, Zypressen flüstern,
    Horch, Geister reden schaurig drein;
    Bald werd' ich am Gestad', dem düstern,
    Weit von der schönen Erde sen.

    Da leuchten Sonne nicht, noch Sterne,
    Da tönt kein Lied, da ist kein Freund.
    Empfang die letzte Träne, o Ferne,
    Die dieses müde Auge weint.

    Schon schau ich die blassen Danaiden,
    Den fluchbeladnen Tantalus;
    Es murmelt todesschwangern Frieden,
    Vergessenheit, dein alter Fluß.

    Vergessen nenn' ich zwiefach Sterben,
    Was ich mit höchster Kraft gewann,
    Verlieren, wieder es erwerben!
    Wann enden diese Qualen? wann?

    In diesen vier Strophen, die in ihrer Anlage – vierfüßige Jamben, klingende und stumpfe Kadenz im Wechsel, Kreuzreim – einfach wirken, wird das in episch-balladenhafter Sprachlichkeit dargestellt, was der Titel des Gedichts vorgibt: Die Fahrt in den Herrschaftsbereich des Gottes Hades, die Unterwelt also. Da es sich bei dem narrativen Gestus der Sprache um die Aussage eines lyrischen Ichs handelt, finden sich in diesem Text auch evokative Elemente in Gestalt einer entsprechenden Metaphorik. Insofern handelt es sich hier um eine Art Zwitterwesen zwischen lyrischem Gedicht und Ballade.

    Schon der Einstieg ist mit seinen Bildern vom „dröhnenden Nachen“, den „flüsternden Zypressen“ und den „schaurig dreinredenden“ Geistern wesenhaft lyrisch. Dieses Ich gibt darin die Art und Weise wieder, wie es die Überfahrt in den Hades erfahren und erlebt hat. Und wenn dabei bedacht wird, dass hinter diesem lyrischen Ich der Autor Mayrhofer steht, gewinnen diese Erfahrungen eine bedeutsame Relevanz. Der „Hades“ wird zu einer Welt, in der es nicht nur die „schöne Erde“ nicht mehr gibt, sondern vor allem „kein Lied“ und „keinen Freund“ mehr, - Inhalte irdischen Lebens, die für Mayrhofer von hoher existenzieller Relevanz waren. Stattdessen begegnet er Gestalten der antiken Mythologie, die zum Erleiden von nicht enden wollen Qualen verdammt sind, Tantalus und den Danaiden.

    Vor allem aber wird das „Vergessen“ zum zentralen Thema dieser um die Hades-Welt kreisenden Verse. Schon am Ende der dritten Strophe wird es angesprochen und mit der Assoziation „todesschwangerer Frieden“ versehen. Schlimmer aber noch: Das Vergessen wird als gleich „zweifaches Sterben“ erfahren. Die Aussage der letzten Strophe mutet ein wenig rätselhaft an. Interpreten haben diesbezüglich schon Erwägungen angestellt, Mayrhofer könne hier mit dem „Verlieren“ und „wieder Erwerben“ indirekt die Errungenschaften der Aufklärung auf dem Hintergrund der Metternich-Restauration angesprochen haben.

    Ich halte das für abwegig. Es ist die in der Imagination des Todes sich einstellende erschreckende Erfahrung der Vergänglichkeit, die hier lyrischen Ausdruck findet. Auf sie bezieht sich das den letzten Vers beherrschende Wort „Qualen“. Diese beinhalten die existenzielle Erfahrung des Verlusts dessen, was im individuellen Schaffen erworben wurde und in all dem Streben nach Wieder-Erwerben wieder mit der Erfahrung neuerlichen Verlusts einhergehen muss. Der zentralen Frage nach dem Ende dieser Erfahrung verleiht Mayrhofer durch die Wiederholung der Fragepartikel „wann?“ eine besondere Eindringlichkeit.

    Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass es die im Zentrum dieser Verse stehenden Themen „Tod“ und „Vergänglichkeit“ waren, die Schubert zum liedkompositorischen Griff nach diesem Gedicht veranlassten. Es sind seine eigenen. Daraus wurde ein Lied, das in seiner Musik stark von der episch-narrativen Sprachlichkeit dieses Mayrhofer-Textes geprägt ist. Heißt: Die Melodik entfaltet sich in der Bipolarität von lyrischem und rezitativischem Gestus. Die strophische Gliederung des Gedichts wird nicht nur in Gestalt von eine Rahmenfunktion erfüllenden Pausen übernommen, die Lied-Strophen werden durch eine alle Bereiche erfassende Eigengestalt der Liedmusik deutlich voneinander abgehoben. Aus dem vierstrophigen poetischen Text macht Schubert dabei ein fünfstrophiges Lied, denn er lässt den Text der ersten Strophe in Gestalt einer variierten Liedmusik noch einmal wiederholen.


  • „Fahrt zum Hades“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Komposition entstand im Januar 1817. In der Melodik ist sie für tiefe Stimme angelegt, und sie soll „Langsam“ vorgetragen werden. Als Grundtonart ist zwar ein „B“ vorgegeben, aber nur bei der ersten Strophe entfaltet sich die Liedmusik im wesentlichen in Rückungen von d-Moll und F-Dur und ihren zugehörigen Dominanten. In den übrigen Strophen weicht im Falle der zweiten und der dritten nicht nur die Taktvorgabe von der ab, die für die erste gilt, insofern nun an die Stelle eine Zweivierteltakts ein Dreivierteltakt tritt, auch die Harmonik beschreibt bis in abgründige Tiefen des Quintenzirkel vordringende Rückungen.

    Ganz offensichtlich kam es Schubert darauf an, unter Einsatz aller infrage kommenden liedkompositorischen Mittel die spezifische, teils metaphorisch, teils reflexiv angelegte Aussage der einzelnen Strophen auf möglichst adäquate Weise zu erfassen. Und eben deshalb heben sie sich klanglich so stark voneinander ab und erfährt die erste bei ihrer Wiederholung eine tiefgreifende Variation im Bereich von Melodik, Harmonik und Klaviersatz. Bei all dieser hochgradigen Binnendifferenzierung bleibt die innere Einheit der Komposition gleichwohl erhalten.

    Ein dreitaktiges Vorspiel geht voraus, in dem im Diskant triolische bitonale Akkordrepetitionen in eine Folge von tremolierenden Akkorden übergehen, wobei die Harmonik eine Rückung von der Tonika d-Moll über g-Moll und A-Dur beschreibt. Man kann es in dieser seiner spezifischen Anlage als eine klangliche Imagination der Dramatik des nachfolgenden Geschehens auffassen und verstehen, - nicht des vordergründigen der Fahrt in den Hades, sondern des seelischen, das diese begleitet. Denn um dieses geht es Schubert. Die Kombination aus bitonalen Akkordrepetitionen und Akkord-Tremoli bleibt die ganze erste Strophe über die Art und Weise, in der das Klavier die melodische Linie im Diskant begleitet. Im Bass lässt es dazu fast durchweg eine Folge von lang gehaltenen (halbe Noten) Oktaven erklingen.

    Entsprechend der stark lyrisch-deskriptiv geprägten und metaphorisch ausgerichteten Sprachlichkeit der ersten Strophe entfaltet sich die melodische Linie in liedhaft gebundener Art und Weise. Das ist vor allem bei den Worten des ersten und jenen des dritten und vierten Verses der Fall, auf denen jeweils eine Melodiezeile liegt. Beim zweiten Vers ist die Melodik in zwei kleine Zeilen untergliedert, die durch Viertpausen voneinander abgehoben sind. Das einleitend-appellative „horch“ macht das erforderlich.
    Und so geht die melodische Linie denn hier in einen mit einem Vorschlag versehenen und in A-Dur harmonisierten Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetition über, und nach einer Viertelpause setzt sie mit einer Tonrepetition ein, nun aber auf einer um eine kleine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene, und beschreibt danach mit einem gedehnten und dem Wort einen Akzent verleihenden verminderten Terzsprung auf „schaurig“ einen Anstieg. Harmonisiert ist diese kleine Zeile nun in b-Moll, und diese im Quintenzirkel weit ausgreifende, weil vom Kreuzton- in den B-Bereich verlaufende Rückung vom vorangehenden A-Dur ist typisch für die Harmonik dieses Liedes.

    Die zweite Strophe hebt sich nicht nur durch ihre spezifische Liedmusik deutlich von der ersten ab, auch auf formale Weise geschieht das. Auf dem dreistimmigen F-Dur-Akkord, der nach dem Ende der melodischen Linie der ersten Strophe erklingt, liegt eine Fermate. Danach ereignet sich ein dreitaktiges Zwischenspiel, bestehend aus einem rhythmisierten F-Dur-Akkordpaar, dem eine triolische Achtelfigur nachfolgt, die die nachfolgende Bewegung der melodischen Linie auf den Worten „Da leuchten Sonne nicht, noch Sterne“ in ihrer Grundstruktur vorgibt. Ihr liegt – und das gilt für die ganze zweite und auch die dritte Strophe – nun ein Dreivierteltakt zugrunde. Er verleiht dem sich in einem ausgeprägten Fall-Gestus ausdrückenden Klage-Ton der melodischen Linie eine Anmutung von leicht schwebender Innigkeit, der ihn höchst eindringlich werden lässt. Und Schubert intensiviert ihn, indem er in dieser Strophe gleich drei Mal das Mittel der Wiederholung zum Einsatz bringt: Dies beim ersten, beim zweiten und beim vierten und letzten Vers der zweiten Gedicht-Strophe.

    Es sind die lyrischen Worte, in denen – erstmals in diesem Gedicht – das lyrische Ich auf seine seelischen Erfahrungen in der imaginativen Begegnung mit der Hades-Welt zu sprechen kommt. Und so liegt denn bei ersten Mal auf den Worten des ersten Verses eine in hoher Lage einsetzende und in ihrem zweistufigen Fall in mittlere Lage stark von Triolen geprägte melodische Linie, die in F-Dur mit Rückung in die Dominante harmonisiert ist und vom Klavier im Diskant mit eben der Figur begleitet wird, die es im Vorspiel gerade hat erklingen lassen. Bei der Wiederholung verleiht Schubert diesem Klageton Nachdruck nicht etwa dadurch, dass er den melodischen Fallgestus steigert, vielmehr lässt er den einleitenden doppelten Terzfall in eine nun mit einer harmonischen Rückung nach B-Dur einhergehende Aufstiegsbewegung der melodischen Linie übergehen, die in einen doppelten Fall erst über eine Terz und dann eine Sekunde in hoher Lage mündet, verbunden mit einer harmonischen Rückung in die Doppeldominante C-Dur. Das ist eine markante Akzentuierung der lyrischen Aussage in ihrem semantischen Gehalt.

    Beim zweiten Vers wiederholt die melodische Linie nun aber die zweimalige und bei den Worten „da ist“ um eine Terz höher ansetzende Fallbewegung, das aber nicht auf identische Weise, vielmehr in Gestalt einer ausdrucksstarken, den Klageton intensivierenden Gestalt. Sie setzt auf einer im Vergleich mit dem zweiten Fall um eine kleine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene ein, was mit einer harmonischen Rückung vom vorangehenden G-Dur nach A-Dur verbunden ist, und der nachfolgende Fall mündet nun in d-Moll-Harmonik. Der zweite Fall setzt dann in der sehr hohen Lage eines „B“ ein, und der auf identische Weise erfolgende bogenförmige, in eine Dehnung auf einem hohen „D“ übergehende Fall ist erneut in d-Moll-Harmonik gebettet. Die Begleitung geht zu einem schreitenden Gestus über, in Gestalt eines Wechsels von Achtel im Bass und Achtel-Akkord im Diskant.

  • „Fahrt zum Hades“ (II)

    Die Melodik auf dem dritten Vers ist, seinen durch das einleitende Wort „empfang´“ geprägten appellativen Gestus reflektierend, stark rhetorisch angelegt. Dieses Wort wird zwei Mal deklamiert: Erst auf einem in eine lange Dehnung mündenden und in B-Dur harmonisierten Quartsprung in hoher Lage, dann auf einem mit Vorschlag versehenen und in f-Moll harmonisieren verminderten Sekundfall, der ebenfalls in eine Dehnung übergeht. Bei den Worten „die letzte Träne“ geht die melodische Linie, ihren hohen affektiven Gehalt aufgreifend, mit einem Quartsprung zu einem „B“ in hoher Lage über überlässt sich danach einem über fünf Sechzehntel-Schritte erfolgenden Legato-Fall, der mit einer harmonischen Rückung vom vorangehenden f-Moll nach B-Dur einhergeht, das aber dem nun gedehnten Sekundfall auf „Träne“ in ein b-Moll zurückgenommen wird. Das Klavier geht hier in seiner Begleitung zu Akkord-Repetitionen im Diskant und lang gehaltenen Oktaven im Bass über.

    Auch den Worten „die dieses müde Auge weint“ verleiht die melodische Linie einen die emotionalen Dimensionen reflektierenden Ausdruck, indem sie nach einem zweischrittigen Sekundanstieg in hoher Lage eine aus einem Fall hervorgehende wellenartige Bewegung beschreibt, die in Rückung von F-Dur nach C-Dur harmonisiert ist. Bei der Wiederholung ereignet sich eine Steigerung in der Expressivität der melodischen Linie, indem sie nun nach dem Sekundanstieg bei „Träne“ in einen gedehnten Quartfall übergeht und danach bei „Auge“ eine melismatische Achtel-Sechzehntel-Bogenbewegung beschreibt, der bei „weint“ eine aus einem verminderten Sekundfall hervorgehende Dehnung auf dem Grundton „B“ in mittlerer Lage nachfolgt.

    Den Emotionen, die sich beim lyrischen Ich bei dieser Imagination der Hades-Welt einstellen, hat Schubert mit seiner Liedmusik einen deshalb so stark berührenden Ausdruck verliehen, weil von der melodischen Linie eine eigenartige Duplizität von markanter Deklamation auf der einen Seite und Anmutung von Müdigkeit, ja Resignation auf der anderen ausgeht, und dies in einer durch die dreimaligen Wiederholungen in der Expressivität gesteigerten Art und Weise.

    Auch die dritte Strophe ist auf markante Weise von der vorangehenden abgesetzt. Nach der Dehnung, in der deren Melodik auf dem Wort „weint“ endet, lässt das Klavier eine sich über zwei Takte erstreckende in einen gedehnten bitonalen Akkord mündende Achtelfigur erklingen, die den melodischen Bogen auf „Auge“ wiederholt. Die Melodik ist nun stark von den lyrischen Bildern geprägt, der imaginierten Begegnung des lyrischen Ichs mit den „blassen Danaiden“, dem „fluchbeladenen Tantalus“ und der Erfahrung von „fluchbeladenem Frieden“ und „Vergessenheit“. Ein dramatisch anmutender rhetorisch-deklamatorischer Gestus tritt in sie, in Gestalt von häufigen deklamatorischen Tonrepetitionen, aus denen sich Sprünge mit nachfolgenden Fallbewegungen ereignen.

    Das Klavier unterstützt dies mit permanent nach oben laufenden Achteltriolen im Diskant und lang gehaltenen Oktaven im Bass, und die Harmonik rückt von einem anfänglichen b-Moll nach Des-Dur, beschreibt aber bei dem melodischen Terzfall mit Tonrepetition eine schroffe Rückung nach C-Dur, um diesem lyrischen Bild die ihm gemäße Expressivität zu verleihen. Die sechsmaligen Tonrepetitionen mit nachfolgendem Sekundsprung und Terzfall auf „es murmelt todesschwangern Frieden“ sind dann in Es-Dur harmonisiert, das am Ende in As-Dur übergeht.

    Die das lyrische Ich, so wie Schubert das sieht, tief berührende, ja erschütternde Erfahrung der „Vergessenheit“ schlägt sich in der Liedmusik dergestalt nieder, dass die melodische Linie ähnlich wie bei „Tantalus“ einen leicht gedehnten (punktiertes Achtel, Sechzehntel) und in eine Tonrepetition mündenden Schritt beschreibt, der aber nun in einem abgrundtiefen „Heses“ harmonisiert ist, und danach auf einem tiefen „Es“ ansetzt, um in einem vierschrittigen und auf „alter“ gedehnten Sekundanstieg bei dem Wort „Fluß“ in eine lange taktübergreifende Dehnung auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage überzugehen, die in des-Moll harmonisiert ist. Dieses geht am Ende der melodischen Dehnung zwar kurz nach As-Dur über, das Nachspiel aus in Basslage abgesunkenen Achteltriolen endet aber in einem lang gehaltenen, die Liedmusik der dritten Strophe beschließenden des-Moll-Akkord.

    Der Liedmusik der vierten Strophe liegt nun ein Viervierteltakt zugrunde, und sie ist in ihrem klanglichen Charakter stark von einer sich rezitativisch entfaltenden, einen geradezu dramatischen Ton in sie bringende Melodik geprägt. Diese ist nun in vier, durch lange Pausen voneinander abgehobene Zeilen untergliedert, die jeweils den ersten Vers, den zweiten und dritten in Einheit und den vierten und seine Wiederholung beinhalten. Auf den Worten „Vergessen nenn' ich zwiefach Sterben“ liegt ein mit einem Heses-Akkord eingeleitetes und danach unbegleitetes bogenförmig angelegtes Rezitativ, dem eine fast zwei Takte einnehmende „schnelle“ (Anweisung) und es mit einem dramatischen Akzent versehende und in Ges-Dur harmonisierte Sforzato-Viertelakkord-Reihe nachfolgt. Diese bogenförmige Bewegung der Rezitativ-Melodik wiederholt sich, nun aber auf einer um eine kleine Sekunde angehobenen und bis zu einem hohen „B“ hinaufreichenden Gestalt bei den Worten „Was ich mit höchster Kraft gewann“, wobei das Klavier nun mit zwei sforzato angeschlagenen und lang gehaltenen Akkorden begleitet: Einem in As-Dur und einem in einer dissonant verminderten D-Tonalität. Nach einer Achtelpause setzt sich die melodische Linie auf den Worten „verlieren, wieder es erwerben“ in Gestalt zweier Fallbewegungen über das große Intervall einer Septe fort und vollzieht am Ende von dem tiefen „Ges“, zu dem sie dabei hinabgefallen ist, einen mit einem Sechzehntelvorschlag versehenen Sextsprung zu einem repetierenden hohen „Es“, den das Klavier mit einem Es-Dur-Akkord begleitet. Eine lange, weil fermatierte Viertelpause folgt nach.

  • „Fahrt zum Hades“ (III)

    „Langsam“ lautet die Anweisung für den Vortrag der melodischen Linie auf den Worten des letzten Verses dieser vierten Strophe. Das einleitende „Wann?“ lässt Schubert, die Eindringlichkeit des Frage-Gestus steigernd, zweimal deklamieren. Erst auf einem einsamen, weil von einer Viertelpause gefolgten hohen „G“, das das Klavier mit einem h-Moll-Akkord begleitet. Dann, die nachfolgende Fallbewegung der melodischen Linie einleitend, auf einem um eine Sekunde abgesenkten und nun in As-Dur harmonierten hohen „As“. Auf den Worten „enden diese Qualen“ beschreibt die melodische Linie einen Fall in partiell verminderten Sekundschritten, der in f-Moll harmonisiert ist und schmerzlich anmutet. Mit einem Quintsprung geht sie zu der erneut deklamierten Frage „wann?“ über. Das Klavier begleitet das mit einer triolischen G-Dur-Akkord-Repetition, die aber in dem Augenblick in ein g-Moll umschlägt, in dem die melodische Linie zur Wiederholung der Worte „Wann enden diese Qualen? wann?“ ansetzt.

    Das geschieht auf dem gleichen hohen „G“, auf dem das vorangehende „wann“ deklamiert wird, setzt sich danach in Tonrepetitionen fort, die in einen doppelten Sekundfall übergehen und am Ende, bei dem Wort „wann“ in einen neuerlichen Sprung münden, nun über eine Sexte und die melodische Linie bis zu einem hohen „A“ führend. Die Harmonik beschreibt in dieser, die vierte Strophe beschließenden und wiederum hohe Expressivität aufweisenden Zeile eine Rückung vom anfänglichen g-Moll über d-Moll und B-Dur nach A-Dur. Die Qualen, die sich für das lyrische Ich in der Erfahrung der Vergänglichkeit einstellen und in denen sich nicht nur Mayrhofers existenzielle Grundbefindlichkeit Ausdruck verschafft, sondern auch Schubert wiedergefunden hat, erhalten in dieser vierten, das Lied unter Inanspruchnahme des Rezitativs und der Wiederholung zu seinem Höhepunkt führenden vierten Strophe einen tief berührenden musikalischen Ausdruck.

    Es schließt sich die Wiederholung der ersten Strophe an, und dies in Gestalt einer Variation der Liedmusik, die sowohl die Struktur der melodischen Linie, den sie begleitenden Klaviersatz (nun nur noch tremolierende Akkorde), wie auch ihre Harmonisierung erfasst, und dies in der Absicht, der – imaginierten – Begegnung mit der Düsternis der Hades-Welt und dem damit einhergehenden Abschied von der „schönen Erde“ noch stärkeren musikalischen Ausdruck zu verleihen. Deshalb entfaltet sich hier die melodische Linie nun bei der Wiederholung der Worte „bald werd´ ich am Gestad“ in langen, in b-Moll harmonisierten Tonrepetitionen, schwingt sich bei „dem düstern“ mit einem Quintsprung mit nachfolgendem Sekundfall in hohe Lage auf und beschreibt dann, darin besonders stark von der ersten Fassung der ersten lyrischen Strophe abweichend, bei der Wiederholung der Worte „von der schönen Erde sein“ einen in Ges- und Ces-Dur gebetteten dreischrittigen Terzfall, dem bei „Erde“ eine aus einer langen Dehnung hervorgehende melismatisch-triolische Achtelfigur nachfolgt, die in eine, von einem tremolierenden Ges-Dur-Akkord begleitete Dehnung übergeht, bei der sich Schubert seltsamerweise nicht festlegen wollte, ob sie nun auf einem hohen „F“ deklamiert wird oder eine Oktave tiefer.

    Ob es die Worte „schöne Erde“ waren, die das bewirkt haben?
    Wie dem auch sei, - das tiefe „F“ erscheint mir hier sinnvoller. Vor allem aber: Die Wiederholung der ersten Strophe erfüllt durch die Variation ihre Funktion als die Aussage vor allem der vierten Strophe akzentuierender und vertiefender liedmusikalischer Rahmen umso kräftiger und mächtiger.

  • „Der Schiffer“, D 536

    Im Winde, im Sturme befahr' ich den Fluß,
    Die Kleider durchweichet der Regen im Guß;
    Ich peitsche die Wellen mit mächtigem Schlag
    Erhoffend, erhoffend mir heiteren Tag.


    Die Wellen, sie jagen das ächzende Schiff,
    Es drohet der Strudel, es drohet der Riff,
    Gesteine entkollern den felsigen Höh'n,
    Und Tannen erseufzen wie Geistergestöh'n.

    So mußte es kommen - ich hab es gewollt,
    Ich hasse ein Leben behaglich entrollt;
    Und schlängen die Wellen den ächzenden Kahn,
    Ich priese doch immer die eigene Bahn.

    Drum tose des Wassers ohnmächtiger Zorn,
    Dem Herzen entquillet ein seliger Born,
    Die Nerven erfrischend, o himmlische Lust!
    Dem Sturme zu trotzen mit männlicher Brust.

    Diese Verse Mayrhofers entstanden in Anlehnung an das am 11. September 1776 entstandene Gedicht „Seefahrt“ des von ihm so sehr verehrten Johann Wolfgang Goethe. Und bezeichnenderweise schrieb der zum oberösterreichischen Freundeskreis Schuberts gehörige Anton Ottenwalt an diesen (1817), er schätze, ja bewundere Mayrhofer so sehr, weil er über die „Tiefe und Kraft“ Goethes verfüge und „ein deutscher Genius“ sei.

    Wieder wird das für Mayrhofer so bedeutsame Thema „Wasser“ lyrisch angesprochen. Nur ist es dieses Mal nicht das schützende, das Leben bergende und mit der Natur vereinende Element wie in „Wie Ulfru fischt“, sondern das in „tosend ohnmächtigem Zorn“ den Menschen bedrohende, - aber auch herausfordernde.
    Im fließenden Rhythmus der in Paarreim miteinander vereinten vierhebig daktylischen Verse wird in kräftig gezeichneten Bildern die Figur des „Schiffers“ als ein Mensch lyrisch entworfen, der sich den drohenden Gefahren des Wassers stellt, und dies nicht, weil es ihm ungewollt widerfährt, sondern weil er es so will. Es ist der Entwurf eines kraftvoll und selbstbewusst aktiv sich entfaltenden Menschen, der ein Leben geradezu „hasst“, das sich damit begnügt, sich „behaglich zu entrollen“. Ein eminent heldenhafter poetischer Entwurf von Leben also, wie es Mayrhofer wohl gerne gelebt hätte, wäre er psychisch, physisch und im Rahmen seiner Lebensumstände dazu in der Lage gewesen.

    Aber vielleicht muss man diese Verse ja anders lesen, - der ihnen zugrundeliegenden poetischen Aussage-Absicht entsprechend. Für Michael Kohlhäufl, der sich in seinem Buch „Poetisches Vaterland“ (Kassel 1999) mit der Dichtung und dem politischen Denken im Freundeskreis Franz Schuberts befasst hat, ist es eine eminent politische. Er erschließt das aus der Tatsache, dass dieses Gedicht im Erstdruck in den „Beyträgen zur Bildung für Jugendliche“ (II, 325) erschienen ist. Dann wären die widerlichen Verhältnisse auf dem Wasser als Metapher für die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten er Metternich-Zeit aufzufassen, denen sich der Mensch, der den Geist und die Haltung des „Schiffers“ verkörpert, „mit männlicher Brust“ trotzig entgegenzustellen vermag.

    Schuberts Liedkomposition auf dieses Gedicht ist nicht auf Monat und Tag genau zu datieren. Sie entstand, „dem Dichter gewidmet“, im Jahr 1817, publiziert wurde sie aber erst 1823, und zwar als zweites Lied seines Opus 21, das noch zwei weitere Kompositionen auf Mayrhofer-Texte enthält, und zwar „Auf der Donau“ und „Wie Ulfru fischt“. Kohlhäufl deutet auch sie als „Dokumente des zeitgeschichtlichen Krisenbewußtseins im Spannungsfeld zwischen den restaurativen und revolutionären Kräften“. Und was die diesbezügliche Haltung Schuberts anbelangt, so meint er:
    „Schubert hat in diesem Liederheft mit der Reihenfolge der Texte Mayrhofers künstlerisch ein politisches Bekenntnis formuliert, dessen Mitte nicht die Resignation angesichts höherer Gewalt ist, sondern noch der freie Mut des Einzelnen.“

    Das ist allerdings eine These, die sich nicht auf einschlägige, die politische Grundhaltung Schuberts belegende Quellenzeugnisse zu stützen vermag, nur aus dem Faktum hergeleitet werden kann, dass Schubert diesem Freundeskreis angehörte, in engem geistigem, künstlerischem und politischem Austausch mit seinen Mitgliedern und Mayrhofer im Besonderen stand. Und natürlich liefert auch die Liedmusik dafür keine argumentative Grundlage, generiert sie sich doch, wie bei Schubert üblich, in engster Anbindung an den lyrischen Text in seiner spezifischen Sprachlichkeit und seiner Metaphorik. Und dieser ist darin nun einmal explizit unpolitisch.


  • „Der Schiffer“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, Es-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, und sie soll „geschwind und feurig“ vorgetragen werden. Von der formalen Gattung her handelt es sich um ein variiertes Strophenlied, dessen Melodik ist für Bassstimme angelegt ist. Die Variationen erfolgen in vier Strophen zwar nur in beschränkter Weise, beschränken sich im Wesentlichen nur auf den vierten und einmal auf den dritten Vers, aber sie beinhalten ein für die Gesamtaussage der Liedmusik bedeutsames musikalisches Potential.

    Ein viertaktiges Vorspiel geht der auftaktig einsetzenden melodischen Linie voraus. Im Diskant erklingen Sechzehntel-Quartolen, die in ihrer Abfolge in der tonalen Ebene ansteigen, im Bass werden sie von einer Kombination aus gehaltenem Einzelton und als Auf und Ab angelegten Achteln und zwei- bis dreistimmigen Akkorden begleitet. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von Es-Dur über die Subdominante As-Dur zur Dominante B-Dur. Das ist von der Grundstruktur her auch die Art und Weise, wie nachfolgend die melodische Linie in allen Strophen begleitet wird, wobei allerdings die Quartolen in ihrer Gestalt vielerlei Variationen durchlaufen und sich in der tonalen Ebene vom Bassbereich bis zum oberen Diskant bewegen.

    Ein starker Impuls von Lebhaftigkeit und stürmischem Vorandrängen geht jedenfalls von diesem Klaviersatz aus. Man kann in ihm durchaus die klangliche Evokation der von starker innerer Bewegtheit geprägten lyrischen Bilder vernehmen, aber darin auch den Ausdruck der inneren Haltung des lyrischen Ichs in seiner geradezu trotzig-kämpferischen Auseinandersetzung mit der Macht der Natur-Elemente sehen.

    Diese schlägt sich aber vor allem in der Melodik nieder, und dies in ihrer Reflexion der Aussage des lyrischen Textes und seiner lyrischen Bilder. Sie ist in der Manier des Strophenlied-Prinzips in durch Pausen voneinander abgehobene Zeilen untergliedert, die jeweils einen Vers beinhalten. Hinzu kommen noch zwei weitere Melodiezeilen dadurch, dass Schubert einen Teil des dritten Verses (im Falle der ersten Strophe die Worte „die Wellen mit mächtigem Schlag“) und am Strophenende den vierten Vers wiederholen lässt.
    Aber das Verfahren der nur teilweisen Wiederholung wendet er beim vierten Vers im Fall der dritten Strophe ebenfalls an und bei der letzten Strophe erfährt das Prinzip der Wiederholung eine noch stärkere Ausweitung. In allen Fällen dient es Schubert dazu, die jeweilige lyrische Aussage nicht nur zu akzentuieren, sondern sie auch in ihrem semantischen Gehalt mit den Mitteln der Musik auszuloten, und deshalb setzt er hierbei auch das kompositorische Mittel der Variation ein.

    Die Betrachtung der Struktur der Melodik soll nun auf der Grundlage der ersten lyrischen Strophe erfolgen, die anderen Strophen erfahren dabei aber eine Berücksichtigung dort, wo sich in der melodischen Linie eine Variation ereignet. Bei den Worten „Im Winde, im Sturme befahr' ich den Fluß“ verbleibt die melodische Linie zunächst, der konstatierend einsetzenden Aussage entsprechend, im Gestus der Tonrepetition auf oberer und mittlerer tonaler Ebene, in dem Augenblick aber, wo das lyrische Ich auftritt, geht sie bei dem Bild des den Fluss Befahrens zu einem in hoher Lage ansetzenden und in einer kleinen Dehnung endenden vierschrittigen Sechzehntel-Sekundfall über, bei dem die Harmonik die das Wort „Fluss“ akzentuierende Dehnung mit einer Rückung zur Dominante B-Dur unterstützt.
    Die zweite Melodiezeile, die Worte „Die Kleider durchweichet der Regen im Guß“ beinhaltend, ist – wiederum den Geist des Strophenlieds atmend – in strukturell identischer Weise angelegt, nur dass sie nun in der Tonika harmonisiert ist und die tonale Ebene in den anfänglichen Tonrepetitionen und der melodische Sprung zu „Regen“ eine Ausweitung erfahren, was eine leichte Steigerung der Expressivität zur Folge hat.

    Sie setzt sich bei der dritten Melodiezeile fort, und das zugrundeliegende lyrische Bild erfordert das geradezu. Bei den Worten „Ich peitsche die Wellen mit mächtigem Schlag“ beschreibt die melodische Linie in hoher Lage eine insistierend wirkende, weil sich wiederholende zweischrittige Fallbewegung in kleinen Sekunden, die in es-Moll harmonisiert ist, und bei „mit mächtigem Schlag“ geht diese dann, als wäre sie von diesem inneren Zwang befreit, in einen doppelten Terzfall über, und die Harmonik vollzieht eine Rückung zum Tongeschlecht Dur, nämlich von es-Moll nach Es-Dur und nachfolgend zur Dominante B-Dur.

    Auch das Klavier greift in der Begleitung der Singstimme in dieser Melodiezeile zu einer deutlich expressiveren Variante der Sechzehntel-Figur: Jetzt ist diese nicht mehr steigend und fallend angelegt, sondern besteht aus permanent repetierenden Oktavsprüngen, und im Bass werden diese begleitet mit einer Fallbewegung von Viertel- und Achteloktaven. Und um all dem in seiner liedmusikalischen Expressivität Nachdruck zu verleihen, lässt Schubert die Worte „die Wellen mit mächtigem Schlag“ in identischer Melodik noch einmal deklamieren, wobei auch der zugehörige Klaviersatz der gleiche ist.

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