Schubert und Mayrhofer. Liedkomposition im Geist der Freundschaft

  • „Nachtstück“ (III)

    Den semantischen Gehalt der Worte „die Gräser lispeln wankend fort“ reflektiert die melodische Linie dergestalt, dass sie nach einem in f-Moll harmonisierten Quartsprung auf „Gräser“ bei „lispeln“ einen mit Rückung nach B-Dur einhergehenden gedehnten Quintfall mit nachfolgender Sechzehntel-Viertel-Tonrepetition beschreibt und bei „wankend“ in einen auf eine Dehnung folgenden vierschrittigen Sechzehntel-Sekundanstieg übergeht. Die Versicherung „Wir decken seinen Ruheort“ erhält die ob ihrer Bedeutung zukommende liedmusikalische Akzentuierung dadurch, dass die melodische Linie hier auf dem Wort „decken“ einen ausdrucksstarken gedehnten Quintfall beschreibt, bei dem die Harmonik von der Dominante B-Dur zur Tonika rückt und dieser Fall sich zu dem Wort „seinen“ über eine Terz fortsetzt, worauf sich dann auf diesem selbst ein wiederum ausdrucksstarker Anstieg über eine Terz und eine Quarte mit nachfolgendem Terzfall ereignet. Auch das Wort „Ruheort“ erfährt eine den affektiven Gehalt reflektierende Akzentuierung dadurch, dass die melodische Linie aus einer langen Dehnung mit einem Sekundsprung in einen Fall übergeht, der auf der Terz der Tonika endet.

    Dies deshalb, weil die melodische Linie nach einer Achtelpause zur Wiederholung ihrer Bewegungen auf den ersten beiden Versen ansetzt, um sich dann unter Ausklammerung der Verse drei und vier dem letzten Verspaar der dritten Strophe zuzuwenden, wobei die ob ihrer Aussage so bedeutsamen Worte „O laßt ihn ruh'n in Rasengruft!“ eine melodisch unveränderte Wiederholung erfahren. Ohnehin entfaltet sich die Melodik auf diesen Versen ganz und gar in den Figuren der vorangehenden Versen, nur das dem Wort „Vogel“ beigegebene Adjektiv „liebe“ erfährt eine von der vorangehenden Melodik abweichende Akzentuierung dadurch, dass sich auf ihm ein lang gedehnter und in B-Dur harmonisierter Quintfall ereignet.

    Nach einer fast zweitaktigen Pause für die melodische Linie, in der das Klavier seine nachschlagend angelegten Sechzehntel-Achtel-Figuren erklingen lässt, mit denen es bislang die melodische Linie auf den Versen der dritten Strophe begleitete, setzt diese mit den Worten des von Mayrhofer auf prosodisch markante Weise abgesetzten letzten Verspaares ein. Um ihnen in ihrer Aussage ein Gewicht zu verleihen, das sie dort von den prosodischen Gegebenheiten her nicht haben können, legt Schubert auf den ersten der beiden Verse zwei kleine, von einer eintaktigen Pause voneinander abgehobene Melodiezeilen, lässt die Zeile auf dem letzten Vers erst nach einer genauso langen Pause nachfolgen und sie nach einer Achtelpause in melodisch stark variierter Gestalt wiederholen. Auf diese Weise wird der semantische Gehalt der Verse und das affektive Potential ihrer Metaphorik tiefreichend ausgelotet.

    Auf den Worten „der Alte horcht“ verharrt die melodische Linie, darin das Bild reflektierend, auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage, und dies mit einer Dehnung auf der ersten Silbe von „Alte“ und dem Vokal „o“ von „horcht“. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von es-Moll nach B-Dur. Bei den Worten „der Alte schweigt“ wiederholt sich das, nun aber auf der Ebene eines „As“, mit einer harmonischen Rückung von des-Moll nach As-Dur einhergehend und in dieser tonalen und harmonischen Absenkung der Melodik das Versinken in Schweigen zum Ausdruck bringend.

    Auch bei den Worten „der Tod hat sich zu ihm geneigt“ verbleibt die melodische Linie zunächst beim Gestus der repetitiven Entfaltung auf nur einer tonalen Ebene, und weil sie darin das langsame Ersterben des Lebens reflektieren will, senkt diese Ebene sich nun um eine weitere Sekunde auf ein „G“ in unterer Mittellage ab, um dann aber, darin das Bild des Sich Neigens aufgreifend, bei „ihm“ einen gedehnten Sekundfall zu beschreiben, der bei „geneigt“ in einen den Gestus der Melodik radikal verlassenden Terzfall übergeht.
    Und da es sich bei diesen Worten um lyrische Deskription eines Ereignisses handelt, ist die melodische Linie nun ganz und gar ins Tongeschlecht Dur gebettet. Dabei erfährt aber diese melodische Fallbewegung am Ende eine besondere Akzentuierung dadurch, dass die Harmonik bei dem Wort „ihm“ eine Rückung von dem als Dominante fungierenden G-Dur eine Rückung zur Doppeldominante D-Dur vollzieht, um anschließend den Schritt über G-Dur zur Tonika C-Dur zu vollziehen.

    Bei der Wiederholung dieser Schlussworte nutzt Schubert das Potential der Variation voll aus. Die melodische Linie verlässt den Gestus der deklamatorischen Tonrepetition und geht, wieder bei dem Wort „ihm“, vom Grundton „C“ in oberer Mittellage erst mit einem Sehzehntel-Sekundsprung, dann mit einem nochmaligen über ein Achtel in eine um eine Sekunde angehobene tonale Ebene über, um am Ende nach einem Terzfall bei „geneigt“ über einen Sekundschritt in eine lange Dehnung auf dem Grundton C“ überzugehen. Die Worte „Tod“ und „ihm“ erhalten bei dieser Wiederholung einen Akzent durch eine Rückung in verminderte Ces- und D-Harmonik.

    Mit diesen kompositorischen Mitteln vermag Schubert dem für ihn so bedeutsamen lyrischen Bild vom dem Menschen sich gnädig zuneigenden und ihn bergenden Tod den angemessenen musikalischen Ausdruck zu verleihen.

  • „Der entsühnte Orest“, D 699

    Zu meinen Füßen brichst du dich
    O heimatliches Meer,
    Und murmelst sanft. Triumph, Triumph!
    Ich schwinge Schwert und Speer.

    Mykene ehrt als König mich,
    Beut meinem Wirken Raum,
    Und über meinem Scheitel saust
    Des Lebens goldner Baum.

    Mit morgendlichen Rosen schmückt
    Der Frühling meine Bahn,
    Und auf der Liebe Wellen schwebt
    Dahin mein leichter Kahn.

    Diana naht; o Retterin,
    Erhöre du mein Flehn!
    Laß mich, das Höchste wurde mir,
    Zu meinen Vätern gehn!

    Wieder ein lyrischer Text, in dem Mayrhofer ein Thema aus der von ihm so hoch geschätzten griechischen Mythologie aufgreift. Es ist der Sagenkomplex der Orestie, dessen er sich neben diesem in noch weiteren Gedichten bedient hat. Das lyrische Ich, das er sich hier lyrisch artikulieren lässt, ist der nach Mykene heimgekehrte Orest, der deshalb als „entsühnt“ bezeichnet wird, weil er bei seiner Flucht zusammen mit Iphigenie und Pylades aus Tauris die Artemisstatue nach Attika mitbrachte und sich damit endgültig seiner Schuld entledigte.

    Die vier Strophen, die durchweg aus Versen von vier- und dreifüßigen Jamben im Wechsel angelegt sind, bringen dieses Gefühl der Heimkehr im Bewusstsein der Befreiung von allen schuldhaften Lasten, wie sie ihn nach dem furchtbaren Racheakt bislang bedrückten, in einer lyrischen Sprache zum Ausdruck, die sich anfänglich im Gestus der triumphierenden Ansprache entfaltet, dann zu dem eines gefühligen Schwärmens übergeht, um schließlich in dem einer nachdrücklich, zugleich demütig flehentlich, weil im Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens vorgebrachten Bitte an die Göttin Diana zu enden.

    Diese innere lyrisch-sprachliche Komplexität des Gedichts stellt eine Herausforderung an den Liedkomponisten dar. Schubert hat sie auf meisterhafte Weise bewältigt. Herausgekommen ist eine, darin die prosodischen Gegebenheiten des lyrischen Textes umfassend repräsentierende Liedmusik, die sich durch innerliche und durchaus kontrastreiche Vielgestaltigkeit auszeichnet und eben darin in hohem Grade zu beeindrucken vermag. Sie entstand im September 1820. Vorangegangen waren bereits zwei Mayrhofer-Lieder, die ebenfalls das Thema „Orestie“ zum Gegenstand hatten: „Orest“, D 548 und „Iphigenia“, D 573.


  • „Der entsühnte Orest“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, C-Dur ist ihr als Grundtonart vorgegeben, und sie soll „sehr langsam, mit Kraft“ vorgetragen werden. Mit einem eintaktigen Vorspiel setzt sie ein, in dem das Klavier unter lang gehaltenen Terzen im Diskant im Bass fallend angelegte Sechzehntel-Terzensextolen erklingen lässt. Mit diesen und den darüber erklingenden bitonalen Akkorden im Wert von halben Noten begleitet es auch die melodische Linie bei den ersten drei Versen der ersten Strophe, sie durchlaufen dabei allerdings vielfältige Variationen. Bei den Worten „Ich schwinge Schwert und Speer“ wandelt sich der Klaviersatz allerdings, darin deren semantischen Gehalt reflektieren. Die Sextolen erklingen nun in einem statisch wirkenden Auf und Ab in tiefer Diskantlage, und sie werden im extrem tiefen Bass von Oktaven begleitet.

    Wenn von einer kontrastreichen Vielgestaltigkeit, ja sogar Gegensätzlichkeit als Merkmal dieser Liedkomposition gesprochen wurde, dann ist das schon in der ersten Strophe zu vernehmen. Und es ist ja auch, wie bei Schubert nicht anders zu erwarten, textbedingt. Wenn Orest in den ersten drei Versen in ruhiger Weise das Meer zu seinen Füßen anspricht, dann aber noch im dritten Vers plötzlich und unerwartet in emphatische „Triumph“-Ausrufe ausbricht und sich der Imagination als Schwert und Speer schwingender König und Held hingibt, dann muss die Liedmusik diesen lyrischen Bruch einfangen können. Und Schubert gelingt das sehr wohl, indem er bei den Worten „ich schwinge“ auf die melodische Figur zurückgreift, in der das Lied auf den Worten „zu meinen“ einsetzt, dann aber die melodische Linie sich in ihrer weiteren Entfaltung von ihrem Gestus in den ersten drei Versen deutlich abheben lässt. Das ereignet sich auf derart markante Weise, dass sich angesichts des geradezu rabiaten, über eine doppelte Quinte von einem hohen „D“ bis zu einem tiefen „C“ sich erstreckenden melodischen Falls bei Dietrich Fischer-Dieskau die Assoziation zu Richard Wagners Wotan einstellte.

    Bis zu den Worten „und murmelst sanft“, die Schubert um der Bildung einer musikalischen Einheit willen wiederholen lässt, entfaltet sich die melodische Linie in ruhiger, wie jeweils einen Vers umfassender und durch Achtelpausen unterbrochener Bewegung. Bei den Worten „Zu meinen Füßen“ geht sie nach einem auftaktigen Quartsprung in einen dreischrittigen Fall in tiefe Lage über, erhebt sich mit einem Sextsprung daraus aber wieder, um dann, eben diese Ruhe verströmend, in eine neuerliche, nun aber in gedehnten Sekundschritten sich vollziehende und auf der Terz zum Grundton endende Fallbewegung überzugehen. Nach einer Achtelpause entfaltetet sie sich bei dem Ausruf „o heimatliches Meer“ nach einem wiederum auftaktigen Quartsprung nach einer Dehnung in einem Auf und Ab in mittlerer Lage und vollzieht dann mit einem Sekundsprung ieine lange Dehnung auf dem Wort „Meer“. Harmonisiert ist diese kleine Melodiezeile, um dem affektiven Gehalt des Ausrufs Ausdruck zu verleihen, in einer Rückung von a-Moll nach H-Dur.

    Die Worte „und murmelst sanft“ erfahren eine eindrückliche Hervorhebung dadurch, dass die melodische Linie nach einer lang gedehnten und in Fis-Dur harmonisierten Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines tiefen „Fis“ am Ende in einen Terzfall zu einem noch tieferen „Dis“ übergeht, wobei die Harmonik nach H-Dur rückt. Bei der Wiederholung dieser Worte beschreibt die melodische Linie wieder in eine lange Dehnung auf „murmelst“, nun aber nach einem auftaktigen Sprung auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und endet nun in einem partiell triolischen dreischrittigen Sechzehntel-Fall, wobei sie, und das macht dieses Ende so reizvoll, die fallend angelegten und große tonale Räume einnehmenden Sechzehntelfiguren aufgreift, mit denen das Klavier im Bass schon die ganze Zeit über die melodische Linie begleitet. Darin, wie auch in den sich weit von den Grundtonart C-Dur wegbewegenden harmonischen Rückungen (hier von Fis- nach H-Dur) manifestiert sich der – wohl durch die spezifische Eigengart der Lyrik Mayrhofers bewirkte - hochgradig artifizielle Charakter dieser Liedmusik.

    Und das zeigt sich auch in dem Umschlag, der sich in der Liedmusik bei den Worten „Triumph, Triumph! / Ich schwinge Schwert und Speer“ ereignet. Nach einer neuerlichen Achtelpause beschreibt die melodische Linie beim ersten „Triumph“-Ausruf noch einen in e-Moll harmonisierten Sekundanstieg. Beim zweiten wird daraus, nach einer Sechzehntel-Pause, ein in eine kleine Dehnung mündender und nun in G-Dur harmonisierter Terzsprung.
    Das Klavier lässt dazu weiter seine fallenden Sechzehntel-Sextolen erklingen. Bei den Worten „ich schwinge Schwert und Speer“ wiederholt die melodische Linie die Figur auf den Eingangsworten „zu meinen Füßen“, das aber nun im Fortissimo und vom Klavier mit als Auf und Ab angelegten Sechzehntel-Sextolen im tiefen Diskant begleitet, wobei sich im Bass ein Sechzehntel-Fall ereignet, dem im zweiten Teil dieser Melodiezeile eine bogenförmige Folge von Oktaven nachfolgt. Es ist ein in starkem Kontrast zur Ruhe des Liedeingangs stehender und mit einer harmonischen Rückung von C-Dur zur Doppeldominante D-Dur einhergehender Ausbruch in die Expressivität, der sich hier ereignet.

    Ganz offensichtlich ist er der Emphase des von Mayrhofer in gleich doppelter Weise in die Lyrik eingebrachten Gestus der Interjektion geschuldet. Und er setzt sich bei den heldenhaft-kriegerischen Aktionismus zum Ausdruck bringenden Worten „ich schwinge Schwert und Speer“ fort. Begleitet von den nun statisch anmutenden, weil nicht mehr fallend angelegten, sondern auf der tonalen Ebene verharrenden Sechzehntel-Sextolen, steigt die melodischen Linie in gewichtigen, weil nun ausschließlich im Wert von Vierteln erfolgenden deklamatorischen Schritten über eine Quarte und eine Sekunde in hohe Lage empor und geht von dort in den bereits beschriebenen Fall über eine veritable None über, endend in einer Dehnung auf der tonalen Ebene des tiefen Grundtons „C“ bei dem Wort „Speer“.

  • „Der entsühnte Orest“ (II)

    Nach einer halbtaktigen Pause, in der das Klavier wieder seine fallend angelegten Sechzehntelsextolen erklingen lässt, setzt die melodische Linie der zweiten Strophe ein. Das geschieht in Gestalt von in der tonalen Ebene in Terzen und am Ende einer Sekunde ansteigenden und bis zu den Worten „und über meinem Scheitel“ reichenden deklamatorischen Tonrepetitionen, die vom Klavier mit ebenfalls repetierenden Akkorden begleitet werden. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von C-Dur über e-Moll nach A-Dur und d-Moll. Eine kontinuierliche Steigerung der Expressivität ereignet sich hier in der Liedmusik, einhergehend auch mit einem Crescendo in ihrer Dynamik, und darin finden ganz offensichtlich die Glücksgefühle Ausdruck, die sich, so wie Schubert das dem lyrischen Text entnimmt, bei Orest in der Situation der Heimkehr nach Mykene einstellen. Und so mündet denn die melodische Linie auch, nach dem kurzen Fall in tiefe Lage am Ende des dritten Verses (bei „Scheitel saust“) bei den Worten „des Lebens goldner Baum“ in eine von Terzen geprägte und in Rückung von Es- nach As-Dur harmonisierte Fall- und Wiederanstiegsbewegung, die große musikalische Lieblichkeit ausstrahlt.

    Mit am Anfang durch eine bitonale Sexte rhythmisierten, aber repetierend auf der tonalen Ebene verbleibenden Sechzehntelsextolen leitet das Klavier einen Takt lang zur dritten Strophe über, und mit dieser Figur begleitet es die melodische Linie auch durchgehend bis zu deren Ende. Lyrisch ist sie von frühlingshaften und liebeerfüllten Bildern geprägt, und Schuberts Liedmusik lässt dies auf überaus eindrückliche Weise vernehmen. Die melodische Linie entfaltet sich, nun in As-Dur mit immer neuen Rückungen zur Dominante „Es“ harmonisiert, auf den Worten „Mit morgendlichen Rosen schmückt / Der Frühling meine Bahn“ in - wie im Klaviersatz – durch eine anfängliche kleine Dehnung leicht rhythmisierten, aber durchweg ruhigen über Terzen und Quarten steigenden und wieder fallenden Bewegungen.

    Auf dem zweiten Verspaar behält sie diesen Gestus bei, steigert aber ihre Anmutung von Lieblichkeit durch eine Fallbewegung auf den Worten „der Liebe Wellen schwebt“, die auf „dahin mein leichter Kahn“ mit einem Ansatz auf um eine Terz angehobener tonaler Ebene und durch melismatische Anreicherung mit Sechzehntel-Sprüngen noch einmal erklingt. Und um den affektiven Gehalt dieser Verse musikalisch voll und ganz zu erfassen, lässt Schubert diese beiden Verse noch einmal wiederholen, wobei die melodische Linie ihre Grundstruktur zwar beibehält, aber die Anstiegsbewegung auf den Worten „und auf der Liebe Wellen schwebt“ nach dem nun nicht über eine Sexte, sondern eine verminderte Quinte erfolgenden Auftakt mit einem weiteren verminderten Intervall bei „Wellen“ weiter fortsetzt, und dies in einer kurzen Moll-Harmonisierung (b-Moll), die aber alsbald, schon bei dem Fall auf „Wellen schwebt, wieder durch die Rückkehr zum Tongeschlecht Dur (Es-Dur, As-Dur) abgelöst wird.

    Nach einer Fünfachtelpause, in der das Klavier weiter seine Sechzehntelsextolen in Diskant und Bass erklingen lässt, setzt die melodische Linie der vierten Strophe mit den Worten „Diana naht“ ein. Das geschieht in Gestalt eines in C-Dur harmonisierten Quintsprungs, dem eine rhythmisierte Tonrepetition folgt. Nach einer Achtelpause ereignet sich diese melodische Bewegung auf den Worten „o Retterin“ noch einmal, nun allerdings mit einem Sekundsprung einsetzend und einer Tonrepetition auf einer im eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene, wobei die Harmonik eine Rückung nach D-Dur vollzogen hat. Diese Binnengliederung der Melodik in kleine Melodiezeilen setzt sich nun bis zum Ende dieser Strophe fort, und in ihr drückt sich der Gestus der lyrischen Sprache aus, der ja wesentlich einer des dringlichen, ja flehentlichen Anrufens der Göttin Diana ist, die Bitte beinhaltend, zu „den Vätern“ gehen zu dürfen, nachdem dem Lebenden „das Höchste“ zuteil geworden ist.

    Das Klavier reagiert auf diesen Umschlag in der Deklamation der melodischen Linie in der Weise, dass es mit dem Ausruf „erhöre du mein Fleh´n“ von seinen Sextolen ablässt, erst einen lang gehaltenen von g-Moll in C-Dur übergehenden Akkord erklingen lässt und danach zur Artikulation einer Figur übergeht, mit der es die melodische Linie bis zu ihrem Ende begleitet: Einer lang gehaltenen Bass-Oktave, der repetierende und rhythmisierte, weil aus Zweiunddreißigstel- , punktierten Sechzehntel- und Viertelakkorden bestehende Akkord-Quartolen nachfolgen.

    Damit wird dem ruhigen Gestus, zu dem die melodische Linie nach dem expressiven Anruf Dianas mit den Worten „laß mich“ übergeht, Nachdruck verliehen. Ein Quartsprung liegt auf ihnen, dem eine Achtelpause nachfolgt, um ihnen das gebotene Gewicht zu verleihen. Danach geht die melodische Linie zu einer Entfaltung über, die, weil sie in Gestalt von kleinen, durch Pausen eingegrenzten Zeilen erfolgt, wie der Ausdruck eines aus großer Seelentiefe kommenden Begehrens wirkt. Und die Harmonik reflektiert dies, indem sie immer wieder von der Tonika C-Dur und ihren Dominanten ins Tongeschlecht Moll (a-Moll und f-Moll) übergeht.

    Auf den Worten „das Höchste wurde mir“ liegt noch ein gleichsam konstatierender melodischer Gestus: Eine mit einem Quintsprung einsetzende Tonrepetition, die in einen triolischen Terzfall in tiefe Lage übergeht. Aber die f-Moll-Harmonisierung lässt vernehmen, dass dieser Feststellung viel Seele innewohnt. Bei den Worten „zu meinen Vätern geht“ beschreibt die melodische Linie dann einen in G-Dur harmonisierten und den geistigen und affektiven Gehalt dieses Wunsches reflektierenden Anstieg in Sekundschritten, der in tiefer Lage ansetzt, aber bei „Vätern“ in einem bedeutsamen verminderten und gedehnten Sekundschritt innehält, um dann mit einem großen Sekundsprung in eine lange Dehnung auf einem „A“ in mittlerer Lage überzugehen.

    Schubert lässt diese Worte, weil sie für ihn eine so hohe lyrische Relevanz haben, noch einmal deklamieren und nutzt dabei das kompositorische Mittel der Variation, um dieser den ihm geboten erscheinenden musikalischen Nachdruck zu verleihen. Nun liegt auf dem „laß mich“ kein einfacher, in tiefer Lage ansetzender Quartsprung, sondern eine geradezu flehentlich wirkende Kombination aus einem Sechzehntel-Sextfall und nachfolgend gedehntem Sekundanstieg, bei der sich eine harmonische Rückung von C-Dur nach f-Moll ereignet. Aus dem triolischen Fall auf den Worten „das Höchste wurde mir“ liegt nun einer, der nicht über Terzen erfolgt, sondern in auf einem „As“ in mittlerer Lage ansetzenden Sekundschritten und in f-Moll harmonisiert ist, worin das große affektive Potential dieser lyrischen Aussage Ausdruck findet. Und der Sekundanstieg aus „zu meinen Vätern geh´n“ ist zwar der gleiche, auf dem so bedeutsamen Wort „Vätern“ ereignet sich nun aber kein verminderter, sondern ein großer Sekundanstieg, und es folgt keine Dehnung auf angehobener tonaler Ebene nach, sondern ein die Endgültigkeit und Entschiedenheit dieses Wunsches reflektierender und mit einem Sekundschritt eingeleiteter Fall der melodischen Linie hinab zum Grundton „C“ in tiefer Lage.

    Im Pianissimo ist die Melodik dabei angelangt, ganz der Introvertiertheit entsprechend, zu der Orest, so wie Schubert ihn hier sieht, inzwischen in seinen an Diana gerichteten Wünschen gefunden hat. Es sind ja solche, die seine reale Lebenswelt längst transzendiert haben und sich auf das Jenseits richten. Und so hat das Klavier dem im kurzen, nur knapp zweitaktigen Nachspiel nichts mehr hinzufügen und lässt die Figuren seiner Begleitung ganz einfach in einer akkordischen Rückung von f-Moll nach C-Dur ausklingen.

  • „Freiwilliges Versinken“, D 700

    Wohin, o Helios? „In kühlen Fluten
    Will ich den Flammenleib versenken,
    Gewiß im Innern, neue Gluten
    Der Erde feuerreich zu schenken.

    Ich nehme nicht, ich pflege nur zu geben,
    Und wie verschwenderisch mein Leben,
    Umhüllt mein Scheiden gold´ne Pracht,
    Ich scheide herrlich, naht die Nacht.

    Wie blaß der Mond, wie matt die Sterne,
    So lang ich kräftig mich bewege,
    Erst wenn ich auf die Berge meine Krone lege,
    Gewinnen sie an Mut und Kraft in weiter Ferne.“

    Der Sonnengott Helios antwortet hier als lyrisches Ich auf die an ihn einleitend gerichtete Frage „Wohin?“. Diese zielt vordergründig auf die Richtung seiner Bewegung am Himmel ab, beinhaltet aber auch die nach dem Sinn derselben. Helios präsentiert sich als Spender der das Leben auf der Erde bedingenden „feuerreichen Gluten“ und versteht sich darin als ein Gott, der „nicht nimmt“, nur „zu geben pflegt“. Mond und Sterne, die Geschöpfe der Nacht, können dem Menschen nur „blass“ und „matt“ begegnen, solange er sich am Himmel „kräftig bewegt“. Erst wenn er „auf die Berge seine Krone legt“, um danach seinen Flammenleib „in kühlen Fluten“ zu versenken, können sie „an Mut und Kraft“ gewinnen, dies allerdings in weiter Ferne.

    Wenn damit das Thema „Tag und Nacht“ , ein zentrales der Lyrik der Romantik, eigentlicher Gegenstand dieser Mayrhofer-Verse ist, so stellt sich ihrem Rezipienten und Interpreten – und ein solcher war auch Schubert – die Frage, wie er damit umgeht, welchen Akzent er hinsichtlich der „Sonne“ als dem – im Sinne der Aufklärung – menschliches Leben in seinem zukunftsoffenen Optimismus leitendes „Licht der Vernunft“ und der „Nacht“ als dem – im Sinne der Romantik - Raum schwärmerischer Entgrenzung und Überwindung der als Quelle allen existenziellen Leids empfundenen und verstandenen Individuation er setzt. Der Akzent Mayrhofers stellt sich als ein noch vorsichtiger und behutsamer, aber doch letzten Endes eindeutiger dar.

    Er, der zeit seines Lebens ein Vertreter aufklärerischen Denkens und Verehrer des Geistes der klassischen Antike und der deutschen literarischen Klassik war, leitet sein Gedicht mit der Frage „Wohin, Helios?“ ein. Und das kann doch nur bedeuten, dass er sich der Wiederkehr desselben nicht mehr sicher ist oder ihm zumindest nur noch eine begrenzte Herrschaft zuzumessen vermag. Und wenn er am Ende „Mond und Sterne“ „an Mut und Kraft“ gewinnen lässt, dann nämlich, wenn Helios abgetreten ist, um seinen „Flammenleib“ in „kühlen Fluten“ zu versenken, dann billigt er ihr als Raum der nicht mehr vernunftgeleiteten, sondern ganz und gar von Emotionen beherrschten Sehnsucht nach Entgrenzung ein genuines Existenzrecht zu.

    Es liegt nahe, das als Ausdruck eines tief reichenden Zweifels an der Sinnhaftigkeit eines Glaubens an den Erfolg eines sich an Idealen ausrichtenden vernunftgeleiteten Lebens zu verstehen, wie er sich bei Mayrhofer in der Zeit der repressiven Metternich-Restauration mehr und mehr einstellte.
    Michael Kohlhäufl (in: „Poetisches Vaterland“) drückt diesen Sachverhalt mit den Worten aus: „Um 1820 lag jeder irdische Optimismus fern, und das frühromantische Erbe wurde aktualisiert – es stillte das Bedürfnis nach ästhetischem Rausch.“
    Mit dem „frühromantischen Erbe“ ist ein Verständnis der „Nacht“ gemeint, wie es etwa Ludwig Tieck in „Franz Sternbald Wanderungen“ (1798) zum Ausdruck gebracht hat, wenn er vom „Künstler“ sagt:
    „Der Abend löst und schmelzt seine Gefühle, er weckt Ahndungen und unerklärliche Wünsche in ihm auf, er fühlt dann näher, daß jenseits dieses Lebens ein anderes kunstreicheres liege, und sein inwendiger Genius schlägt oft vor Sehnsucht mit den Flügeln, um sich freizumachen und hineinzuschwärmen in das Land, das hinter den goldnen Abendwolken liegt.“

    Und Schubert? Im Grunde dachte, fühlte und litt er ja ähnlich wie Mayrhofer in und unter der geistigen, gesellschaftlichen und politischen Situation der Zeit, in der alle durch die Freiheitskriege ausgelöste idealistische Aufbruchstimmung systematisch unterdrückt wurde. In den Vertonungen der lyrischen Texte von Friedrich Schlegel und Novalis, die in der Zeit erfolgten, in der auch die Liedkomposition auf dieses Mayrhofer-Gedicht entstand, im September 1820 nämlich, findet diese Haltung der Flucht aus der unerträglich gewordenen realen Welt in die Erlösung und Auflösung der Individualität versprechenden Erfahrung von „Nacht“ liedmusikalischen Ausdruck. In den bereits besprochenen Liedern „Sehnsucht“ (D 516) und „Nachtstück“ (D 672) ist das auf der Grundlage eines Mayrhofer-Textes zu vernehmen, und in dem nachfolgend noch vorzustellenden und im März 1824 entstandenen Lied „Auflösung“ (D 807) wird es erneut Thema sein.

    Unter diesem Gesichtspunkt ist es von großem Interesse, der Frage nachzugehen, wie Schubert dieses Gedicht „Freiwilliges Versinken“ in Liedmusik gesetzt hat, und was die Akzente, die er darin setzt, über seine spezifische Rezeption der lyrischen Aussage verraten. Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und sie soll „Sehr langsam“ vorgetragen werden. Wenn F-Dur, bzw. d-Moll als Grundtonart vorgegeben ist, so besagt das bei den Mayrhofer-Liedern nicht viel: Sie weisen nahezu alle eine hohe harmonische Komplexität auf. Und das ist auch hier der Fall.


  • „Freiwilliges Versinken“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Vielsagend, die Leitfrage betreffend, ist schon das Vorspiel. Formal umfasst es nur zwei Takte, denn im dritten setzt die melodische mit dem kleinen Sekundsprung auf der Frage „wohin?“ ein. De facto erstreckt sich das Vorspiel aber über sechs Takte, und die durch eine lange, nämlich fünf Achtel umfassende Pause voneinander abgesetzten melodischen Figuren auf „wohin?“ und „o Helios“ stellen sich als in dieses gleichsam eingelagert dar. Sie sind also Bestandteil des Vorspiels und bilden mit dem Klaviersatz zusammen die erste musikalische Zeile des Liedes.

    Was will sie sagen?
    Klanglich geprägt ist das aus einer aufsteigend angelegten Folge von Akkorden in Bass und Diskant bestehende Vorspiel von einer angesichts der Grundtonvorgabe bemerkenswerten harmonischen Rückung und daneben einem permanenten, in jedem Takt erklingenden Triller. Diese Triller-Figur setzt sich über das Vorspiel hinaus im Klaviersatz bis zum Ende der Liedmusik auf der ersten lyrischen Strophe fort, und das bedeutet, dass Schubert – der sie ansonsten selten verwendet – ihr große, die musikalische Aussage maßgeblich konstituierende Bedeutung zugemessen hat.
    Was diese anbelangt, so ergibt sie sich wohl aus den melodischen Figuren in Einheit mit dem Triller-Effekt und den harmonischen Rückungen. Diese setzen mit der Dominante C-Dur ein, durchlaufen anschließend, darin den ansteigenden Gestus der Akkorde reflektierend, die Dur-Tonarten „G“, „B“, „A“, und „F“, um in einem fermatierten C-Dur-Akkord, einer Rückkehr zur Dominante also, zu enden.

    Diese Steigerung in der Expressivität weisen auch die melodischen Figuren auf. Es sind drei, denn Schubert lässt die Fragepartikel „wohin?“ noch einmal deklamieren. Beim ersten Mal liegt auf ihr ein verminderter Sekundsprung in tiefer Lage, bei der Wiederholung aber ein großer, in eine lange fermatierte Dehnung mündender großer Sekundsprung in hoher Lage. Und dazwischen ereignet sich auf den Worten „o Helios“ eine melodische Bewegung, die, weil sie nachfolgend immer wiederkehrt, geradezu das Wesen der Melodik dieses Liedes verkörpert: Ein Fall über ein großes Intervall. Hier ist es ein nach einem Sekundsprung erfolgender Fall über eine ganze Oktave. Später werden daraus Fall- und Sprungbewegungen über Intervalle von der Sexte bis zur None. Und darin drückt sich die Nachdrücklichkeit aus, mit der Schubert die melodische Aussage versehen will.

    In der Eingangszeile wird der einleitenden Frage durch ihre Wiederholung und die spezifische Struktur der Liedmusik eine Eindringlichkeit und Nachdrücklichkeit verliehen, die weit über den Grad hinausgeht, den Mayrhofer ihr lyrisch-sprachlich beigegeben hat. Und den Trillern kommt in diesem Zusammenhang die Funktion eines Steigerungs- und Intensivierungseffekt zu. Ganz offensichtlich hat die tiefe Zweifel an der Wiederkehr von Helios zum Ausdruck bringende Einleitungsfrage für Schubert eine noch größere Bedeutsamkeit, als er sie in Mayrhofers lyrischem Text zu vernehmen meint. Die lange, weil mit einer Fermate versehene und mit einer sechsstimmigen C-Dur-Akkord akzentuierte, also in Dominantharmonik gebettete Dehnung auf der zweiten Silbe der wiederholten Frage „wohin?“ verleiht dem, was Helios nun darauf antwortet, sehr großes Gewicht.

    Diese Antwort erfolgt, was ihre Melodik anbelangt, in der ersten Strophe in einem stark rezitativisch und von häufigen Fallbewegungen geprägten Gestus. Diese ereignen sich über auffällig große Intervalle und lassen die melodische Linie aus ihrer Entfaltung in mittlerer tonaler Lage immer wieder in tiefe Lage absinken. Das ereignet sich bei den Worten „kühlen“ und „ich den“ über das Intervall einer Septe, bei „gewiss im“ und „neue“ über das einer Oktave und bei „schenken“ über eine Sexte, der allerdings sofort ein Sekundanstieg nachfolgt. Dem stehen, und das macht die Eigenart dieser Melodik aus, immer wieder Aufstiegsbewegungen in Sekundschritten gegenüber, so bei den Worten „Fluten“, „Flammenleib“, „im Innern“ und „Gluten“, so dass man die Melodik der ersten Strophe als Ausdruck der inneren Zwiespältigkeit von Helios verstehen kann: Zwar möchte er seinen „Flammenleib“ zur Kühlung gar gerne in „kühle Fluten“ versenken (Stürze der Melodik in tiefe Lage), aber seine Pflicht fordert ihn auch dazu auf, der Erde immer wieder „neue Gluten“ zu schenken (melodische Anstiegsfigur).

    Schubert hat diese innere Bipolarität in der Haltung von Helios im permanenten Übergang der einen melodischen Grundfigur zu anderen auf eindrückliche Weise zum Ausdruck gebracht. Und die Harmonik leistet ihren Beitrag dazu dergestalt, dass sie bei den Worten „gewiss im Innern“ eine Rückung von der anfänglich auftretenden Tonika F-Dur nach Es-Dur vollzieht und den affektiven Aspekt über die Einbeziehung des Tongeschlechts Moll einbringt: So bei dem gedehnten und verminderten Sekundfall auf dem Worten „versenken“ (von as-Moll nach C-Dur) und „der Erde feuerreich“ (von g-Moll nach A-Dur). Und das Klavier verleiht den Äußerungen von Helios dadurch großes Gewicht, dass es sie mit Triller-Figuren und bitonalen, „fp“ auszuführenden Akkordfolgen im Diskant und lang gehaltenen Akkorden im Bass begleitet und akzentuiert.

  • "Freiwilliges Versinken“ (II)

    Mit den die zweite lyrische Strophe einleitenden Worten „Ich nehme nicht, ich pflege nur zu geben“ geht Helios auf seinen göttlichen Auftrag ein und verbindet das mit gleichsam persönlichen Aussagen über seine Grundhaltung. Man kann sich gut vorstellen, dass Schubert sich in seiner personalen Haltung und Befindlichkeit als schaffender musikalischer Künstler in diesen Worten wiedererkannt hat und sich von ihnen tief angerührt fühlte. Das würde erklären, warum die Melodik nun vom konstatierend-rezitativischen Gestus der ersten Strophe zu einem ausgeprägt lyrisch-kantablen übergeht, und dies mit einer eindrücklichen Anmutung von klanglicher Lieblichkeit. Die auf diesen Worten liegende melodische Linie setzt mit einem Quartsprung aus tiefer Lage ein, geht nach einem darauf folgenden Terzsprung erst einmal wieder in einen Fall über, um dann über ein Auf und Ab im Intervall einer Quinte bei „geben“ einen eindrücklichen, weil gedehnten und in einer Rückung von b-Moll nach F-Dur harmonisierten Sekundfall zu beschreiben. Eine leichte Wehmut wohnt der melodischen Linie hier inne, bedingt dadurch, dass sie in d-Moll harmonisiert ist. Begleitet wird sie von Klavier mit lang gehaltenen Akkorden, aus denen sich im Bass kleine Achtel-Zweiunddreißigstelfiguren lösen.

    Wenn Helios von seinem „Scheiden in goldner Pracht“ spricht und dies in einem ruhigen Auf und Ab von melodischen Schritten in mittlerer tonaler Lage tut, folgt ihm das Klavier darin partiell synchron in Bass und Diskant und akzentuiert auf diese Weise diese melodischen Schritte, dies allerdings pianissimo. Harmonisiert sind sie erneut im Tongeschlecht Moll (a-Moll, d-Moll), womit Schubert dem affektiven Potential des lyrischen Bildes vom „Scheiden“ Rechnung trägt. Es ist aber eines, das von Helios ausdrücklich als ein „herrliches“ deklariert wird. Und so ereignet sich an dieser Stelle, also bei den Worten „ich scheide“ und – nach einer Viertelpause – „herrlich“ ein zweimaliger und geradezu spektakulärer, weil über eine None erfolgender melodischer Fall, dessen Expressivität noch dadurch eine Steigerung erfährt, dass es beim ersten Mal eine auf einem hohen „Des“ ansetzende und in verminderte Des-Harmonik gebettete None ist, beim zweiten aber eine große, die eine Terz tiefer ansetzt und in ausdrucksstarker Rückung von b-Moll nach A-Dur harmonisiert ist.
    Beide Male begleitet das Klavier mit einem legato in einen Einzelton übergehenden sechsstimmigen Akkord. Beim ersten Mal wird er forte ausgeführt, beim zweiten aber pianissimo. Hoch expressive Liedmusik ist das, zu der Schubert sich hier in der Begegnung mit der Lyrik Mayrhofers veranlasst sieht.

    Bei den Worten „naht die Nacht“, den letzten der zweiten Strophe also, geht die melodische Linie zu einem geradezu schwärmerisch anmutenden Gestus über. Nach einer gedehnt einsetzenden Bogenbewegung beschreibt sie nach einer Dehnung auf „Nacht“ einen dreischrittigen und partiell verminderten Sekundanstieg, der diese Dehnung auf einem „A“ in mittlerer Lage bis zu einem hohen „D“ fortsetzt, wobei das Klavier dies mit einer gegenläufigen, also fallend angelegten Folge von Akkorden in Rückungen von der Dominante A-Dur zum als Tonika fungierenden D-Dur begleitet.
    Ein zweitaktiges Zwischenspiel folgt nach, das mit seinen auf Akkorde gestützten Achtel- und Zweiunddreißigstelfiguren diese melodische Schlussbewegung der zweiten Strophe noch einmal nachvollzieht und ihr auf diese Weise Nachdrücklichkeit verleiht. Schließlich ereignet sich hier die für die lyrische Aussage – und damit auch die der Liedmusik – maßgebliche und sich als Einbeziehung frühromantischen Geistes erweisende Ansprache des Themas „Nacht“.

    Auf den Worten „wie blaß der Mond“ liegt die gleiche, mit einem Quartsprung aus tiefer Lage einsetzende und in d-Moll harmonisierte melodische Bewegung wie auf den Worten „Ich nehme nicht“. Den nachfolgenden Worten „wie matt die Sterne“ wird dadurch starker Ausdruck verliehen, dass die melodische Linie nach einem zweimaligen identischen Quintsprung in einen lang gedehnten, vom Klavier akkordisch mitvollzogenen Sekundfall übergeht, bei dem die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden d-Moll nach b-Moll vollzieht. Die Liedmusik auf dem zweiten und dem dritten Vers der dritten Strophe stellt in der Melodik, der Harmonik und auch im Klaviersatz eine Wiederkehr derjenigen dar, die auf den entsprechenden der zweiten Strophe einschließlich der Worte „ich scheide herrlich“ des letzten Verses liegt. Man vernimmt also auf den Worten „meine Krone lege“ noch einmal die so expressiven erst verminderten, dann großen und im Ansatz um eine Terz abgesenkten melodischen Fallbewegungen über das Intervall einer None. Schubert will diesem lyrischen Bild, weil es von hoher Relevanz für die lyrische Aussage ist, den gebotenen liedmusikalischen Nachdruck verleihen. Schließlich kann die Nacht erst dann ihre magische, die Erfahrung von Entgrenzung der Individuation mit sich bringende Macht entfalten, wenn Helios das Symbol seiner Macht, seine „Krone“, abgelegt und sich zur Ruhe begeben hat.

  • „Freiwilliges Versinken“ (III)

    Dem, was Mayrhofer mit den Worten des letzten Verses lyrisch zum Ausdruck bringt, den Gewinn der Sterne an „Mut und Kraft“, nachdem Helios gleichsam abgetreten ist, verleiht Schubert, darin die Bedeutsamkeit dieses Ereignisses bekundend und seine kompositorische Ausrichtung am Geist der Frühromantik offenbarend, eine gesteigerte, die lyrische Aussage in allen Dimensionen ihres Gehalts voll erfassende Expressivität. Wieder beginnt die melodische Linie, wie bei „wie blaß der Mond“ mit einer auf einem tiefen „A“ ansetzenden Sprungbewegung. Nur ist es dieses Mal nicht eine über das Intervall einer Quarte, sondern über das einer verminderten Sexte, und sie ist nicht in d-Moll, sondern in dem als Dominante fungierenden A-Dur harmonisiert. Im Pianissimo ereignet sich nun all das, was nachfolgt und die Liedmusik beschließt.

    Vom Klavier mit lang gehaltenen Akkorden im Wert von halben Noten begleitet, geht die melodische Linie bei den Worten „gewinnen sie an Mut und Kraft“ nach dem verminderten Quintsprung und einer gedehnten Tonrepetition auf der Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage in eine in G-Dur harmonisierte wellenartige Bewegung über, der bei den Worten „Mut und Kraft“ ein mit einer Rückung nach D-Dur eingeleiteter doppelter Sekundschritt nachfolgt. Die Dehnung, in die er bei dem Wort „Kraft“ mündet, ist in verminderte H-Harmonik gebettet, worin sich andeutet, dass die melodische Linie nun in ihre Schlussfigur übergehen wird. Sie besteht aus einer langen, wellenartig sich absenkenden und wieder erhebenden Dehnung aus Achtelsekundschritten auf dem Wort „weiter“, die in A-Dur harmonisiert ist, und auf dem Wort „Ferne“ aus einer mit einem Achtelvorschlag eingeleiteten Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage, das als Grundton fungiert, weil die Harmonik hier eine Rückung von der vorangehenden Dominante A-Dur nach der Tonika D-Dur vollzogen hat.

    Die Anmutung eines Entschwebens in ferne Weiten geht hier von der melodischen Linie aus, bedingt durch ihre Struktur, aber auch durch die von dem als Grundtonart vorgegebenen F-Dur weitab liegende Harmonisierung in D-Dur mit Zwischenrückung in die Dominante. Und das sich als Fortsetzung des Zwischenspiels vor der letzten Strophe gebende viertaktige Nachspiel greift das auf und setzt es fort, indem es sich in permanenten Rückungen von D-Dur zu seinen beiden Dominanten mit seinen aus Akkorden hervorgehenden Figuren aus Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln in Bass und Diskant aus tiefer in hohe Lage hinauf bewegt, um schließlich mit einer bogenförmigen Bewegung von Einzeltönen zwischen fermatierten Akkorden und schließlich in einem einsamen bitonalen Akkord pianissimo in ätherischen Höhen zu enden.

    Es ist die von der frühromantischen Poesie thematisierte Entgrenzung des Ichs in der Erfahrung von Nacht, die hier von Schubert in seiner liedkompositorischen Auseinandersetzung mit Mayrhofers Lyrik liedmusikalisch beschworen wird.

  • „Nachtviolen“, D 752

    Nachtviolen, Nachtviolen,
    Dunkle Augen, seelenvolle,
    Selig ist es, sich versenken
    In dem samtnen Blau.

    Grüne Blätter streben freudig
    Euch zu hellen, euch zu schmücken;
    Doch ihr blicket ernst und schweigend
    In die laue Frühlingsluft.

    Mit erhabnem Wehmutsstrahle
    Trafet ihr mein treues Herz.
    Und so blüht in stummen Nächten
    Fort die heilige Verbindung.

    Dieses Gedicht entnahm Schubert dem von Mayrhofer herausgegebenen Lyrik-Sammelband „Heliopolis“. Von seiner Thematik her soll die „Nachtviole“ dort eine Art Gegenpol zu der Blume sein, die, wie es in dem – ebenfalls von Schubert vertonten – Gedicht „Heliopolis I“ heißt, „sich Helios auserkoren“ hat. In das Original hat er allerdings so stark in Gestalt von Auslassungen eingegriffen, dass es die lyrische Aussage veränderte. Bei Mayrhofer hat das Gedicht vier Strophen. Auf die von Schubert übernommenen ersten beiden Strophen geht es im Original wie folgt weiter:

    Ja, so fesselt ihr den Dichter:
    Mit erhabnen Wehmutsstrahlen
    Trafet ihr sein treues Herz.

    Und so blüht in stummen Nächten
    Fort die heilige Verbindung.
    Unaussprechlich, unbegriffen,
    Und die Welt erreicht sie nicht.

    Dass Schubert die Bezugnahme auf „den Dichter“ herausgenommen hat, ist eine rein formale Sache. Bedeutsamer ist die Streichung der letzten Verse. Mayrhofer orientiert sich in diesem Bild der Nacht, für die die „Nachtviole“ metaphorisch steht, ganz offensichtlich an Novalis, wie die dessen „blaue Blume“ aufgreifenden Worte „samtnen Blau“ erkennen lassen. Die Schlussverse nehmen indirekt Bezug auf dessen Hypostasierung der Nacht, wie sich in den Worten der ersten Hymne an dieselbe ausdrückt:
    „Preis der Weltköniginn, der hohen Verkündigerinn heiliger Welten, der Pflegerinn seliger Liebe – sie sendet mir dich – zarte Geliebte – liebliche Sonne der Nacht, – nun wach ich – denn ich bin Dein und Mein – du hast die Nacht mir zum Leben verkündet – mich zum Menschen gemacht – zehre mit Geisterglut meinen Leib, daß ich luftig mit dir inniger mich mische und dann ewig die Brautnacht währt.“

    Dieses die Welt des Tages in ihrer existenziellen Bedeutsamkeit negierende Verständnis von „Nacht“ teilt Schubert nicht, wie seine Neufassung des Mayrhofer-Gedichts und vor allem die Liedmusik auf diese erkennen lässt. Der ganze Kreis um ihn teilte wohl auch dieses Sich-Distanzieren von der frühromantischen Sicht der Nacht, wie man etwa einem Brief von Ottenwalt an Schober vom 28. Juli 1817 entnehmen kann, in dem dieser von einer „All- und Nichtslehre“ spricht, „über der die Irrlichter und Gespenster der Romantik schweben“.

    Für Schubert ist, wie sich aus seiner vom Mayrhofer-Original stark abweichenden sprachlichen Gestaltung der dritten Strophe ergibt, die Begegnung mit der Nacht in Gestalt der samtblauen, seelenvoll dunklen Augen der „Nachtviolen“ zwar auch eine, die mit Wehmutsgefühlen einhergeht und eine innere Gestimmtheit zur Folge hat, die als „heilige Verbindung“ mit einer die reale und alltägliche bereichernde und gleichsam überhöhende Welt empfunden wird und in „stummen Nächten“ wieder „aufblüht“. Als „unaussprechliche“, „unbegriffene“, die reale Welt transzendierende und von ihr nicht mehr „erreichbare“ will er sie aber nicht verstanden wissen. Eben deshalb hat er die beiden Schlussverse Mayrhofers aus seiner sprachlichen Vorlage für seine Liedkomposition herausgenommen.

    Und deren kompositorische Aussage begegnet einem in der Tat in ihrem Wesenskern als musikalische Evokation von seelischer Gestimmtheit, in der zwar, und das mit dem Mittel der Wiederholung, am Ende die „heilige Verbindung“ beschworen, aber gleichzeitig den die reale Welt verkörpernden „freudig strebenden“ grünen Blättern das ihnen gebührende musikalische Recht in Gestalt einer bogenförmig beschwingt und in reiner Dur-Harmonik sich entfaltenden Melodik zuteilwird. Die Komposition entstand im April 1822, ein Zweivierteltakt liegt ihr zugrunde, sie steht in C-Dur als Grundtonart und soll „langsam“ vorgetragen werden.


  • „Nachtviolen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das viertaktige Vorspiel gibt einen tiefen Einblick in das Wesen der Komposition und ihre liedmusikalische Aussage. Und eben deshalb lässt es Schubert im Übergang von der ersten zur zweiten Strophe in verkürzter und am Ende in voller Länge noch einmal erklingen. Die bogenfömige Terzenfigur, mit der es einsetzt, repräsentiert das Grundmotiv, aus dem sich die Melodik des Liedes aufbaut und wie es in leicht modifizierter Gestalt gleich zwei Mal auf dem Wort „Nachtviolen“ erklingt. Die nachfolgende, in verminderte Cis- und d-Moll-Harmonik gebettete Achtel-Sechzehntel-Anstiegsfigur stellt eine Evokation der Wehmutsgefühle dar, wie sie sich beim lyrischen Ich in der Begegnung mit der Nachtviole einstellen. Im dritten und vierten Takt ereignet sich danach aber ein Übergang zu einer bogenförmig in hohe Lage aufgreifenden und in reine C-Dur- und G-Dur-Harmonik gebetteten Bewegung von Achteln und Sechzehnteln, die in ihrer Melismatik die Anmutung lieblicher und schwebender Leichtigkeit aufweist.

    Und darin klingt der Grundcharakter der Melodik, ja der ganzen Musik dieses Liedes auf. Der Eindruck von schwebender, sich geradezu entmaterialisierender Leichtigkeit, der von ihr ausgeht, ist Ausdruck der „heiligen Verbindung“ zu der über die „Nachtviole“ zustande gekommenen und mit der Erfahrung von Ich-Entgrenzung einhergehenden Nachtwelt. Die Mittel, die Schubert kompositorisch eingesetzt hat, um diese die Liedmusik so maßgeblich prägende Anmutung zu generieren, erschließen sich dem Blick auf das Notenbild auf der Stelle. Da ist eine Melodik, die, sich aus einem zentralen Motiv generierend, in ihrer Entfaltung nur an wenigen Stellen aus dem Ambitus einer Quarte ausbricht, vielmehr dazu neigt, gleichsam um sich selber zu kreisen. Sie ist in einer Weise harmonisiert, die die Helligkeit der als Tonika fungierenden Tonart C-Dur noch steigert dadurch, dass sie immer wieder zur Dominante G-Dur übergeht, um dort als ihrem eigentlichen harmonischen Ort zu verharren. Und sie wird von einem Klaviersatz begleitet, der seine Hauptaufgabe darin sieht, ihr in ihren Bewegungen zu folgen und dies nicht nur in materieller, die Dreistimmigkeit nicht überschreitender Leichtigkeit, sondern darüber hinaus auch noch ausgeprägt großer Helligkeit, indem er nämlich in reiner Diskantlage verbleibt.

    Die Melodik ist in allen drei Strophen so angelegt, dass sie sich in nur zwei bis drei Grundfiguren entfaltet, die in identischer oder nur leicht variierter Gestalt wiederholt werden, dadurch, und auch deshalb, weil alle Bewegung in nur kleinem Ambitus erfolgt, eine gleichsam bei sich selbst bleibende Linie bilden, die am Ende in eine Figur mündet, die als Ziel und Kadenz fungiert. In diesem schlanken und gebundenen Dahinfließen gründet die Anmutung schwebender Lieblichkeit, die dieses Lied zu einem so eindrücklichen und faszinierenden werden lässt. Das Klavier folgt im Diskant ihren Schritten zumeist, aber das tut es in der gleichen klanglichen Schlankheit, in Einzeltönen nämlich, die sich bis höchstens zu bitonalen Terzen, Quarten und Quinten erweitern. Auch im Bassbereich besteht der Klaviersatz aus der Abfolge von Einzeltönen, zumeist im Wert eines Viertels, und länger gehaltenen, gleichsam als Basis dienenden bitonalen Akkorden. Die Begegnung mit der in den Nachtviolen aufscheinenden Welt der Nacht ist, das will Schuberts Liedmusik auf diese Weise zum Ausdruck bringen, eine höchst intime, im tiefsten Seeleninnern sich ereignende, die auch dort für die Wiederkehr und das Aufblühen in „stummen Nächten“ bewahrt wird.

    Es ist eine beseligende Erfahrung, die die Liedmusik zum Ausdruck bringt. Und deshalb wird ihre Melodik in der schlanken Zartheit ihrer Entfaltung nicht nur von einem ihr in seiner Struktur gemäßen und ganz und gar auf der Ebene des Diskants angesiedelten Klaviersatz begleitet, sie ist auch in große harmonische Helligkeit gebettet. Dies dadurch, dass die Tonika C-Dur durch ihre Dominante, ihr klangliches Wesen auf dominante Weise zur Geltung bringend, in ihrem Anspruch immer wieder regelrecht zurückgedrängt wird. Die Liedmusik der ersten Strophe lässt all das auf eindrückliche Weise vernehmen und erleben. Ihre Melodik entfaltet sich bis hin zu den die Kadenz auslösenden und deshalb wiederholten Schlussworten „in dem samtnen Blau“ in nur zwei Figuren: Der aus einem gedehnten Terzsprung hervorgehenden Kombination aus Terz- und Sekundfall, wie sie auf dem - ebenfalls wiederholten – Anruf „Nachtviolen“ liegt und auf den Worten „selig ist es“ in identischer und auf „sich versenken“ in variierter Gestalt wiederkehrt.

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  • „Nachtviolen“ (II)

    Die als Bindeglied auftretende und eine Sequenz darstellende Figur ist der aus einer gedehnten Repetition hervorgehende Terzfall auf den Worten „dunkle Augen“, der sich auf „seelvolle“ auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene wiederholt. Als Schlussfigur fungiert dann der aus einer langen Dehnung hervorgehende und über einen Sekund- und Terzsprung erfolgende Anstieg in hohe Lage, dem ein dreischrittiger Fall mit Wiederanstieg über eine Sekunde zu einem „E“ in hoher Lage nachfolgt. Die Harmonik beschreibt bei all diesen, in der permanenten Wiederkehr der immer gleichen Figuren wie ein Um-sich-selbst-Kreisen der Melodik wirkenden Bewegungen eine permanente Rückung von der Grundtonart C-Dur zu ihrer Dominante. Schon bei dem Doppel-Ausruf „Nachtviolen“ geschieht das: Die einleitende Dehnung ist in C-Dur harmonisiert, der nachfolgende Fall über eine Terz und eine Sekunde aber in G-Dur. Und in dieser Weise setzt sich das fort, so dass sich der Eindruck einstellt, die Dominante sei die eigentliche Tonika. Nur einmal, wird diese harmonische Prozedur unterbrochen: Bei den Worten „dunkle Augen“ von einem wie flüchtig wirkenden a-Moll. Das kehrt dann noch einmal wieder, bei der Wiederholung der Melodik auf den Worten „in dem samtnen Blau“, und es hat wohl, da und dort, die Aufgabe, die affektive Dimension des Geschehens zum Ausdruck zu bringen.

    Von daher ist es wohl nur konsequent, dass die Tonart G-Dur in der Harmonisierung der Melodik der zweiten Strophe nun tatsächlich als Tonika auftritt. Diese setzt bei den Worten „grüne Blätter“ und „streben freudig“ mit einer Figur ein, die wie eine Wiederkehr derjenigen anmutet, die auf „Nachtviolen“ liegt, nur dass der auf die Dehnung folgende Sprung nun einer über eine Quarte ist und der nachfolgende Fall einleitend über eine Sekunde erfolgt. Vom Klavier wird diese Bewegung im Diskant mit Terzen und einer Quinte mitvollzogen, und die Harmonik verbleibt dabei in der Tonart G-Dur mit nur kurzer Zwischenrückung zu dem nun wie eine Subdominante wirkenden C-Dur. Dieses Aufgreifen der melodischen „Nachtviolen“-Figur in Gestalt einer in G-Dur harmonisierten Variation erweist sich als höchst subtile Kompositionskunst. Die „grünen Blätter“ gehören ja zur der das lyrische Zentrum bildenden Blüte der Nachtviole, - als schmückendes, sie „hellen“ wollendes, aber darin der Welt des Tages zugehöriges Beiwerk. Und eben dieses Erhellen-Wollen hat Schubert dazu veranlasst, die zugehörige melodische Varianten-Figur in das in der ersten Strophe als helle Dominante fungierende G-Dur zu betten.

    Aber die Sache ist kompositorisch ja noch viel subtiler. Auf den Worten „euch zu hellen, euch zu schmücken“ beschreibt die melodische Linie eine in hoher Lage ansetzende, zweistufige, weil nach einer Dehnung auf „euch“ noch einmal neu ansetzende Fallbewegung, die klanglich noch heller wirkt, weil sie in einer Rückung von A-Dur über D-Dur nach G-Dur harmonisiert ist. Aber die Viola-Blüte will ja doch gar nicht „gehellt“ werden. Und deshalb legt Schubert auf die Worte „doch ihr blicket ernst und schweigend“ eine melodische Figur, die wie eine Verkümmerung derjenigen anmutet, die den „grünen Blättern“ zugehörig ist: Kein einleitender Quartsprung mehr, sondern nur einer über eine Sekunde, und kein nachfolgender Fall über eine Kombination von Sekunde und Terz, sondern ein geradezu schmerzlich anmutendes Innehalten in einem Übergang von einem fallenden Sekundschritt zu einem verminderten, der prompt in einer harmonischen Rückung vom hellen A-Dur nach einem tristen g-Moll harmonisiert ist.

    Die Aufschwung-Bewegung, die die melodische Linie in Gestalt eines zu einem hohen „G“ ausgreifenden Bogens bei den Worten „in die laue Luft“ beschreibt, und die in G-Dur mit Rückung in ihre beiden Dominanten harmonisiert ist, wirkt in ihrer Rückkehr zu der den „grünen Blättern“ zugehörigen klanglichen Helle und Lieblichkeit wie eine mit dem Mittel der Kontrastierung bewirkte Steigerung und Intensivierung der Schmerzlichkeit, die in die Liedmusik bei den Worten „ernst und schweigend“ eingebrochen ist. Und eben deshalb lässt Schubert das Klavier im zweitaktigen Nachspiel die melodische Figur in Gestalt von Achteln und Viertelterzen noch einmal wiederholen.

    Weil sich die lyrischen Ansprache-Worte in den ersten beiden Versen der dritten Strophe wieder direkt an dunklen Blütenaugen der Nachtviole richten, liegt auf ihnen nicht nur die im wesentlichen gleiche Melodik wie auf dem ersten Verspaar der ersten, auch die Harmonisierung und der Klaviersatz sind identisch. Eine kleine Variation in der Struktur der melodischen Linie nimmt Schubert bei den Worten „Trafet ihr mein treues Herz“ gleichwohl vor, ihren affektiven Gehalt berücksichtigend. Sie beschreibt nun keinen Sekundfall am Ende der beiden Tonrepetitionen, sondern behält diese durchweg bei und mündet bei der zweiten, um eine Sekunde in der tonalen Ebene abgesenkten in eine Dehnung, um dem Wort „Herz“ das ihm gebührende Gewicht zu verleihen.

  • „Nachtviolen“ (III)

    Das große evokative Potential, das den lyrischen Bildern der beiden Schlussverse innewohnt, hat dann aber nicht nur zur Folge, dass die melodische Linie von ihrem Gestus der Entfaltung auf der Basis der immer gleichen Grundfiguren ablässt und nun endlich zu neuen findet, es bewirkt auch, dass Schubert das kompositorischen Mittel der Wiederholung zum Einsatz bringt. In der Gestaltung der Melodik setzt er sich, um ihrer Expressivität willen, über die Versstruktur Mayrhofers hinweg, indem er in die erste Melodiezeile das den letzten Vers einleitende Wort „fort“ einbezieht. Die melodische Linie beschreibt nun, abweichend vom Gestus ihrer bisherigen Entfaltung bei den Worten „Und so blüht in stummen Nächten fort“ eine stark von Sprüngen auf und ab geprägte Bewegung. So ereignet sich bei „nun blüht“ ein in eine kleine Dehnung auf hoher Lage mündender und mit einer harmonischen Rückung von der Tonika zur Dominante einhergehender Quartsprung, auf den Worten „stummen Nächten“ beschreibt die melodische Linie einen auf eine Tonrepetition folgenden Quartsprung mit anschließendem Quintfall, und das Wort „fort“ erfährt eine markante Akzentuierung dadurch, dass die melodische Linie auf hm nach einem Quartsprung in eine lange Dehnung (punktierte halbe Note) übergeht.

    Das Klavier begleitet diese melodischen Bewegungen dieses Mal nicht, indem es ihnen, wie es das bislang immer tat, im Diskant in allen Schritten folgt, vielmehr bietet es ihnen nun gleichsam ein klangliches Bett aus lang gehaltenen Akkorden, aus denen sich Achtel lösen, die die melodischen Schritte auf gleichsam verhaltene Weise, nämlich nur in Gestalt von Sekundsprüngen mitvollziehen. Die Harmonik aber verleiht ihnen starken Nachdruck, indem sie in ihre Rückungen beide Dominanten der Tonika C-Dur einbezieht. Das hat zur Folge, dass die lange Dehnung auf dem Wort „fort“ durch ihre Einbettung in die auf die vorangehende Dominante G-Dur folgende Subdominante F-Dur eine Steigerung ihrer Bedeutsamkeit erfährt. Es ist die eines Sich-Öffnens für das, was die Melodik auf dem letzten Vers zu sagen hat. Hier offenbart sich der tiefere Sinn des Sich-Hinwegsetzens über die prosodischen Gegebenheiten, wie es Schubert in der Anlage seiner Melodiezeilen praktiziert.

    Die Melodik auf den Worten „die heilige Verbindung“ beeindruckt durch die Intimität des verhaltenen Jubels, der ihr innewohnt. Er ist Ausdruck der Erfahrung, die sich in der Begegnung mit der „Nachtviole“ ereignet hat. Es ist eine wesenhaft dem seelischen Innenraum zugehörige, die nicht in der Welt des Tages, vielmehr nur in der Einsamkeit von „stummen Nächten“ aufzuklingen vermag. Und so klingt auch die Liedmusik auf diese Worte. Die melodische Dehnung, die in Gestalt des Grundtons „C“ in oberer Mittellage auf dem Wort „heilige“ liegt, ist eine höchst dezente, weil sie auf der letzten Silbe in einen Sekundanstieg übergeht, der sich auf der ersten Silbe des Wortes „Verbindung“ fortsetzt und dann wiederum in eine Dehnung übergeht, nun auf der tonalen Ebene der Terz zum Grundton. Und auch sie hat keinen Bestand, geht vielmehr am Ende in einen Legato-Sekundfall über, der sich als Rückkehr zum Grundton „C“ fortsetzt, um dort zur endgültigen Ruhe in einer Schlussdehnung zu kommen.

    In diesem nur über das kleine Intervall einer Terz erfolgenden bogenförmig ansteigenden und wieder fallenden, dabei durch zwei Dehnungen große Ruhe ausstrahlenden und in der Harmonisierung ganz und gar im Bereich der Tonika C-Dur und ihrer Dominante verbleibenden Gestus ihrer Entfaltung bringt die melodischen Linie ein tiefes inneres Beseligt-Sein zum Ausdruck.
    Sie reflektiert darin die Reduktion, die Schubert bei dem Mayrhofer-Gedicht in seiner sprachlichen Gestalt und seiner Aussage vornahm. Seine Liedmusik macht aus den Mayrhofer-Versen eine Erfahrung der Welt der Nacht in Gestalt einer Begegnung mit der „Nachtviole“, die sich, obgleich höchst individuell, dennoch liedmusikalisch als von allgemeiner existenzieller Relevanz präsentiert, indem sie sich als die Welt des Tages um eine wesentliche Dimension bereichernde, sie aber nicht infrage stellende erweist.

    Bei aller freundschaftlichen Verbundenheit, die übrigens zum Zeitpunkt der Komposition dieses Liedes schon zu einer distanzierten geworden ist:
    Schubert mag dem künstlerisch-poetischen Grundkonzept Mayrhofers und der dahinterstehenden Weltanschauung und ihrem Menschenbild nicht in allen relevanten und konstitutiven Faktoren folgen.
    Insofern bringt die Betrachtung dieses Liedes durchaus wichtige Aspekte in die diesen Thread leitende Thematik ein: Liedkomposition in Geist der Freundschaft.

  • „Der Sieg“, D 805

    O unbewölktes Leben!
    So rein und tief und klar.
    Uralte Träume schweben
    Auf Blumen wunderbar.

    Der Geist zerbrach die Schranken,
    Des Körpers träges Blei;
    Er waltet groß und frei.
    Es laben die Gedanken
    An Edens Früchten sich;
    Der alte Fluch entwich.
    Was ich auch je gelitten,
    Die Palme ist erstritten,
    Gestillet mein Verlangen.
    Die Musen selber sangen
    Die Sphinx (M.: Schlang) in Todesschlaf,
    Und meine Hand - sie traf.

    O unbewölktes Leben,
    So rein und tief und klar.
    Uralte Träume schweben
    Auf Blumen wunderbar.

    „Sieg“ – was für einer ist das?
    Man kann diese Verse, wie Fischer-Dieskau das getan hat, als „drastische Ankündigung von Mayrhofers Selbstmord“ lesen, wird ihnen darin wohl aber nicht ganz gerecht. In seiner durchaus kunstvollen Anlage, einer von vier Versen aus dreifüßigen Jamben gerahmten Folge von Terzinen mit dem Reimschema „cdd / cee / ffg /ghh“ , beschwört dieses Gedicht, das dem Lyrikband „Heliopolis“ zugehörig ist, die Existenz in einer Welt, die dem lyrischen Ich nach einer Befreiung des Geistes von der als „träges Blei“ es belastenden und beengenden Körperlichkeit zugänglich geworden ist und als freies , von „uralten Träumen“ begleitetes „unbewölktes Leben“ erfahren wird, in dem die „Gedanken“, weil vom Fluch der Erbsünde befreit, an „Edens Früchten“ sich laben können.
    Der Weg dahin muss nicht über die durch Suizid gewaltsam erfolgende Befreiung von aller Körperlichkeit erfolgen, er wird auch, wie die letzte Terzine andeutet, durch den Gesang der Musen“ erschlossen, - eine lyrische Beschwörung der Macht, die der Kunst innewohnt.

    Schubert hat, wie seine Liedmusik recht deutlich und auf beeindruckende Weise vernehmen lässt, die Verse in diesem Sinn gelesen, - einem Glauben an die hochgradige existenzielle Bedeutsamkeit der Kunst, wie er in seinem Freundeskreis, zu dem ja auch Mayrhofer gehörte, als zentraler Inhalt gelebt und kultiviert wurde.

    Die Komposition entstand im März 1824. Ein Zweihalbe- und ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde, F-Dur ist ihr als Grundtonart vorgegeben, und sie soll „mässig langsam“ vorgetragen werden. Die prosodischen Gegebenheiten, insbesondere die strophische Gliederung in Gestalt der Rahmung einer Terzinengruppe durch einen jambischen Versvierer, schlagen sich auf markante Weise in der Anlage der Liedmusik nieder. In allen Bereichen, von der Melodik über den Klaviersatz bis zum Tempo und dem zugrundeliegenden Metrum hebt sich die Liedmusik auf den Terzinen von der – in identischer Weise am Ende noch einmal erklingenden - auf den ersten vier Versen ab.


  • "Der Sieg“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    In fast schon choralartigem Geist tritt das ganz und gar akkordisch sich entfaltende viertaktige Vorspiel auf. Die melodische Linie, die sich in der Folge von drei- bis vierstimmigen Akkorden im Diskant und Oktaven im Bass abzeichnet und mit einer harmonischen Rückung von F-Dur über d-Moll, B-Dur und C-Dur einhergeht, ist in ihrer Struktur die, in der die melodische Linie bei dem den lyrischen Text einleitenden Ausruf „O unbewölktes Leben!“ auftritt. Er charakterisiert auf gleichsam grundlegende Weise die imaginierte Eden-Welt, in die sich das lyrische nach dem Zerbrechen der körperlichen Blei-Schranken durch den Geist eintreten sieht, und deshalb setzt die melodische Linie in einem triumphierend anmutenden Gestus ein. Mit einem auftaktigen Sextsprung schwingt sie sich in hohe Lage auf, geht dort in eine leicht rhythmisierte deklamatorische Tonrepetition über, setzt danach den Aufschwung über einen Terzsprung bis zu einem hohen „A“ fort und beschreibt, nachdem sie das bei dem Wort „Leben“ in Gestalt einer Dehnung ausgekostet hat, einen doppelten, weil das nachfolgende Wort „so“ einschließenden Terzfall.

    Diesen Gestus des mit der durch den Klaviersatz bewirkten Anmutung von Choralhaftigkeit versehenen Jubels behält die melodische Linie bis zum Ende der jambischen Vers-Vierergruppe bei. Bezeichnend dafür ist, dass sie nach dem auf die Dehnung auf „Leben“ folgenden doppelten Terzfall bei den Worten „rein und tief und klar“, darin deren semantischen Gehalt reflektierend, mit einem Sekundsprung in hohe Lage zurückkehrt, dort, nun in der Subdominante B-Dur harmonisiert, erneut eine Tonrepetition beschreibt, um danach wie zuvor über einen Sprung, nun allerdings nur über eine Sekunde, weiter aufzusteigen und danach wieder in einen Fall überzugehen. Auch hier ist es ein gleichsam gemäßigter, nur über Sekundschritte erfolgender, aber er mündet bei dem Wort „klar“ in eine lange Dehnung, die in der klanglichen Helligkeit ihrer Harmonisierung in der Dominante C-Dur sehr wohl Jubel-Geist ausstrahlt.

    Bei dem romantischen Geist beschwörenden lyrischen Bild von auf Blumen „wunderbar“ schwebenden „uralten Träumen“ kann die melodische Linie diesen aus einer Tonrepetition hervorgehenden Sprung- und Fallgestus nicht beibehalten. Sie geht zu einer den großen Ambitus einer Oktave in Ansprung nehmenden Fall- und Aufstiegsbewegung über, die bei den Worten „auf Blumen“ über eine Kombination aus Quart- und Terzsprung in hohe Lage aufsteigt, um sich danach bei dem Wort „wunderbar“ einem ausdruckstarken, mit einem melismatischen Doppelvorschlag versehenen gedehnten Terzsprung mit nachfolgendem, in eine Dehnung mündenden Sekundfall zu überlassen. Er ist in einer in einem d-Moll endenden und darin die Semantik des eminent romantischen Wortes „wunderbar“ reflektierenden Rückung von der Subdominante B7 zur Dominante C-Dur harmonisiert.

    Im Gestus der Kadenz folgt eine Wiederholung dieser Worte dergestalt, dass die melodische Linie, nun ganz und gar in Rückungen von der Tonika zu ihren beiden Dominanten harmonisiert, mit einem Terzsprung zu einem hohen „A“ aufsteigt und sich von dort aus einem ruhigen, am Ende in eine Dehnung auf der Sexte der Tonika mündende Fallbewegung in Sekundschritten zu überlassen.
    Das ist makellos schönes lyrisches Melos, das die Idyllik der in dieser Vers-Vierergruppe vom lyrischen Ich beschworenen Lebenswelt reflektiert.

  • „Der Sieg“ (II)

    Mit den Worten „Der Geist zerbrach die Schranken, / Des Körpers träges Blei“ geht die melodische Linie zu einem fast schroff davon sich absetzenden deklamatorischen Gestus über. Darin greift sie den Umschlag in der lyrischen Sprache und ihrer Aussage auf. Die Terzinen der zweiten Strophe entfalten sich sprachlich durchgehend in einer konstatierenden, von einem verbalen Zentrum beherrschten Diktion, und die Melodik reflektiert diesen lyrisch-sprachlichen Sachverhalt, indem sie auf der Grundlage eines nun vorherrschenden Dreivierteltakts, eine Entfaltung beschreibt, die sich durch deklamatorische Tonrepetition und Rhythmisierung mittels eingelagerter Dehnungen auszeichnet. Die melodische Linie auf dem ersten Verspaar ist diesbezüglich repräsentativ. Nach einer Tonrepetition mit Dehnung auf „Geist“ und der zweiten Silbe von „zerbrach“ beschreibt sie bei „die Schranken“ einen Fall, geht danach aber nach einer neuerlichen, wiederum durch Dehnung rhythmisierten Tonrepetition bei den Worten „träges Blei“ mit einem gedehnten Quartsprung in hohe Lage über, um danach eine Rückkehr zur tonalen Ebene zu vollziehen und sich dort einer Dehnung zu überlassen. Die Harmonik beschreibt in dieser Melodiezeile die ausdrucksstarke Rückung von C-Dur nach A-Dur mit einem gleichsam als Brücke bei dem Quartsprung auf „träge“ erklingenden d-Moll.

    Auch der Klaviersatz hat sich gewandelt. Er besteht nun aus synchron Diskant und Bass übergreifenden Folgen von zwei- bis vierstimmigen Akkorden, die in ihrer durch unterschiedliche Notenwerte und Dehnungen erfolgenden Rhythmisierung der melodischen Linie folgen und sie in ihrer Aussage auf diese Weise akzentuieren. So begleitet das Klavier,, um bei dem repräsentativen Beispiel zu bleiben, die melodische Linie auf dem ersten Verspaar der zweiten Strophe mit drei- und vierstimmigen Akkorden im Diskant und synchronen Oktaven im Bass, wobei auf „Geist“, „Schranken“, „Körpers“, „träges“ und „Blei“ eine Dehnung jeweils eine Dehnung liegt, die Oktaven im Bass aber durchaus eigenständige Bewegungen vollziehen und bei „des Körpers träges Blei“ in die Tiefe sinken, um den auf ihrer tonalen Ebene verharrenden dreistimmigen Akkorden im Diskant stärkeres Gewicht zu verleihen.
    In all dem zeigt sich, wie hochgradig kunstvoll Schuberts Liedmusik auf diese Mayrhofer-Verse angelegt ist, - in der Absicht, deren lyrische Aussage in all ihren Dimensionen zu erfassen.

    Die Liedmusik entfaltet große Expressivität. Immer wieder geht die melodische Linie aus Tonrepetitionen zu sprunghaften Aufwärtsbewegungen in hohe Lagen über. Bei den Worten „groß und frei“ beschreibt sie, und dies im Fortissimo, einen gedehnten, bis zu einem hohen „B“ ausgreifenden Bogen; auf die auf einem hohen „C“ ansetzende und sich über das Intervall einer Sexte erstreckende Fallbewegung bei den Worten „der alte Fluch entwich“ folgt bei „was ich je gelitten“ ein aus einer Tonrepetition hervorgehender Quartsprung zu einem hohen „D“ mit anschließendem Fall übe das gleiche Intervall und nachfolgender Sekundsprungfigur. Dadurch, und durch die sich hier ereignende harmonische Rückung von a-Dur nach d-Moll, erfährt das Wort „gelitten“ eine besondere Akzentuierung, die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringend. Und das geschieht noch einmal bei den Worten „gestillet mein Verlangen“ dergestalt, dass sie melodische Linie mit einem Sekundsprung zu einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines hohen „C“ übergeht und danach einen Fall in Sekundschritten über das Intervall einer Quinte beschreibt.

    Hier lässt das Klavier von seiner bislang praktizierten Begleitung mittels rhythmisierter Akkordfolgen ab und folgt der melodischen Linie in ihrem Fall mit bitonalen Akkorden im Diskant. Und auch die Harmonik akzentuiert den affektiven Gehalt dieser lyrischen Aussage, indem sie eine Rückung von C-Dur über eine verminderte A-Tonalität nach D-Dur beschreibt und danach, bei dem melodischen Fall auf den Worten „mein Verlangen“ zur Tonika F-Dur mit Zwischenrückung zur Dominante übergeht.

  • „Der Sieg“ (III)

    Bei den Worten „Die Musen selber sangen / Die Sphinx in Todesschlaf“ ereignet sich ein regelrechter Sturz der melodischen Linie in extrem tiefe Lage. Nachdem sie sich zunächst in Gestalt von Sekundschritten in mittlerer Lage entfaltet und bei „sangen“ eine melismatische Achtel-Zweiunddreißigstelfigur beschrieben hat, wobei das Klavier mit taktlang gehaltenen F- und B-Dur-Akkorden begleitete, vollzieht sie bei den Worten „in Todesschlaf“ einen Fall über eine Sekunde und zwei Terzen bis hinab zu einem tiefen „F“, der in b-Moll harmonisiert ist und vom Klavier im Bass in Gestalt von Oktaven mitvollzogen wird. Und all das geschieht, nachdem die Liedmusik bei den Worten „gestillet mein Verlangen“ wieder einmal ins Fortissimo ausgebrochen war, in einem Pianissimo, das über ein Decrescendo eine weitere Minderung erfährt. Das so bedeutungsschwere Wort „Todesschlaf“ erfährt das seinen affektiven Gehalt voll erfassende liedmusikalische Konkretisierung.

    Und das gilt auch für die die Terzinenstrophe beschließenden Worte „Und meine Hand sie traf“. Sie heben sich in ihrem konstatierenden und eine gewaltsame Aktion zum Ausdruck bringenden sprachlichen Gestus vom vorangehenden Vers ab. Und Schubert wird diesem Sachverhalt liedmusikalisch voll und ganz gerecht. Die melodische Line, die gerade noch einen Fall in extrem tiefes Lage beschrieb, geht nun, nach einer Viertelpause, zu einem eine ganze Oktave höher ansetzenden Aufstieg in Schritten über Sekundintervalle und, nach einer Achtelpause, eine Terz bis zur tonalen Ebene eines hohen „Des“ über und überlässt sich dort einer langen Dehnung. Durch die kurze Pause, den Sekundsprung auf „sie traf“, die Dehnung in hoher Lage, in die er übergeht, und die harmonische Rückung von der vorangehenden verminderten Es-Harmonik nach Des-Dur, die sich hier ereignet, wird diesen Worten ein starker Akzent verliehen.

    Eine dreitaktige Pause folgt für die Singstimme nach, bevor sie zum das Lied beschließenden Vortrag der musikalisch unveränderten ersten Strophe übergehen kann. Derweilen ereignet sich zwei Mal ein Legato-Übergang von einem taktlang gehaltenen sechsstimmigen Akkord zum nächsten. Und die damit einhergehenden harmonischen Rückungen sind bemerkenswert: Vom die Dehnung auf „traf“ begleitenden Des-Dur nach Fis-Dur, und danach von einer verminderten G-Tonalität nach der Septimvariante der Tonart „C“, die ganz offensichtlich als Dominante für das F-Dur fungiert, in dem die Wiederholung der ersten Strophe einsetzt.

    Warum diese lange Pause mit den lang erklingenden und in ihren harmonischen Rückungen so markanten, weil im Quintenzirkel weit ausgreifenden und partiell verminderten Legato-Akkordfolgen?
    Vielleicht, so darf man vermuten, reagierte Schubert in dieser Weise auf den hohen Grad an Offenheit, in der die lyrischen Aussagen der Terzinenstrophe enden. Der letzte Vers beinhaltet einen Akt der Tötung. Betrifft er nur die von den Musen in „Todesschlaf“ gesungene „Sphinx“, die in der ersten Fassung des Gedichts als „Schlange“ auftritt? Oder schließt er als imaginierter das lyrische Ich selbst mit ein?

    Die in ihrer Harmonik ambivalent schwebend angelegte Überleitung zur Wiederholung der Beschwörung des „unbewölkten Lebens“ lässt diese Frage offen. Schuberts Liedmusik will diese Imagination einer Lebenswelt, in der die Gedanken sich „an Edens Früchten laben“ können, als Akt künstlerischer Produktivität in der Reaktion auf die Gegebenheiten realweltlichen Lebens verstanden wissen.

  • „Abendstern“, D 806

    Was weilst du einsam an dem Himmel,
    O schöner Stern? Und bist so mild;
    Warum entfernt das funkelnde Gewimmel
    Der Brüder sich von deinem Bild?
    „Ich bin der Liebe treuer Stern,
    Sie halten sich von Liebe fern.“

    So solltest du zu ihnen gehen,
    Bist du der Liebe, zaudre nicht!
    Wer möchte denn dir widerstehen?
    Du süßes eigensinnig Licht.
    „Ich säe, schaue keinen Keim,
    Und bleibe trauernd still daheim.“

    (Johann Mayrhofer)

    Ein Zwiegespräch zwischen lyrischem Ich und „Abendstern“ Venus, ausgelöst durch die Verwunderung darüber, dass dieser trotz der Milde von dessen Licht, das von ihm als „eigensinnig“ und „süß“ empfunden wird, einsam am Himmel steht, ohne das „funkelnde Gewimmel“ anderer Sterne um ihn herum. In den Antworten, die dem fragenden lyrischen Ich zuteilwerden, findet Mayrhofers Gedicht zum Kern seiner lyrischen Aussage. Und diese ist es, durch die Schubert sich in der Begegnung mit diesen Versen im März 1824 so angesprochen gefühlt haben musste, dass er sie in Liedmusik setzte.

    Es ist eine traurige, im Grunde tief deprimierende Antwort. Venus sieht sich wie ein Sämann, der das Keimen seiner Saat nicht erlebt und deshalb ohne Gesellschaft ist, „still daheim“ bleiben muss, und dies „trauernd“. Und das will doch wohl heißen: Liebe geben wollen, ohne sie auch empfangen zu können, führt in die existenzielle Einsamkeit.
    Eine Erfahrung, die Schubert tief vertraut war.

    Im Wissen um die Tatsache, dass er zu dieser Zeit jenen Brief an den in Rom weilenden Freund Kupelwieser schrieb, der das schreckliche Bekenntnis „ich fühle mich als den unglücklichsten, elendesten Menschen auf der Welt“ enthält, empfindet man Schuberts Liedmusik auf diese Verse Mayrhofers als ein erschütterndes seelisches Bekenntnis, - erschütternd gerade deshalb weil es sich nicht im Gestus der expressiven Klage ereignet, sondern sich in einer ruhig sich entfaltenden, nur vorübergehend ins Mezzoforte ausbrechenden, ansonsten aber im Piano verbleibenden Liedmusik ausdrückt, die im Bereich von Melodik und Klaviersatz in bemerkenswerter Weise auf strukturelle Einfachheit hin angelegt ist.

    Es ist ein wesenhaft stilles, sich auf eigenartige Weise in die klangliche Verhaltenheit zurücknehmendes, gleichwohl in einer überaus schönen und abrührenden Melodik sich ruhig entfaltendes Lied, in das Schubert diese Verse Mayrhofers umgesetzt hat. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, es soll „ziemlich langsam“ vorgetragen werden, und die vorgegebene Grundtonart ist a-Moll.


  • „Abendstern“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Von seiner Faktur und seiner inneren Anlage her stellt sich dieses Lied als eine wesenhaft einfache Komposition dar. Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied, wobei sich die Variation auf die beiden letzten Verse der beiden Strophen beschränkt. Die Liedmusik auf den ersten vier Versen ist sowohl im Bereich der Melodik, wie auch im Klaviersatz identisch. Aber die Einfachheit reicht noch weiter. Die Melodik generiert sich im Grunde aus nur zwei Motiven, der Klaviersatz aus schlichten Achtelakkord-Folgen im Diskant über einem beharrlich den Grundton wahrenden Basso ostinato, und die Harmonik verbleibt im Bereich der Tonika a-Moll, bzw. ihrer Dur-Parallele und den jeweiligen Dominanten.
    Aber da ist ein Schubert am Werk, und so ereignet sich denn das Wunder, dass man diese strukturelle Einfachheit der Komposition als solche nicht nur nicht wahrnimmt, sondern in ihrer Rezeption die Erfahrung von hohem liedmusikalischen Reichtum macht.

    Reichtum freilich nicht im Sinne einer überwältigenden Klanglichkeit, diesbezüglich wirkt das Lied eher karg, vielmehr ist es die Fülle an liedmusikalischen Aussagen, die es so beeindruckend und anrührend macht. Wobei diese Anmutung von Verhaltenheit und klanglicher Kargheit der Liedmusik einen tiefen Sinn hat. Sie rührt wohl von Schuberts Rezeption dieser Verse Mayrhofers her, der personalen Betroffenheit von der sich in den Antworten der Venus manifestierenden Einsamkeit des Liebe spendenden, darin aber wesenhaft allein bleibenden Wesens. „Liebe spenden“, darin hat Schubert wohl „Musik spenden“ gelesen, und so konnte denn seine Liedmusik nur eine sein, die in ihrem Verharren in einem einzigen melodischen Motiv unter Begleitung durch einen orgelpunkartig kargen Klaviersatz und dominanter Moll-Harmonik in einer eigenartigen und darin tief beeindruckenden, gleichsam monologischen Statik verbleibt.

    Was aber ist es, was dieses Lied für seine Rezipienten zu einer so beglückenden, weil Reichtum an musikalischer Aussage beinhaltenden Erfahrung werden lässt?
    Ein kurzer Blick auf die strukturellen Wesensmerkmale seiner Faktur sollte darauf eine Antwort bringen können.
    Da ist zunächst die innere Anlage der beiden Strophen. Sie ist zweiteilig, und sie greift darin ja die dialogische Grundstruktur des lyrischen Textes auf. Der sich wiederholenden und wesenhaft vom Tongeschlecht Moll beherrschten Melodik des lyrischen Ichs steht die strukturell anders angelegte, weil von Fallbewegungen geprägte und in einer vielsagenden Binnenspannung von Dur und Moll harmonisierte Melodik des einsam-schönen Himmelssterns gegenüber. Dieses sich wiederholende Gegenüber zweier wesensverschieden anmutenden melodischen Linien ist wohl einer der Faktoren, die die Liedmusik so eindrücklich werden lässt.

    Beide Vokallinien, die des lyrischen Ichs und die der ihm antwortenden Venus bringen auf ihre Weise die jeweilige Haltung der beiden Protagonisten zum Ausdruck. Die des lyrischen Ichs setzt sich aus zwei, jeweils zwei Verse umfassenden und durch eine Pause getrennten Melodiezeilen zusammen, die beide in ihrer Grundstruktur eine bogenförmige Aufgipfelung in hoher Lage aufweisen, die man als Ausdruck einer von einer innigen Zuwendung getragenen Fragehaltung empfindet. Bevor sie einsetzt, lässt das Klavier die Keimzelle, aus der sich die Melodik auf den ersten vier Versen beider Strophen entfaltet, in akkordischer Gestalt erklingen, wobei auch erstmals ihre spezifische Harmonisierung vernehmlich wird.

    Es ist eine vom Tongeschlecht Moll dominierte und sich in Gestalt von Rückungen aus der Tonika a-Moll hin zur Subdominante ereignende. Und diese Dominanz der Moll-Harmonik ist so stark ausgeprägt, dass die Rückung in den Bereich des Tongeschlechts Dur, die sich im Vorspiel nur einmal (nach E-Dur), in der nachfolgenden melodischen Linie der Singstimme aber noch mehrfach ereignet, keinen längeren Bestand hat. Aber dieses Wechselspiel der beiden Tongeschlechter ist für Schubert hier – wie auch in der Melodik auf den Worten der Venus – ein wichtiges liedmusikalisches Ausdrucksmittel. Hier, im Falle des lyrischen Ichs, bringt es die Ambivalenz von dessen Haltung gegenüber dem Stern zum Ausdruck: Das Mitfühlen von dessen Einsamkeit und die Bewunderung seiner Schönheit.

    An der ersten Melodiezeile ist das sehr schön zu vernehmen und zu erkennen. Bei dem Auf und Ab der melodischen Linie auf den in d-Moll harmonisierten Worten „was weilst du einsam“ trägt der Sekundfall auf dem Wort „einsam“ eine Dehnung (punktiertes Viertel), die ihm einen Akzent verleiht. Bei „o schöner Stern“ beschreibt sie dann einen expressiven, weil über das große Intervall einer Septe erfolgenden Sprung zu einem hohen „F“ und geht nach einer Tonrepetition bei dem Wort „Stern“ in einen Sekundfall über, der mit einer Rückung von d-Moll nach a-Moll verbunden ist. Das Klavier vollzieht diese Bewegungen mit den oberen Tönen von Akkorden im Diskant mit. Die Worte „und bist so mild“ werden dann, da es sich ja nun um eine Feststellung von geringerem affektivem Gehalt handelt, auf einer in Tonrepetitionen um eine Sekunde ansteigenden melodischen Linie deklamiert, die am Ende in eine Dehnung auf einem „D“ in oberer Mittellage mündet. Das aber ist der Grundton von D-Dur, in das die Harmonik hier, von a-Moll kommend“ eine Rückung vollzieht. Damit reflektiert sie den Übergang des lyrischen Ichs vom Mitfühlen zur bewundernden Ansprache des Sterns.

  • „Abendstern“ (II)

    Auch in der zweiten Melodiezeile ereignet sich das über einen Sprung erfolgende Aufgipfeln der melodischen Linie, und dies gleich zwei Mal. Bei den Worten „das funkelnde Gewimmel“ steigt sie, nun in d-Moll harmonisiert, über einen Quartsprung zu einem hohen „G“ auf und senkt sich danach in vier Sekundschritten auf mittlere Lage ab. Bei dem Wort „Brüder“ ereignet sich das danach gleich noch einmal, nun in Gestalt eines Quintsprungs und wieder zu einem hohen „G“ führend, das dieses Mal sogar länger gehalten wird, weil es bei „sich“ dann in einen Sekundfall übergeht. Im ersten Fall reflektiert die melodische Linie mit dem Sprung und den vielen nachfolgenden Fall-Schritten das lyrische Bild vom in großer Höhe sich ereignenden „funkelnden Gewimmel“, im zweiten verleiht sie der an die Venus gerichteten Frage Nachdruck. Danach geht sie bei den Worten „von deinem Bild“ in ein ruhiges und am Ende wieder in eine Dehnung mündendes Auf und Ab in oberer Mittelage über, und dieses Münden in eine Dehnung ist erneut mit einer harmonischen Rückung von Moll nach Dur verbunden, - und dieses Mal sogar einer durchaus ausdrucksstarken, nämlich von d-Moll nach E-Dur.

    Deutlich hebt sich davon die Liedmusik ab, die jeweils auf dem letzten Verspaar der beiden Strophen liegt, und dies sowohl im Bereich der Melodik und ihrer Harmonisierung, wie auch im Klaviersatz. Schubert lässt auf diese Weise vernehmlich werden, dass die lyrischen Aussagen aus einer anderen Welt kommen und überdies für ihn selbst den Kern der lyrischen Aussage von Mayrhofers Gedicht darstellen.
    Der interpretierende Charakter seiner Liedmusik manifestiert sich darin auf markante Weise. In beiden Fällen ist das Verspaar in einer Melodiezeile zusammengefasst, und obgleich beide Ähnlichkeiten in der Grundstruktur der Melodik, ihrer Harmonisierung und in der Struktur und Funktion des sie begleitenden Klaviersatzes aufweisen, so treten sie doch als eigenständige liedmusikalische Gebilde auf. Dies vor allem deshalb, weil die Melodik auf dem letzten Verspaar in ihrer Absicht, gleichsam eine Fortführung, Bekräftigung und Steigerung der Aussagen der beiden letzten Verse der ersten Strophe zu bewirken, deutlich expressiver angelegt ist.

    Aber in beiden Fällen spricht der ferne Himmelsstern in einer Melodik, die in ihrer Grundstruktur von einer Tendenz zum Fall geprägt ist. Und diese erfährt eine durchaus markante Verstärkung durch die Art und Weise, wie Schubert dieses Mal das tongeschlechtliche Wechselspiel von Dur und Moll zum Einsatz bringt. Er kehrt es regelrecht um. Ließ er die Melodik auf den Aussagen des lyrischen Ichs aus einer dominanten Moll-Harmonisierung in Dur-Harmonik enden, so ereignet sich nun in beiden, die Strophen beendenden Melodiezeilen gleich mehrmals ein regelrechtes Umkippen von anfänglicher Dur-Harmonik in das Tongeschlecht Moll. Und so bedeutsam ist diese Verkehrung der harmonischen Rückung deshalb, weil diesem Moll nun nicht mehr die Anmutung von Tiefe in der emotional positiven Zuwendung innewohnt, wie das beim lyrischen Ich der Fall ist, sondern, eben aus diesem Umkippen der Dur-Harmonik resultierend, die von Klage und seelischem Schmerz.

    Bei den Worten „Ich bin der Liebe treuer Stern“ beschreibt die melodische Linie zweimal die gleiche, auf einem hohen „E“ ansetzende und im zweiten Fall um eine Sekunde tiefer sich fortsetzende Fallbewegung, die bei „Stern“ zwar in einen Sekundanstieg übergeht, dies aber nur, um bei den Worten „sie halten sich“ einen neuerlichen Fall zu beschreiben, und dieses Mal einen, der nicht über das Intervall von Sekunden, sondern von Terzen erfolgt und infolgedessen in deutlich tiefer Lage endet. Und in diesem Fall erweist sich das Umkippen der vorangehenden A-Dur Harmonik in Moll, das sich zuvor schon einmal bei dem gedehnten Sekundfall auf „Liebe“ ereignet hat, als ganz besonders schmerzlich-expressiv. Der nachfolgende, in tiefer Lage ansetzende Sekundanstieg der melodischen Linie auf den Worten „von Liebe fern“ erfolgt zwar in E-Dur-Harmonisierung, diese mündet aber am Ende doch wieder in ein a-Moll. Das Klavier begleitet all das, und darin weicht es vom Gestus des Mitvollzugs der melodischen Bewegung ab, wie es ihn bei den ersten vier Versen praktizierte, nun mit gleichsam statisch angelegten Akkord-Folgen im Diskant, was anmutet, als würde es die melodische Linie der Einsamkeit überlassen, in der sie sich als Ausdruck der Einsamkeit des fernen Sterns am Himmel artikuliert.

    Auch der Melodik auf den beiden Schlussversen wohnt in gleichsam elementarer Weise die Tendenz zum Fall inne. Sie entfaltet darin aber eine deutlich stärkere Expressivität, und dies deshalb, weil sie dieses Mal nicht von Anfang an mit einem Fall einsetzt, sondern dieser erst auf Sprungbewegungen folgt, die wie ein schmerzliches Sich-Abfinden mit dem auferlegten Schicksal wirken. Bei den Worten „Ich säe, schaue keinen Keim“ setzt die melodische Linie mit einem Terzsprung in oberer Mittellage ein, und dann folgt eine Kombination aus Quintfall und Quintsprung, die in einen gedehnten Sekundfall auf dem Wort „schaue“ mündet, bei dem die Harmonik eine Rückung von A-Dur nach h-Moll vollzieht. Mit diesen im Tongeschlecht Moll endenden Sprungbewegungen über das relativ große Intervall einer Quinte will Schubert der Aussage des Sterns den Charakter einer schmerzlichen, aber zugleich entschiedenen, weil aus der Erkenntnis der Unabänderlichkeit resultierenden Feststellung verleihen. So hat er, sich selbst damit identifizierend, die Haltung dieses einsamen, fernen und schönen Sterns am Himmel aufgefasst, und das bringt er mit der Liedmusik auf die beiden Schlussverse zum Ausdruck.

    Und so lässt er denn das Bekenntnis „und bleibe trauernd still daheim“ auf einer gleich zweifachen melodischen Fallbewegung deklamieren, die ganz und gar in expressive, weil in Gestalt einer Rückung von d-Moll über h-Moll nach a-Moll modulierende Moll-Harmonik gebettet ist. Erst ereignet sich auf „ich bleibe“ ein doppelter Terzfall, danach geht die melodische Linie zu einem ausdruckstarken Sextsprung über, verharrt danach bei dem Wort „trauernd“ mit einer gedehnten, in de-Moll harmonisierten und dem Wort einen starken Akzent verleihenden Tonrepetition in der Lage eines hohen „F“ und geht danach in einen wie unaufhaltsam wirkenden fünfschrittigen Sekundfall über, der auf dem Grundton „A“ endet.

    Es ist alles gesagt. Und so hat das Klavier nur noch ein kurzes dreitaktiges Nachspiel beizutragen, das aus a-Moll-Akkorden besteht, zu denen eine akkordische Achtel-Sechzehntelfigur hinführt, in der sich das ereignet, was für dieses Lied so typisch ist: Ein kurzes Streifen des Tongeschlechts Dur (E-Dur) aus einem dominanten Moll heraus.

  • „Auflösung“, D 807

    Verbirg dich, Sonne,
    Denn die Gluten der Wonne
    Versengen mein Gebein;
    Verstummet Töne,
    Frühlings Schöne
    Flüchte dich, und laß mich allein!

    Quillen doch aus allen Falten
    Meiner Seele liebliche Gewalten;
    Die mich umschlingen,
    Himmlisch singen.
    Geh' unter Welt, und störe
    Nimmer die süßen ätherischen Chöre!

    (Johann Mayrhofer)

    Das lyrische Ich fordert im geradezu hart imperativischen Gestus der Worte „verbirg dich“, „verstummet“ und „flüchte dich“ die „Sonne“, die Töne“ und „die Schöne“ des Frühlings auf, sich vor ihm zu verbergen und von ihm zu weichen. Es sind in eminenter Weise mit Leben verbundene, Leben spendende und beinhaltende naturhafte Elemente, an die sich diese Aufforderung richtet.
    Aber es ist kein Wille zum Tod, der dahintersteht. Im Gegenteil. Wie die zweite Strophe erkennen lässt, ist es eine neue Form des Lebens, die das lyrische Ich zu diesen imperativischen Appellen bewegt, - ein Leben, das ausgelöst wodurch auch immer, aus ihm selbst hervorgeht, und in geradezu rauschhafter Weise als Hervorquellen von Emotionen erfahren wird, die sich als „liebliche Gewalten“ darstellen, das Ich zu umschlingen und in himmlische Sphären zu tragen vermögen.
    Der letzte Appell, das sich an die ganze Welt richtende „Geh unter“, ist dann nur noch die Schlussfolgerung aus diesem rauschhaften, in „süßen ätherischen Chören“ sich ergehenden Erlebnis.
    Nichts ist störender darin als die Erfahrung von Realweltlichkeit.

    Es ist von so großer Bedeutung, die lyrische Aussage dieser Verse Mayrhofers möglichst präzise zu bestimmen, weil nur dann in solider Weise zu erfassen ist, was Schubert liedkompositorisch daraus macht. Und um es gleich vorweg anzudeuten: Es ist etwas höchst Erstaunliches und Vielsagendes, - vielsagend, was die grundlegende Fragestellung dieses Threads anbelangt.
    Seine Liedmusik läuft auf eine Aussage hinaus, die der des Mayrhofer-Gedichts nicht entspricht, insofern sie den Worten „Geh unter Welt“ ein Gewicht und eine Aussage-Intention verleiht, die in diesen nicht zukommt. Und natürlich stellt sich die Frage, warum Schubert diese Verse Mayrhofers in dieser Weise rezipiert und dementsprechend in Liedmusik gesetzt hat.

    In der Suche nach einer Antwort, wie sie die nachfolgende liedanalytische Betrachtung beabsichtigt, wird dieses zu bedenken sein: Das Lied entstand im März 1824, in der Zeit, in der Schubert sich von Mayrhofer trennte und in der er, am 27. März nämlich, seinem Tagebuch die Worte anvertraute: „Keiner, der den Schmerz des Andern, und Keiner, der die Freude des Andern versteht.“ Man kann, dies bedenkend, gar nicht anders, als sich der Frage zu stellen: Hat dieses Lied, dem letzten übrigens der 47 Vertonungen von Mayrhofer-Gedichten, in seiner spezifischen kompositorischen Faktur und seiner musikalischen Aussage damit etwas zu tun?


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  • „Auflösung“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das Lied ist durchkomponiert, es steht in G-Dur als Grundtonart, weist einen Viervierteltakt auf und soll „Nicht zu geschwind“ vorgetragen werden. Im sechstaktigen Vorspiel, an dessen Ende die Singstimme auftaktig einsetzt, wird der Geist vernehmlich, der die Liedmusik inspiriert und prägt. Es ist ein schwärmerischer, einer, der anmutet, als wolle er beflügelt davon schweben. Er artikuliert sich hier – und dann auch durchweg in der Begleitung der melodischen Linie – in Gestalt von schweifend angelegten, über große tonale Räume sich entfaltenden, dabei Bass und Diskant übergreifenden Sechzehntel-Figuren, und dies auf der Grundlage von tremolierenden Oktaven im Bass.

    Diesen schwebend-schweifenden Ton, den die Liedmusik im Vorspiel anschlägt, behält sie nicht nur bis zum Ende bei, sie steigert sich darin sogar noch, weil er nicht nur den Klaviersatz ganz und gar beherrscht, sondern auch die Melodik von ihm ergriffen wird. Und die Harmonik trägt das Ihre dazu bei, indem sie sich einer festen Verortung auf der Grundtonart verweigert und modulatorisch in weit ausgreifender Art im Quintenzirkel und in den Tongeschlechtern herumschweift. Wobei besonders bemerkenswert ist, dass sie dabei in auffälliger Weise die Dominante meidet. Das D-Dur klingt nur ein einziges Mal auf: Kurz vor Ende der geradezu unendlich lang anmutenden melodischen Dehnung auf der Wiederholung der Worte „ätherischen Chöre“, in Takt 64 nämlich.

    Schubert will, und das gelingt ihm auf höchst beeindruckende Weise, mit diesen liedmusikalischen Mitteln die Haltung des lyrischen Ichs gleichsam klanglich imaginieren und zum Ausdruck bringen, - dieses sich den „lieblichen Gewalten“ Überlassen und dabei aus seiner realen Lebenswelt gleichsam Davonschweben-Wollen.
    Die interessante Frage ist dabei allerdings: Welche Akzente setzt er dabei im liedmusikalischen Aufgreifen des lyrischen Textes, und in welche Aussage-Richtung weisen sie? Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Handhabung des Prinzips der Wiederholung und die damit einhergehende Gestaltung der melodischen Linie.

    Den schweifenden, große tonale Räume durchmessenden Gestus des Klaviersatzes weist auch die Melodik des Liedes auf. Auf den Worten „verbirg dich, Sonne“ liegt, ihren imperativischen Charakter reflektierend, eine schlichte, mit einem Terzsprung einsetzende und anschließend, nach einer Dehnung auf der Silbe „-birg“, in eine sich über eine ganze Oktave erstreckende Fallbewegung. Aber schon beim nächsten Vers der ersten Strophe geht die melodische Linie in Gestalt von Achtel-Terzschritten erfolgende und das große Intervall einer Undezime einnehmende Aufstiegsbewegung über, um bei dem Wort „Wonne“ in einen lang gedehnten Sekundfall in hoher Lage überzugehen. Und diesen Gestus der gedehnten Bewegung in hoher Lage behält sie bei den Worten „versengen mein Gebein“ erst einmal bei, bevor sie dann am Ende einen vierschrittigen und in eine Dehnung mündenden Sekundfall beschreibt.

    Dem Wort „versengen“ wird dabei nicht nur durch die doppelte Dehnung in Gestalt eines Sekundanstiegs und eines Sekundfalls, die sich auf ihm ereignen, ein starker Akzent verliehen, sondern auch durch die dabei erfolgende expressive harmonische Rückung von h-Moll nach Fis-Dur. Diese für den Charakter der Liedmusik ganz typischen Ereignisse im Bereich von Melodik und Harmonik wiederholen sich bei den nächsten drei Versen der ersten Strophe noch einmal, denn auf ihnen liegt bis zu den Worten „und lass mich allein“ die gleiche Melodik mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz.

    Bei den Worten „und lass mich allein“ greift Schubert erstmals zum Mittel der Wiederholung. Und dies nicht etwa unter Beibehaltung der melodischen Bewegung, sondern unter Nutzung der expressiven Möglichkeiten, die die Variation derselben in sich birgt. Das wird er in diesem Lied noch mehrfach, und am Ende gar in exzessiver Weise tun, und es ist ganz offenkundig, dass es ihm dabei darum geht, den lyrischen Aussagen, denen für ihn, nach seinem Verständnis der Verse Mayrhofers, besondere Bedeutung zukommt, weil sich in ihnen die Haltung des lyrischen Ichs ausdrückt, besonderen musikalischen Nachdruck zu verleihen.

    Auf den Worten „lass mich“ und „allein“ liegt jeweils eine melodische Dehnung in Gestalt eines Sekund-, bzw. eines Terzsprungs in hoher Lage. Und nicht nur dies verleiht ihnen einen starken Akzent, sondern auch die Tatsache, dass die Harmonik an dieser Stelle die ganz und gar ungewöhnliche Rückung vom vorangehenden G-Dur nach As-Dur und Des-Dur vollzieht und die Dynamik ins Fortissimo ausbricht. Bei der Wiederholung liegt dann auf „lass mich“ ein, nun in des-Moll harmonisierter Sekundfall in hoher Lage, der sich bei „allein“ zunächst fortsetzt, dann aber in einen Sekundsprung zu einem hohen „Es“ übergeht und dort in einer langen, taktübergreifenden Dehnung verharrt. Nicht nur die harmonische Rückung von des-Moll nach As-Dur, sondern auch die Tatsache, dass das Klavier hier nicht nur im Bass, wie bislang kontinuierlich, sondern auch im Diskant Tremoli erklingen lässt, und das fortissimo, lässt vernehmlich werden, welch großes Gewicht dieses appellative „lass ich allein“ für Schubert gehabt haben muss.

  • „Auflösung“ (II)

    Bei den beiden ersten Versen der zweiten Strophe kommt es erneut zur Wiederholung von lyrischem Text. Die Worte „aus allen Falten meiner Seele liebliche Gewalten“ werden noch einmal deklamiert, und dies auf einer melodischen Linie, die anfänglich identisch ist, bezeichnenderweise aber bei den Worten „liebliche Gewalten“ eine Variation erfährt. Der schweifende Gestus der Melodik, wie man ihn bereits aus der ersten Strophe kennt, setzt sich hier fort und erfährt sogar eine Steigerung. Nach einem schwungvoll anmutenden, weil nach einer Fallbewegung in einen über Quart- und Terzsprünge erfolgenden Aufstieg der melodischen Linie aus tiefer in hohe Lage geht sie in der für sie typischen Weise immer wieder in gedehnte Fall- und Sprungbewegungen über, die sich mit den zwischengelagerten Einzelschritten über große tonale Räume erstrecken.

    Bei den Worten „die mich umschlingen“ beschreibt die melodische Linie eine aus einer Dehnung auf „die“ hervorgehende und bis in obere Mittellage ausgreifende bogenförmige Bewegung, und danach geht sie bei den Worten „himmlisch singen“ erneut zur Entfaltung großer Expressivität in Gestalt einer weit ausgreifenden Dehnung in hoher Lage mit nachfolgendem Fall und Wiederanstieg in Achtel-Schritten über, und es wiederholt diese Bewegung, die in einer Rückung von Fis-Dur nach H-Dur harmonisiert ist, sogar noch einmal. Das Klavier unterstützt sie dabei, indem es, abweichend von seinen sonstigen, sich im Auf und Ab entfaltenden Sechzehntelfiguren nun im Diskant eine ansteigende Folge von Sechzehnteln erklingen lässt, denen danach Sprünge über größere Intervalle folgen.

    Nun ist Schubert bei den beiden letzten Versen von Mayrhofers Gedicht angelangt, und bemerkenswert ist, was sich dabei liedmusikalisch ereignet. Um die vorangehenden zehn Verse in eine ihre lyrische Aussage in adäquater Weise erfassende Melodik umzusetzen, benötigte er eine Liedmusik von insgesamt 33 Takten. Und exakt diesen Umfang nimmt auch die Melodik auf den beiden letzten Versen ein. Ganz offensichtlich verdichtet sich in ihnen für ihn die dichterische Aussage dieses Gedichts, so wie er dieses rezipiert und interpretiert hat. Mit der Aufforderung „Geh unter Welt“ knüpft der lyrische Text an die appellativen Verse der ersten Strophe an, „Welt“ ist insofern der allumfassende Begriff, der „Sonne“, „Töne“ und „Frühlings Schöne“ beinhaltet, so dass den Schlussversen bei Mayrhofer kein sonderlich herausragendes Gewicht zukommt. Bei Schubert aber gewinnen sie das schon rein quantitativ dadurch, dass er daraus ein „Geh unter, geh unter Welt“ macht und dieses zunächst vier Mal deklamieren lässt, um dann in epiloghafter Weise die Worte „Geh unter, Welt, geh unter Welt, geh unter“ anzufügen.
    Und natürlich ist, um die dahinter stehende kompositorische Aussage-Intention zu erfassen, ein Hinhören auf die Liedmusik erforderlich und insbesondere ein Blick auf die diesen Worten zugewiesene Melodik und ihre Einbindung in den melodischen Kontext, wie er sich aus den übrigen Worten des letzten Verspaars konstituiert.

    Schon beim ersten Auftritt dieses „Geh unter“-Appells zeigt sich der Gestus der Melodik, die auf ihm liegt. Es ist ein wesenhaft eindringlicher, wie eine Beschwörung anmutender. Und dies dadurch, dass auf dem ersten „geh unter“ eine Tonrepetition liegt, die auf der ersten Silbe von „unter“ eine Dehnung aufweist, wodurch dieses Wort eine Akzentuierung erfährt. Beim zweiten „geh unter“ setzt die melodische Linie dann aber nach einer Achtelpause mit einem Terzsprung ein und geht danach in einen verminderten Sekundfall über, der wiederum leicht gedehnt ist und danach über einen weiteren Fall, nun aber über eine große Sekunde, in eine Dehnung auf dem Wort „Welt“ mündet. Das Klavier begleitet diese so eindringliche melodische Figur mit sforzato ausgeführten und in e-Moll harmonisierten Tremoli in Bass und Diskant. Und sie kehrt bei der Wiederholung in strukturell nur minimal abgewandelter, nämlich in der ersten Dehnung auf „unter“ verkürzter Gestalt wieder, und das gilt auch für die neuerliche Wiederholung, die sich im Zusammenhang mit der Wiederkehr der ganzen Liedmusik auf den letzten beiden Versen ereignet.

  • „Auflösung“ (III)

    Der melodischen „Geh unter“-Figur folgt - sich wiederholend – auf den Worten „und störe nimmer die süßen, die süßen ätherischen Chöre!“ eine Melodik nach, die mit der schwunghaften, in mehrfachen Legato-Sprüngen über große Intervalle sich ausdrückenden Emphase, in der sie sich entfaltet, ein geradezu suggestives Potential aufweist, das so sehr ausgeprägt ist, dass die melodischen Linie bei der Wiederholung der Worte „ätherischen Chöre“ einen regelrechten Ausbruch in Gestalt eines Sextsprungs zu einem hohen „A“ vollzieht, um sich dort einer höchst expressiven, weil lang gestreckten Fallbewegung zu überlassen, die bei dem Wort „Chöre“ in eine neuerliche, zwei Takte einnehmende, aber auf der tonalen Ebene eines „D“ in oberer Mittellage verbleibende Dehnung übergeht. Das Klavier begleitet hier mit ebenfalls expressiven, weil zwei Oktaven überspannenden und in ein Auf und Ab von Einzeltönen und Terzen mündenden Sechzehntelfiguren im Diskant über Tremoli im Bass, und die Harmonik vollzieht die ausdrucksstarke Rückung von einem anfänglichen A-Dur nach der Tonika G-Dur.

    Diese Melodik auf den Worten „und störe nimmer die süßen ätherischen Chöre“ empfindet man in ihrer durch sprunghafte und sich darin steigernde Ausbrüche geprägten Emphase als in kontrastiver Spannung stehend zu jener, die mit ihren permanent wiederkehrenden Tonrepetitionen auf dem appellativen „Geh unter, Welt“ so überaus eindringlich wirkt. Und es ist eben dieser Kontrast, der – auch durch die hohe Expressivität, die er durch die Wiederholung entfaltet – vernehmlich und erkennbar werden lässt, worauf Schuberts Liedmusik in seinem Verständnis der Verse Mayrhofers kompositorisch-intentional ausgerichtet ist.

    Es ist mehr als das, was sich in diesen ausdrückt. Im Grunde ist es die liedmusikalische Evokation einer existenziellen Entgrenzungs-Erfahrung im Sinne einer Aufhebung der lebensweltlich bedingten Individuation durch ein rauschhaftes Sich-Versenken in die eigene seelische Innenwelt, wie das die Poetik der Romantik als visionären künstlerischen Entwurf entwickelt hat.
    Deshalb also die weit über Mayrhofers poetische Intentionen hinausgehende – und sie umdeutende – Exposition der lyrischen Aussagen des letzten Verspaares mitsamt der permanenten Wiederholung der Worte „Geh unter, Welt“ unter liedmusikalisch-melodischer Herausstellung ihres beschwörend-appellativen Charakters.

    Und damit wird auch die eigenartige melodische Gestalt verständlich, die sie melodisch bei der letzten Wiederholung nach dem so überaus expressiven, in den Fortissimo-Bereich vorstoßenden Ausbruch der Liedmusik in die Emphase bei dem Wort „ätherischen Chöre“ und dem nachfolgenden fast dreitaktigen Zwischenspiel annehmen. Unter dynamischer Zurücknahme ins Pianissimo deklamiert die Singstimme die Worte „Geh unter, Welt, geh unter, Welt, geh unter!“ wie im Gestus eines Stammelns ausschließlich auf einem „D“ in tiefer Lage mit einer zweimaligen Anhebung der tonalen Ebene in Gestalt eines verminderten Sekundsprungs, um dann am Ende mit einem Sextsprung in einen lang gedehnten, nämlich sich in Gestalt einer ganzen und einer halben Note ereignenden Terzfall auf dem Wort „unter“ überzugehen. Das alles in G-Dur-Harmonisierung und unter Begleitung mit permanenten Tremoli in Diskant und Bass durch das Klavier.

    Man kann das in diesem epilogischen und von einem deklamatorischen Stammel-Gestus geprägten Charakter der Liedmusik durchaus so verstehen, als befinde sich das lyrische Ich bereits im Stadium der Versenkung in die eigene seelische Innenwelt.

  • Rückblick

    Mit dem Lied „Auflösung“ soll die Besprechung der Kompositionen Schuberts auf Texte von Mayrhofer meinerseits erst einmal abgeschlossen sein. Dreiundzwanzig davon wurden vorgestellt und besprochen. Hinzuzufügen ist, - und dies aus rein sachlichen Gründen, weil der Rückblick es eben zeigt: Einen Beitrag dazu aus dem Tamino-Forum gab es nicht, nicht einmal einen Kommentar in wenigen Worten.

    Dreiundzwanzig, das ist gerade mal knapp die Hälfte der Lieder, die Schubert auf Mayrhofer-Gedichte komponierte, 47 nämlich sind es. Nimmt man die Mayrhofer-Libretti hinzu, dann hat Schubert fast so viele Lieder auf Mayrhofer-Texte verfasst wie auf die Lyrik Goethes. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, liegen doch, was die literarische Qualität der Lyrik anbelangt, Welten zwischen den beiden, erklärt sich aber aus den Motiven, die Schubert zum kompositorischen Griff nach Mayrhofers bewegten. Sie gründeten in der Tat in der Freundschaft, die beide verband und in der kurzzeitigen Lebensgemeinschaft eine Art Höhepunkt erlebte.

    Es wäre aber ein völliges Verkennen des Sachverhalts, wenn man in diesen Liedkompositionen so etwas wie einen Freundschaftsdienst sähe. Einmal ganz abgesehen davon, dass ein Franz Schubert sich zu dergleichen nicht hergegeben hätte:
    Diese Freundschaft zwischen den Beiden war, wie überhaupt die Bindung all jener untereinander, die dem sog. „Schubert-Freundeskreis“ angehörten, zu einem hohen Grade eine „im Geist“, in der künstlerischen Lebenshaltung und den sie leitenden Ideen.

    Die sog. „Schubertiaden“ waren, wie Roland Barthes das einmal auf höchst treffende Weise ausgedrückt hat, nicht nur eine „Vergesellschaftung des affektiven inneren Hörraumes“, in dem sich über das Medium der Musik eine Entrückung in eine, die reale der Metternich-Restauration transzendierende, „beßre Welt“ ereignete. In ihnen, wie in den „Freundeskreisen“, wurde versucht, nach den Worten Friedrich Reichardts: „Freiheit, Wahrheit, Liebe und edler Wirkungstrieb machen das wahre Leben des Künstlers aus“ zu leben, zu denken und zu fühlen. Und die musikalische Gattung, in der sich das am reinsten realisieren ließ, war für Reichardt - aber auch für Schubert und seine Freunde – das Lied.

    Der Kultur der griechischen Antike und den Figuren ihrer Mythologie kam dabei eine große Bedeutung zu, sie lieferte gleichsam die Leitbilder, an denen man sich beim geistig-künstlerischen Aufbau der neuen, besseren Welt orientierte.
    Bei Mayrhofer war das, auch ganz persönlich in seiner Suche nach einem inneren Halt, ganz besonders stark ausgeprägt. Von den 34 „Antikenliedern“ Schuberts stammt der zugrundliegende lyrische Text in 15 Fällen von Mayrhofer. Die Tatsache, dass dieser häufig als lyrisches „Seelendrama“ angelegt war, wurde für Schubert zum Anlass, sich der Entwicklung des „szenisch-dramatischen Gesangs“ (Walther Dürr) zu widmen.
    Auf die spezifische Eigenart der daraus hervorgehenden Liedsprache in ihrer Prägung durch dramatische, rhetorisch-rezitativische und ariose Passagen wurde in den voranstehenden Liedbesprechungen in der jeweils gebotenen Weise aufmerksam gemacht.

  • Den anregenden Monolog Helmut Hofmanns in diesem Thread unterbreche ich, weil ich mich momentan mit Schubert und dieser Tage konkret mit seinem Liedwerk beschäftige. Ohne dass ich den wie immer qualitativ hochwertigen Ausführungen Helmuts noch etwas hinzufügen könnte, möchte ich einige Bemerkungen der Rahmenbeiträge zum Anlass nehmen mich zu äußern.


    Ich stelle fest, dass meine ganz persönliche Vorliebe für die Mayrhofer-Lieder Schuberts insgesamt deutlich geringer ist, als für die Schiller- oder Goethe-Lieder. Unter meinen etwa 70 liebsten Schubert-Liedern sind deren 6 von Mayrhofer. Woran das liegt habe ich mich gefragt. Ein Hinweis findet sich im Fazit-Beitrag Helmut Hofmanns: Die poetische Qualität einer zu Grunde liegenden Dichtung ist von gewisser Bedeutung. Wie glücklich fügen sich z.B. in den Schiller-Liedern (denen ich persönlich oft noch vor den Goethe-Liedern den Vorrang gebe) Wort und Ton zu einer poetischen Einheit zusammen, oft scheinbar spielerisch einfach und natürlich (statt künstlich-artizifiell). Ich denke zum Beispiel an eines meiner Lieblingslieder "Der Pilgrim" D 794. Die Beispiele ließen sich sehr lange fortführen. Mayrhofers Dichtung möchte ich nicht einmal generell abqualifizieren - es finden sich allemal glückliche und vollendete Verse - und doch ist sie im Vergleich zu den großen Meistern oft ungelenk und einfach. Seine Vorliebe für metaphorisch-antike Stoffe kann es mit Goethe nicht aufnehmen und gleichzeitig fehlt seinen volkstümlicheren Liedern die unbeschwerte Direktheit eines Wilhelm Müller.

    Dieser Befund führt zum zweiten von Helmut Hofmann diesem Thread mitgegebenem Leitgedanken: Die Freundschaft zwischen Schubert und Mayrhofer. Hier scheint es eine interessante Wechselwirkung gegeben zu haben: Mayrhofer wird attestiert durchaus 'melodisch' gedichtet zu haben und die Vollendung seiner Werke teilweise erst in deren Vertonung durch Schubert gesehen zu haben. Schubert wiederum profitierte gewiss vom lebhaften Austausch über das Verhältnis von Poesie und Musik und den poetisch geschulten Ansichten seines Freundes .


    Meine liebsten Mayrhofer-Lieder sind nun auf der einen Seite unter den, wie ich finde, stärkeren Dichtungen Mayrhofers bzw. unter den sehr starken Kompositionen Schuberts, in denen die musikalische Gestaltung mich über die Maßen in den Bann zieht. Dieser Lieder wurden hier teilweise vorgestellt, teilweise aber auch weg gelassen:

    "Liane" D 298

    "Rückweg" D 496

    "Fahrt zum Hades" D 526

    "Memnon" D 541

    "Heliopolis I" D 753

    "Gondelfahrer" D 808

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)