Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832):
IPHIGENIE AUF TAURIS
Drama in fünf Akten nach der „Orestie“ von Aischylos und der „Iphigenie bei den Taurern“ von Euripides
Uraufführung am 6.April 1779 im herzoglichen Privattheater in Weimar
DIE PERSONEN DER HANDLUNG
Iphigenie
Thoas, König der Taurier
Orest
Pylades
Arkas
Ort und Zeit: Hain vor Dianas Tempel auf der Insel Tauris einige Jahre nach dem Krieg um Troja.
Vorgeschichte:
Eine Vision des Sehers Kalchas beinhaltete die Opferung von Agamemnons Tochter Iphigenie, damit die griechische Flotte auf dem Weg nach Troja günstige Winde haben möge. Allerdings nahm die Göttin Diana dieses Opfer nicht an; sie rettete Iphigenie und entführte sie nach Tauris. Das nun folgende Drama spielt zehn Jahre später.
ERSTER AKT
Erste Szene
Iphigenie ist Priesterin der Göttin Diana (griechisch Artemis) auf der Insel Tauris. Sie lebt dort seit zehn Jahren, seit die Göttin sie vor dem Opfertod gerettet hat. Für diese Rettung ist sie zwar Diana dankbar, aber sie hat Heimweh zu ihrer Familie. Auf Tauris ist sie nie heimisch geworden, immer eine Fremde geblieben. Das liegt, wie sie sich eingesteht, auch hauptsächlich an König Thoas, der sie nicht ziehen lassen will. Gerade betet sie zur Göttin Diana, dass sie wieder mit ihrer Familie vereint wird, denn ohne die ihr vertrauten Menschen kann sie niemals glücklich werden.
Zweite Szene
Arkas, ein Freund von Thoas, kündigt Iphigenie die Rückkehr des Königs und seinem Heer an. Ihm fällt sofort ihre Niedergeschlagenheit auf; als er sie darauf anspricht, gesteht sie ihm ihr Heimweh. Das sind jedoch für Arkas Zeichen der Undankbarkeit sowohl gegenüber der Göttin Diana als auch des Königs. Zugleich schmeichelt er ihr aber auch mit dem Hinweis auf ihre eigenen Wohltaten für die Einwohner von Tauris. Er erinnert sie daran, dass der menschenverachtende Brauch, dass Fremde, die auf die Insel kommen, der Göttin geopfert werden mussten, abgeschafft wurde. Er weist Iphigenie auch auf den wohltuenden Einfluss Wohltat auf Thoas hin, dessen getrübte Seele sie aufgehellt habe. Sie ist, so Arkas, die einzige Person, der Thoas nach dem Tode seines Sohnes noch vertraut. Als Arkas ihr dann aber erklärt, dass der König um ihre Hand anhalten will, versetzt er Iphigenie einen Schlag in den Magen. Sie richtet sich auf und gibt ihm zur Antwort, dass eine Ehe mit dem König für sie nicht in Frage kommt. Arkas reagiert mit der Empfehlung, den Antrag des Königs anzunehmen, weil die Ablehnung eine Beleidigung für Thoas wäre. Er lässt sie stehen und die verzweifelte Iphigenie fleht Diana an, sie vor der Heirat mit Thoas zu bewahren.
Dritte Szene
Thoas tritt auf und bittet Iphigenie, wie von Arkas angekündigt, sie zum Segen seines Volkes und zu seinem eigenen als Braut in sein Schlafgemach führen zu dürfen. Ihre Reaktion ist, wie zu erwarten war, eine ablehnende. Iphigenie nennt ihm natürlich auch den Grund: Es hat nichts mit ihm zu tun, sondern es ist ihre Sehnsucht nach der Heimat und der Familie. Um seine Entscheidung zu ihren Gunsten zu beeinflussen, erzählt sie ihm von ihrer Abkunft aus dem Haus des Tantalus: Dessen Nachkommen sind nach einem alten Fluch verurteilt, einander zu töten. Doch Thoas nimmt diese Aussage nicht ernst, sondern verschärft den Ton ihr gegenüber. Iphigenie gibt aber nicht auf und beruft sich nun auf die Göttin Diana, die allein ein Recht auf ihr geweihtes Leben habe. Thoas aber weist das zurück und droht, bevor er zornig abgeht, die auf ihre Bitten hin abgeschafften Menschenopfer wieder aufzunehmen. Iphigenie bleibt ratlos und enttäuscht zurück.
Vierte Szene
Iphigenie hält einen Monolog, indem sie die Göttin Diana um Hilfe anfleht, keine unnötigen Opfer bringen zu müssen.
ZWEITER AKT
Erste Szene
Orest und Pylades treten auf und Orest erklärt seinem Gefährten, dass er nach dem Mord an seiner Mutter von einem Fluch verfolgt wird. Verzweifelt hat er sich an Apollo um Hilfe gewandt und der Gott hat ihm durch das Orakel von Delphi den Befehl eingegeben, seine Schwester Iphigenie nach Hause zu holen. Den Auftrag nehmen Orest und Pylades sofort an, doch haben sie auch das berühmte Standbild der Göttin Diana im Blick, das sie nach Griechenland entführen wollen. Am Strand auf Tauris angekommen werden sie von den Soldaten des Thoas' entdeckt und sofort gefangen genommen. Dadurch verliert Orest alle Hoffnung und er vermutet, dass man sie nach dem hier gelten uralten Brauch der Göttin Diana opfern wird. Pylades jedoch weiß es besser: dieses blutige und menschenverachtende Opfer ist durch die Priesterinnen der Diana eingestellt worden.
Zweite Szene
Iphigenie trifft auf Orest und Pylades, der sich ihr allerdings als Cephalus vorstellt und Orest als Laodamas. Er behauptet, dass sie Brüder seien und Laodamas wegen eines Erbstreites einen Mord begangen habe. Daraufhin hätten die Götter ihn mit einem Fluch belegt. Iphigenie spricht jedoch über den Verlauf des Trojanischen Krieges und Pylades erzählt ihr von dem Fall Trojas und dem Tod vieler griechischer Helden. Da er allerdings kein Wort über König Agamemnon, ihren Vater, verliert, glaubt sie, dass er noch lebt. Das verstärkt ihr Heimweh und nährt gleichzeitig die Hoffnung, dass sie ihn wiedersehen wird. Pylades jedoch holt sie in die Realität zurück
und berichtet von dem Mord an Agamemnon durch dessen Gemahlin Klytemnästra und deren Liebhaber Aegisth. Diese Information stürzt Iphigenie in eine tiefe Trauer und lässt sie den Schauplatz schnell verlassen. Pylades bleibt allein zurück und fragt sich, ob sie vielleicht Agamemnon gekannt hat.
DRITTER AKT
Erste Szene
Iphigenie und Orest treten auf und sie erkennt in ihm nicht ihren Bruder. Sie befragt ihn nach den Kindern des Königs Agamemnon und Laodamas berichtet von der Ermordung ihrer Mutter und ihres Geliebten durch einen gewissen Orest. Iphigenie reagiert bestürzt und will von ihm wissen, was aus jenem Orest geworden ist. Nach einem kurzen Zögern gibt er sich als Orest zu erkennen. Aus der Freude heraus, dass sie ihren Bruder endlich vor sich stehen sieht, nennt sie ihm ihren Namen. Orest zeigt jedoch kaum Wiedersehensfreude, lässt im Gegenteil erkennen, dass er sich umbringen will. Er versucht sie zu überzeugen, ohne ihn, nur mit Pylades, von der Insel zu fliehen – plötzlich sackt er jedoch in sich zusammen und sinkt bewusstlos zu Boden. Iphigenie fleht kopflos von dem Ort.
Zweite und dritte Szene
Als Orest kurz darauf aus seiner Ohnmacht erwacht, hat er eine Vision: er sieht seine Ahnen, die im Orkus friedlich und versöhnt beieinander sitzen; er bildet sich ein, in der Unterwelt zu sein. Als er sich dann auch einbildet, Iphigenie auf sich zukommen zu sehen, wünscht er sich, dass auch seine andere Schwester Elektra kommt. Ihm scheint, dass der „Fluch der Tantaliden“ von ihm genommen wird. Derweil betet Iphigenie zur Göttin Diana und bittet sie um die Heilung des Bruders. Dem wird in diesem Moment bewusst, dass er einer Vision erlegen war, denn jener Fluch löst sich und Orest nimmt Iphigenie in seine Arme. Pylades kommt hinzu und dringt eilig zur Flucht.
VIERTER AKT
Erste Szene
Orest, Pylades und Iphigenie sprechen über die Flucht. Sie glaubt fest daran, dass sich das Vorhaben in die Tat umsetzen lässt, hat aber trotzdem Gewissensbisse, weil sie Thoas hintergehen wird. Und sie ist sich sicher, dass der König das auf jeden Fall mit Gewalt zu verhindern suchen wird.
Zweite Szene
Arkas tritt zu Iphigenie und erinnert sie daran, dass der König auf das zu feiernde Opfer warte; er gibt an, dass – nach seinem Eindruck – der Herrscher des Wartens müde ist und allmählich die Geduld verliert. Iphigenie entschuldigt sich bei Arkas mit dem Hinweis, dass durch den versuchten Diebstahl des Diana-Bildes die heilige Stätte entweiht wurde. Daher musste sie eine Reinigung veranlassen. Arkas will gehen um König Thoas zu informieren, Iphigenie ihn jedoch zurückhalten, doch Arkas lässt sich nicht aufhalten.
Dritte Szene
Iphigenie macht in einem Monolog deutlich, dass sie gegenüber den Bewohnern von Tauris Schuldgefühle hegt. Außerdem muss sie an den Zorn der Götter denken, deren Auswirkungen sie fürchtet.
Vierte Szene
Pylades erzählt Iphigenie von der Heilung ihres Bruders und fügt hinzu, dass das Wiedersehen mit ihr daran einen großen Anteil habe und seinen Seelenzustand präge. Er macht sich aber noch immer Gedanken, wie man die Diana-Statue in die Heimat mitnehmen kann. Das gefällt Iphigenie nicht; sie sieht darin einen Verrat an Thoas und dem Volk der Taurer. Pylades beharrt jedoch auf dem Diebstahl und rät ihr, Zweifel zu zerstreuen und an die Flucht zu denken.
Fünfte Szene
Iphigenie muss einen inneren Konflikt austragen: Einerseits stimmt sie der Flucht mit Orest und Pylades zu, andererseits will sie die Götter nicht verprellen und wünscht sich deren Zustimmung zu der Flucht von Tauris. Unweigerlich kommt ihr das Lied der Parzen in den Sinn, indem von der Macht der Götter und das niedrige Dasein der Menschen gesungen wird.
FÜNFTER AKT
Erste Szene
Zunächst ist Arkas allein auf der Szene und lässt in einem kurzen Monolog erkennen, dass er von einer möglichen Flucht der Griechen ahnt, er hat nämlich von
entsprechenden Gerüchten gehört. Als König Thoas hinzukommt, teilt er ihm genau diese Gerüchte mit. Thoas reagiert zunächst ungläubig, befiehlt Arkas dann, Iphigenie zu ihm zu bringen und für gründliches Absuchen der Gegend zu sorgen. Alle Gefangenen sollen dann vor ihn gebracht werden.
Zweite Szene
Thoas führt einen Monolog, der jeden Zweifel über seine Haltung zu der Priesterin Iphigenie beseitigt: Sie hat ihn hintergangen und muss bestraft werden. Aber er ist Manns genug, die eigene Nachsicht ihr gegenüber einzugestehen und damit auch einen Teil der Schuld zu tragen.
Dritte Szene
Als Arkas mit Iphigenie kommt, fragt er sie sofort, warum das Menschenopfer aufgeschoben wurde. Sie erklärt ihm in einem heftigen Gefühlsausbruch den Grund: Menschenopfer lehnt sie als barbarisch grundsätzlich ab. Thoas hat mit diesem Ausbruch nicht gerechnet; er ahnt, dass es eine Verbindung von Iphigenie zu den Gefangenen geben muss – und er sagt es ihr auf den Kopf zu. Sie sieht keine andere Möglichkeit mehr, als das Geheimnis zu lüften. Damit legt sie natürlich das eigene und das Schicksal von Orest und Pylades in Thoas' Hand.
Vierte Szene
Orest will die Flucht mit Gewalt erzwingen und steht mit gezogenem Schwert vor Thoas, der im selben Moment natürlich auch seine Waffe gezogen hat. Den bevorstehenden Kampf verhindert allerdings Iphigenie, indem sie auf ihren Bruder ruhig, aber mit Bestimmtheit einredet. Und der lässt tatsächlich nach kurzer Zeit sein Schwert fallen und stimmt einer Unterredung mit Thoas zu.
Fünfte Szene
In dieser Szene mahnt Pylades die Schiffsbesatzung, die Flucht endlich anzugehen. Arkas kommt hinzu und ist erstaunt über diese Zusammenkunft und deren Folgen für Tauris. Umgehend eilt er zu Thoas um ihn nicht nur über die Fluchtpläne zu informieren, sondern auch über seine eigenen Gegenmaßnahmen: er hat den Soldaten befohlen,das Schiff der Griechen und die Mannschaft festzuhalten. Zu Arkas' Erstaunen ordnet Thoas an, die Fremden nicht anzugreifen, mit ihm jedoch ans Ufer zu gehen um die Situation zu entschärfen.
Sechste und letzte Szene
Am Ufer angekommen verlangt Thoas einen Beweis für die Behauptung, dass Orest der Bruder von Iphigenie ist. Daraufhin zeigt Orest dem König das Schwert, das seinem Vater Agamemnon gehörte. Er fordert Thoas zu einem Duell, das dieser auch annimmt. Doch wieder verhindert Iphigenie einen Zweikampf. Der König legt schließlich alle gehegten Zweifel ab und ist bereit, Orest als Bruder der Iphigenie anzuerkennen. Aber er besteht auf seiner Bestrafung für den geplanten Diebstahl der Bildnisstatue Dianas. Weil Orest jedoch diesen Fehler als seine Schuld eingesteht, zieht Thoas nach kurzer Überlegung sein Urteil zurück. Orest erklärt weiter, dass er nach Tauris gekommen war, um die Schwester Iphigenie, auf Anordnung des Gottes Apollo, heimzuholen. Damit sollte, so hat er Apollo verstanden, der „Fluch der Tantaliden“ auf ewig ausgelöscht werden. Orest bittet Thoas, mit Iphigenie und Pylades gehen zu dürfen. Und den Wunsch erfüllt Thoas ihm – er wünscht allen Lebewohl...
© Manfred Rückert für den Tamino-Schauspielführer 2021