Traue Deinen Ohren! Wider den Abstreiter-Fundamentalismus in Sachen Hifi, der die Forenwelt erobert

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    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    Persönliche Vorbemerkung


    Dem Alter sagt man nach, dass es zu einer gewissen Verklärung der Vergangenheit neigt, in dem doch sehr selbstgefälligen Gejammere: „Oh – ja! Früher, da war doch alles viel, viel besser!“ Obwohl ich mit über vier Jahrzehnten Erfahrung sicher zu den „Hifi-Opas“ gehöre, liegt mir eine solche Sentimentalität durchaus fern. Auch ich bin inzwischen mit der Zeit gegangen, stimme meine Hifi-Anlage nicht mehr nur nach Gehör ab. Noch gerade rechtzeitig vor dem Corona-Lockdown kaufte ich mir passend zu meinen neuen Lautsprechern einen Verstärker, den Yamaha RN 803D, mit der Möglichkeit der elektronischen Einmessung. Als Zubehör gibt es da ein Mikrophon, was den Frequenzgang misst. Die Software des Geräts beseitigt anschließend mathematisch exakt auffallende und störende Welligkeiten, indem sie etwa die Bassanhebung der Boxen eliminiert, die bei mir durch die wandnahe Aufstellung entstehen kann. Das alles ist ohne Frage ein Segen - nur benutze ich diese technische Möglichkeit durchaus nicht immer – sondern vermeide sie sogar, wenn es nur irgend geht. Wie bei meinem alten Yamaha AX 930, von dem ich mich nach über drei Jahrzehnten trennen musste, benutze ich in der Regel die Yamaha typische Direkt-Schaltung, wo die komplette Klangregelung inclusive Einmessung umgangen wird, also abgeschaltet ist, weil es so für meine Ohren einfach „schöner“ klingt. Der gewisse Hochtonglanz, der das Ohr becircen kann, weicht mit aktiver Klangregelung einer zur unpersönlichen Sachlichkeit neigenden, glanzlosen Nüchternheit. Als ich darüber in einem Hifi-Forum schrieb, wurde ich dann doch überrascht von der Welle kompletten Unverständnisses, die mir da entgegenschlug. Wie kann ich nur meinen Ohren vertrauen, wenn die Messtechnik die Abstimmung der Anlage doch viel präziser und immer absolut richtig vornehmen kann? Ich erweckte den Eindruck eines unbelehrbaren „Alten“, der noch mit einem Bein in der Vergangenheit steht und den Sprung in die Welt von heute nicht wagen will, wo eben – so meinen die Technik affinen Foren-User heute – nicht mehr gehört, sondern nur noch gemessen wird. Kein Ohr ist doch so präzise und zuverlässig wie ein absolut unbestechliches Messgerät! Die ganze „Diskussion“ gipfelte dann darin, dass ich mich als Unbelehrbarer, uneinsichtiger Dummkopf und – natürlich – Subjektivist und Illusionist beschimpfen lassen musste. Und weil solche und ähnliche Diskussionen immer wieder so geendet haben, reifte dann in mir der Entschluss, dass die Zeit nun endlich so weit ist, das Kapitel meiner Hifi-Foren-Aktivität endgültig abzuschließen.


    Ich erlaube mir, noch ein wenig zurück zu blicken, damit der Leser versteht, woher mein Gefühl der Entfremdung von der Hifi-Forenwelt herkommt, nicht zuletzt, weil ich weiß, dass es nicht wenigen meiner gleichgesinnten, altbekannten Foren-Bekannten und -Freunden ähnlich ergangen ist. Foren sind eine der erfolgreichsten und wirklich populär gewordenen Errungenschaften des Internet-Zeitalters. Schnell und leicht kommt man an Informationen und knüpft Kontakte mit netten und interessanten Menschen, gerade wenn es wie beim Thema Hifi auch um Technik geht. So etwas war früher einfach nicht möglich, dass man gerade ein „Problem“ entdeckt und im nächsten Moment schon die Antwort erhält – ohne den umständlichen Weg zu einem Händler, einer Hifi-Werkstatt zu gehen oder eine Bibliothek aufzusuchen, um Bücher zu wälzen, was alles unter Umständen Stunden und Tage dauern kann. Die Hemmschwelle der Kontaktaufnahme erleichtert auch noch die Foren-Anonymität. Naiv und leichtsinnig wie ich bei meinem ersten Eintritt in die Forenwelt war – und dies war in ein Hifi-Forum – habe ich darauf verzichtet. Dass hat mir einerseits viele wirklich angenehme Bekanntschaften und freundschaftliche Kontakte wechselseitigen Gebens und Nehmens beschert, aber leider auch – eben ohne die schützende Anonymität – so manchen Shitstorm von Beschimpfungen und Beleidigungen unter der Gürtellinie. Damit habe ich aber gelernt umzugehen. Was mir persönlich die Foren-Aktivität verleidet hat, ist etwas anderes, nämlich der mit den Jahren immer mehr zunehmende Verlust einer Diskussionskultur. In ein Hifi-Forum habe ich mich letztlich nicht begeben, nur um praktische Tips beim Anlagenkauf oder der Lösung von gewissen Alltagsproblemen im Umgang mit der Hifi-Anlage zu erhalten. Dafür braucht man in einem solchen Forum nur sporadisch präsent zu sein. Nein, mir ging es um interessante Diskussionen von allen Sachfragen, die mit dem Thema Hifi zu tun haben. Bei einem „Hobby“ ist eigentlich auch selbstverständlich, dass zu ihm der Austausch von unterschiedlichen Meinungen, Denkweisen und Denkansätzen gehört. In einem Motorrad-Club treffen schließlich auch Liebhaber unterschiedlicher „Philosophien“ aufeinander, wie man am schönsten und besten über die Straße rollt: rasant mit einer sportlichen BMW- oder Yamaha-Maschine oder aber bequem und entspannt auf einer gemütlichen Harley-Davidson. Der einzelne Motorradliebhaber wird in seinem Club auch gerne erzählen oder sich vielleicht auch einmal darüber mit seinen Kameraden streiten, was die wirklichen Vorzüge eines tollen Motorrads sind und warum er die Vorlieben seines Motorradfreundes, mit dem er gerade ein Bier trinkt, nicht teilt. „Streit“ gehört also zur Geselligkeit von Hobbyisten dazu – er macht das Club-Leben spannend und interessant. Wer nichts wirklich liebt und wem alles im Prinzip gleichgültig ist, der streitet auch nicht. Es gibt allerdings eine Grenze, wo die Geselligkeit des durchaus spannungsreichen, streitenden Miteinanders aufhört und der nervenraubende und unerfreuliche Kleinkrieg anfängt. Sie liegt genau da, wenn das Streiten zu einem „Ab“-Streiten wird. Kein Motorrad-Freund wird seinen Club verlassen wollen, nur weil sein Nachbar ihm zu verstehen gibt: „So eine träge Harley-Davidson ist nicht mein Ding, ich brauche den Rausch rasanter Beschleunigung meiner BMW!“ Unangenehm wird es dann, wenn der BMW-Fahrer meint, sein Gegenüber darüber belehren zu müssen, dass die „Gemütlichkeit“ einer Harley-Davidson nur eine Werbe-Lüge ist, weil es aus technisch-naturwissenschaftlichen Gründen schlicht keine „gemütliche“ Fahrweise geben und man deshalb im Prinzip jedes beliebige Motorrad fahren kann mit genau demselben Fahrgefühl, wenn nur die Zahl der PS vergleichbar ist.


    Genau eine solche Abstreiter-Rechthaberei hat leider in Hifi-Foren über die Jahre nicht nur permanent zugenommen, sondern inzwischen so überhand genommen, dass sich solche Foren als „Diskussions“-Foren, die einen solchen Namen wirklich verdienten, gänzlich zu verabschieden drohen. Das Abstreiten, weil es im Lichte einer vermeintlich „höheren Wahrheit“ Erfahrungen von Menschen leugnet und missachtet, zerstört letztlich die Grundlage für jeden fruchtbaren Erfahrungsaustausch. Einer meiner Foren-Freunde fasste das Gebrechen dieser Foren-Abstreiterei treffend einmal so zusammen: „Ein Forum ist doch keine Wahrheitsfindungsanstalt!“ Über die Wahrheit kann man nicht diskutieren, man kann sie nur entweder einsehen oder nicht einsehen. Im Meinungsstreit mit einem, der sich im exklusiven Besitz der Hifi-Wahrheit wähnt, hat man deshalb nur die Wahl, sich von diesem Wahrheits-Apostel entweder ständig über seine eigene Dummheit belehren zu lassen oder den Kontakt mit ihm zu meiden. Und genau deshalb laufen solchen Foren inzwischen auch die langjährigen Mitglieder weg. Übrig bleibt ein kleines Häuflein von Gleichgesinnten, die sich unermüdlich gegenseitig auf die Schulter klopfen und darüber freuen, dass sie wenigstens zu den vom Hifi-Gott Auserwählten gehören, über das Wahre und allein selig Machende in Sachen Hifi Bescheid zu wissen, wovon die ungläubige und dumme Hifi-Welt da draußen, die der Lüge von Werbeversprechen verfallen ist, nichts wissen will.


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  • 2. Der Katalog der Abstreiter-„Wahrheiten“


    Es fällt nicht schwer, die immer wiederholten Abstreiter-„Wahrheiten“ aufzulisten, die in mehr oder weniger extremer Form und unterschiedlicher Kombination in Hifi-Foren auftauchen:


    Da sind (A) die – nahezu ausnahmslos Technik affinen – Abstreiter-Grundüberzeugungen:


    1. Nur was sich eindeutig messen und technisch erklären lässt, hat auch Realität – denn: alles nur Gehörte ist lediglich „subjektiv“ und nicht „objektiv“ und steht unter dem Verdacht suggestiver Beeinflussung.


    2. Nur Blindtests sind glaubwürdig – Erfahrungsberichte aus unverblindeten Hörerelbnissen sind nicht wirklich Ernst zu nehmen.


    3. Die Hifi-Technik ist wissenschaftlich vollständig erklärt – man kann also allein aus der Kenntnis der Messdaten eindeutig voraussagen, wie ein Hifi-Gerät klingt.

    4. Das Standard-Konsumerprodukt aus fernöstlicher Massenproduktion ist das Maß aller Dinge, weil es professionell und seriös gemacht ist nach den Gesetzen der Physik. Kleinhersteller oder mittelständische Unternehmen insbesondere aus Deutschland, stehen unter „Voodoo“-Verdacht, überteuerte „Kosmetikbuden“ zu sein. Selbst billigste Hifi-Geräte, welche alle messtechnischen Standards erfüllen, machen nichts falsch. Irgendeine klangliche Verbesserung ist durch höherpreisige Geräte nicht zu erzielen. Gerechtfertigt sind teure Geräte allenfalls nur – so bei Verstärkern – durch ihre höhere Watt-Leistung, um größere Räume zu beschallen.


    5. Hifi-Technik ist, was ihren technischen Entwicklungsstand angeht, schon seit Jahrzehnten vollständig ausgereizt.


    6. Hifi-Elektronik hat keinen Eigenklang, sondern dient nur dazu, ein akustisches Signal unverfälscht und unverzerrt zu reproduzieren. Sie kann daher nur „richtig“ oder „falsch“, aber nicht etwa „schön“ klingen, ohne eine Verfälschung der naturgetreuen Wiedergabe darzustellen. (Ausnahme sind deshalb: Röhren-Verstärker, die anders als Transistorgeräte einen „Sound“ produzieren, also eigentlich dem „Hifi“-Ideal nicht entsprechen)


    7. Hifi-Entwickler messen nur und hören nicht – oder: Hifi-Geräte sollen am besten von Messtechnikern entwickelt werden, die taube Ohren haben, also Gehörlose sind, weil das Hören nur ein subjektiver Störfaktor ist. Nur „Voodoo“-Techniker, die man nicht Ernst nehmen kann, stimmen ihre Geräte auch nach Gehör ab.


    8. Auch das Hören einer Hifi-Anlage ist ein rein technisches Problem. Der Entwickler soll daher Geräte nicht für einen menschlichen Hörer, sondern für Roboter-Automaten entwickeln. Im Unterschied zu einem Menschen hört der Mikrophon-Sensor eines Hör-Roboters nämlich immer richtig im Einklang mit den Gesetzen der Physik und ist nicht suggestiv zu beeinflussen.


    9. Eine klangliche Verbesserung der Anlage ist im Wesentlichen nur durch die Raumakustik und raumakustische Maßnahmen wie Absorberplatten oder eine elektronische Einmessung zu erzielen. Den technisch gebildeten und „aufgeklärten“ Hifi-Freund erkennt man daran, dass er sich nicht im Geringsten für den Klang der Elektronik, sondern einzig und allein für die Raumakustik interessiert.



    Die Abstreiter-Überzeugungen im Speziellen (B) – in Bezug auf die einzelnen Hifi-Komponenten – lauten:


    1. Ein Audioverstärker, der maximal 400 Euro kostet, erfüllt auch die höchsten klanglichen Ansprüche. Eine Steigerung ist nicht möglich. Individuellen Verstärkerklang gibt es nicht.


    2. Ein Kopfhörerverstärker, der mehr kostet als 50 Euro, ist purer Luxus und bringt keinerlei klangliche Verbesserung


    3. CD-Spieler klingen alle gleich – ein Klangunterschied zwischen einem Nobel-Player und einem Billigprodukt ist in keinem Blindtest festzustellen.


    4. Kabelklang gibt es nicht. Kein Kabel ist mehr als 20 Euro wert – der „High-Ender“ bezahlt nur viel Geld für ein sinnloses Produkt, einen einfachen Klingeldraht mit schöner Umhüllung, weil er dubiosen Werbeversprechen glaubt.


    5. Stromfilter, teure und aufwendig abgeschirmte Stromkabel sowie hochwertig verarbeitete Steckerleisten haben keinerlei Effekt – sie sind technisch sinnlose Produkte.


    6. Selbst das korrekte Ausphasen einer Anlage (Stecker richtig herum in die Steckdose stecken) hat keinerlei hörbaren Effekt.


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  • 3. Ein aufschlussreiches Buch und die Diagnose des Abstreiter-Fundamentalismus:

    Vereindeutigungs- und Erklärungswahn


    „Menschen, die sich unwohl fühlen, wenn sie mit zweideutigen Situationen konfrontiert werden, [werden] Angebote der Vermeidung von Zweideutigkeit tendenziell eher annehmen und bei erfolgreicher Mehrdeutigkeitsvermeidung nach noch mehr Vereindeutigung streben. Ein Symptom dafür ist der heute allgemeine Erklärungs- und Verstehenswahn. Alles muss erklärt werden, alles soll verstanden werden, und wenn man etwas nicht versteht, gilt es nichts.“


    (Thomas Bauer)


    Die Idee, eine kleine Kolumnen-Serie zum Thema des Umgangs mit dem Thema „Hifi“ in Foren zu schreiben, kam mir bei der Lektüre eines der interessantesten und anregendsten Bücher, das ich in der letzten Zeit gelesen habe. Es stammt von dem Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer:


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    Bauer vertritt die wie ich finde aufrüttelnde These, dass fundamentalistisches Denken von heute keineswegs nur den Islam bzw. allgemeiner die Religionen betrifft. Es handelt sich hier vielmehr um ein sehr modernes und vor allem umfassendes Phänomen: Fundamentalistische Tendenzen zeigen sich in den verschiedensten Bereichen gerade auch unserer westlichen Kultur – also neben der Religion ebenso auf dem Feld der Politik, Wissenschaft, Kunst und Musik. Dafür spricht einmal, dass der Fundamentalismus der Taliban oder des IS – wie der Islam-Kenner Bauer aufklären kann – nicht etwa ein „Zurück ins Mittelalter!“ bedeutet. Denn die islamischen Theologen des Mittelalters dachten so gar nicht fundamentalistisch, waren vielmehr stolz darauf, dass der Koran niemals eindeutig zu verstehen ist, sondern immer mehrere gleich berechtigte Auslegungen zulässt. Der zweite Hinweis darauf, dass der Fundamentalismus keineswegs „mittelalterlichen“, sondern modernen Ursprungs ist, findet sich in der fast schon kuriosen Tatsache, dass die islamistischen Prediger des Korans heutzutage größtenteils gar keine Fachtheologen sind, sondern Laien, die zudem überraschend durch eine Berufsgruppe mit über 40% überproportional häufig vertreten werden: die Ingenieure. Das Ingenieursdenken neigt dazu, nach technisch beherrschbaren Kausalitäten zu suchen, was vor allem eines voraussetzt: Eindeutigkeit, d.h. immer unzweideutige Erklärungen von Ursache-Wirkungszusammenhängen. Nicht zuletzt diese verblüffende Erkenntnis ließ mir einen Gedanken immer wieder durch den Kopf gehen: In diesem Buch fehlt eigentlich ein Kapitel: über Hifi-Foren! Denn gerade in dem in solchen Foren grassierenden Ingenieursdenken, der fast schon manischen Suche nach technischen Erklärungs-Eindeutigkeiten von notorischen Abstreitern, lässt sich Bauers These von der „Vereindeutigung der Welt“ als Tendenz der Moderne wie ich finde besonders gut belegen.


    In seiner kulturkritischen Diagnose und Analyse hält sich Thomas Bauer an die Psychologie und übernimmt von dort den Begriff der „Ambiguitätstoleranz“:


    Was „die Psychologen „Ambiguitätstoleranz“ nennen – [ist] die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten, unlösbare Widersprüche und Ungewissheiten auszuhalten, nicht nur bei anderen, sondern auch bei sich selbst.“ (nach Chr. Saerendt u. St. T. Kittl, zit. bei Thomas Bauer)


    „Ambiguität“ meint eine Zwei- und Mehrdeutigkeit, die keineswegs immer harmlos ist, sondern in vielen Fällen eine eher schwer und nicht leicht erträgliche Zumutung darstellt, weil sie einen Widerstreit und eine Unverträglichkeit enthält. Deshalb lautet Thomas Bauers Diagnose, dass der Fundamentalismus psychologisch auf einem Schwund dieser „Ambiguitätstoleranz“ beruht, solche offensichtlichen Unverträglichkeiten aushalten zu können – die positive „Ambiguitätstoleranz“ kippt gleichsam um ins Negative, eine „Ambiguitätsintoleranz“. Positive Beispiele für nicht-fundamentalistische Ambiguitätstoleranz sind z.B. zwei muslimische junge Frauen, die gemeinsam shoppen gehen, wobei die eine ein Kopftuch trägt und die andere nicht, die persönliche Freundschaft zweier Politiker, die eigentlich politische Gegner sind, weil sie unterschiedlichen Parteien angehören oder beim Fußball die Zulassung des Video-Beweises, ohne die Ermessens-Entscheidung des Schiedsrichters aufzuheben.


    Im Hifi-Bereich finden sich eine ganze Reihe von solchen Beispielen von praktizierter Ambiguitätstoleranz, welche in Foren-Diskussionen, die von „Abstreitern“ dominiert werden, leider umgekippt ist in Ambiguitätsintoleranz. Ein solcher Fall ist etwa der Messtechniker und Entwickler von Hifi-Geräten, welcher nicht nur misst, sondern seine Geräte auch klanglich nach Gehör abstimmt. Ausgerechnet Ingenieure sollen nicht voll und ganz auf die Messtechnik vertrauen? Für die „Abstreiter“ ein nicht hinnehmbares Skandalon! Eigentlich sollte sich doch nach technischem Verständnis alles messen und messtechnisch eindeutig erklären lassen! Aber was ist z.B. mit einem prominenten Entwickler wie Günter Mania von AVM? „AVM“ stand ursprünglich einmal für „Audio-Video-Messtechnik“ – die Firma und ihr Firmengründer legen offenbar, wie der Name sagt, besonderen Wert auf das Messtechnische. Die Ironie der Geschichte: Selbst ein Günter Mania entpuppt sich – wie viele andere seiner Entwickler-Kollegen auch – als ein so gar nicht kompromisslos um Eindeutigkeit bemühter Messtechniker, geht vielmehr mit seiner Messtechnik sehr pragmatisch „ambiguitätstolerant“ um. Eine solche Geschichte können meine Endstufen erzählen: In den 90iger Jahren baute Mania zwei Endstufen (Mono-Blocks), Evolution M3 und M4. Schaltungstechnisch sich sie identisch. Nur handelte es sich bei der M4 um eine Class A Endstufe (bis 40 Watt). Mania hätte nun im Prinzip bei beiden Endstufen für die Erfüllung derselben technischen Funktion genau dieselben Bauteile verwenden können. Nur tat er es am Ende doch nicht, sondern verbaute in den M4 Class A-Monos an mancher Stelle solche von einem anderen Hersteller, „weil sie besser zu den klanglichen Eigenschaften der M4 passten.“ Der Hörer Günter Mania hat sich hier also bei dem Messtechniker Mania gleichsam „eingemischt“ und er somit etwas gemacht, was dem Bestimmungsgrund seines Tuns und Handelns die Eindeutigkeit raubt: Einmal verließ er sich bei der Wahl z.B. der damals ultramodernen Operationsverstärker auf die Messtechnik, dann aber tat er etwas, was er offenbar messtechnisch gar nicht erklären konnte: Bei der konkreten Auswahl der Bauteile vertraute er seinem geschulten Gehör. Warum? Offenbar, weil für ihn nicht nur messtechnische Perfektion das Ziel ist. Dasjenige, was sich so gut misst, soll schließlich auch wirklich gut klingen.

    Wenn man diesen Fall wie ich es getan habe in einem Hifi-Forum schildert, wird all das selbstverständlich abgestritten. Die Abstreiter folgen dabei einer Strategie, die Thomas Bauer „Vereindeutigung durch Kästchenbildung“ nennt. Das Kästchendenken macht eindeutig, indem es das Eine und Zweideutige in eine Zwei und damit zwei für sich genommen eindeutige Dinge spaltet. Also werden für Günter Mania zwei Schubladen aufgemacht, aus der einen Person zwei Personen: Die eine Mania-Person, der geschickte Verkäufer und Werber Günter Mania, habe seinen Kunden hier einen Bären aufgebunden und etwas erzählt, woran er als Techniker-Person natürlich niemals glauben kann! Das alles bleibt natürlich pure Unterstellung. Aber da der Abstreiter nur an eine Realität glaubt, die immer eindeutig ist, richtet sich seine Vorstellung nicht etwa an der uneindeutigen Erfahrungs-Wirklichkeit aus, denn diese hat in seiner fiktiven Welt aus lauter Erklärungs-Eindeutigkeiten schlicht keinen Platz und wird demzufolge bedenkenlos verleugnet.


    Was die durchaus zahlreichen, auch hören wollenden Messtechniker angeht gibt es allerdings noch ein weitaus wirkungsvolleres Abstreiter-Vereindeutigungs-Kästchen: das ist die „Voodoo“-Kiste. Die „reinen“ Messtechniker – das sind natürlich die taub sein sollenden, „serösen“ Techniker. Für sie ist die Schublade der „wahren“ und Ernst zu nehmenden Messtechniker-Entwickler reserviert. Die Anderen sind im Grunde keine „richtigen“ Techniker, auch wenn sie sich selbst so verstehen, sondern lediglich sogenannte „Voodoo“-Techniker. Damit gemeint sind solche Entwickler von Hifi-Geräten, die etwas tun, was sich die Abstreiter in ihrem Vereindeutigungs- und Erklärungswahn nicht eindeutig messtechnisch erklären können. Auch Techniker sind schließlich Menschen, die ihre Illusionen haben und der Suggestion erliegen! Diese Strategie der Vereindeutigung durch Kästchenbildung ist natürlich viel älter als es Hifi-Foren sind. Wie praktizierte es doch über Jahrhunderte die katholische Kirche? Wenn über uneindeutige Stellen der heiligen Schrift nicht mehr gestritten werden durfte, weil die amtliche Lehre festgelegt hatte, was für eindeutig „wahr“ und „richtig“ zu halten ist, dann machte man zwei Schubladen auf: die der Rechtgläubigen im Unterschied zu den Anderen, den Ketzern, die einer vermeintlichen Irrlehre aufsitzen. Was ist in der Vorstellung der Foren-Abstreiter die ketzerische Hifi-Irrlehre? Die Antwort lautet: Alles, was dem Vereindeutigkeits- und Erklärungswahn nicht Genüge tut in die Beurteilung des Klanges einer Hifi-Anlage. Es gibt überhaupt nur eine Erkenntnis-Quelle in Sachen Hifi, welche Foren-Abstreiter dulden – das ist die messtechnische Erklärung. Wer ist also der „eigentliche“ Kenner und Wissende in Sachen Hifi? Für die Foren-Abstreiter natürlich allein derjenige, welcher keinerlei messtechnisch unverstandenen Hörerlebnisse zulässt, also der Entwickler, der am besten taub ist und nur auf seine Messzahlen schaut sowie der Hifi-Freund, der sich seine Anlage allein aufgrund eines Vergleichs der Messdaten in Prospekten und Fachzeitschriften zusammenstellt.


    Ziehen wir das Fazit: Das Hören oder gar so etwas Dubioses wie eine durch Erfahrung erworbene Hörkultur wird für die Erklärungs-Manie Technik gläubiger Foren-Abstreiter zu einer quantité négligeable.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

  • 4. Antworten auf die Frage: Wer ist eigentlich ein Aufklärer in Sachen Hifi?


    Foren-Abstreiter geben sich gerne als „Aufklärer“. Der ganz normale Hifi-Freund wird als ein Unmündiger und Idiot hingestellt, weil er nicht über das nötige technische Fachwissen verfüge und daher die Qualität seiner Hifi-Anlage gar nicht beurteilen könne. So glaube er auch nur blind den Werbeversprechen, welche Händler und Hifi-Testzeitschriften machen. Die ganze Hifi-Szene sei im Grunde nur ein „Lügenwelt“, auf deren leere Versprechungen eines guten und besseren Klangs fürs gute Geld die dummen Hifi-Freunde hereinfallen, wenn sie teure Anlagen kaufen. Nicht etwa bei den Herstellern sitzen die wirklichen Hifi-Experten, weil diese ja nur ein kommerzielles Interesse haben, was sie als Fachleute korrumpiert und in Foren von vornherein diskreditiert – wo sie auch in der Regel gar nicht erst auftauchen. Der Hifi-Entwickler, der Verstärker baut oder – noch viel schlimmer – teure Hifi-Kabel konzipiert, ist im Grunde nur der Werbeabteilung seiner Firma hörig, die ihm suggeriert, ein im Grunde sinnlos überteuertes Gerät zu produzieren, nur weil es sich eben so gut verkauft! Keinem Entwickler, der seine Geräte immer auch verkaufen will, darf man – hört man auf die Foren-Abstreiter – wirklich vertrauen, weil es ihm letztlich nur um eins geht: ums Geld! Deshalb finden sich die wahren, wirklich kompetenten und vor allem absolut ehrlichen Hifi-Techniker auch nur in Hifi-Foren zusammen, wo sie – natürlich – anonym ihre Expertenmeinung posten, damit man nicht weiß, wer sie sind. Dieses eigentlich wenig Vertrauen erweckende Versteckspiel tut aber ihrem Selbstverständnis, über jeden Verdacht erhaben zu sein, keinerlei Abbruch. Ganz ungeniert geben sie sich als Wahrheitsapostel aus, denn sie haben natürlich keinerlei „Interessen“, sondern – völlig unbestechlich wie sie sind – verkünden sie nur die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit! Dem dummen Hifi-Freund bietet sich deshalb in solchen Foren die einmalige Chance, endlich aufgeklärt und mündig zu werden und die heilige Wahrheit in Sachen Hifi zu erfahren.


    Diese Selbstmystifizierung von Foren-Abstreitern, ihre Selbst-Heiligsprechung in Sachen Hifi-Sachverstand, ruht auf zwei Säulen: Die eine ist die permanente Kompetenzanmaßung. Kompetenz wird immer nur behauptet und beansprucht, aber nie wirklich ausgewiesen. Anders als in der Wissenschaft gibt es in der Foren-Welt nämlich kein Evaluations-System, was sicherstellt, dass die gemachten Aussagen auch durch Expertisen wirklich überprüft und von den Experten der Welt allgemein anerkannt sind. In der Anonymität der Forenwelt kann sich jeder aber auch jede Kompetenz und eine quasi päpstliche Unfehlbarkeit des Urteils anmaßen, wenn er nur frech genug auftritt. Den Entwicklern bei den Herstellern pauschal die Ehrlichkeit abzustreiten und ihnen kommerzielle Interessen zu unterstellen, ist zudem nicht nur scheinheilig, sondern es widerspricht auch dem gesunden Menschenverstand. Ein Mensch, der sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, gut klingende Hifi-Geräte zu bauen, tut das nicht weniger aus innerer Überzeugung wie der Konditormeister, welcher liebevoll seine Torten kreiert und stolz ist, wenn diese seine Arbeit von den zufriedenen Kunden honoriert wird. Kein normaler Mensch belügt sich ein Leben lang in dem, was er für seinen Beruf und seine Berufung hält und tut etwas gegen seine innere Überzeugung. Dies ist jedenfalls die Regel – der Lügner und Betrüger ist da nur die eher seltene Ausnahme. Umgekehrt müssen sich „Abstreiter“, die sich selbstherrlich als Verkünder der absoluten Hifi-Wahrheit aufspielen, die kritische Frage gefallen lassen, wie es um ihre vorgespielte Ehrlichkeit wirklich bestellt ist. Es fällt auf, dass sich jeder, der irgend etwas von Elektro- oder Fernmeldetechnik versteht, auch wenn es nur im entfernteren Sinne etwas mit Hifi-Technik zu tun hat, als großer Experte in Sachen Hifi aufspielt. Wie selbstlos und interesslos ist hier eigentlich das Bedürfnis, die ganze Welt wissen zu lassen, dass man von allem mehr versteht und es besser weiß als die wirklichen Spezialisten? Dazu kommen die enttäuschten und erfolglosen Händler, die natürlich den Erfolgreichen „niedere Beweggründe“ – also im Prinzip ein skrupelloses Gewinnstreben – unterstellen. Vielleicht deswegen, weil dies die verspätete Genugtuung für das eigene Versagen als Geschäftsmann ist? Dann gibt es noch die vielen Wichtigtuer und Belehrer, meist nur Halbgebildete in Sachen Technik, welche den Laien meinen, ihre Naivität und Dummheit vor Augen führen zu müssen. Warum aber messen sie sich nicht mit Ihresgleichen, also wirklich ausgewiesenen Fachleuten, anstatt sich so bequem und leicht gegenüber den Unwissenden mit ihrem Wissen zu profilieren? Ist es nicht vielleicht die Angst vor der wirklichen Wahrheit der eigenen Inkompetenz – oder gar Feigheit? Dazu kommt noch der Selbstbauer-Stolz, es genauso gut und vielleicht sogar besser zu können als die professionellen Entwickler. Warum misst sich dieser aber nur nicht mit den Profis und begibt sich mit ihnen in einen fairen Wettbewerb? Zusammengefasst gefragt: Steht hinter der „Abstreiter“-Attitüde, sich zu Wahrheitsaposteln in Sachen Hifi zu stilisieren, die schlicht alles (besser) wissen, nicht ganz unheilig irgendeine Form eines sehr profanen Ressentiments – die eigene Schwäche (ein Minderwertigkeitskomplex gepaart mit Geltungsbedürfnis, Erfolglosigkeit, fehlende Anerkennung usw.) zu einem Verdienst umzulügen?


    Die zweite Säule, auf die sich das Gedankengebäude der Foren-Abstreiter stützt, ist ein technizistischer Wahrheits-Fundamentalismus, der in dem Glauben besteht, dass es in Fragen der (Hifi-)Technik, weil sie auf solchen durch die Naturwissenschaft erkannten strengen Naturgesetzen beruht, keinerlei Meinungsvielfalt geben kann, sondern immer nur eine und nur die eine Wahrheit. Deshalb ist streng genommen nur der Technik-Sachverständige – bzw. derjenige, der sich dafür hält – mündig. Alle anderen Hifi-Freunde, welche sich nur auf das Hören verlassen, sind und bleiben im Grunde Unmündige. Sie können nur insofern vernünftig mit ihrem Hobby Hifi umgehen und über die Meinungs-Beliebigkeit aus Unwissen über die Technik-Naturgesetze hinaus zur Hifi-Wahrheit gelangen, wenn sie auf die Foren-Sachverständigen hören und sich von ihnen „aufklären“ lassen.


    Wie wenig jedoch dieser Wahrheits-Fundamentalismus von Foren-Abstreitern etwas mit wirklicher „Aufklärung“ zu tun hat, sondern geradezu das Gegenteil bedeutet, zeigt der Blick auf Immanuels berühmte Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Sie beginnt mit einer Art Manifest der Befreiung des Menschen aus einer Unmündigkeit, für die er im Grunde selbst verantwortlich ist:


    Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. (...) Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“


    Kant betont, dass das Aufgeklärt-Sein nicht einfach bedeutet, Verstand zu haben, sondern eigenen Verstand. Also nicht nur derjenige, welcher über Kenntnisse und über ein Wissen verfügt, ist aufgeklärt und mündig, sondern nur der, welcher sie wirklich aus der Quelle seiner eigenen Subjektivität schöpft. Das machen auch Kants weitere Erläuterungen deutlich:


    „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst bemühen.“


    Kant sieht hier die „Sachverständigen“ äußert kritisch. Sie spielen sich nämlich – und gerade hier ist Kant immer noch hoch aktuell – gerne auf als die Kenner und allein Wissenden den Laien und Unwissenden gegenüber: die Ärzte, die Ernährungsberater, die Priester. Damit wird der Mensch jedoch unmündig gemacht, denn Sachverständige streiten dem nicht sachkundigen Laien schlicht die Urteilsfähigkeit ab: Der Priester sagt dem Gläubigen, dass er sich über Glaubensfragen kein eigenes Urteil erlauben kann mangels Theologie-Studium, der Ernährungs-Apostel predigt seine esoterische Lehre, in die nur er eingeweiht ist und Ärzte spielen sich gerne auf als Götter im weißen Kittel – und man kann hier hinzufügen: der Technik-Sachverständige in Foren bestreitet dem Hörer wirkliche Kenntnis zu haben und entmündigt ihn als Laien zum „Hörigen“ für das, was er aufgrund seines überlegenen Wissens allein für wahr und richtig hält. Die Entmündigung unterstützt zudem die Angst-Mache. Priester pflegen seit Jahrhunderten ihre Gemeinde zu einer folgsamen Schafherde zu erziehen, indem sie „den Teufel an die Wand“ malen: „Folgst Du meinen Worten nicht, kommst Du in die Hölle!“ Bei den Ernährungs-Aposteln von heute lautet das dann so: „Wenn Du Deine Ernährung nicht radikal umstellst und Veganer wirst, wirst Du garantiert totkrank!“ In Bezug auf Hifi funktioniert die Angst-Mache durch die Beschwörung des Suggestions-Teufels, der sich angeblich überall in der Hörerfahrung versteckt, wenn man nicht den Erklärungen der „Techniker“ glaubt.


    Besonders interessant ist aber, dass Kant neben den Sachverständigen als Entmündigern auch die Bücher erwähnt, die entmündigen können. Das Lehrbuch für Mathematik oder Physik enthält viel Verstand – aber dieser Verstand ist schließlich nicht mein Verstand. Wer im Physikunterricht lernt, was ein Naturgesetz ist oder in der Mathematikstunde eine mathematische Aufgabe löst, beweist damit zwar Verstand, aber noch lange keine Mündigkeit. Dieses Wissen kann ihn sogar entmündigen. Warum? Wenn ein Sternekoch nur nach der Kochbuchregel kochen würde wäre er kein guter Koch. Ebenso ist nicht etwa der ein guter Arzt, der nur nach dem schulmedizinischen Lehrbuch seine Therapien entwickelt. Er hat nämlich z.B. die Erfahrung gemacht, dass das, was laut Medizin-Lehrbuch helfen soll, im Falle dieses Patienten gerade nicht so gut hilft und unerwünschte Nebenwirkungen hat. Um ein Lehrbuch zu verstehen, braucht es logischen Verstand, aber nicht das, was Kant „Urteilskraft“ oder die Tradition vor ihm dt. Klugheit, lat. prudentia oder griech. phronesis nennt bzw. genannt hat. Die Urteilskraft bezieht sich anders als der bloß logische Verstand niemals nur auf eine, sondern immer zugleich auf mehrere Quellen der Erkenntnis. Mündig ist der Mensch, der eben nicht nur auf den Sachverständigen und sein Wissen hört, nicht bloß dem vertraut, was in einem Lehrbuch steht, sondern immer auch die eigene Erfahrung ins Spiel bringt und entsprechend mit Bezug auf diese unterschiedlichen Quellen abschätzt und abwägt, was „richtig“ ist bzw. plausibler scheint in Bezug auf die Bewertung einer bestimmten Situation oder Sachverhalts. Der verschiedenen Erkenntnisquellen wegen, die im Spiel sind, können solche Abschätzungen nie völlig eindeutig sein und lassen deshalb immer auch eine Meinungsvielfalt zu. Für die Urteilskraft ist die Meinungshaftigkeit deshalb konstitutiv. Entsprechend erkennt man den mündigen Menschen, der solche Urteilskraft tatsächlich besitzt, auch daran, dass er meinungsfreudig und meinungsfreundlich ist, also Meinungsvielfalt gerade nicht abstreitet.


    Was bedeutet dies nun mit Blick auf die Hifi-Foren? Der mündige Hifi-Freund mit Verstand wird natürlich nicht verweigern, einem Techniker-Sachverständigen zuzuhören, er wird dies aber immer auch in Bezug zu seiner eigenen Erfahrung setzen. Fundamentalisten erkennt man nun genau daran, dass sie u.U. viel und sehr viel Verstand, aber so gut wie keine Urteilskraft mehr besitzen, weil sie nämlich immer nur einer einzigen Erkenntnisquelle vertrauen – was ihnen letztlich eine Erklärungs-Eindeutigkeit beruhigend verspricht. Der Bibel-Fundamentalist lässt nur das Wort der Bibel als Erklärung gelten, wie das Universum entstanden ist und streitet ab, dass die moderne Naturwissenschaft hier auch ein Wort mitzureden hat. Foren-Erklärer mit ihrem Technizismus, der nur das Technik-Lehrbuch und die darauf beruhenden Messungen als Rechtsquelle zulässt und alle Erkenntnisse, die durch eine vielfach bewährte Hörerfahrung bestätigt sind, generell abstreitet, sind deshalb auch keine Aufklärer, sondern Fundamentalisten und Entmündiger.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

  • 5. Es war einmal – das wirklich schöne Hifi-Hobby


    Wir alle werden geprägt durch Erfahrungen, die wir in unserer Kindheit und Jugend gemacht haben. Das gilt auch für das Thema Hifi. Meine Hifi-Sozialisation datiert von Ende der 70iger bis Mitte der 80iger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Damals – daran muss man heute schon ausdrücklich erinnern, weil wir uns die Welt anders als mit den technischen Errungenschaften von heute kaum noch vorstellen können – gab es kein Internet, keine Computer-Software in Verstärkern, kein Hifi von der Festplatte und kein MP3. Man las zwar technische Daten, kaufte aber seine Hifi-Anlage letztlich wegen ihres Klangs – in eine Güte, so weit es der Geldbeutel zuließ. Die Anlage sollte so zusammengestellt werden, dass sie dem eigenen Hörgeschmack entgegenkam. Die „Lager“ von Hifiisten, die sich damals bildeten, entsprachen deshalb den Hörgewohnheiten. Ich bevorzugte den analytischen und klaren Yamaha-Klang, andere Hifi-Freunde hätten sich so einen Yamaha nie gekauft, den sie als zu „kühl“ klingend empfanden. Das waren die Liebhaber der Elektronik von der britischen Insel – Herstellern wie Linn oder Naim. Über sogenannten „Verstärkerklang“ musste man deshalb auch nicht streiten. Man kannte aus vielfach bestätigter Hörerfahrung, was die klanglichen Besonderheiten der verschiedenen Hersteller waren. Nahezu jeder, dem man es erklärte, wusste was man meinte: Britische Elektronik klingt sehr homogen und immer flüssig, ist im Bass eher rund und kräftig abgestimmt und hat reiche Tonfarben. Dagegen tendiert das analytische Klangbild von japanischer Elektronik zu mehr Durchzeichnung und Körperlichkeit. Dann gab es da noch z.B. Marantz mit seinem seidigen Klang und eher milden Hochtonbereich – passend zum amerikanischen Geschmack. Sehr gefällig – aber man muss diese Klangästhetik eben mögen. Und – nicht zu vergessen – die Röhrenverstärker mit ihrem warmen, etwas „schokoladigen“ Klang. Auch die hatten ihre Liebhaber.


    6. Der Glaubenskrieg zwischen „Hörern“ und „Erklärern“


    Heute sind die „Parteien“ von damals, die Ausdruck unterschiedlicher Hörgewohnheiten waren, in Hifi-Foren kaum noch präsent. So etwas wie „Verstärkerklang“ ist in solchen Foren so gut wie nicht mehr diskutierbar – wenn überhaupt nur mit der verschämten Entschuldigung, eine solche Betrachtung sei ja nur „subjektiv“, damit man gar nicht erst in Verdacht gerät, so etwas auch ernsthaft zu behaupten. Dies hat wohl nicht zuletzt etwas zu tun mit der Veränderung unserer Industriegesellschaft durch die Digitalisierung. Leicht handhabbare Computer-Messtechnik hat den Umgang mit Hifi-Technik durch den Konsumer durchgreifend und nachhaltig verändert, was sich auch in der Foren-Welt spiegelt. Es scheint so, als sei heutzutage alles, was einstmals nur durch umständliche Hörversuche nach dem Trail and Error- (Versuch und Irrtums-) Prinzip herauszubekommen war – die annähernd ideale Aufstellung eines Lautsprechers im heimischen Wohnzimmer, die Zusammenstellung der Geräte, also welcher Verstärker passt zu welchem Lautsprecher etc. – viel leichter, zuverlässiger und vor allem schneller durch Messungen erreichbar ist. War die Computer-Messtechnik früher aufwendig und teuer und ihre Nutzung den Geräte-Entwicklern und Teststudios vorbehalten, sie ist sie heute als billige Software für Jedermann verfügbar. Das befördert den Glauben, dass sich schlechterdings alles – keinesfalls nur hypothetisch, sondern auch tatsächlich – messen lässt, was der Mensch hören kann. So haben sich in Hifi-Foren neue Gruppierungen der streitenden Parteien herausgebildet und immer mehr zu Frontlinien eines regelrechten Glaubenskrieges des richtigen Umgangs mit dem Thema Hifi verfestigt. Nahezu unversöhnlich gegenüber stehen sich nun die „Hörer“, welche messtechnischen Möglichkeiten wie eine Einmesselektronik allenfalls als Ergänzung und Unterstützung ihrer Hörtests betrachten, grundsätzlich aber auf ihre Hörerfahrung und Hörkultur weiterhin vertrauen, wenn sie die Qualität ihrer Hifi-Anlage bewerten. Ihnen gegenüber positionieren sich die „Erklärer“, die Vertrauen nur in die Messtechnik haben und das Hören entsprechend als einen dubiosen und in letzter Konsequenz gänzlich auszuschaltenden Störfaktor betrachten: Die Bewertung der klanglichen Eigenschaften einer Anlage nach Gehör, so meinen sie, erreicht einmal nicht die Präzision und Eindeutigkeit eines Messgeräts und zum anderen sind Hörerlebnisse prinzipiell anfällig für Wahrnehmungstäuschungen aller Art, vor allem für suggestive Beeinflussungen. Deshalb messen sie lieber nach oder schauen auf Messdaten, statt zu hören.


    Der mit solchen in Hifi-Foren tobenden Kleinkriegen und Wortschlachten nicht vertraute Leser wird sich allerdings fragen: Warum in Gottes Namen ist nicht beides möglich – messen und hören? Warum soll es eine gänzlich ausschließende Alternative sein, wenn die eine Seite mehr auf die Höreindrücke und die andere mehr auf Messungen vertraut? Zählt nicht zuletzt das Ergebnis, also eine gut klingende Anlage, die den Bedürfnissen seines Nutzers entspricht und ihn zufrieden stellt? Man muss hier leider konstatieren, dass in Foren heutzutage das Ideologisieren an die Stelle eines vernünftigen Pragmatismus getreten ist, der das eigentliche Ziel – den guten Klang – über die verschiedenen Wege stellt, die dahin führen können. Und dies liegt vor allem an der fundamentalistischen Technikgläubigkeit der „Erklärer“. Hören und Messen sind nämlich genau dann keine gleichberechtigen Wege mehr, zum Ziel des möglichst besten Klanges einer Anlage zu gelangen, wenn dem Hören die Realitätsbasis abgestritten wird.


    7. Die geschlossene Wand der Abstreiter


    Warum der permanente Streit zwischen „Hörern“ und „Erklärern“ mittlerweile zu einem regelrechten Desaster für die Hifi-Kultur geworden ist, hat seinen Grund: „Erklärer“ sind nämlich keine konzilianten Bestreiter, sondern militante Abstreiter. Wer sich in das Haifischbecken derartiger Foren-Diskussionen immer wieder begeben hat, weiß aus Erfahrung, dass die Toleranz und Intoleranz der Foren-Streiter durchaus sehr ungleich verteilt ist: Während die „Hörer“ den Messtechnikern ihre Art des Vorgehens in der Regel zubilligen, zeigen sich die „Abstreiter“ sehr unduldsam. Mit dem Eifer von Wahrheits-Fundamentalisten lassen sie auch gar nichts gelten, worauf die „Hörer“ ihr Urteil gründen. Wenn sie dazu noch miteinander koalieren, bilden sie so etwas wie eine geschlossene Abstreiter-Wand, wo schlechterdings kein Durchkommen für „Hörer“-Argumente ist, die von ihr abprallen wie Ping Pong-Bälle.

    „Hörer“ sind selbstverständlich durchaus auch „kämpferisch“, bestreiten nicht selten mit Vehemenz, dass man sich auf Hörerlebnisse nur verlassen können soll, wenn ein Messergebnis vorliegt. Doch gefährdet eine solche Behauptung des eigenen Standpunkts, so leidenschaftlich sie auch vorgetragen wird, die Foren-Diskussionskultur letztlich nicht. „Hörer“ verlassen sich nämlich allein auf ihre Erfahrung und müssen deshalb die Erfahrung der Anderen auch nicht abstreiten, wenn sie der Ihrigen nicht entspricht. Der „Hörer“ hat so einfach keinen Grund, dem „Erklärer“ das Recht abzustreiten, dass dieser sein Gehörtes durch eine Messung bestätigt bekommen möchte. Als Empiriker sagt ihm zudem seine Erfahrung, dass es der Lebensklugheit widerspricht, von einem Menschen Unmögliches zu verlangen. Wer von einem abgrundtiefen Misstrauen in seine Wahrnehmungen bestimmt ist, von dem kann man schließlich nicht fordern, dass er auf das, was ihm keinerlei Sicherheit bietet, sein Urteil baut. Das Recht, seine Erfahrungen zu beurteilen, hat jedoch grundsätzlich jeder Mensch.


    Man kann also zugleich etwas vehement bestreiten und tolerant sein. Beim Abstreiten ist es allerdings anders. Die Bestreiter wie die Abstreiter nötigen ihrem Gegenüber etwas ab – nämlich die Anerkennung, dass die eigene Meinung nicht exklusiv und einstimmig gelten, sondern ihr widersprochen werden kann und darf. Zum „Ab“-streiten gehört allerdings neben dem Bedeutungsfeld von lat. extorquere – dt. abringen, abnötigen – noch die Bedeutung von lat. denogo – dt. ableugnen, abschlagen. Der Abstreiter im Unterschied zum Bestreiter ist immer auch ein Leugner und Verleugner. Der Leugner verleugnet das Offensichtliche einer Tatsache, wie etwa der ertappte untreue Ehemann, der aus Not abstreitet, ein Verhältnis mit einer anderen Frau zu haben, obwohl alle Indizien dagegen sprechen. Genau das ist das Unerfreuliche der Begegnung mit Foren-Abstreitern, dass sie das Offensichtliche und Unbestreitbare leugnen: Wer als „Hörer“ kundgibt, dass er sehr wohl in der Lage ist, aufgrund langer Erfahrung seine Hörerlebnisse zuverlässig zu beurteilen, weil ihm der Erfolg – eine schön klingende Anlage – schließlich Recht gibt, der wird einfach nicht Ernst genommen und als Irrationalist hingestellt.

    Selbstverständlich gibt es keine Erfahrung, die man nicht bestreiten könnte. Aber dieses Besteiten muss, wenn es wirklich rational motiviert und nicht einfach irrational passieren soll, letztlich immer durch die Angabe eines Grundes geschehen, ein Indiz, dass aus der Erfahrung selbst stammt. Genau deshalb ist das Abstreiten anders als das Bestreiten vernunftwidrig und widerspricht der Lebensklugheit, weil es niemals wirklich konkrete und tatsächlich überprüfbare Erfahrungsgründe vorweisen kann, die gegen die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der Erfahrung sprechen. Um den Unterschied an einem Beispiel aus dem alltäglichen Umgang mit dem Recht zu verdeutlichen: Statistisch betrachtet neigen ehemalige Straftäter häufiger dazu, Straftaten zu begehen als solche Bürger, die nie in Konflikt mit dem Gesetz geraten sind. Wenn nun in der Nähe des Wohnorts eines ehemals Straffälligen eine Bank ausgeraubt wird, darf man ihn deshalb allein, weil er statistisch eher als potentieller Täter in Betracht kommt als seine nicht strafauffälligen Nachbarn, als Verdächtigen verhaften? Die Antwort lautet natürlich: Nein! Solange nicht wirklich belastbare Indizien vorliegen, dass er sich verdächtig in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat, wäre ein solches Vorgehen der Polizei rechts- und sittenwidrig. Nur durch Indizien lässt sich nämlich konkret begründet bestreiten, dass der ehemalige Straftäter sich erfolgreich resozialisiert hat. Die Verhaftung allein aufgrund der statistischen Strafanfälligkeit dagegen wäre ein verleugnendes Abstreiten aufgrund einer empirisch unbegründeten und im Unkonkret-Allgemeinen bleibenden Unterstellung, dass Straftäter allgemein und überhaupt resozialisierungsfähig sind und deshalb immer zuerst als Straftäter in Frage kommen, auch wenn keinerlei Indizien dafür vorliegen. Ein solches Abstreiten aus nur allgemeinen Gründen verleugnet jedoch das Offensichtliche und nicht zu Bestreitende der konkreten Erfahrung, dass es genügend ehemalige Straftäter gibt, die in ihrem Leben nie wieder straffällig geworden sind.


    Erklärer-Abstreiter in Hifi-Foren verhalten sich nun so wie eine Polizei, die den vermeintlich Schuldigen allein aufgrund einer nur allgemeinen Unterstellung von potentieller Schuldfähigkeit verdächtigen und verhaften würde. Weder haben sie die Hifi-Anlage des Hörers jemals gehört oder gemessen, noch verfügen sie über vergleichbare Hörerfahrungen, um die Aussagen der Hörer überhaupt fundiert beurteilen zu können. Auch geben ihnen die Auskünfte der Hörer in der Regel keinerlei Indizien oder Anhaltpunkte, um deren Hörerfahrung durch wirklich empirisch ausweisbare Gründe bestreiten und nicht nur aufgrund einer allgemein bleibenden Annahme und Unterstellung abstreiten zu können. Wenn ihnen der „Hörer“ ehrlich versichert: „Ich habe aber wirklich keine Tests gelesen, bevor ich die Kabel getestet habe und kannte in vielen Fällen die Hersteller sogar nicht, wusste also überhaupt nicht, was mich erwartet“ – dann nützt ihm das alles leider nichts. Auch wenn die Abstreiter eine Suggestionsquelle niemals konkret benennen können, was einzig und allein ein wirklicher Rechtsgrund wäre, um den „Hörer“ der Suggestionsanfälligkeit zu bezichtigen in einem solchen konkreten Fall, die Suggestion als eine nachweisbare psychologische Kausalität also schlechterdings nicht greifbar ist, bleiben sie bei ihrer Beschuldigung einer suggestiven Beeinflussung. Der sophistische Trick dabei ist die Unterstellung von Kritiklosigkeit. Auch wenn der „Hörer“ sich sicher ist, dass er keinen suggestiven Werbeversprechen erlegen ist, täusche er sich, weil er von solchen Suggestionsquellen einfach nichts weiß bzw. seine Suggestionsanfälligkeit nicht wahrhaben will. Mit diesem – wiederum vernunftwidrigen – Verstoß gegen die sogenannte Bewieslastverteilungsregel (die Beweislast liegt immer bei dem, der einen Vorwurf oder eine Anklage vorbringt, nicht aber er muss sich der Verdächtigte oder Beschuldigte gegenüber eine konkret gar nicht begründete Beschuldigung rechtfertigen) wird dem „Hörer“ nicht weniger als seine Urteilsfähigkeit abstreiten und ihn damit schließlich entmündigt: „Eine Suggestion ist in der Wahrnehmung immer möglich, also war sie auch bei Dir „irgendwie“ im Spiel. Nur weißt Du nichts davon, weil Du Dich nicht kritisch „hinterfragst".“


    Diskussionen mit Abstreitern pflegen so damit zu enden, dass sich der frustrierte „Hörer“ – natürlich vergeblich – gegen eine dubiose Sophistik von nicht anders als unbestimmt-allgemein gehaltenen Unterstellungen und Verdächtigungen zur Wehr setzen muss, einen pauschalen Suggestionsverdacht, der unwiderleglich scheint, gerade weil er nie wirklich konkret einen tatsächlichen Ursache-Wirkungszusammenhang zu benennen im Stande ist. Die Unangreifbarkeit der Abstreiter-Sophistik gleicht hier Herbert Wehners berühmten Pudding, den man an die Wand zu nageln versucht.


    Der „Abstreiter“ sieht sich jedoch stets im Recht, denn seine Haltung wird von einem allgemeinen Glaubenssatz bestimmt, den er für unbezweifelbar und gewiss hält und folglich auf den Einzelfall immer nur anwendet. Er lautet: „Man darf sich allein auf das Hören niemals verlassen.“ Wer das Vertrauen in seine Hörerfahrungen verloren hat, neigt dazu, dem Hörvertrauen die Berechtigung überhaupt abzustreiten und den Grund für ein wirklich sicheres Urteil anderswo, außerhalb der Erfahrung zu suchen: in ihrer messtechnischen Erklärung. Messtechnisch orientierte Hifiisten betrachten die Ohren als so etwas wie ein organisches Messgerät, einen Detektor von Schallereignissen, der anders als die technischen Gerätschaften, die immer präzise und eindeutige Messergebnisse liefern, leider sehr unvollkommen und von daher äußerst unzuverlässig ist – das Hören bleibt ja immer anfällig für suggestive Beeinflussungen aller Art! Der „Hörer“ kann also nie eindeutig wissen: War das, was ich gehört habe, wirklich real? Weil die Erklärer-Abstreiter die Frage – Realität oder Illusion? – eines Urteils allein aufgrund eines Hörerlebnisses im Prinzip für unentscheidbar halten, wird das Gehörte nur unter der Bedingung akzeptiert, dass es durch eine Messung erklärt werden kann. Dann nämlich wird die Frage „Fiktion oder Wirklichkeit?“ letztlich eindeutig entschieden. Nur die messtechnische Erklärung kann demnach dem Gehörten eine Realitätsbasis verschaffen und eine wirkliche Urteilsfähigkeit in Sachen Hifi begründen. Und die „Erklärer“ nutzen natürlich ihren Erklärungsvorteil mit ihrer Kampfmaxime, die sie zu Belehrern ermächtigt und die „Hörer“ zu ihren Hörigen entmündigt: „Du darfst nur dann glauben, was Du hörst, wenn Du Dir das Gehörte vorher technisch erklärt hast bzw. zumindest erklären kannst. Und weil Du von technischen Dingen so gar keine Ahnung hast, sollst Du auf uns hören!“


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

  • Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    8. „Kabelklang – das gibt es doch nicht!“ – oder: Die Abstreiter
    und ihr Hassobjekt – das Hifi-Kabel



    „Viele Menschen, denen immer alles erklärt wird und denen eine Welt ohne Geheimnisse, ohne Unerklärbares und Überkomplexes vorgegaukelt wird, glauben schließlich selbst, alles zu verstehen.“ (Thomas Bauer)


    NOT IGNORANCE, BUT IGNORANCE OF IGNORANCE IS THE DEATH OF KNOWLEDGE
    (Buchtitel Routledge, 2015)


    „... das technische Objekt wird nie vollständig erkannt; aus eben diesem Grund ist es niemals vollständig konkret, es sei denn durch ein äußerst seltenes, durch den Zufall ausgelöstes Zusammentreffen.“ (Gilbert Simondon)


    In meiner Studentenzeit – die erste Hifi-Anlage spielte bereits in meiner Bude – bekam ich zu meinem Geburtstag ein überraschendes Geschenk. Es war ein schwarzes Cinch-Kabel mit vergoldeten Steckern und bestand aus Leitern von sauerstofffreiem Kupfer (LCOFC). Bis dahin wusste ich gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Meine Geräte waren bis zu diesem Zeitpunkt mit den damals üblichen Beipackstrippen verbunden. Unter meinem Stax-Kopfhörer war ich verblüfft zu hören, dass die Wiedergabe mit dem Geburtstagsgeschenk deutlich sauberer und klarer war – wie wenn ein Schleier vor dem Klanggeschehen auf einmal weggenommen ist. Besagtes Kabel war nicht etwa teuer – der damalige Preis lag bei bescheidenen 20 DM. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass Kabel etwas klanglich bewirken können. Es war aber nun nicht so, dass ich daraufhin alle Billig-Kabel, die ich verwendete, austauschte. Nein – noch ca. 10 Jahre waren meine Lautsprecher mit den üblichen 8 mm Kupferstrippen von der Rolle verbunden. Andere – und teurere – Kabel habe ich mir nur dann angeschafft, wenn die Situation mich dazu zwang. So kaufte ich später meinen zweiten CD-Spieler, einen Marantz CD 80. Der klang mir im Vergleich zu meinem alten, sehr rund und warm tönenden Denon DCD 1500, der mit dem LCOFC-Kabel so gut harmonierte, zu technisch „kühl“. Also lieh ich mir ein halbes Dutzend Kabel vom Händler zum Testen aus – und leider für meinen kleinen Geldbeutel, den ich als Student zur Verfügung hatte, gefiel mir nur das teuerste, ein Van den Hul D 300 III. 130 DM waren damals viel Geld für mich, doch habe ich das Van den Hul-Kabel schließlich gekauft. Noch heute – nach 30 Jahren – spielt es an seinem Platz.


    Viel später, als ich mir meine Mono-Blocks AVM Evolution M4 ins Wohnzimmer holte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Die große Dynamik der neuen Endstufen brachte meine Lautsprecher an ihre Grenzen. Ich dachte, mir fliegen gleich die Chassis um die Ohren! Also experimentierte ich mit verschiedenen Kabel-Querschnitten – tauschte das 8 mm Oelbach von der Rolle gegen ein 6 mm und 4 mm. Es half alles nichts – ein Problem war halbwegs gelöst, dafür kam aber auch jeweils ein neues hinzu. Eine Reduzierung des Querschnitts bedeutet in der Regel weniger Bassdynamik. Es war aber keine wirklich zufriedenstellende Lösung, das Bassvolumen zu killen, nur um eine saubere Basswiedergabe zu bekommen. Ein Oelbach mit versilberten Kupferleitern – auch günstig von der Kabel-Rolle – mit 6 mm Querschnitt spielte da im Bassbereich schon besser, nur waren die Mitten etwas undurchsichtig. Also wanderte ich wieder ins Geschäft und besorgte mir ein flaches und dünnes Dynaudio-Kabel – preislich auch noch günstig, 12 Euro pro Meter, wenn ich mich recht erinnere. Da die Mono-Endstufen direkt neben den Lautsprechern standen, brauchte ich nur 2 mal 1,50 m. Die Investition war also nicht der Rede wert. Klanglich gefiel mir das Dynbaudio-Kabel sehr gut – nur dünnte es den Mittenbereich merklich aus. Nach einigen Wochen Probieren mit diversen Billigkabeln ohne wirklichen Erfolg reichte es mir dann: Ich besorgte mir von meinem Händler ein Fast Audio Compact 6 für – ich glaube – 75 DM damals pro Meter. Und siehe da: Alle meine Probleme waren auf einen Schlag gelöst. Nicht nur, dass die Musik nun in jedem Bereich kontrolliert aus dem Lautsprecher tönte, die Balance zwischen Bass und Höhen stimmte, ich hatte auch eine vorher nie dagewesene Ortungsschärfe der einzeln Phantom-Schallquellen.


    Ich erzähle all das etwas ausführlicher, weil in Hifi-Foren immer wieder dieselben völlig verrückten Geschichten verbreitet werden. Käufer von hochwertigen Hifi-Kabeln haben angeblich nur Werbeprospekte gelesen und sind von Händlern beschwatzt worden, überteuerte Kabel zu kaufen, die klanglich rein gar nichts bewirken. Da werden dann in schöner Regelmäßigkeit Histörchen zum Besten gegeben, welche die Dummheit der Käufer demonstrieren sollen, wie die von einem offenbar verwöhnten Muttersöhnchen aus der High-Snobiety, das mit der Mama ins Hifi-Geschäft kommt, damit sie ihm ein Cinch-Kabel für 1700 Euro kauft, weil er in einer Testzeitschrift gelesen habe, dass es wahre Wunder vollbringe. Damit verraten die Abstreiter allerdings mehr von sich selbst als über den Gegenstand ihres Spottes oder selbstgefälligen Mitleids: Alles, was beansprucht, über das bescheidene klangliche Niveau billigsten Klingeldrahtes hinauszugehen, kommt für sie einem Übernatürlichen gleich, wo die Gesetze der Physik ausgehebelt sind. Es spielt deshalb auch keine Rolle, ob man von einem Kabel für 40, 400 oder 4000 Euro einen klanglichen Gewinn erwartet – alles gehört gleichermaßen in das Reich der Märchenwunder. Für die Abstreiter-Psychologie ist deshalb auch jede alltagspragmatische Denkweise im Umgang mit dem Kabel-Thema schlicht irrelevant. Man kämpft wie Don Quijote gegen Windmühlen, wenn man bescheiden auf die Realität hinweist: Nein, auch ein preiswertes Kabel wie das Geburtstagsgeschenk für 20 Euro aus meiner Studentenzeit kann schon einen spürbaren Klanggewinn bedeuten. Und selbstverständlich gelten beim Kauf eines hochwertigen Kabels dieselben Regeln wie bei einem Lautsprecher oder Verstärker: Man kauft nicht gleich das Teuerste und Beste, sondern kalkuliert sehr genau die Relation von preislicher Investition und tatsächlich zu erzielendem Ergebnis – soweit es das Budget zulässt. Und keineswegs ist das teure und teuerste Kabel immer das beste und passendste für die eigenen Bedürfnisse. Die allermeisten Kabel, darunter auch viele hochpreisige, die ich mir vom Händler ausgelieh, habe ich alle wieder zurück gebracht. Und von wegen „aufgeschwatzt“: In der Regel bin ich der Aktive gewesen, der Wünsche an den Händler herangetragen hat, verschiedene Kabel zuhause zu testen, welche – so meine positive Erfahrung von Jahrzehnten – mir die Händler meist großzügig erfüllten, auch wenn sie dabei nicht viel und gar nichts an mir verdient haben.


    Über das Thema „Kabelklang“ in Hifi-Foren, wo „Abstreiter“ den Ton angeben, redet man auch besser gar nicht mehr. Das Entrebillet in die feine Gesellschaft der Foren-Besserwisser von heute wird gelöst, wenn man gleich zu verstehen gibt, dass man an „Kabelklang“ natürlich nicht glaubt. Die Frage des Für und Wider des Kabelklangs ist längst zur Ein- und Ausschluss-Regel in den geschlossenen Kreis von „Wahrheitsfindungs“-Foren in Sachen Hifi geworden. Wer anders denkt, dem wird gleich auf mehr oder weniger (un)feinfühlige Weise der Mund verboten. Lässt er sich nicht aus dem Foren-Kreis herausgedrängen, bleibt ihm entweder nur die unerfreuliche Rolle eines ewigen Störenfriedes oder aber eines Narren und Prügelknaben übrig, der sich ständig schulmeistern lassen muss durch die Lektionen der selbsternannten „Aufklärer“ in Sachen Hifi-Wahrheit, womit er Demut zeigt und in dieser Unterwürfigkeitshaltung schließlich geduldet wird. Jeden Pädagogen und Psychologen muss es eigentlich erschrecken: Die Foren-Welt heute richtet nicht nur Tabus auf, sondern die Foren-Mitglieder üben sich in der Selbstzensur eines Anpassungs-Verhaltens, das man eigentlich eher in Diktaturen und totalitären Staaten erwartet.


    Diese eingefahrenen Rituale zu durchbrechen scheint kaum noch möglich. Für mich die Schlüsselerfahrung: Mein alter Lautsprecher hatte einen Mitteltöner, wo die Schwingspule nicht ganz symmetrisch in der Trommel steckte, wie mir der Entwickler erklärte. Bei einigen wenigen Klavieraufnahmen mit starker Mittenbetonung gab es deshalb ein kratzendes Nebengeräusch, wenn die Schwingspule die Trommel berührte. Interessant für mich nun, dass dieses Störgeräusch nach dem Kauf eines neuen Vor-Endstufenkabels bei anderen CDs auftrat, wo bisher nichts in dieser Hinsicht zu hören war. Mein Glaube an die Vernunft im Menschen meinte, dass dieser eindeutige Hinweis darauf, dass das neue Kabel mechanisch eine Veränderung im Lautsprecher bewirkt hat, auch Skeptikern, die generell den Hörerlebnissen misstrauen und schnell bereit sind, „Kabelklang“ als eine Suggestion abzutun, zumindest etwas nachdenklich werden lassen müsste. Doch weit gefehlt! Die Reaktionen auf diese Geschichte in meinem Hifi-Forum war nicht nur befremdend, sondern geradezu grotesk: Noch Jahre später bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurde mir diese Anekdote als „Beleg“ dafür vorgehalten, dass ich überhaupt unzurechnungsfähig sei, eine Hifi-Anlage klanglich zu beurteilen, weil ich schließlich nur mit einem defekten Lautsprecher gehört hätte! Das „Argument“ ist natürlich völlig absurd. Es ging schließlich um ein halbes Dutzend CDs speziell bei Aufnahmen mit Solo-Klavier bei einer Sammlung von weit mehr als tausend CDs mit Orchestermusik, Oper, Kammermusik etc., wo dieser Fehler nie auftrat! Die Abstreiter-„Logik“ ist hier ungefähr so einleuchtend, wie einem Formel-1-Rennfahrer zu unterstellen, er sei ständig mit einem defekten Fahrwerk unterwegs und könne sein Auto nicht richtig beherrschen, da die Achsen seines Tigh-Tech-Fahrzeugs brechen, wenn es nicht auf der glatten Rennststrecke, sondern über einen frisch gepflügten Acker fährt.


    Bei solcher Abstreiter-Verbohrtheit bekommt man unweigerlich den Eindruck, dass ihnen die armen Kabel eigentlich weit mehr bedeuten als nur eine Hifi-Komponente unter anderen, sie diese vielmehr zum bedeutungsschwangeren Symbol-Objekt hochstilisiert haben: Das Kabel nicht nur als olle Verbindungststrippe sondern Ernst zu nehmende Hifi-Komponente scheint stellvertretend alle Dinge zu verkörpern, denen die Abstreiter mit ihren Ressentiments aus Unverständnis gegenübestehen und aus tiefstem Herzen verabscheuen: Das ist einmal die für sie unerreichbare Hörkultur des „High-Enders“ wie vor allem dasjenige, was sie als die Verlogenheit der Hifi-Szene insgesamt betrachten. Oder dieses Abstreiter-Phänomen von anderer Seite aus betrachtet: Hifi-Kabel, sie sind das eigentliche Skandalon für die naive Verständigkeit von Technikgläubigen, denn keine andere Hifi-Komponente verweigert sich so offensichtlich dem von fundamentalistischem Vereindeutigungs- und Erklärungswahn durchdrungenen Ingenieursdenken.


    Nichts verdeutlicht eigentlich besser das Scheitern des Versuchs, Erklärungs-Eindeutigkeit beim Thema „Kabelklang“ herzustellen, als die Stereoplay-Episode aus den 90iger Jahren: Die Testzeitschrift Stereoplay hatte sich damals das gut gemeinte Ziel gesetzt, die so emotional aufgeheizte Diskussion endlich zu versachlichen. Zusammen mit dem Messlabor und einem Kabel-Hersteller stellte sie einen Katalog von technischen Kriterien auf, nach denen man die klangliche Qualität eines Kabels auch messtechnisch eindeutig beurteilen können sollte. Bezeichnend wichen aber die klanglichen Bewertungen in den Stereoplay-Testberichten von diesen technischen Kriterien merklich ab. Das, was Stereoplay beanspruchte, die klangliche Beurteilung in eine eindeutige Korrelation zu solchen für aussagekräftig erachteten Messdaten stellen zu können, konnte sie selbst letztlich gar nicht einlösen. Die Lektüre der Testberichte, wo mal ein klanglich für gut und sehr gut befundenes Kabel den messtechnischen Kriterien ungefähr entsprach, ein anderes, klanglich sogar besser getestetes aber messtechnisch gar nicht so überzeugend abschnitt, verlangte vom Leser also viel „Ambiguitätstoleranz“. Streitet man den Wert solcher Klangbeschreibungen nun nicht einfach ab, dann ist zu konstatieren, dass es offenbar beim Thema „Kabelklang“ nicht gelingt, Erklärungs-Eindeutigkeit in messtechnischer und zugleich hörpsychologischer Hinsicht herzustellen. Stereoplay hat diesen methodischen Versuch schließlich sehr bald sang- und klanglos „beerdigt“, wohl auch, weil sich Hersteller beschwert haben dürften, dass sie andere (technische) Qualitätskriterien bei ihrer Produktentwicklung zugrunde legen als der Partner von Stereoplay.


    Methodisch steht dieser Stereoplay-Erklärungsversuch letztlich für eine in den Naturwissenschaften übliche Modellbildung. Dass die ehrlich gemeinte Ambition von Stereoplay, Klarheit in der Frage des „Kabelklangs“ auf messtechnischer Grundlage zu schaffen, zum Scheitern verurteilt war, liegt letztlich an der Tatsache, dass ein allgemein anerkanntes wissenschaftlich-technisches Modell für die Bewertung von Hifi-Kabeln schlicht nicht existiert. Offenbar reicht das Wissen in diesem Bereich nicht aus, das Verhältnis zwischen messtechnischen Größen und dem klanglichem Ergebnis so eindeutig zu definieren, dass es allgemein und leicht nachvollziehbar für alle irgendwie Technik-Verständigen wäre. Jeder Hersteller hat hier offenbar sein eigenes Modell entwickelt, was bedeutet, dass der Käufer und Hörer über die Qualität und Effektivität von Hifi-Kabeln entscheidet – und nicht irgendein Erklärungsanspruch von „Technikern“ oder sogar der Wissenschaft.


    Für die Foren-Abstreiter liegt es jedoch völlig außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dass es im Bereich der Hifi-Technik irgend einen nicht faktisch schon eindeutig erklärbaren und erklärten „Rest“ geben könnte. Es gibt doch – versichern sie – nichts Trivialeres und Einfacheres als einen Hifi-Verstärker zu bauen oder ein Kabel zu fertigen! Man brauche zwei oder drei Messdaten – und dann könne man eindeutig vorhersagen, wie es klingt. Hier macht sich nicht zuletzt ein Defizit in der Ingenieursausbildung bemerkbar, wo über das technische Handwerkszeug hinaus Grundlagen der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie nicht vermittelt werden. Technikgläubigen ist so nahezu unmöglich verständlich zu machen, was für einen wissenschaftstheoretisch gebildeten und im Methodendenken geschulten Physiker so selbstverständlich scheint: zu unterscheiden zwischen einem Modell, das die Wirklichkeit nur beschreibt, und der Wirklichkeit selbst. Modellbildungen arbeiten – und das freilich in der Regel sehr erfolgreich – mit der Methode der Komplexitätsreduktion. Allerdings kann genau diese Reduktion von Komplexität in Grenzbereichen zu Erklärungsproblemen führen, wenn das Komplexe nicht auf das Einfache zurückzuführen ist. Jeder Wissenschaftler und wissenschaftstheoretisch Gebildete weiß um solche methodischen Komplikationen. Nur die Foren-Abstreiter in ihrem Vereindeutigungs- und Erklärungswahn nicht! Es ist allerdings nicht einsehbar, warum die Existenz solcher Grauzonen der Uneindeutigkeit von Wissen und Nichtwissen, wo vereinfachende technische Denk-Modelle, welche der leichten Reproduzierbarkeit von Ergebnissen zur Herstellung eines Serienprodukts dienen, versagen, im Bereich der Audio-Technik prinzipiell ausgeschlossen sein sollen. Zudem: Fragt man einen Physiker nach Messungen, dann antwortet er: „Bevor ich mit irgendeiner Messung beginne, muss ich erst einmal wissen, was ich überhaupt messen will.“ Wissenschaftler messen nicht nach Gemeinplätzen aus dem Physik-Lehrbuch einfach drauflos, sie entwickeln zunächst ein mühsam durchdachtes kompliziertes Modell, damit die vielen möglichen Messdaten auch wirklich interpretierbar sind im Sinne der methodischen Bewältigung einer komplexen Fragestellung, mit der sie an die physikalische Realität herangehen. Den nur Wissenschaftsgläubigen, der kein wirklicher Wissenschaftler ist, erkennt man deshalb auch daran, dass er, ohne viel überlegen zu müssen, überall und immer schon ganz genau weiß, was eigentlich ganz einfach zu messen ist.


    Der Glaube, dass in der Audiotechnik alles bis ins letzte Detail wissenschaftlich erforscht ist, stellt im Grunde eine Karrikatur des Ideals der „vollständigen Beschreibung“ aus der klassischen Mechanik dar. Nicht nur, dass in der Mathematik, in den Natur- und Geisteswissenschaften heutzutage über Ambiguitäten gerade hinsichtlich des Wissens und Nichtwissens diskutiert wird – demnächst organisiert das Wissenschaftszentrum Münster bereits die zweite interdisziplinäre Tagung zum Thema „prinzipielles Nichtwissen“, woran sich Logiker, Mathematiker und Physiker beteiligen. Stichworte: Gödels Paradoxie, wonach ein mathematisches System nur entweder begründet oder vollständig sein kann oder das „Ignorabimus“ von Emil Du Bois-Reymond. Gerade auch empirisch ist die Vorstellung, dass die Audiotechnik eine Oase vollständigen und vollkommenen Wissens darstellt, nicht mehr als ein Konstrukt fundamentalistischen Erklärungswahns. Wissenschaftliche Studien kosten Geld und werden – wie im Bereich der Medizin und Pharmazie üblich – nur dann finanziert, wenn das Erkenntnisinteresse mit dem ökonomischen Interesse konvergiert. Bei der Hifi-Technik handelt es sich jedoch eher um so etwas wie einen esoterischen Nischenbereich, der so gut wie gar nicht von allgemeingesellschaftlichem Interesse ist. Wer würde kostspielige Forschungsaufträge vergeben, wie sich verkupftere Platinen auf das Hören auswirken oder welche Vorteile die Hyperlitz-Konfiguration eines Hifi-Kabels bietet? Das Interesse an solchen Fragen liegt allein bei den Herstellern von solchen Produkten – darüber hinaus hat es erkennbar keine wissenschaftliche Bedeutung, da es schlechterdings keinerlei Dringlichkeit für eine solche Forschung gibt – schon gar nicht mit dem bloß „theoretischen“ Ziel, die „Wahrheit“ über sogenannten „Kabelklang“ für oder wider die Abstreiter zu beweisen. Und so verwundert es eigentlich auch nicht, dass von der Wissenschaftswelt durch Studien und Metastudien mehrfach evaluierte Ergebnisse auf diesem Gebiet schlechterdings nicht existieren. Die in Foren aktiven Erklärer-Abstreiter haben deshalb auch nicht mehr zu bieten als die Dreistigkeit bloßen Behauptens ohne jeden nachprüfbaren Erkenntniswert.


    Geradezu abenteurlich und vollkommen lächerlich ist schließlich die immer wieder zu lesende Abstreiter-Behauptung, ein teures Audio-Kabel sei nur ein Billigdraht mit einer schönen teuren Verpackung – Geldwert maximal 20 Euro! Weltweit agierende Marktführer wie Wireword oder Audioquest bieten Produkte in jeder Preisklasse je nach Wunsch des Kunden an – von wenigen Euro bis zu fünfstelligen Beträgen. Kabel im Bereich von unter 200 Euro divergieren da – beim selben Hersteller – preislich um 30 oder 60 Euro. Entspringt eine solche Preisgestaltung wirklich nur der Fantasie von Marketing-Strategen? Ohne die Preiskalkulation in all diesen Fällen wirklich zu kennen sind solche Behauptungen schlicht unseriös und unglaubwürdig.


    Wirklich fatal und nicht nur kurios ist jedoch die nachhaltige Wirkung des Feldzugs von Abstreiter-Kriegern wider den bösen Feind des „Kabelklangs“, weil er zu einer generellen Verunsicherung geführt hat, einer Art Scham, das Thema in der Öffentlichkeit überhaupt offen und ehrlich zu diskutieren. Leider beschränkt sich diese Verklemmung längst nicht mehr nur auf die geschlossenen Zirkel von Hifi-Foren. Wenn ein bekannter Tontechniker in seinem Youtube-Video erklärt, warum er teure Stromkabel in seinem Studio verwendet und keine Billigstrippen, also dem Tontechniker-Mythos, wie er von Foren-Abstreitern verbreitet wird, offen widerspricht, dann tut er das nicht ohne schamhaft die Bemerkung hinzuzufügen: Seine Wahrnehmung sei aber letztlich nur „subjektiv“! Und das, obwohl er es besser weiß! Traurige schöne Hifi-Welt!


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

  • Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    9. Wie finde ich die richtigen Kabel für meine Anlage? – ein alltagspraktisches Beispiel


    Ich gehöre zu der Generation, die von Hifi geprägt wurde, als Streaming, Rippen usw. noch in den Sternen stand. Musik wurde von der Langspielplatte abgespielt und später dann der CD. Wenn ich die bisher über die Anlage hören wollte, musste ich aufwendig CD-Rs brennen, von denen inzwischen hunderte in CD-Boxen und Papphüllen herumstehen. Das alles kostet nicht nur Zeit, sie zu brennen, sondern auch Platz, der langsam bei gefüllten CD-Regalen gegen Null tendiert. Und: Gerade bei gebrannten CDs verliert man allzu leicht die Übersicht, was man eigentlich besitzt. Gerade noch rechtzeitig, bevor die vom fehlenden Nachschub von Bauteilen aus China herrührenden Lieferschwierigkeiten mit dem kurze Zeit nach seinem Erscheinen auch schon ausverkauften Nachfolgemodell begannen, habe ich mir deshalb einen auch für die Hifi-Anlage tauglichen PC-DAC gekauft, ein Auslaufmodell, den Cambridge DAC Magic Plus.


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    Die Anschaffungsbemühung selbst ist – und das muss ich dreimal unterstreichen – größtenteils eine „Kabel-Geschichte“! Wie wichtig in einer Hifi-Anlage doch Kabel sind, hat mir gerade diese meine letzte Erweiterung der Anlage sehr deutlich gemacht. Ein Lob muss ich da auch an meinen Händler aussprechen, der mir bereitwillig mehr als ein halbes Dutzend diverser Strippen ausgeliehen hat und mir Wochen Zeit gab, alles in Ruhe und sorgfältig auszuprobieren, bis alles zusammenpasste. Denn: Der neue DAC Magic Plus bieten mir sehr viele Anschlussmöglichkeiten: Mit USB-Kabel vom Laptop zugespielt oder auch ein CD-Laufwerk angeschlossen kann ich ihn sowohl mit dem Yamaha RN 803 D hören, aber auch auf verschiedene Weise mit der AVM-Kette verbinden: das AVM CD1-Laufwerk anschließen, den AVM DAC 1.2 aus dem Spiel lassen oder aber ihn als Wandler nur benutzen mit dem Yamaha, oder aber den kompletten Wandler-Vorverstärker mit den AVM-Endstufen (M4 Monos) verbinden über die symmetrischen XLR-Ausgänge – auch eine verlockende Möglichkeit.


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    (Yamaha RN 803 D)


    Als im Kabeltesten seit Jahrzehnten erfahrener sogenannter „HighEnder“ (das klingt für mich freilich ein bisschen lustig nach einem kapitalen röhrenden Hirsch mit 12-Ender Geweih) wollte ich für einen DAC, der als Auslaufmodell 400 Euro kostet, nun auch entsprechend preiswerte Kabel haben – drei an der Zahl: digital USB, digital Cinch und analog Cinch. Nur: Man kann einen preiswerten USB-DAC nicht an einer hochwertigen Anlage betreiben wollen, ohne ihn auch hochwertig zu verkabeln. Also habe ich (fast) den Preis für das Gerät nochmals in das Kabeltrio investieren müssen. Das finde ich aber auch völlig angemessen. Dazu kam noch eine gebrauchte Netzleiste – die bekannte Sun-Leiste, die ich durch Zufall entdeckte. So habe ich nun für beide Anlagen dieselbe Steckerleiste – alle Geräte richtig ausgephast mit dem Oelbach-Phaser.


    Meine ersten Tests waren mit dem Marantz CD 80, den ich als digitales Zuspiel-Laufwerk benutzte. Sehr aufschlussreich, denn sie zeigten, wie leicht man zu Fehlurteilen über die Qualität von Elektronik kommt – hier des internen DAC des Yamaha RN 803 D wie auch des DAC Magic Plus – wenn man nicht berücksichtigt, dass das verwendete Kabel zu sehr erheblichem Anteil die Klangqualität mit bestimmt. Als ob ich es geahnt hätte, habe ich zunächst das Zuspiel-Digitalkabel des Marantz CD 80, ein altes Oelbach NF 113, gegen das Audioquest Cinnamon ausgetauscht. Die klangliche Verbesserung war unerwartet drastisch, womit sich herausstellte, dass der eingebaute DAC des Yamaha-Netzwerk-Receivers doch viel besser ist, als ich es bisher realisieren konnte. Der hörbare Zugewinn war so deutlich, dass der klangliche Rückstand zum Marantz CD 80 – mit veralteter Wandlertechnik (ein Philips TDA 1541 Wandlerchip mit 16bit 2fach Oversampling) –, doch sehr zusammenschrumpft. Die Weisheit bestätigt sich immer wieder: Der Wandlerchip kann so hochmodern sein wie er will, deswegen klingt das Gerät aber noch lange nicht besser. Denn die Qualität der Elektronik, die drum herum verbaut ist, macht vor allem die Musik.


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    (Marantz CD 80)


    Ich selbst war nun gespannt: Wo steht der Cambridge DAC Magic Plus klanglich? Ist er besser als der eingebaute DAC des Yamaha RN 803D? Kommt er an den Marantz CD 80 heran oder überflügelt ihn sogar? Um ihn anzuschließen, brauche ich aber ein Analogkabel – zusätzlich zur digitalen Verbindung mit dem Audioquest Cinnamon. Dafür hatte ich mir zunächst zwei preiswerte Kabel ausgeliehen: das Transparent Hardwired RCA HWRCA3 0,9M für 60 Euro und ein Audioquest Evergreen für 45 Euro. Von Transparent hatte ich bisher noch nie ein Kabel getestet – die Verarbeitung des preisgünstigen Hardwired RCA ist wirklich sehr gut. Also habe ich zuerst das Transparant-Kabel eingestöpselt. Keine Frage – das ist ein gutes Kabel. Es hat einen sehr schön offenen, aber unaufdringlichen Mitten-Hochtonbereich und tendiert in eine klanglich neutrale Richtung. Mit der Fernsteuerung des Yamaha leicht umgeschaltet vom einen Eingang auf den anderen habe ich dann zum Vergleich den Marantz CD 80 gehört, analog mit einem Van den Hul D 300 III verbunden. Und mein Urteil fiel eindeutig aus: Der DAC Magic Plus liegt qualitativ zwischen dem DAC des RN 803D und dem Marantz. Vor allem die etwas flache Basswiedergabe des Cambridge-DAC ließ ihn hinter den Marantz klar zurückfallen.


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    (Audioquest Evergreen)


    Na gut dachte ich - was willst Du für diesen günstigen Preis auch mehr erwarten? Aber genau das war ein Fehlurteil! Dies kam heraus, als ich die Kabel tauschte, das Transparent Hardwired gegen das Audioquest Evergreen auswechselte: Auf einmal war der Bass mit dem Cambridge DAC da – nun mit dem Audioquest verkabelt nicht weniger körperlich als der des Marantz, zugespielt mit dem Van den Hul. Der Hochtonbereich war wunderbar farbig, offen und unangestrengt. Jetzt auf einmal spielte der DAC Magic Plus mindestens auf demselben Niveau wie der Marantz CD 80, wenn nicht gar einen Tick darüber. Ich war erst einmal sehr zufrieden: Dieses preiswerte Kabel (45 Euro!) hat einfach ein überragendes Preis-Leistungsverhältnis! War es also das passende, was ich brauche?


    Es sollte sich allerdings beim nächsten Testgang herausstellen, dass es leider doch ein Haar in der Suppe gab. In einem weiteren Vergleich habe ich nämlich die RCA-Analog-Kabel getauscht – den Marantz mit dem Audioquest Evergreen verbunden und den DAC Magic Plus mit dem Van den Hul. Da stellte sich heraus: Das Van den Hul ist das klar bessere Kabel – vor allem in der Basswiedergabe, die einfach deutlich konturierter und sauberer ist.


    Dieses Van den Hul D300 III ist allerdings zwar ein hervorragendes, aber um es spaßig auszudrücken auch etwas „zickiges“ Kabel. Als Vor-Endstufenverbindung ist es schlicht nicht zu gebrauchen. Mit dem Marantz CD 80 spielt es sehr präzise und ausgewogen, engt aber auch den Raum deutlich ein. Mit dem Cambridge DAC Magic Plus ist interessanter Weise dieser Effekt der Raumkompression nicht festzustellen. Es handelt sich also offensichtlich um ein Anpassungsproblem von Kabel und dem jeweiligen elektrischen Anschluss. Das Audioquest Evergreen spielt nun wiederum deutlich weniger vorteilhaft mit dem Marantz CD 80 zusammen – denn hier addieren sich die Schwächen des Kabels und der veralteten Wandlertechnik auf: Vor allem der Bass wirkt merklich unpräzise. Fazit: Trotz der etwas flacheren Räumlichkeit ist das Van den Hul D 300 III für den Marantz CD 80 das richtige Kabel, denn durch seine präzise Wiedergabe verdeckt es die Schwächen des Geräts und präsentiert diese Elektronik Entwicklungsstand 1990 von ihrer stärksten Seite. Für den Cambridge DAC Magic Plus ist nun allerdings die Frage nach dem passenden Analogkabel wieder offen. Also habe ich zunächst zum Audioquest Golden Gate gegriffen, das nur 30 Euro teurer ist als das Evergreen. Die Basswiedergabe ist deutlich präziser als die des Evergreen – was im Youtube-Video eines Hamburger Händlers auch die Mikrophone deutlich hörbar eingefangen haben. (Dazu kann ich mir die ironische Bemerkung nun nicht verkneifen: Nicht nur telepathische Voodooisten-Wunder-Ohren, auch schnöde elektrische Mess-Ohren „hören“ offenbar Kabelklang!)


    Damit keine Missverständnisse aufkommen: Man kann ein Kabel nur bewerten in der Anlage, in der es jeweils spielen soll. Vielleicht ist das Audioquest Evergreen mit seinem saftigen Klang und etwas fülligerem Bass gerade das richtige für unten herum schlank abgestimmte Lautsprecher. Meine Dynaudios mit ihrer Bassfülle dagegen vertragen gerade das nicht – sie brauchen Präzision der Zuspielelektronik wie auch der Kabel.


    Leider war das im Bass deutlich präzisere Audioquest Golden Gate aber auch nicht die Lösung. Denn anders als das Evergreen, das im Mitten-Hochtonbereich wunderbar offen, farbig und rund klingt, wirkt das Golden Gate in den Höhen leider etwas ausgedünnt und scharf. Besonders bei solchen schlank aufgenommenen Supraphon-Aufnahmen aus Prag fällt das unangenehm auf.


    Die Folge dieser ersten Test-Episode mit den Analog-Kabeln war deshalb, dass ich mir bei meinem sehr entgegenkommenden Händler mehrere Kabel für eine weitere Testrunde ausgeliehen habe – wie es leider unvermeidlich war in zwei von drei Fällen in einer nun etwas höheren Preisklasse. Darunter war ein Audioquest Big Sur und ein gebrauchtes Vorführkabel, das offiziell im Handel nicht mehr erhältlich ist, ein etwas längeres Wireworld Oasis 5. Dazu hat mir mein Händler noch ein Audioquest-Kabel von der Rolle mit Steckern konfektioniert (Preis: 89 Euro). Die Durchführung des Tests war denkbar einfach. Ausschlusskriterium war die präzise Basswiedergabe – deren Maßstab das Van den Hul D 300 III vorgibt. Das war für mich bequem zu realisieren, denn ich brauchte – per Knopfdruck von der Fernsteuerung des Yamaha RN 803D umgeschaltet – den Marantz CD 80 mit van den Hul gegen den Cambridge DAC Magic Plus mit dem jeweils zum Testen angeschlossenen Kabel nur einfach gegenzuhören.


    Den Beginn machte das Audioquest von der Rolle mit den konfektionierten Steckern. Der Mitten-Hochtonbereich war sehr schön offen und großräumig, aber auch nicht gerade ein Wunder an Feinzeichnung. Doch im Bass war es eindeutig wattig im Vergleich mit Marantz/Van den Hul. Damit schied es aus. Das Audioquest Big Sure nun war im Hochtonbereich deutlich besser als das Golden Gate – keine unangenehme Schärfe. Aber auch dem Big Sure fehlt die Basspräzision!


    Ich war nun schon fast ein wenig frustriert. Nur noch ein Eisen hatte ich im Feuer, das gebrauchte Wireworld Oasis 5. Da ich ein Kabel von Wireworld zuvor nie getestet hatte, wusste ich so gar nicht, was mich erwartet. Doch dann kam völlig unerwartet eines meiner nicht so häufigen „Aha“-Kabelerlebnisse. Beethoven 5. Klavierkonzert, Konzertmitschnitt mit den Wiener Symphonikern, Arturo Benedetti Michelangeli und Carlo-Maria Guilini (Aufnahme Deutsche Grammophon) – gleich zu Beginn, wenn der Beifall des Publikums eingeblendet wird, spürt man mit dem Wireworld das, was keines der anderen Kabel vermitteln konnte: So klingt der große Wiener Konzertvereinssaal! Die Konzertatmosphäre aus Wien – dieses Kabel kann sie wirklich authentisch vermitteln, wo man sie mit den anderen Kabeln kaum erahnt. Es spielt großräumig aufgeräumt, farbig, feinzeichnend, präzise, immer locker und unangestrengt und im Bass so differenziert und genau, dass auch das Van den Hul nichts mehr zu melden hat. Nicht irgendein Klang kommt aus dem Lautsprecher, sondern wirklich Musik, so dass das Hören nur noch zum ästhetischen Genuss wird und man alles Hifi-Technische einfach vergisst. Man muss es so deutlich sagen: Das Wireworld-Kabel, klanglich distanziert es schlicht alle anderen Kabel, die ich in diesem Vergleichstest zur Verfügung hatte. Toll verarbeitet ist es auch – mit schön wertigen, vergoldeten Steckern. Ein wirkliches Super-Kabel – das einfach ganz genau bei mir passt.


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    (Wireworld Oasis 5)


    Der Grund, warum ich mir den Cambridge-DAC gegönnt habe, war aber eigentlich, Dateien vom PC über die Anlage abzuspielen. Richtig! Auch die Verbindung über USB habe ich natürlich getestet. Auch hier habe ich verglichen – wie klingt das Zuspiel über USB im Vergleich zu dem mit einem CD-Laufwerk? Es stellte sich zunächst heraus, dass ich das USB-Kabel, ein Audioquest Cinnamon wiederum, viel zu kurz gekauft hatte. So war die Hörkonstellation mit dem Laptop zunächst etwas abenteuerlich – aber sie fand statt! Das Ergebnis des ersten Testdurchgangs: Das Klangniveau über USB entspricht ungefähr dem des Marantz CD 80 als Zuspiel-Laufwerk. Allerdings wirkte die Wiedergabe vom Laptop ein klein wenig vordergründiger und auch trockener. Was die Wiedergabe über CD vermitteln kann, sind die Mischfarben, das gewisse Flair. Um es mit einem Vergleich auszudrücken: Statt impressionistischer Mischtöne und den schillernden Sommerfarben der in der Hitze flimmernden Luft ist der Klang über USB eher der eines eiskalten Winter-Sonnentags mit scharfen Kontrasten von Gegenständen, die sich messerscharf von der weißen Schneedecke abheben. Dagegen hat es das Marantz-CD-Laufwerk aber schwer, sich gegen die räumliche Aufgeräumtheit und Körperlichkeit der USB-Wiedergabe zu behaupten.


    Doch auch hier hat sich eine eindeutige klangliche Aufwertung ergeben: Der glückliche Zufall wollte es, dass das Audioquest Cinnamon USB in der Länge 1,5m nicht lieferbar war. So hat Audioquest mir über den Händler dann das deutlich teurere Carbon USB (das 2014 einen Award sogar erhielt) zum Preis des Cinnamon angeboten! Das ist nun wirklich sehr kundenfreundlich! Und der Austausch hat sich gelohnt: Die Wiedergabe mit dem Laptop – nun mit dem Audioquest Carbon, dem Wirworld Oasis 5, dazu der neuen Strom-Verkabelung mit der Sunleiste, die ich gebraucht günstig ergattern konnte – hat sich noch einmal deutlich verbessert. Über USB ist die künstliche Vordergründigkeit nun nicht mehr da, auch diese gewisse spröde „Trockenheit“ nicht. Nun spielt der DAC Magic Plus als USB-DAC verwendet zusammen mit dem Yamaha RN 803D etwas oberhalb des sehr guten Niveaus des Marantz CD 80 – die Räumlichkeit vor allem ist eindeutig besser.


    Damit habe ich aber noch nicht die AVM-Kette ins Spiel gebracht. Ein weiterer Testdurchgang war, dass ich das AVM-CD 1-Laufwerk zweimal angeschlossen habe mit den beiden verschiedenen Digitalkabeln, dem Audioquest Cinnamon und dem Sun Wire Digicoax Reference. Letzteres bietet deutlich mehr Fülle und Homogenität – und vor allem eine sagenhafte Ausgewogenheit. Absolut betrachtet ist das (von Fadel einst produzierte) nicht mehr erhältliche Sun Wire einfach mehr als eine Klasse besser als das Audioquest Cinnamon – nicht umsonst auch preislich in einer anderen Liga. Das Audioquest klingt deutlich dünner im Ton und wirkt bassbetonter. Es hat weder die Homogenität und Neutralität, noch den Substanzreichtum und die Plastizität und „Realistik“ des Sun Wire. Das Vergleichshören macht es deutlich: Während man mit dem Sun Wire Musik hört, meint man mit dem Audioquest, doch irgendwie noch eine „Hifi-Wiedergabe“ vor sich zu haben – die allerdings sehr eindrucksvoll ist: glasklare Höhen, eine absolute Durchsichtigkeit, Farbigkeit und ein ungemein präziser und tief reichender Bass. Bei Klavier vor allem zeigt sich, dass die Wahrnehmung von Bassbetontheit hier psychologisch begründet ist: Weil die Fülle im Mitten-Hochtonbereich fehlt, konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit beim schlanker klingenden Audioquest Kabel auf den Bass.


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    Das Audioquest Cinnamon ist freilich ein wunderbar klingendes Digitalkabel – und zu dem Preis ein Preis-Leistungs-Hammer. Der klare und saubere, dazu feine Klang ist einfach nur eine Freude – man kann mit so einem Kabel im Alltag also sehr gut hören, es hat seine Qualitäten, mit denen es den Hörer becircen kann. Auch das ist eine nicht unwichtige Erkenntnis: Man braucht nicht immer das Allerbeste, um wirklich zufrieden mit seiner Anlage sein, wenn die Grundqualität stimmt und der Klang wirklich positiv ansprechend ist. Das Audioquest Cinnamon benutze ich mit dem Marantz CD 80 als Zuspiellaufwerk für den DAC Magic Plus – so höre ich auch am häufigsten. Meine Lieblingskombination ist allerdings, den Cambridge DAC über das Sun Wire Digicoax Reference mit dem AVM CD 1-Laufwerk zu verbinden. Der klangliche Zugewinn ist deutlich – in dieser Kombination hole ich das Bestmögliche aus dem Yamaha RN 803 D heraus.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

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    10. Nur noch Abhören statt Hören? Der Tontechniker-Mythos – oder über den Verlust des ästhetischen Hörens


    „Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert“ heißt eine späte Schrift von Friedrich Nietzsche. Leicht erkennbar ist der Titel eine Wagner-Parodie – aus der „Götter“-Dämmerung wird bei Nietzsche eine „Götzen“-Dämmerung. Doch bei der Bedeutung des Hammers kann sich der Leser ebenso leicht irren. Die Assoziation meint nicht etwa den Vorschlaghammer, welcher alles zertrümmert, sondern das Hämmerchen des Arztes, mit dem er die Lunge abhört. Ärzte klopften früher dem Patienten auf die Brust und die Resonanz verriet ihnen eine kranke Lunge. Oder aber sie horchten die Herztöne ab, um einen unregelmäßigen Rhythmus zu erkennen. Das Abhören des Arztes ersetzt heute zumeist eine Maschine – denn falsche Herztöne erkennen oder einen von der Regel abweichenden Pulsschlag registrieren kann auch ein Messsensor.


    Im Musikbereich entspricht dem die – bezeichnend auch so genannte – „Abhör“-Anlage des Tontechnikers im Tonstudio. Der Techniker will, wenn er eine Studio-Aufnahme abhört, ähnlich wie der Arzt seinen Patienten kuriert, etwas reparieren – mögliche aufnahmetechnische Fehler erkennen und schnell eliminieren. Nicht zufällig findet in Hifi-Foren, die von „Abstreitern“ dominiert werden, der „Tontechniker-Mythos“ weite Verbreitung. Er besagt, dass der eigentlich ehrliche und „richtig“ hörende Hörer im Tonstudio sitzt und nicht im bürgerlichen Wohnzimmer oder Hör-Keller von sogenannten „High-Endern“. Dem gewöhnlichen Käufer von Hifi-Geräten, der nach Ansicht der Abstreiter sein Geld für überteuerte Gerätschaften aus dem Fenster wirft, wird daher gerne empfohlen, doch Profi-Geräte wie Studiomonitore und Studiogeräte zu erwerben. Diese sind zwar von ihrer Ästhetik her wenig ansehnliche und hässliche Entlein, die so gar nicht ins gepflegte Wohnzimmer-Ambiente passen. Wie die Foren-Abstreiter meinen, machen sie aber genau das, was ein Lautsprecher oder Verstärker eigentlich nur können soll: das ausreichende Minimum nämlich, ein Musiksignal exakt reproduzieren. Aber ist der Tontechniker wirklich der ideale, illusionslose und „realistische“ Hörer, wie es der Tontechniker-Mythos von Abstreitern suggeriert? Es gibt dazu eine interessante Äußerung eines Toningenieurs, der Tests von Hifi-Gerätschaften im Internet veröffentlicht. Zu seinen Abhörmonitoren, mit denen er von Berufs wegen täglich arbeitet, merkt er an: „Damit kann ich nicht länger als 10 Minuten Musik hören – mehr halte ich nicht aus.“ Offenbar ist das „Ab“-Hören also doch etwas anderes als das „Hören“ einer Hifi-Anlage im heimischen Wohnzimmer – selbst für einen Tontechniker-Profi.


    Die „Abstreiter“ erliegen auch hier ihrem Technik-Fundamentalismus mit seinem Vereindeutigungs- und Erklärungswahn. Dies zeigt schon die Sprache, die sie benutzen. Äußerungen wie „Auch der billigste Verstärker macht nichts falsch“ oder „Ein neutral klingender Verstärker klingt eigentlich nicht, er hat keinen „Charakter“, keinerlei Eigenklang“ verraten den grundlegenden Irrtum: die Gleichsetzung des Hörens einer Hifi-Anlage mit einer Abhör-Situation. Beim Abhören im Tonstudio geht es darum, Fehler, also Abweichungen von der Norm der „richtigen“ Wiedergabe, zu erkennen. Diese Situation ist immer eindeutig oder soll zumindest möglichst eindeutig sein – weil ein Fehler etwas ist, den man eindeutig feststellen kann und will: Der Arzt will nach Möglichkeit jede Fehldiagnose ausschließen und eindeutig sagen können: Ist diese Lunge nun krank oder gesund? Ebenso möchte der Tontechniker die Fehler der Aufnahme möglichst schnell und zuverlässig erkennen, bevor es zu spät ist: Wenn die Aufnahme schließlich auf den Tonträger gebannt ist, kann man nichts mehr korrigieren.


    Im Unterschied zur Abhörsituation in einer Arztpraxis oder in einem Tonstudio ist die Hörsituation im heimischen Wohnzimmer aber alles andere als eindeutig. Wir hocken ja nicht beim Hören einer Beethoven-Symphonie vor den Lautsprechern, um die möglichst perfekte Reproduktion von Schallereignissen zu beklatschen: „Bravo, die Klarinette kann ich deutlich hören und nochmals Bravo, auch die Pauke schwimmt nicht weg!“ Ein solches Hören verdiente seinen Namen nicht – es wäre eine Komödie: Wollte man das Hören im Wohnzimmer wirklich in die Abhörsituation eines Tonstudios verwandeln, dann könnte man die Musik gar nicht genießen. Das Musikhören wäre so kein wirklich lustvolles positives Erlebnis, sondern bestände nur in dem Negativen und Privativen einer puren Tatsachen-Feststellung: „Ich konstatiere, dass meine Anlage keine Fehler macht!“ Wenn der Arzt seinem Patienten sagt „Sie sind gesund, ich höre keine falschen Herztöne!“, dann reagiert der zwar erleichtert, aber glücklich wird er damit keineswegs. Glück besteht nämlich nicht einfach nur im Fehlen von Schmerz und Leid. Was soll also der Liebhaber guten und schönen Hifi-Klangs mit so einer Aussage anfangen: „Ein Vollverstärker für 400 Euro, ein Kopfhörerverstärker für 50 Euro erfüllen alle Wünsche, denn sie machen messtechnisch nichts falsch!“ Ist er etwa schon glücklich mit seiner Anlage, nur wenn er keine Ohrenschmerzen bekommt von irgendwelchen Dröhn-Frequenzen, die durch den Raum wabern? Nein, guter und schöner Klang lässt sich überhaupt nicht mit dem Richtigkeits-Kriterium messen und ermessen. Und genau deshalb ist die Frage, was eine gut oder weniger gut klingende Anlage ist, auch nicht in die Eindeutigkeits-Antwort von „„richtig“ oder „falsch“ klingen“ zu zwängen.


    Gegen solche Einwände sind Abstreiter natürlich gewappnet durch ihr Kästchen-Denken und dessen Vereindeutigungs-Strategie, das Mehrdeutige der Hörsituation, wonach „richtig“ und „gut“ klingen durchaus nicht dasselbe ist, auf verschiedene Schubladen zu verteilen. „Hifi“ ist die Abkürzung für „High Fidelity“ – was zu Deutsch „hohe Treue“ heißt. Wer von einer Anlage mehr erwartet als die Wiedergabe nur des messtechnische Richtigen, dem wird entsprechend unterstellt, dass er dem „Hifi“-Gedanken untreu wird. Er ist dann für die Abstreiter so etwas wie ein Fotograph, der ein Portrait-Bild schönt, indem er die Fältchen wegretuschiert und die Hautfarbe bräunt, womit dem Gesicht eine Jugendlichkeit verliehen wird, die es in Wahrheit gar nicht hat. Dieser Schwindel fliegt natürlich auf, wenn man das gehübschte Bild mit dem gar nicht so ansehnlichen Original-Foto vergleicht.


    Abstreiter bezeugen einmal mehr ihre Ambiguitätsintoleranz damit, wenn sie entsprechend glauben, dass zwischen der „neutralen“ Wiedergabe und einer, die „soundet“, also einen Eigenklang produziert, immer eindeutig zu unterscheiden wäre im Sinne des einfachen Entweder-Oder. In der Realität der normalen Hörsituation ist allerdings die eindeutige Grenzziehung zwischen einer „soundenden“ und „neutralen“ Wiedergabe gerade in solchen für den Liebhaber guten Klanges relevanten Fällen gar nicht möglich. Der charakteristische Eigenklang einer Elektronik, der sich mit dem Eindruck der „neutralen“ Wiedergabe sehr wohl verträgt, ist so schließlich ein besonders einleuchtendes Beispiel für Ambiguitätstoleranz, die noch nicht dem technizistischen Vereindeutigungswahn und seinem Kästchendenken zum Opfer gefallen ist.


    Die unreduzierbare Mehrdeutigkeit der wirklichen Hörsituation kommt letztlich von der Doppeldeutigkeit des Hörens und Zuhörens, das nur in einer Hinsicht ein Schallereignisse richtig aufnehmendes „Ab“-Hören ist, aber zugleich wesentlich darüber hinaus geht. Wir können beim Vortrag eines Sängers registrieren, dass er intonationssicher ist, auch die schwierigen hohen Töne trifft, dass er immer sprachdeutlich artikuliert usw. Dieses „richtige“ Singen ist aber nicht das, was uns fasziniert, sondern dass der Sänger eine „schöne Stimme“ hat. Das Hören ist – im Unterschied zum bloßen Abhören – immer auch ein ästhetisches Hören, die Wahrnehmung eines „Schönen“. Die Doppeldeutigkeit der rezeptiven Erfassung der puren Wahrnehmungsqualität und zugleich ihrer ästhetischen Qualität bezieht sich auf dieselbe Wahrnehmung und ist damit unumgänglich. Die präzise, klare und deutliche Wiedergabe der Instrumente eines Orchesters kann das Abhören bestätigen im Sinne einer „exakten“, „richtigen“ Wiedergabe. Der „klare“ Ton wird aber nicht nur als „richtig klingend“ registriert, weil „Klarheit“ immer auch ästhetisch wahrgenommen wird als eine Ton-Reinheit und damit Ton-Schönheit. Meine AVM-Anlage gibt die Tonereignisse besonders präzise, bis hin zur feinsten Auflösung von Details, wieder. Genau das aber macht den Eigenklang und den Charakter dieser Elektronik aus: der kristallklare und zugleich glockenhaft abgerundete, nie scharfe Ton über das ganze Tonspektrum hinweg und insbesondere im Hochtonbereich, welchen ich besonders bei Klaviermusik als besonders „schön“ empfinde. Es gibt andere Elektronik, die kaum weniger „präzise“ klingt – wo ich aber diesen betörenden Eigenklang meiner AVM-Elektronik vermisse.


    Dass der insbesondere von Abstreitern abfällig beurteilte „Sound“, der Eigenklang einer Verstärkerelektronik etwa, einer „neutralen“ Wiedergabe notwendig im Wege stehen müsste, ist nun schlicht ein Vorurteil. Der „schöne“ Klang überdeckt nämlich nicht einfach nur schönfärberisch das, was „objektiv“ wahrzunehmen ist. Er macht es gerade möglich, in der entspannten, aber gebannten Aufmerksamkeit lustvollen Hörens auf die vielen akustischen Details zu achten, die man ohne den Schönklang, in den alles eingebettet ist, überhören würde. Wir kennen das von einem schön klingenden Musikinstrument im Unterschied zu einem schlechten. Wenn der Bogen quietschend über die Geigensaiten kratzt, haben wir keine Lust, auf die einzelnen Schwingungen zu achten, weil dies eine Beleidigung für das empfindsame Ohr darstellt.


    Schönklang und Schönfärberei sind also zwei grundverschiedene Dinge. Bei einer Händler-Vorführung habe ich mal die Hörsitzung abgebrochen, weil ich den schönfärberischen Röhrenverstärker nicht mehr ertragen konnte, der über alles eine Schokoladensoße des Schönklangs goss, so dass sämtliche Aufnahmen gleich klangen, die unterschiedlichen Aufnahmetechniken nicht mehr wahrnehmbar waren. Dieser Fall war für mich eindeutig – das ist eine „soundende“ und nicht mehr „neutrale“ Wiedergabe. Dagegen klingt für mich ein farbenfreudiger, basskräftiger und zugleich homogen-flüssig klingender Naim-Verstärker durchaus „neutral“, auch wenn der Klang nicht die Klarheit meiner AVM-Elektronik hat. Warum aber schließen sich Neutralität und Eigenklang hier nicht aus? Die Antwort lautet: Weil sich die Wahrnehmung in diesem Fall zwar auf dasselbe bezieht, das aber in ganz unterschiedlicher Perspektive und so zugleich auch anders erfasst wird. Diese beiden Hörperspektiven sind – voneinander untrennbar – sozusagen miteinander verflochten und machen damit die immer zweideutige Hörsituation insgesamt aus: Während sich das „Ab“-Hören im Hören auf die Aufnahme von einzelnen „Informationen“ beschränkt wie Basspräzision, Klarheit der räumlichen Abbildung, Auslösungsvermögen etc., geht es bei der ästhetischen Bewertung des „Klangbilds“ einer Verstärker-Elektronik um das Ganze, den Gesamteindruck, wo hinein sich die Wahrnehmung des Einzelnen einordnet. Das Klangbild kann den Eindruck geben von Flüssigkeit und Homogenität wie bei britischer Elektronik, oder aber mehr von Plastizität bei Geräten vornehmlich aus deutschen Manufakturen. Es kann sich durch Lebendigkeit und Frische auszeichnen wie bei meinen Class-A-Monos, bei einem anderen eher nüchtern klingenden „analytischen“ Verstärker eher kühl distanziert wirken für den, der ein barock fülliges und „warmes“ Klangbild schön und angenehm findet.


    Für die Foren-Abstreiter ist all das allerdings nur „Geschwurbel“, ein im Prinzip null und nichtiger suggestiver, „subjektiver“ Eindruck, der mit der eigentlich „objektiven“ Hifi-Wiedergabe nichts zu tun hat. Hinter der Abstreiter-Phraseologie vom „Geschwurbel“ verbirgt sich aber letztlich nur fehlende Ambiguitätstoleranz. Die von Thomas Bauer identifizierte fundamentalistische Strategie der „Vereindeutigung durch Kästchenbildung“ bringt hier das Mehrdeutige des komplexen, ästhetischen Hörens zum Verschwinden in der Isolierung dessen, was eigentlich untrennbar miteinander verflochten ist: Das aus dem kompletten Hörerlebnis heraus isolierte Abhören, das einfache Aufnehmen von Schallinformationen, wird zum exklusiven Hifi-Hören. Das „Ästhetische“ ist dann nichts als eine Projektion von Gefühlen und Vorstellungen in diese Schallereignisse hinein, was zum eigentlich Hifidelen verfälschend hinzukommt. Wird das Hifi-Hören auf diese Weise auf die reine Abhörsituation ohne ästhetischen Sinn reduziert, dann ist das Gehörte entweder unehrlich oder ehrlich, emotional oder sachlich, subjektiv oder objektiv, soundend oder neutral.


    Technizistisches Denken, es verbleibt offenbar weder in den schallisolierten Wänden von Tonstudios noch in den Messtechniker-Köpfen unter Kopfhörer-Verschluss, sondern bricht aus und ein in die ganz alltägliche Hör-Wahrnehmung. Wenn die Ambiguitätsintoleranz von Foren-Abstreitern das immer eindeutig-fehlerfreie Registrieren von Schallereignissen, welches ein Studiomonitor möglich macht, zum Hifi-Ideal erhebt, dann zeugt dies letztlich davon, dass sie das immer mehrdeutige und ambivalente ästhetische Hören schlicht und einfach verlernt haben. Der schleichende Gang der Abstreiter-Verbildung beginnt, wenn Kopf und Herz keine Einheit mehr bilden, der technizistische Verstand dem „emotionalen“ Hören, sofern es noch vorhanden ist, wieder und wieder mahnend einflüstert: „Du darfst das, was Dir so schön klingt, nicht Ernst nehmen.“ Und irgendwann kommt dann der Moment der Wahrheit über die Abstreiter: Sie hören nicht mehr ihre Hifi-Anlage, sie hören sie nur noch ab.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"



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    11. Das Hifi-Gerät als Hybrid – oder warum ein Hifi-Verstärker für menschliche Ohren und nicht für ein Messmikrophon bestimmt ist


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    „Was den Maschinen innewohnt, ist menschliche Wirklichkeit, menschliche Geste, die in funktionierenden Strukturen fixiert und kristallisiert ist.“


    „Die wirkliche Vervollkommnung der Maschinen (...) entspricht keinem Anwachsen des Automatismus, sondern ganz im Gegenteil dem Tatbestand, dass die Funktion der Maschinen einen gewissen Unbestimmtheitsspielraum in sich birgt.“


    „Wahrscheinlich ist die Behauptung möglich, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen technischem Objekt und ästhetischem Objekt gibt ... “


    (Gilbert Simondon)


    Hifi-Foren sind im Grunde eine Paradoxie. Denn sie transportieren unberührt von den rasanten und tiefgreifenden Veränderungen, welche die Technik und damit auch das darauf bezogene Technik-Verständnis in den letzten Jahrzehnten erfahren hat, eine rein mechanistische und funktionalistische Denkweise, so, als sei die Zeit bei der Erfindung des Telegrafen stehen geblieben. Dabei ist es gerade die Hifi-Technik, die zeigt, dass es hier um weit mehr geht als nur einen fehlerfrei funktionierenden Apparat zur Erreichung des Ziels und Zecks der unverfälschten Wiedergabe eines klanglichen „Originals“.


    Um es einfach auszudrücken und auf den Punkt zu bringen: Die Diskussion über Technik dreht sich schon seit Jahrzehnten darum, dass ein technisches Objekt keineswegs nur ein funktionierendes „Werkzeug“, sondern immer auch ein „Partner“ für den Menschen ist. Im Bereich der Musik lässt sich das am Beispiel von „technischen“ Musikinstrumenten wie der Orgel oder dem Klavier demonstrieren. Einerseits muss die Spieltechnik – also die Mechanik – eines solchen Instruments richtig, d.h. fehlerfrei und reibungslos, funktionieren. Dazu ist letztlich der Instrumentenbauer verantwortlich. Nur wird der Organist und Pianist sein Tasten-Instrument nicht bloß für seine perfekte Spielmechanik loben, sondern darüber hinaus seinen individuellen Charakter, den Eigenklang nämlich, zu schätzen wissen. Man kann sowohl auf einem Bösendorfer als auch einem Steinway-Flügel dieselbe Mozart-Klaviersonate fehlerlos spielen. Beide Instrumente klingen makellos – aber doch eben völlig anders. Für den Klavierspieler ist der Flügel deshalb nicht nur ein „Werkzeug“ zur korrekten Wiedergabe eines Musikstücks, sondern ein durchaus eigenständiger „Partner“, der ihm eine bestimmte Spielweise quasi aufdrängt. „Auf einem Bösendorfer kann ich ganz andere Dinge machen bei Mozart als bei einem Steinway“ – erklärte mir einmal ein Pianist, der eine Aufnahme auf einem großen Bösendorfer-Imperial machte. Das Verhältnis des Spielers zu seinem Instrument ist also weniger das eines Diktators, der ihm etwas „befiehlt“, indem er eine Taste herunterdrückt, sondern besteht in so etwas wie einem Dialog: Der Musiker hat zwar seine Klangvorstellung, die er gerne realisieren möchte, aber der Umgang mit dem Instrument ist nicht planbar wie bei einem Hausbau, wo nur ein bereits vorgefertigter Entwurf lediglich ausgeführt wird. Die Behandlung der Spieltechnik eines Musikinstruments besteht vielmehr in einem komplizierten Geben und Nehmen. Jeder erfahrene Spieler weiß: Man kann seine Klangvorstellung nie gegen, sondern immer nur mit dem Instrument realisieren.


    Inzwischen kennen wir eine solche „Partnerschaft“ mit einem technischen Instrument längst nicht mehr nur von den Musikinstrumenten her. Unser Handy, das wir rund um die Uhr mit uns herumtragen, erfüllt nicht nur diverse technische Funktionen wie das Telefonieren, die Möglichkeit, im Internet zu surfen oder zu fotografieren. Es spricht auch zu uns – und die Computer-Stimme hat sogar einen Namen: „Siri“. Unser Umgang mit Technik beweist also längst, dass er niemals eindeutig ist, das Technische nicht bloß rein technisch ist: Das technische Instrument ist stets Werkzeug und Partner, funktional und menschlich zugleich. In der Theorie der Technik haben dieser Tatsache zwei Ansätze Rechnungen getragen: Der eine ist die auf den französischen Soziologen Bruno Latour zurückgehende, sehr einflussreiche „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (abgekürzt ANT). Sie besagt, dass die technisch-wissenschaftliche Entwicklung nicht nur immer perfekter funktionierende Automaten, sondern zunehmend „Hybride“ schafft, wo der Anteil des Menschen und der Technik nicht mehr eindeutig voneinander abzugrenzen und zu bestimmen ist – was angesichts künstlicher Intelligenz und moderner Bio-Technologie (der Querschnittsgelähmte, der aufgrund eines Computer-Chips im organischen Gewebe wieder laufen kann) auch längst evident ist. Im Netzwerk wird der Gebrauch von Technik mehrdeutig – man kann nicht mehr eindeutig sagen: Wer ist eigentlich „aktiv“ oder „passiv“, wer ist „Subjekt“ oder „Objekt“ – der Mensch, oder die Technik, mit der er umgeht? Latours Beispiel dafür ist der Schlüssel für ein Hotelzimmer. Ein Schlüssel ist ein scheinbar eindeutig funktionierendes Werkzeug: entweder er passt genau ins Schloss oder er ist nicht zu verwenden. Er kann wegen dieser seiner eindeutigen Funktion auch durch einen diebstahlsicheren elektronischen Verschlussmechanismus ersetzt werden wie heute der elektronische, ferngesteuerte Türöffner beim Auto. Wir glauben auch nur zu gerne, dass wir die eigentliche Funktion des Schlüssels von unseren sonstigen Gewohnheiten im Umgang mit ihm unterscheiden können: Wenn wir die Tür abgeschlossen haben, stecken wir den Schlüssel in die Tasche. Genau diese Unterscheidung von instrumenteller Funktion und menschlichem Umgang unterläuft aber der Hotelschlüssel, der einen schweren Anhänger bekommt, damit wir ihn nicht unserer Gewohnheit folgend in die Tasche stecken, sondern an der Hotelrezeption abgeben.


    Noch tiefer geht hier die Technik-Philosophie von Gilbert Simondon (1924-1989), Professor für Psychologie an der Pariser Sorbonne, der seiner Zeit weit voraus erkannte, dass das „Menschliche“ in die technischen Funktionskreise selber einwandert. Simondon weist darauf hin, dass sich mit der modernen Informationstechnologie der Grundcharakter von Technik grundlegend ändert. Modell von Technik ist nicht mehr der geschlossene Funktionskreis eines reinen Automaten, sondern das, was Simondon eine „offene Maschine“ nennt. Der Erfolg der Informationstechnologie im Netzwerk menschlicher Verwendung beruht gerade darauf, dass die technischen Funktionen ihre individuelle und vielfältige Verwendung der Tatsache verdanken, dass sie „Unbestimmtheitsspielräume“ aufweisen, die dann durch die spezifisch menschliche Verwendung konkretisiert werden können. Ein Beispiel von heute dafür ist die Löschfunktion unseres PC. Im Unterschied zu technischen Funktionen, die immer irrtumsfrei funktionieren, irrt sich der Mensch und bereut hinterher oft seine Entscheidungen. Die Löschfunktion am PC trägt dieser sehr menschlichen Schwäche nun Rechnung, indem sie die Funktion an sich mehrdeutig macht: Die Löschung ist eigentlich keine Löschung, denn die gelöschte Datei wird einfach in einen Ordner „gelöschte Objekte“ verschoben. Wenn man die Löschung wirklich endgültig machen will, muss man das gelöschte Objekt in diesem Ordner nochmals löschen.


    Die Hifi-Anlage ist nun eigentlich – sollte man meinen – geradezu ein Paradebeispiel für diese Hybridisierung von Technik. Denn einerseits zeichnet Hifi-Technik ihre Funktionalität aus, dass sie fehlerfrei – also ohne Verzerrungen und Verfälschungen zu produzieren – eine akustische Information genau so wiedergibt, wie sie aufgenommen und auf einem Tonträger wie der CD verfügbar gemacht wurde. Zugleich aber gehört zu einer Hifi-Anlage aber auch ihr Eigenklang, also das „Menschlich-Ästhetische“, was sie mit einem Musikinstrument vergleichbar macht, mit dem wir ein Musikstück wiedergeben. Genau dieser – so sinnvolle – Vergleich der Hifi-Wiedergabe mit der Wiedergabe eines Musikstücks durch ein Musikinstrument wird allerdings von funktionalistisch denkenden Foren-Technikern vehement abgelehnt. Ein Hifi-Verstärker „klingt“ nicht, betonen sie – wenn er das tut, dann „soundet“ er, wird also seiner Funktion nicht gerecht, etwas, was da ist, einfach nur zu „verstärken“ ohne es irgendwie zu beeinflussen und zu verändern. Auch die Spitze trieb das einmal ein Techniker, mit dem ich diskutierte. Er erklärte mir nicht nur, dass der Bau eines Hifi-Gerätes eine rein messtechnische Angelegenheit wäre, sondern behauptete zudem, dass auch das Hören (!) einer Hifi-Anlage als ein ausschließlich technisches Problem zu begreifen sei. Verständnis habe ich natürlich dafür, dass ein Techniker, der ein Problem technisch lösen muss, z.B. eine ordentliche Basswiedergabe auch in einem kleinen Lautsprechergehäuse hinzubekommen, zunächst einmal die alltägliche Problemstellung in eine technische umformuliert. Nur wenn dann schließlich im Ergebnis das Messmikrophon das Ohr ersetzen soll, weil es ja präziser „hört“ als jedes menschliche Ohr, verkennt das den hybriden – eben nicht nur funktionalen, sondern auch ästhetisch-menschlichen – Charakter von Hifi-Technik. Hier besonders meldet sich die fundamentalistische Vereindeutigungsstrategie des Ingenieursdenkens, indem es die Mehrdeutigkeit des Abhörens und Hörens in der Hifi-Hörsituation beseitigt.


    Folgenreich falsch ist eine solche funktionalistische Auffassung gleich in mehrfacher Hinsicht. Für die „richtige“ Auffassung von Hifi-Technik wird in Abstreiter-Foren gerne Thomas Funk zitiert, der gesagt haben soll, dass er nicht zu hören brauche bei einem messtechnisch perfekten Ergebnis, das er bei seiner Geräte-Entwicklung erzielt habe. Kein Ohr messe schließlich so perfekt wie ein technisches Gerät. Nimmt man das wörtlich, dann ist das Ergebnis der technischen Entwicklung im Idealfall ein Hifi-Verstärker als perfekter Automat für die Musikreproduktion. Warum eine solche Betrachtung letztlich abstrakt bleibt, zeigt die einfache Tatsache, dass es eben doch einen Unterschied macht, ob ich über meine Hifi-Anlage die 9 Uhr-Nachrichten aus dem Radio oder ein Musikstück von Beethoven höre. Beides wird Funks Aussage zufolge „perfekt“ wiedergegeben, wenn nur die Messtechnik stimmt, aber eben doch völlig anders gehört. Das Hören des Nachrichtensprechers ist nämlich nicht ästhetisch – genauso wenig, wie das Klingeln meines Weckers am Morgen oder die Stimme aus dem Telefon ein Beispiel für ästhetisches Hören ist. Foren-Abstreiter pflegen diesem Einwand nun dadurch zu begegnen, indem sie behaupten, für die Ästhetik des Hörens habe allein die Aufnahmetechnik, also das, was die Tontechniker auf der Tonkonserve festgehalten haben, zu sorgen, und nicht die Hifi-Anlage. Eine „perfekte“ Hifi-Anlage zu bauen ist demnach auch im Prinzip dasselbe wie die Konstruktion eines einfachen Telefonhörers – nur eben etwas aufwendiger. Es geht ja nur um die Funktion, dass die akustische Information vollständig und richtig wiedergegeben wird.


    Doch genau da liegt der fundamentale Irrtum. Das Hören im heimischen Wohnzimmer soll die Illusion vermitteln, man sitze im Konzertsaal, sei also bei der Aufführung des Musikstücks sozusagen live dabei. Damit kommt aber auch beim Hören mit einer Hifi-Anlage die Ästhetik ins Spiel – über die technische Funktionalität der möglichst exakten Reproduktion hinaus. Warum? Weil sie bereits im Konzertsaal im Spiel ist, also der ursprünglich gerade nicht eindeutigen, sondern komplexen und uneindeutigen Hörsituation, welche das Hören mit der Hifi-Anlage virtuell „abbilden“ soll. Wenn wir ins Theater oder ins Konzert gehen, haben wir zwei oder sogar mehrere Möglichkeiten, ein Aufführungserlebnis zu bekommen: Wir können uns in eine der ersten Reihen direkt vor die Bühne setzen, oder aber mitten im Saal oder ganz hinten auf einer Empore Platz nehmen. Das Konzerterlebnis ist auf den verschiedenen Plätzen ein völlig anderes: Ganz vorne haben wir den lebendigsten Eindruck, sind sozusagen „hautnah dabei“ am Bühnengeschehen. Diese Unmittelbarkeit geht aber auf Kosten des Gesamteindrucks. Wenn wir dagegen hinten auf der Empore Platz nehmen, integriert sich alles Einzelne zu einem Ganzen. In der Mitte des Saales wiederum ergibt sich ein Kompromiss zwischen den Extremen von Präsenz und Distanz. Wenn ich nun im Wohnzimmer vor meiner Hifi-Anlage sitze, kann ich meine Sitzposition anders als im Konzertsaal in der Regel nicht verändern. Dann vermittelt mir statt dessen die Anlage durch ihren Eigenklang einen ästhetischen Eindruck, der entweder mehr direkt und präsent ist oder distanziert wirken kann, wie wenn ich im Konzertsaal in der ersten oder von der letzten Reihe aus das Geschehen verfolge. Wer die ästhetische Distanz eines ruhigen, unaufgeregten Zuhörens bevorzugt, den wird z.B. ein lebendiger Horn-Lautsprecher mit knallenden Pauken stören. Die Hör-Situation mit einer Hifi-Anlage ist also sowenig funktional einfach und eindeutig wie die des Konzertsaals, sondern bietet bei nahezu identischer technisch-funktionaler Abhör-Qualität stets vielfältige Möglichkeiten ästhetischen Hörens. Der verschieden mögliche „Eigenklang“ von Hifi-Anlagen vertritt gleichsam die unterschiedlichen Sitzpositionen im Konzertsaal, mit der wir eine ganz bestimmte ästhetische Einstellung zum Gehörten einzunehmen – direkt, um unmittelbar berührt zu werden oder eher gelassen und distanziert zu hören usw. Hifi-Technik, die einen schönen Eigenklang hat, nutzt hier das, was Gilbert Simondon den funktionalen „Unbestimmtheitsspielraum“ nennt, indem sie die Technik zur ästhetischen Individualisierung des Klangbildes nutzt. So wie der beschwerte Hotelschlüssel es nicht mehr erlaubt, dass man ihn einfach in die Tasche steckt, so kann die eher „sanfte“ Abstimmung einer Hifi-Anlage verhindern, dass man Paukenschlägen und schmetternden Trompeten gleichsam überfallen und vom Stuhl gerissen wird und so die Situation des entspannten Zuhörens durchgehend einnehmen kann.


    Bei einer ansonsten sehr aufschlussreichen Vorführung hatte ich einmal einen Disput mit einem Techniker von Linn oder Naim. Ich erläuterte ihm meinen Eindruck, dass ich britische Elektronik als anders klingend empfinde als deutsche. Darauf meinte er: „Sie hören falsch, auf den Fluss kommt es an!“ Ich versuchte ihm anschließend zu erklären, dass er da – völlig legitim und erfreulich für den Hörer und Hifi-Freund – ein bestimmtes ästhetisches Ideal technisch verwirklicht habe, was man aber nicht mit „richtig“ oder „falsch“ bewerten könne. Das Ingenieursdenken eines Technikers hat hier wiederum die Zweideutigkeit des Hörens und Abhörens, des Wahrnehmens und ästhetischen Hörens in eine funktionalistische Eindeutigkeit der einzig „richtigen Reproduktion“ verwandelt. Gefragt ist aber gerade bei Hifi eine „Ambiguitätstoleranz“, die das Mehrdeutige in seiner Uneindeutigkeit gelten lässt. Wenn im anderen Extremfall des „Nur-Messtechnikers“ das Messmikrophon das Ohr ersetzt, führt das in letzter Konsequenz zu einer rigorosen Standardisierung des Hörens, welche jegliche Individualität ästhetischer Hörbildung zum Verschwinden bringt und dem charakterlosen Massenprodukt für den Durchschnitts-Konsumer auf dem Hifi-Markt endgültig zur Alleinherrschaft verhilft. Die Satire trifft dann ins Schwarze, ob man nicht besser einen Mikrochip in das Ohr des Hörers verpflanzt, damit er wie ein Messmikrophon immer eindeutig und „richtig“ hört.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

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    12. Die Hifi-Blindtestomanie – oder: Den eigenen Ohren darf man niemals trauen!

    (Blindtests Teil 1)


    Diverse Arten von Tests gehören inzwischen längst zur Normalität unseres Alltags. Das wissen wir nicht erst seit Corona. Welcher Autofahrer kennt nicht die Szene, dass er von einem Mann in Uniform von der Straße gewunken wird? Er kurbelt die Fensterscheibe herunter und hört anschließend die freundliche aber zugleich sehr verbindlich gestellte Frage: Haben Sie getrunken? Fällt seine Antwort für den Polizisten Vertrauen erweckend aus, wird er mit einem freundlichen Gruß wieder auf die Straße geschickt. Hat der Gesetzeshüter jedoch seine Zweifel, etwa wenn seine aufmerksame Nase eine verdächtige „Fahne“ riecht, denn wird der Fahrer höflich gebeten, ins Röhrchen zu pusten...


    Das Beispiel lohnt es, dass man es analysiert. Der Röhrchen-Test und der anschließende Bluttest, um den Alkoholgehalt in der Atemluft und im Blut zu messen, sind eindeutig und beweiskräftig. Doch verlässt sich der Polizist keineswegs auf den Test allein, denn dann müssten ausnahmslos alle Autofahrer, die angehalten werden, auch ins Röhrchen pusten. Zunächst einmal vertraut der Verkehrshüter auf seine Erfahrung, die ihm sagt: Dieser Fahrer scheint mir verdächtig, der andere aber nicht. Der Alkoholverdacht wird also nicht durch das Testen und Messen, sondern durch die Urteilsfähigkeit des Polizisten ermittelt, der gelernt hat, genau zu beobachten, wie sich der Fahrer – verdächtig oder unverdächtig – verhält. Die Situation der Verkehrskontrolle ist zweifellos niemals eindeutig. Aufgrund des bloßen Augenscheins und der Wahrnehmung seiner Sinne kann kein Polizist absolut sicher sein, dass der Fahrer nicht vielleicht doch zu viel getrunken hat, obwohl der Anschein für ihn dagegen spricht. Diese Unsicherheit und Uneindeutigkeit seines Urteils nimmt der Polizist offenbar in Kauf. Damit verhält er sich dem Alkoholtest gegenüber pragmatisch und nicht dogmatisch: Verkehrskontrollen wären schlicht undurchführbar, wenn alle Autofahrer zeitaufwendig getestet werden müssten. Das ausnahmslose Testen würde nämlich die Zahl der Autofahrer, die angehalten werden könnten, so verringern, dass auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit größer wäre, Betrunkene am Steuer nicht aus dem Verkehr zu ziehen, wie wenn sich der Polizist wie üblich auf sein Wahrnehmungsurteil verlässt. Beim Schwangerschaftstest ist es ähnlich. Keine Frau wird in die Apotheke gehen und so einen Test kaufen, wenn sie nicht vorher Symptome an ihrem Körper feststellt wie eine ausbleibende Periode, die auf eine mögliche Schwangerschaft hindeuten. Falls sie allerdings öfters schon eine unregelmäßige Periode hatte, ohne dass sie schwanger war, wird sie nicht gleich einen Test machen wollen, wenn dieser Fall mal wieder eintritt. Es gibt also auch hier keinen Automatismus, der eindeutig die Notwendigkeit eines Tests begründen würde, sondern darüber, ob es sinnvoll ist, einen Test zu machen oder nicht, bestimmt letztlich immer die Erfahrung. Selbst der Corona-Test bestätigt diese Regel, obwohl es auf den ersten Blick anders zu sein scheint: Weil man weiß, dass ein Infizierter über Tage gar keine Symptome zeigt, macht man zur Sicherheit immer einen Test. Nahezu jeder ist also in diesem Fall verdächtig, eine Infektion in sich zu tragen. Bezeichnend jedoch stellt Corona das funktionierende Alltagsleben überhaupt in Frage: Weil der Corona-Tester, der Lehrer in Schulen etwa, nicht die Möglichkeit des Verkehrpolizisten hat, den Verdachtsfall durch Indizien aus der Erfahrung zu ermitteln und so die Zahl der notwendigen Tests zu beschränken, führt dies in nicht seltenen Fällen zu chaotischen Situationen und fragwürdigen Regelungen, welche Lehrer und vor allem auch die Eltern überfordern.


    Eigentlich sagt uns also unser Alltagsleben: Mit Tests lässt sich freilich ein bloßer Verdacht erhärten durch eine sichere und eindeutige Messung, aber über Sinn und Notwendigkeit eines solchen Messtests entscheiden letztlich doch das empirische Urteilsvermögen und seine pragmatische Handhabung, welche sich auf eine niemals eindeutige Erfahrungsgrundlage stützen.


    Blindtests stellen allerdings – gerade auch im Alltagsleben – eine Besonderheit dar. Der Alkoholtest oder Schwangerschaftstest oder das Fieberthermometer sind zwar wissenschaftlich begründet, aber die Art ihrer Verwendung ist letztlich nicht wissenschaftlich, sondern alltäglich. Das Fieberthermometer wird im Prinzip nicht anders mit den Augen abgelesen, als wenn der Arzt sich einen Hautausschlag anschaut, der auf eine Erkrankung mit Röteln hindeutet. Der Augenschein – also eine Wahrnehmungserscheinung – lässt hier eine eindeutige oder zumindest annähernd eindeutige Schlussfolgerung zu, was sich hinter dieser Erscheinung verbirgt. Beim Blindtest geht es jedoch um etwas Anderes: Weil dem Urteilsvermögen aufgrund einer subjektiven Wahrnehmungslage unterstellt wird, das Testergebnis möglicherweise zu verfälschen, wird es durch den Blindtest ausgeschaltet: Wer blind ist, der sieht nichts mehr mit den eigenen Augen. Der Blindtest bringt die Testperson in die anonyme Testsituation eines Namenlosen und beliebig austauschbaren Probanden, die alles ausschaltet, was er an Individuell-Eigenem mitbringt. Damit kehrt er aber schlicht die Alltagslogik um. Denn in der normalen Alltagssituation beruht die Urteilsfähigkeit im Einzelfall, eine Sache richtig einschätzen zu können, gerade darauf, dass das Individuum seinen gesammelten Erfahrungsschatz und den ganzen Reichtum seiner auf die Lebenserfahrung gegründeten Urteile und Wertschätzungen in die Beurteilung mit einbringen kann. Schon Aristoteles bemerkt den Unterschied zwischen Verstand haben und Urteilsfähigkeit im Sinne von Klugheit besitzen. Es ist bezeichnend, dass es unter Kindern bereits Mathematik-Genies gibt, aber keine „Erfahrungs“-Genies. Der Verstand – heute sagen wir: die Intelligenz – ist angeboren. Dagegen kann man die Lebensklugheit eines Erwachsenen unmöglich von einem Kind erwarten, auch von dem hyper-intelligenten und hochbegabtesten Kind-Genie nicht. Denn um klug zu urteilen bedarf es der Sammlung von Erfahrungen, die u.U. die Zeit eines ganzen Lebens in Anspruch nimmt, also im Grunde niemals aufhört.


    Allein das zeigt schon, dass der Blindtest für die Alltagserfahrung eine Zumutung darstellt, weil er mit seinem Versuch, bei der Beurteilung einer Sache sämtliche durch Erfahrung gesammelten Erkenntnisse auszuschalten, etwas für die Alltagsklugheit ganz und gar Unkluges und damit im Grunde Unsinniges tut, die Alltagslogik also im Grunde aushebelt. Warum aber sind dann Blindtests so verbreitet und geradezu populär geworden? Die Antwort liegt wiederum in dem Wahn, alles einfach und eindeutig erklärbar machen zu wollen, der in diesem Fall aus der modernen Wissenschaft herkommt. Ein Erfahrungsurteil mag man zwar im Alltag als zuverlässig und vertrauenswürdig einschätzen, aber da die Gründe seines Zustandekommens durch den reichen Erfahrungsschatz, der immer mitspielt, im Grunde überkomplex und somit unüberschaubar sind, entziehen sie sich der vollständigen Kenntnis und damit schließlich einer eindeutigen Beurteilung nach „richtig“ oder „falsch“. Nur Eindeutigkeit garantiert aber wirkliche Erklärungs-Gewissheit. Denn: Könnte es nun nicht sein, dass bei den vielen Quellen, die in das Erfahrungsurteil einfließen, nicht auch eine Täuschung dabei ist? Macht diese Täuschungsmöglichkeit nicht das ganze Urteil aus Erfahrung, so lebensklug es auch erscheinen mag, zweifelhaft?


    Kenner der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte wissen, dass diese Suche nach einer letzten, eindeutigen Gewissheit auf den Physiker und Philosophen René Descartes zurückgeht. Descartes bemüht einen „methodischen Zweifel“: Alle Quellen der Erkenntnis, die auch nur den kleinsten Verdacht einer Täuschung erregen, werden rigoros ausgeschaltet. Die erste Erkenntnisquelle, die diesem methodischen Zweifel zum Opfer fällt, ist deshalb auch die komplexe und uneindeutige Wahrnehmung. Die Verblindung als Testverfahren folgt nun einer solchen „cartesianischen“ Zweifelsmethodik. Denn wie kommt die täuschungsanfällige Erfahrungskomplexität bei einem individuellen Erfahrungsurteil ins Spiel? Die Antwort lautet: Mit dem schon bekannten Gegenstand, den ich wiedererkennen kann. Durch die Zweideutigkeit eines Erkennens, das zugleich ein Wiedererkennen ist, fließen nämlich in die Beurteilung der aktuellen Erfahrungssituation solche Urteile mit ein, die gar nicht aus dieser jetzigen Situation stammen, sondern aus diversen anderen Erfahrungsquellen. Wer ein Hifi-Gerät zur Probe hört, hat von genau diesem Gerät meist schon diverse Testberichte gelesen und Bewertungen im Internet, möglicher Weise dieses Gerät vorher beim Händler mit einer anderen Anlage gehört und von ihm anschließend eine Werbebroschüre in die Hand gedrückt bekommen; vielleicht hat er auch ähnliche Geräte – desselben Herstellers – in der Vergangenheit zum Probehören mit nach Hause genommen oder ein Modell aus einer älteren Serie des Herstellers über Jahre gehört.


    Genau diese Mehrdeutigkeit macht die Beurteilung dieser Situation uneindeutig und zweifelhaft für die cartesianischen Suche nach der Urteilsgewissheit und absolut eindeutigen Erkenntnis. Deshalb stellt der Blindtest die im Alltag unerreichbare Eindeutigkeit in der Testsituation unter künstlichen und unnatürlichen, gleichsam sterilen Laborbedingungen, her: Wir sollen den Gegenstand so beurteilen, als sähen bzw. hörten wir ihn zum allerersten Mal, als hätten wir vorher nie vergleichbare Erfahrungen gehabt und keinerlei weitere Informationen zur Verfügung. Auf diese Weise reduzieren sich die verschiedenen Erfahrungsquellen auf eine und nur eine – das in der Alltagssituation steht zweideutige Erkennen und Wiedererkennen wird zum einfachen und eindeutigen Erkennen. Im Fall eines Blindtests hat der Proband dann ausschließlich solche Informationen zur Verfügung, die ihm in der Testsituation zur Verfügung gestellt werden. Der Sinn der Verblindung ist also nichts anderes als eine Strategie der Vereindeutigung in der Absicht und Erwartung, dass die damit erreichte Eindeutigkeit in der Beurteilung uns zu einer unbezweifelbar gewissen Erkenntnis über den getesteten Gegenstand verhilft. Wir können einen Gegenstand zwar nach wie vor erkennen, aber nicht mehr wiedererkennen als denselben, über den wir schon einmal etwas gelesen haben und/oder bereits Erfahrungen mit ihm gemacht haben usw. Damit werden schließlich die Schleusentore dicht gemacht für solche Vorstellungen, Erkenntnissen und Bewertungen, die aus anderen und früheren Erfahrungen stammen und in die Beurteilung der aktuellen Erfahrung einfließen könnten. Das Gewünschte, ein möglichst unvoreingenommenes und eindeutiges Urteil, scheint so tatsächlich erreichbar: In der künstlichen Labor-Situation des verblindeten Tests wird die in der alltäglichen Erfahrung immer uneindeutige Beurteilung aus verschiedenen Erkenntnisquellen schließlich eindeutig, weil sich das Urteil überhaupt nur noch auf Eines bezieht: das, was – blind für die Erfahrungskomplexität – exklusiv als Testobjekt zur Verfügung steht.


    Blindtestomanen unterstellen, dass die Suggestionsanfälligkeit solcher unverblindet gewonnenen Hörkenntnisse aus dem Alltag von Erwartungshaltungen herrühre, die durch Werbung und andere Quellen aufgebaut würden und verhindere, dass der „Hörer“ wirklich unvoreingenommen sei, wenn er ein Hifi-Gerät teste. Unvoreingenommenheit könne nur erreicht werden in einem Blindtest, weil die Testperson mit der Ausschaltung der Möglichkeit des Wiedererkennens eines zuvor schon bekannten Gegenstandes auch keine suggestiven Erwartungen mehr habe und sich nur auf das konzentrieren könne und müsse, was er tatsächlich hört. Der Blindtest macht gewissermaßen tabula rasa, also den Kopf leer von Vorstellungen und Gedanken, die das Wahrgenommene verfälschend beeinflussen könnten. Diese Überlegung ist allerdings so verfänglich wie falsch. Die Fehlkonstruktion in dieser Argumentation liegt einmal in der sehr suggestiven Gleichsetzung einer hypothetischen Möglichkeit mit einer realen aufgrund der tatsächlich gegebenen Umstände der Wahrnehmung. Wenn keine konkreten Indizien für eine suggestive Beeinflussung sprechen, ist es auch nicht statthaft, sie einfach zu unterstellen, nur weil eine Suggestion ja immer „irgend wie“ im Spiel sein müsse. Die zweite Fehlannahme der Blindtestomanie resultiert aus der Verinnerlichung technizistischen Ingenieursdenkens, wonach alle Ursache-Wirkungsverhältnisse einfach und eindeutig zu erklären seien. Dem Werbeprospekt oder einen Testbericht wird demnach unterstellt, er wirke so wie das Leckerli, das Herrchen seinem Hündchen vor die Nase hält und in seinem Mäulchen einen Speichelfluss verursacht. Psychologen kennen das als den Pawlowschen, bedingten Reflex, der sich rein mechanistisch erklärt durch das immer eindeutige Verhältnis von Reiz und Reaktion. Wenn also der Hifi-Enthusiast einen Werbeprospekt liest über wundersame Eigenschaften eines Geräts, dann meinen Blindtestomanen, dass sein Verhalten genauso eindeutig vorprogrammiert ist wie der Speichelfluss von Pawlows Hund. Ihm läuft dann auch gleichsam „das Wasser im Mund“ zusammen bei dem von der Werbung versprochenen „leckeren“ Klang, so dass der suggestive, bedingte Reflex unausweichlich ist: Natürlich hört er schließlich genau das, was die Werbung verspricht.


    Dass Blindtestomanen die Weckung einer Erwartungshaltung kurzschlüssig mit einer Suggestion gleichsetzen, folgt nur konsequent aus ihrer Strategie des Abstreitens durch die Vereindeutigung an sich uneindeutiger Dinge. Im Unterschied zur Suggestion ist die normale Erwartung und Erwartungshaltung nämlich niemals eindeutig, sondern immer zweideutig. Wenn ich jeden Morgen auf meinen Bus warte, der mich zum Bahnhof bringt, dann habe ich die Erwartungshaltung, dass er pünktlich kommt. Denn ansonsten verpasste ich meinen Zug und müsste einen früheren Bus wählen, um tagtäglich pünktlich zur Arbeit zu kommen. Leider ist es aber so, dass er sich auch schon einmal verspäten kann. Anders als bei einer suggestiven Erwartung, die sich immer nur erfüllen kann, gehört zur „normalen“, alltäglichen Erwartungshaltung die unaufhebbare Zweideutigkeit, dass sie sich sowohl erfüllen als auch nicht erfüllen kann. Die Behauptung, dass Werbung, nur weil sie eine bestimmte Erwartung weckt, deshalb zwangsläufig suggestiv wirken müsse, ist deshalb schlicht eine Verkennung elementarer psychologischer Gesetzmäßigkeiten wie auch der Alltagsklugheit, die darum weiß. Gerade vollmundige Werbeversprechen können, weil sie zu viel versprechen, zu einem herben Enttäuschungserlebnis führen. Auch Werbung ist also von der Art, dass sie Erwartungen weckt, die sowohl erfüllt als auch enttäuscht werden, damit auch niemals eindeutig wirkt wie ein Pawlowscher Reflex.


    Hinzu kommt noch, dass sich die Erwartungshaltung, wie sie tatsächlich psychologisch funktioniert, nicht nur aus einer, sondern vielen Quellen speist. Vorerwartungen sind deshalb als solche schon nicht eindeutig, sondern mehrdeutig, spiegeln oft einander widersprechende Vormeinungen wieder, die das Entstehen einer suggestiven Erwartung in der Art eines einfachen und eindeutigen bedingten Reflexes schon an ihrer Wurzel ersticken. So ist überall zu lesen, dass Stromfilter den zweifelhaften Ruf haben, eine Hifi-Anlage „auszubremsen“, also technisch gesprochen das Impulsverhalten negativ beeinflussen. Nun kann der Fall eintreten, dass der Kunde eines Händlers, der im Geschäft einen solchen Stromfilter vorgeführt bekommt, von den positiven Eigenschaften überzeugt wird und das Gerät anschließend mit nach Hause zum – natürlich unverblindeten – Testen nimmt. Dazu gibt ihm der schlaue Verkäufer auch noch einen Testbericht mit, den der Hersteller als Sonderdruck zu Werbezwecken an Interessenten verteilt, wo zu lesen ist, dass dieser besondere Stromfilter keinen Ausbremseffekt habe, also dem zweifelhaften Ruf solcher Geräte widerspreche. Der potentielle Käufer befindet sich so in der wie der Volksmund sagt „verzwickten“ Lage widersprüchlicher Vorhersagen und Erwartungen, wozu auch noch die weitere Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit des Erwartbaren in Bezug auf die nicht sicher gestellte Vergleichbarkeit der verschiedenen Hörsituationen hinzukommt, da die Hifi-Anlage daheim in der Regel eine ganz andere ist als die beim Händler gehörte. In meinem Fall war der Ausgang einer solchen Geschichte so, dass sich der positive Eindruck beim Händler wie auch das schöne Werbeversprechen nicht erfüllte: Der Stromfilter bremste meine AVM-Elektronik aus. Also habe ich ihn selbstverständlich nicht gekauft!


    Meine Anekdote zeigt, dass auch derjenige, dessen Kopf nicht leer gepustet ist von allem Vorherwissen wie bei einem Blindtest, sehr wohl unvoreingenommen seine Hörerlebnisse beurteilen kann. Es ist gerade die Uneindeutigkeit der alltäglichen Hörsituation, welche die Zuverlässigkeit des Erfahrungsurteils garantiert. Einander widerstreitende Vormeinungen lassen eine eindeutige Erwartungshaltung gar nicht erst entstehen, so dass nicht sie, sondern die Unvoreingenommenheit des auf sich selbst und sein eigenes kritisches Urteilsvermögen zurück verwiesenen Hörers es ist, welche hier am Ende die Eindeutigkeit einer klaren und sicheren Entscheidung für oder gegen einen Kauf garantiert.


    Die Vorstellung, dass von Blindtests unter Laborbedingungen grundsätzlich mehr Zuverlässigkeit zu erwarten ist als von allen unverblindeten Test im Alltag, ist nicht nur unplausibel im Sinne des Alltagspragmatismus, wonach man dem zuverlässigen und verlässlichen, vielfach bewährten Urteil vertrauen kann und darf. Einem solchen pragmatischen Verfahren die Anerkennung zu verweigern, verrät sich letztlich nur die psychologische Verfassung der Foren-Abstreiter, ihr fehlendes Vertrauen in die eigenen Wahrnehmungen mit dem daraus folgenden Verlust an empirischer Urteilskraft. Im Hinblick auf die Blindtestmethodik selbst zeugt dies zudem von einem fundamentalen Missverständnis: Der methodische Sinn eines Blindtests ist die Verallgemeinerungsfähigkeit seiner Aussage. Sie ist daher eine repräsentative Aussage, die entsprechend nicht nur durch und für ein einzelnes Individuum gewonnen wird, sondern eine repräsentative Gruppe, was sich in der methodischen Auswahl einer möglichst großen Zahl der Probanden spiegelt. Die Eindeutigkeit des Testergebnisses wird deshalb auch erst erreicht auf der höheren Ebene der Auswertung des Tests, die das Testergebnis aller Probanden berücksichtigt – und nicht etwa schon in der Durchführung des Tests für das testende Individuum, also jeden einzelnen Probanden, der an dem Test teilnimmt und für sich einen Erfolg oder Misserfolg durch die erreichte Trefferzahl verbuchen kann. Sonst müsste nämlich dem Test vorausgehend die Urteilsfähigkeit und Glaubwürdigkeit aller Testpersonen jeweils einzeln überprüft werden, um zu garantieren, dass das Ergebnis des Einzelnen auch wirklich verallgemeinert werden kann – was ein auch praktisch undurchführbares Vorhaben wäre. Wie „suggestionsanfällig“ die einzelne Testperson wirklich ist, muss den Tester im Prinzip auch gar nicht interessieren. Denn die Eindeutigkeit und Richtigkeit des Allgemeingültigkeit beanspruchenden, repräsentativen Testergebnisses leitet sich allein aus der Methodik des Testdesigns ab, welche ein unzweideutig-präzises Testverfahren wie eine ebenso eindeutige Auswertung garantiert. Das Missliche für das Individuum dabei ist, dass er das Testdesign und seine Methodik im Regelfall gar nicht durchschaut und auch nicht durchschauen kann – die Literatur über empirische Testmethodik füllt ganze Bibliotheken. Das Testdesign ist also letztlich nur von Wissenschaftlern und Testexperten wirklich zu verstehen. So wird gerade die Vereindeutigungsstrategie der Blindtestmethodik dem armen Testteilnehmer zum Verhängnis: Weil die Laborsituation des Blindtests tabula rasa macht, die Komplexität der Vormeinungen und Erwartungshaltungen der Alltagssituation rigoros ausschaltet, welche die Urteilsfähigkeit des Individuums begründen und ihm helfen zu verstehen, warum sein Hörergebnis so und nicht anders ausfällt, macht ihn das Blindtestergebnis schließlich nur ratlos: Verblindet weiß er so gar nicht mehr, was, warum und wie ihm geschieht, wie immer der Blindtest – positiv oder negativ – auch ausfällt. Der Blindtest steigert und „verbessert“ also nicht die empirische Urteilsfähigkeit des Individuums, er vernichtet sie geradezu.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

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    13. Die Blindtestomanie als Authentizitätswahn (Hifi-Blindtests Teil II)



    „Der Authentizitätswahn sieht davon ab, dass Menschen in der Gesellschaft immer in verschiedenen Rollen agieren, die situationsbedingt wechseln, in denen die Menschen keineswegs immer auf dieselben Fragen dieselben Antworten geben und auf ähnliche Stimuli mit denselben Emotionen reagieren.“


    (Thomas Bauer)


    „Authentisch ist, was objektiv getestet und eindeutig beweisbar ist!“ Wollte man das Credo des Abstreiter-Fundamentalismus formulieren, müsste es genau so oder ähnlich heißen. Das Verlangen, „authentisch“ sein zu wollen, setzt die moderne Subjektivität voraus. Eine Wahrheit soll nicht nur erkannt werden, sie muss vielmehr durch das Selbsterleben bestätigt und damit zur eigenen Wahrheit werden. Folglich werden alle Wahrnehmungen und Erkenntnisse, die nicht aus dem Selbsterlebten und Eigenen geschöpft sind, sondern aus anderen Quellen stammen wie z.B. einer Tradition, den Meinungen Anderer, oder von einer Person, die Autorität hat aber auch selbst heiligen Büchern, als der eigenen, subjektiven Wahrheit fremd und unglaubwürdig erachtet. „Glaube nur, was Du durch Dein eigenes Erleben und Dein eigenes Urteilsvermögen bestätigen kannst“ lautet von daher die Authentizitäts-Maxime. Die Suche nach Authentizität hatte im 18. Jhd. etwas Revolutionäres und Befreiendes, weil man sich so übermächtiger und längst überlebter Traditionen und Autoritäten wie der Kirche oder dem Feudalismus entledigen konnte, indem nur das zählte, was das eigene Fühlen, Wollen und Denken zum Ausdruck brachte.


    Der Abstreiter-Authentizitätswahn von heute enthält nun das Paradox, dass er alles zutiefst verachtet, was „subjektiv“ ist. Dieser scheinbare Widerspruch resultiert daraus, dass das von der Uneindeutigkeit und Unzuverlässigkeit der eigenen, subjektiven Wahrnehmung irritierte und verunsicherte Individuum nach einem sicheren Fundament jenseits des schwankenden Bodens seiner Subjektivität sucht, die ihr den festen Halt einer unumstößlichen Wahrheit und Gewissheit gibt. Und genau dies findet der Wissenschafts- und Technikgläubige in dem, was er für das schlechterdings Unbezweifelbare und Objektive hält: das eindeutig Messbare und Erklärbare. Nicht mehr das täuschungs- und suggestionsanfällige subjektive Erleben macht also die Suche nach der Wahrheit authentisch, sondern dass man dieses – bei sich selbst wie bei Anderen – abstreitet. Die Blindtestsituation wird so zu einer Art Beichtstuhl, wo man sich der Sünde der bloß „subjektiven“ Wahrnehmung bekennen und sie gleichsam abbeten muss, um schließlich die Absolution vom Priester in der Gestalt wissenschaftlicher Objektivität und Wahrheit erteilt zu bekommen, wenn man seiner subjektiven Wahrnehmung endlich abschwört. Auch der Abstreiter-Authentizitätswahn ist freilich sehr subjektiv wie schließlich jedes Bemühen um Authentizität die Suche nach einer subjektiven Wahrheit und Gewissheit ist – nur besteht die subjektive Wahrheit hier nicht wie in der aufgeklärten Empfindsamkeit des 18. Jhd. in der souveränen, selbstbewussten Behauptung, sondern dem sein Selbst verachtenden Ableugnen und Abschwören von Subjektivität: „Ich war mal ein Subjektivist, der Werbeversprechen geglaubt hat, nun schwöre ich dem ab und glaube nur noch an das, was messbar und objektiv erklärbar oder in einer Testsituation beweisbar ist!“


    Typisch für Foren-Diskussionen mit Abstreitern ist, dass sie ständig „Beweise“ einfordern, sich also nicht mit Hörberichten zufrieden geben, die eigentlich nur einem Erfahrungsaustausch bezwecken im Sinne: „Hast Du ähnliche oder andere Erfahrungen gemacht, die für mich vielleicht aufschlussreich sein können?“ Voraussetzung für einen Erfahrungsaustausch ist freilich Ambiguitätstoleranz. Wer nach einem solchen Austausch sucht, muss aushalten, dass nicht nur eine exklusive Erfahrung existiert: die eigene nämlich, sondern auch andere Erfahrungsgeschichten, welche das Selbsterfahrene vielleicht nur teilweise bestätigen oder ihr eventuell widersprechen. In einem solchen Erfahrungsaustausch lernt der Mensch im Normalfall, dass es gerade keine Eindeutigkeit und Vorhersagbarkeit gibt, was die eigenen Erkenntnisse und Vormeinungen angeht. Was an meiner Anlage gut klingt, muss an einer anderen durchaus nicht so sein. Vor allem aber lehrt der Erfahrungsaustausch, dass man Erfahrungsberichte nicht einfach in die beliebte Schublade „subjektiv“ stecken kann.


    Wir wissen im Grunde alle aus dem Alltag, dass die in Foren so beliebte Ausschließlichkeit-Behauptung „dass ist nur subjektiv und nicht objektiv“ unzutreffend ist, z.B. für ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das Urteil kommt einerseits durch eine subjektive Bewertung der Verfassungslage durch den einzelnen Richter zustande. Diese Subjektivtät spiegelt sich auch darin, dass selbst für das Verfassungsgericht die Mehrheitsentscheidung Gültigkeit hat, also auch eine abweichende Meinung des einen oder anderen Richters ausdrücklich zulässig ist. Das macht so ein Urteil aber nicht einfach subjektiv-beliebig, denn es hat eine „objektive“ – hier rechtliche – Grundlage. Dass der Richterspruch durch ein oft langwieriges Verfahren der Urteilsfindung zustande kommt, wo subjektive Einschätzungen und Bewertungen eine Rolle spielen, heißt also nicht, dass das Ergebnis dieser Rechtsfindung – der Inhalt des Urteils, das Recht schließlich spricht, also die Rechtsprechung – nicht Objektivität und Allgemeingültigkeit im Sinne der Rechtsgültigkeit beanspruchen dürfte.


    Entsprechend kann der Prozess der subjektiven Urteilsfindung, ob z.B. das neue Kabel, dass ich zuhause teste, wirklich besser ist als das alte, viel Zeit in Anspruch nehmen und auf sehr subjektiven Voraussetzungen beruhen, wenn ich mich durch meine persönlich zusammengestellte CD-Sammlung durchhöre und vielleicht das neue Kabel letztlich deshalb besser und passender für mich finde, weil der Klanggewinn vor allem bei der Musik deutlich hörbar ist, die ich am häufigsten höre. Wenn ich dann das Ergebnis meiner Ehepartnerin, die von meinem Hörtest gar nichts mitbekommen hat, bei einer CD demonstriere, wo ich meine, dass der Unterschied sehr signifikant ist – selbstverständlich ohne dass ich verrate, welches Kabel spielt, also quasi unter Blindtest-Bedingungen – und sie spontan sagt „das klingt aber eindeutig besser“, dann hat sie damit eine subjektive Urteilsfindung objektiv bestätigt. Sowenig wie beim Richterspruch schließt also auch bei einem solchen Hörtest die Subjektivität der Urteilsfindung die Objektivität des Ergebnisses aus – und zwar offensichtlich unabhängig davon, ob das Ergebnis verblindet oder unverblindet festgestellt wird.


    Der Authentizitätswahn von Blindtestomanen wertet jedoch die Zweideutigkeit von alltäglichen Hörtests, die sowohl eine (objektive) Wahrnehmung als auch eine (subjektive) Bewertung enthalten, als einem Mangel an Authentizität. Sich fremdes und nicht selbst erworbenes Wissen anzueignen, kann zwar keine Erlebnis-Authentizität beanspruchen. Doch gibt es die Urteils-Authentizität, welche auf der Fähigkeit zur Selbstbeurteilung auch von fremden Erfahrungen und Erkenntnissen beruht: Erfahrungswissen, das ich mir aneigne, kann ich durch das Kriterium der Nachvollziehbarkeit bewerten, insofern ich das aus anderen Erfahrungsquellen Herstammende auf mein Selbsterfahrenes beziehe. Die subjektive Wertung besteht hier letztlich darin, die verschiedenen Quellen der Erfahrung gegeneinander vernünftig abzuwägen. Urteils-Authentizität wird also erreicht, indem fremdes Wissen nicht einfach ungeprüft aufgenommen wird, sondern überprüft wird in einen Prozess der Urteilsfindung durch eine Selbstbewertung. Genau deshalb allerdings, weil solche Bewertungen immer die Selbstbewertung, also ein wertendes Subjekt, voraussetzen, verlieren sie für die Blindtestomanen ihre Unschuld: Alles, was nicht blindgetestet ist, wird als voreingenommen und selbst die abgewogenste subjektive Bewertung als zweifelhaft angesehen und für unauthentisch erachtet. Authentizität, welche die ruchlose Subjektivität schließlich los wird, verspricht ihnen nur die (Blind-)Testsituation, denn die Bewertung der Erlebnisse erfolgt hier nicht von und durch eine Selbstbewertung, sondern vom subjektiven Urteil des Individuums unabhängig, womit die Wertung den Anschein eines schlechterdings Objektiven erlangt. Bewertungen, sie sollen nicht „subjektiv“, sondern „objektiv“ zustande kommen, was sich beim Blindtest ganz einfach damit zeigt, dass sie vom Tester in der Auswertung des Tests vorgenommen werden und nicht etwa vom Individuum, dem einzelnen Probanden, der die Wahrnehmungserlebnisse hat. Der Authentizitätswahn erfüllt sich somit, als die subjektive Suche nach einer letzten Gewissheit ihr glückliches Ziel erreicht, indem nicht mehr das Subjekt über sich selbst urteilt, sondern seine Beurteilung in einer Testsituation unter objektiven und verallgemeinerbaren Bedingungen erfolgt.


    In der Blindtestsituation verschwinden letztlich all die Unwägbarkeiten einer niemals eindeutigen subjektiven Bewertung und Selbstbewertung. Während die subjektive Bewertung einer komplexen Situation der Wahrnehmung und Beurteilung kaum jemals zu einer wirklich einfachen Entscheidung kommt und entsprechend in einer komplizierten Abwägung die Dinge abwägend gewichtet, reduziert sich die Blindtest-Frage auf das elementare „Sein oder Nichtsein“, das Einfachste und immer Eindeutige einer schlichten Tatsachenfeststellung „was wirklich da ist“: Ist ein Unterschied wahrnehmbar oder nicht wahrnehmbar? In der Abstreiter-Authentizität geht es jedoch letztlich immer nur um eines: das sehr subjektive Gefühl der Gewissheit, jegliche suggestiven Einflüsse auf die eigene Wahrnehmung schlechterdings ausschließen zu können. Der Blindtest vermittelt scheinbar eine solche Gewissheit, indem er die komplexe und niemals eindeutige subjektive Bewertungs-Frage in das „Alles oder Nichts“ einer Objektivität versprechenden Tatsachenentscheidung verwandelt. Die objektiv-nüchterne Antwort, die der Blindtest gibt: „Die Eigenschaft ist vorhanden oder nicht vorhanden“ transformiert sich so in das sehr emotionale, subjektive Authentizitäts-Erlebnis: „Jetzt durch den Blindtest weiß ich endlich, ob ich das, was ich zu hören glaube, wirklich oder nur eingebildet ist!“


    Was mit dieser Blindtest-Reduktion auf das Sein oder Nichtsein des Gehörten schlicht entfällt, ist der komplizierte (Selbst-)Bewertungsprozess aus der alltäglichen Hörsituation. Während es im Blindtest nur noch darum geht zu konstatieren, ob etwas wirklich eindeutig „anders“ klingt, ist genau dies etwas, was mich bei der Beurteilung eines Kabels z.B. am wenigsten interessiert. Selbst wenn ich z.B. meine, dass ein Kabel „anders“ klingt, ist das erst einmal eine völlig belanglose Tatsache. Auch wo ich den Klang vielleicht als „besser“ bewerte, ist das immer noch kein hinreichender Grund, so ein Kabel auch wirklich zu kaufen. Letztlich muss sich bei der Hörprobe herausstellen: Erscheint mir diese klangliche Verbesserung so gravierend, dass ich auf sie nicht mehr verzichten will? Steht der Preis in einer vernünftigen Relation zum Resultat? Dazu kommt noch, dass in vielen Fällen der „bessere“ Klang wiederum gar nicht eindeutig besser ist wie bei meiner Suche nach einem passenden Cinch-Kabel für den Kopfhörerverstärker: Ein Kabel hatte Schwächen im Bassbereich. Das andere – etwas teurere – war im Bass zwar deutlich konturierter und präziser, raubte meinem Focal Clear aber die einem Stax-Elektrostaten vergleichbare Luftigkeit in den Höhen. Wegen dieser besonderen klanglichen Eigenschaft hatte ich gegen mein ursprüngliches Vorhaben, einen Stax zu kaufen, mich schließlich für den Focal entschieden, weil er für mich die Vorzüge eines Elektrostaten mit denen eines dynamischen Kopfhörers verband. So war die Offenheit und Luftigkeit in den Höhen das entscheidende Kriterium. Deshalb habe ich das im Bassbereich „schwächelnde“ Kabel erst einmal vorgezogen.


    Mein Erfahrungsbeispiel bestätigt, dass in der komplexen, uneindeutigen alltäglichen Hörsituation die Entscheidung letztlich durch eine Gewichtung des „mehr oder weniger gut oder schlecht“ nicht nur in einer, sondern dazu noch unterschiedlicher Hinsicht zustande kommt, also in einer komplexen Abwägung von sehr verschiedenen, einander oft widerstreitenden Gründen. All das wird in der Blindtest-Situation mit einem Gewaltstreich beseitigt durch die Messung der Entscheidung nach einem immer eindeutigen Plus und Minus – so wie es beim Umkippen eines elektrischen Schalters nur zwei Möglichkeiten gibt: Licht an oder Licht aus. Dies garantiert freilich Eindeutigkeit für die Testauswertung unter Laborbedingungen – mit Blick auf die komplexe Entscheidungssituation des Alltags ist die Möglichkeit einer solchen eindeutigen und einfachen Tatsachenentscheidung jedoch – wie mein Beispiel des Cinch-Kabels für den Kopfhörerverstärker zeigt – nur fiktiv.


    Blindtestomanen pflegen nun einzuwenden, dass der Prozess unverblindeter Erkenntnisgewinnung überhaupt nur etwas wert sei, wenn er in einem Blindtest überprüft wird. Nur: Ist diese Forderung nicht genauso sinnvoll, wie von dem fahrtüchtigen, völlig unauffälligen und unverdächtigen Autofahrer zu verlangen, er solle ins Röhrchen pusten, um zu beweisen, dass er tatsächlich keinen Alkohol getrunken hat? Die Blindtestomanie stellt hier die Alltagslogik auf den Kopf. Wenn mir die Nase läuft, weiß ich, dass ich Schnupfen habe – auch ohne Virentest. Die Notwendigkeit, das Erfahrungswissen durch einen Test zu überprüfen, besteht letztlich nur, wenn es dafür erkennbar einen tatsächlichen Bedarf gibt. Die Frau, die Anzeichen dafür hat, dass sie vielleicht schwanger ist, macht den Schwangerschaftstest, weil Symptome wie eine ausbleibende Periode nicht wirklich eindeutig interpretiert werden können als Hinweis darauf, dass sie tatsächlich schwanger ist. Der Grund dafür kann auch ein anderer sein. Es besteht für sie also ein Bedarf – der Test erfüllt hier ganz pragmatisch den Zweck der Erkenntnisgewinnung, der Klärung einer uneindeutigen Erfahrungssituation. Er verschafft dem Individuum Gewissheit und damit letztlich eine sichere Orientierung in dieser ganz besonderen Lebenssituation. Im Falle meines Tests der Cinchkabel für den Kopfhörerverstärker gibt es aber schlicht keinerlei weiteren Orientierungsbedarf. Das Ergebnis ist auch ohne Blindtest völlig eindeutig – und dies gerade deshalb, weil die Bewertung der Wahrnehmung uneindeutig zweideutig ist, sowohl eine Wahrnehmung als auch eine subjektive Bewertung enthält.


    Wenn Thomas Bauer hervorhebt, dass der Authentizitätswahn davon absieht, „dass Menschen in der Gesellschaft immer in verschiedenen Rollen agieren, die situationsbedingt wechseln, in denen die Menschen keineswegs immer auf dieselben Fragen dieselben Antworten geben und auf ähnliche Stimuli mit denselben Emotionen reagieren“, dann trifft dies den Kern des Dilemmas. Der erfahrene Hörer weiß von der Situationsbedingtheit seines Urteils. Dies betrifft auch mein Beispiel: Eines der beiden Cinch-Kabel aus dem beschriebenen Hörtest habe ich später noch einmal getestet für eine andere Verwendung – und kam zu einem qualitativ anderen Ergebnis. Die Beurteilung des sogenannten „Verstärkerklangs“ oder „Kabelklangs“ bleibt immer situationsgebunden und damit uneindeutig: Es gibt Lautsprecher, die den Eigenklang einer Elektronik sehr deutlich wiedergaben, andere wiederum dominieren den Klang der Anlage so, dass er kaum zur Geltung kommt. Es gibt Kabel, die an der einen Anlage klanglich sehr viel bewirken und an einer anderen wenig und fast nichts. Für den Alltagsverstand zeugt all das gerade für die Urteilsfähigkeit: ein differenziertes und nicht nur pauschal undifferenziertes Urteilsvermögen, die Fähigkeit, sehr präzise mit Blick auf eine besondere Situation sein Urteil modifizieren zu können. Selbst wenn Menschen über eine solche Urteilsfähigkeit in so einem Fall nicht verfügen, können sie das, was Andere an Urteilsvermögen bezeugen, doch als einleuchtend glaubwürdig und glaubwürdig einschätzen. Das Kriterium ist dann die Plausibilität.


    Alltagsplausibilitäten sind für den Authentizitätswahn jedoch Null und nichtig. Das Authentizitätskriterium missachtet in seiner Bewertung schlicht alle sachlichen Gründe, welche die Behauptung von etwas plausibel oder unplausibel machen, sondern bewertet statt dessen alleine die Quelle, aus der Erkenntnisse gewonnen werden. Für die Blindtestomanen ist nur ein Urteil, das durch einen Blindtest zustande kommt, authentisch: „Nicht blind getestet“ ist gleich bedeutend mit „nicht beweisbar“ und im Prinzip „nicht glaubwürdig“. Folglich zählen für den Authentizitätswahn der Blindtestomanie keinerlei Plausibilitätsargumente aus dem Alltag, weil sie aus einer Quelle stammen – dem unverblindeten Hörtest – die eine solche Authentizität der Gewinnung vermeintlich objektiv allgemeingültiger und wahrer wie zugleich subjektiv absolut gewisser Urteile nicht beanspruchen kann. Weil die Blindtest-Logik zudem eine Verallgemeinerungs-Logik ist, die das allgemeine Abstreiten von jedweden Erkenntnissen erlaubt, die als nicht authentisch gewertet werden, ist das Pauschale auch immer das Wahre. Das wirklich Konkrete der Erfahrung verliert so jeglichen Sinn des Unvergleichlichen und Unvertretbaren einer besonderen Situation. In der Abstreiter-Logik von Blindtestomanen löst es sich auf in ein beliebig austauschbares Exempel für ihre allgemein gehaltenen Glaubenssätze. Für die Alltagslogik wiederum ist die behauptete Urteils-Authentizität des Blindtests etwas, was schlicht kaum oder so gut wie gar keine Plausibilität hat. Das Urteil der Abstreiter mit seiner Logik „je pauschaler, desto wahrer“ verrät dem gesunden Menschenverstand letztlich nur den gravierenden Mangel eines nicht vorhandenen differenzierenden Urteilsvermögens.


    Den sporadischen Blindtest zum experimentum crucis subjektiver Wahrheitsfindung hochzustilisieren, widerspricht allzu offensichtlich der Alltagsklugheit, für die Kontinuität, also die nicht nur einmalige, sondern vielfache Bewährung in immer wieder anderen Situationen der Erfahrung, ein entscheidendes Plausibilitätskriterium ist. Ein eventuell negatives Blindtestergebnis ist lediglich eine Erfahrung unter vielen, das letztlich nur dann schwerer wiegen kann als die Kontinuität einer vielfach bewährten, gegenteiligen Erfahrung, wenn die Gründe für das von der Normalität der Erfahrung abweichende Ergebnis auch wirklich einsichtig wären. Genau diese subjektiven Gründe aber belässt die Auswertung des Blindtests, welche nur das Ergebnis und nicht dessen Zustandekommen interessiert, im Dunkeln – im Gegensatz zur vielfach bewährten unverblindeten Erfahrung, wo wirkliche Sachgründe für die Wahrnehmung und ihre subjektive Bewertung augenscheinlich ersichtlich und einleuchtend sind und deshalb Plausibilität haben. Und genau deswegen braucht sich das differenzierte Erfahrungsurteil von pauschalisierenden Abstreiter-Überzeugungen auch in keiner Weise beirren zu lassen und sollte das auch nicht tun.


    Die beanspruchte Blindtest-Authentizität – wie auch das darauf beruhende pauschalierende Abstreiten jeglicher Alltags-Plausibilität von unverblindeten Hörtests – ist im übrigen keine wahre, sondern eine nur erschlichene – und damit nicht mehr als eine Lebenslüge. Wahre Authentizität unterscheidet von fundamentalistischem Authentizitätswahn, dass sie schlicht und einfach nichts abstreitet und abstreiten muss. Das sola scriptura des Protestantismus lässt nur das Bibelwort als authentisches Gotteswort gelten – bricht so mit der katholischen Kirche, einer Tradition, welche die Aussagen der Kirchenväter mit denen der Bibel als gleichrangig einstuft. Kein evangelischer Theologie wird aber deshalb Augustinus pauschal die Glaubwürdigkeit abstreiten und seine Bibelauslegungen generell als zweifelhaft hinstellen. Denn das Bibelwort ist zwar für den Christen die authentische Quelle für das Wort Gottes, für den subjektiven Glauben glaubwürdig wird es aber letztlich nur durch seine einleuchtende und plausible Auslegung. Erst mit der Behauptung, man könne von der Bibel die Wahrheit erfahren, wenn man nur sämtliche Auslegungen – darunter die bedeutenden der Kirchenväter – einfach umgeht und die Bibel „wörtlich“ nimmt, wird das sola scriptura zum Abstreiter-Fundamentalismus. Der Bibel-Fundamentalismus ist aber letztlich eine bloß erschlichene Authentizität, weil nicht die Bibel selbst, sondern nur eine subjektive Auslegung der Bibel „authentisch“ erlebt werden kann. Und das liegt letztlich in der Natur der Sache. Denn: Die Erlebnis- und Urteils-Authentizität ist ihrem Wesen nach ein subjektives, und kein objektives Wahrheits-Kriterium.


    Genau deshalb kommt schließlich die Wahrheit auch über die vermeintliche Blindtest-Authentizität heraus: sie ist die Erschleichung einer Glaubens-Gewissheit nicht anders als der Bibel-Fundamentalismus. Die Beanspruchung von Authentizität stützt sich beim Blindtest auf die Autorität der Wissenschaft, d.h. die strenge Objektivität und eine bewiesene Allgemeingültigkeit von Aussagen, wie sie nur ein methodisch-wissenschaftliches Testverfahren ermöglichen kann, das dann zur Quelle subjektiver Gewissheit wird im Sinne des Bewusstseins, von der Möglichkeit jeglicher Wahrnehmungstäuschung befreit zu sein. Die Blindtestomanie mit ihrem Authentizitätswahn ist jedoch nur eine menschlich-allzumenschliche Komödie naiver Wissenschaftsgläubigkeit, wo das egoistische Lebensinteresse und sein Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung die harte Münze strenger Wissenschaftsmethodik weich geschmolzen hat. Nach Sir Karl Popper unterscheidet die empirisch-wissenschaftliche von einer unwissenschaftlichen Aussage ihre prinzipielle Falsifizierbarkeit. Von empirisch-wissenschaftlichen Urteilen ist deshalb garantiert eines überhaupt niemals zu erwarten: eine letztgültige subjektive Erkenntnisgewissheit. Wer also von einem Blindtestergebnis endlich die Wahrheit über alle Lügen der Hifi-Welt erfahren will, sich damit am Ziel seines Sehnsuchtswegs zur Selbstgewissheit weiß in der vermeintlich erwartbaren wissenschaftlichen Sanktionierung aller seiner sehr subjektiven Glaubensüberzeugungen gegen alle anders lautenden Meinungen auf der Welt, der denkt nicht wissenschaftlich, sondern zutiefst unwissenschaftlich. Und er besitzt keine wirkliche subjektive Authentizität. Wirklich glaubhaft authentisch ist nämlich nicht derjenige, welcher blind das Offensichtliche von gesammelten Erfahrungserkenntnissen aufgrund unverbindlich allgemein gehaltener, abstrakter Vorurteile immer nur abstreiten kann, sondern – augenscheinlich für offene Augen – über einen eigenen Erfahrungsschatz wirklich verfügt.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

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    14. Der Fake-Test – oder: Warum Blindtests so suggestiv sind (Blindtests Teil III)


    Blindtests suggestiv? Aber wie! Beispiel gefällig: Deutsches Fernsehen, das öffentlich-rechtliche, zur besten Sendezeit im Abendprogramm: Es gibt zur „Aufklärung“ des Konsumenten eine Weinverkostung, durchgeführt auf der Straße, in der Einkaufsmeile einer Großstadt – natürlich mit einem Blindtest. Die Aufgabe lautet: Schmeckt den teuren Wein heraus! Die Probanden sollen die Testbecher in der richtigen Reihenfolge staffeln geordnet nach dem Kriterium: Wer ist der teurere und wer der billigere Wein? Was passiert? Es gewinnt natürlich der billigste Aldi-Wein! Klar! So etwas haben die Veranstalter wohl auch bezweckt. Nur was ist die Moral von dieser Blindtest-Geschicht? So klar und eindeutig das demonstrierte Ergebnis scheint, so unklar und vieldeutig ist allerdings der Sinn und Zweck einer solchen Blindverkostung. Nehmen wir an, es ginge um die Widerlegung der Alltagsüberzeugung „Qualität hat ihren Preis“. Dann sagt uns diese Blindverkostung: „Schaut mal, Geiz ist doch Geil!“ Na schön. Aber die entscheidende Frage ist doch eine ganz praktische: Was folgt daraus letztlich für unser Kaufverhalten? Wollen uns die Blindtestomanen etwa suggerieren, dass wir unseren teuren Lieblingswein aus dem Fachgeschäft demnächst stehen lassen und nur noch beim Discounter kaufen, weil wir ja laut Blindtest sowieso keinen Unterschied zwischen dem Billigwein und einem Edeltropfen schmecken können? Man weiß es eigentlich nicht so Recht. Und was ist mit dem Aufklärungseffekt? Macht uns so ein Blindtest-Ergebnis tatsächlich unvoreingenommen, wie man uns offensichtlich glauben machen will? Daran darf man seine großen Zweifel haben. Denn leider ist das Ergebnis – anders als es suggerieren möchte – ein sehr zweideutiges und zwiespältiges. Denn: Schafft es wirklich kritische Distanz zu unserem normalen Konsumverhalten? Oder ist dies nicht ganz im Gegenteil nur Wasser auf die Mühlen unserer Konsumgläubigkeit, indem der Blindtest quasi amtlich bestätigt: Die Propaganda unserer Konsumindustrie, wonach auch das Billig-Massenprodukt die höchsten Qualitätswünsche erfüllt, hat letztlich doch Recht!?


    Aber zum Glück betrachtet der wirkliche Weinliebhaber solche Blindtests in der Regel als bloßen Jux und der Fernsehzuschauer hat vor allem eine nette Abendunterhaltung. Genauer betrachtet hat so ein Blindtest nämlich schlicht null Aussagekraft – schon gar keine wirkliche Beweiskraft. Er macht uns lediglich vor, etwas eindeutig bewiesen zu haben: Unser Geschmackssinn sei in der Regel außerstande, den Preis- und Qualitätsunterschied von Wein zu schmecken. Der Kommentar einer Teilnehmerin zeigt aber, dass hier die Suggestion kräftig mitspielt. Die Dame erklärt vor der Kamera, warum sie den Billigwein für den teuersten gehalten hat: Weil er so schön süß schmeckt! Erinnern wir uns an den großen Weinskandal vor nun schon einer Weile von Jahren, wo deutscher Weißwein mit Zucker gepanscht wurde. Die Deutschen lieben halt den „lieblichen“ Wein. So klärt sich das Blindtest-Ergebnis ganz einfach auf als eine Mogelpackung: Wenn der teuerste Wein eben nicht lieblich, sondern herb und trocken schmeckt, dann schneidet er für die Süßwein verrückten Deutschen zwangsläufig schlechter ab. Würde dieser Test dagegen mit Franzosen gemacht, die vornehmlich trockene Weine trinken, wäre die Wein-Welt in Ordnung gewesen: Der teure trockene Wein hätte gewonnen! Der Blindtest hat also hinsichtlich der geschmacklichen Verifizierung von Preis- und Qualitätsunterschieden von Wein rein gar nichts eindeutig bewiesen, sondern seine Uneindeutigkeit verschleiernd nur gezeigt, dass die Deutschen eine Vorliebe für lieblich schmeckenden Süßwein haben. Das ist aber schlicht etwas, das wir immer schon wussten und der Test damit schlechterdings überflüssig.


    Nun könnte man meinen, der Blindtest erschüttere wenigstens das Vorurteil, dass „mir besser schmecken“ automatisch gleichbedeutend ist mit „hochwertiger sein“ und „teurer sein“. Doch wer glaubt so etwas wirklich? Braucht man einen vermeintlich die Weltordnung des Kaufverhaltens umstürzenden Blindtest, um zu der banalen Erkenntnis zu gelangen, dass dasjenige, was mir schmeckt, nicht immer auch den größten (Geld-)Wert hat? Die Antwort lautet selbstverständlich: Ganz und gar nicht!


    Blindtests haben etwas von einem Hütchenspieler-Trick. Alles was für uns einen (Mehr-)Wert hat und vielleicht sein Geld kostet, wird weggezaubert. Hast Du einen Lieblingswein, ein Lieblingsbier? Sieh mal, im Blindtest-Zauber schmecken Dir alle Biere gleich! Selbst eine Sterneköchin wie Sarah Wiener konnte im Blindtest ihren Edeltropfen nicht gegenüber dem Aldi-Wein herausschmecken. Und noch nicht einmal alle Musiker können die Millionen kostende Stradivari von einer Durchschnittsgeige unterscheiden! Muss man da nicht staunen: Was für ein Wunder vollbringt doch der Blindtest, indem er die Welt einfach immer wieder auf den Kopf stellt: Das Minderwertige ist der wahre Wert, weil es uns genauso glücklich macht wie das, was einen tatsächlichen Wert hat!


    Aber kommen wir endlich auch zum speziellen Thema Hifi-Blindtests. Ist es Zufall? Auch hier dreht sich in letzter Konsequenz alles nur um Eines und nur Eines: das liebe Geld. Blindtestomanen halten es für „bewiesen“: Auch die teuerste Elektronik von Accuphase, Marc Levinson, Audionet, AVM und Co., angeboten im bösen Hifi-Fachhandel, ist im Blindtest vom Billig-Massenprodukt, zu haben in dem aus der Fernsehwerbung bekannten „Blöd“-Markt, klanglich nicht zu unterscheiden! Wer also immer noch zu blöd ist, die Werbe-„Wahrheit“ für Massen-Konsumartikel zu glauben, der bekommt schließlich die nötige Nachhilfe, indem er sich den Hütchenspieler-Tricks von Blindtestomanen ausliefert. Dann ist er garantiert überzeugt und geht endlich nur noch in den ollen „Blöd“-Markt!


    „Billig ist genauso gut wie teuer!“ – ist das eigentlich Zählbare, was bei solchen Blindtests herauskommt oder besser gesagt: herauskommen soll. Und deshalb ist dieses vermeintlich so eindeutige Ergebnis auch so suggestiv wie die Verführungskünste eines Rattenfängers für Neidhammel. Denn es ertönt von der Flöte des Glücksversprechens eine Melodie, die alle Neider und Ressentiment-Menschen so anzieht wie die Laterne die Motten: Die armen Abstreiter, sie müssen sich für ihren Holzohren-Stumpfsinn und klammen Geldbeutel nun nicht mehr schämen! Wie schön! Mit vor Stolz aufgeblasener Brust von Handlungsvertretern für Blindtestwaren können sie in alle Foren-Welt ausposaunen: Was für ein Segen ist unsere Marktwirtschaft und Konsumindustrie! Wie gut und weise geführt wird doch die große Schafherde von Konsumgläubigen, die den Konsumhirten von Großherstellern hinterherläuft, ihr großes Werbebanner nie aus den Augen verlierend: „Nur Geiz ist geil!“ Es war schließlich kein Geringerer als der Prophet des modernen Kapitalismus, Adam Smith, der das Ideal des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl“ von Menschen verkündete. Dieses Marktwirtschaftler-Glück winkt nun mit dem 50 Euro-Kopfhörerverstärker, dem für Jedermann erschwinglichen Alleskönner-Vollverstärker für nur 400 Euro und dem Billig-CD-Spieler für maximal 150 Euro! Der unfehlbare Blindtest beweist es – sie erfüllen die höchsten klanglichen Ansprüche! Qualität hat heute keinen Preis mehr! Ist das nicht der wahre technische Fortschritt – erbracht freilich von armseligen Billigarbeitern in Fernost, die für unsere Wunscherfüllung ihr klägliches Leben opfern. Aber wen interessiert das schon! Das ist wenigstens kein Voodoo – wie hochpreisiges Hifi von deutschen Mittelständlern, die zu allem Überfluss auch noch unsinniger Weise Tariflohn in einem Hochlohnland bezahlen!


    Billig-Hifi aus Asien, macht es nicht glücklich, vor allem natürlich diejenigen, welche die hohen Preise für heimische Qualitätsartikel nicht zahlen können? Der Hifi-Blindtest rührt also ganz kräftig in der trüben Suggestionsbrühe, indem er die unerfüllten Sehnsüchte der „kleinen Leute“ befriedigt, die sich schließlich auch eine tolle Hifi-Anlage für möglichst wenig Geld leisten möchten, indem er ihnen ins offene Ohr des Ressentiments flüstert: Wer sich teure Produkte leisten kann und sie tatsächlich kauft, der erhält für das viele Geld, was er so verschwendet, keinen wirklichen Gegenwert. Der reich Beschenkte an Hörkultur mit gutem Ein- und Auskommen sollte also eigentlich der Unglückliche sein! Wen die Industrie dagegen zum Glücklichen macht, das sind die vom Ressentiment durchdrungenen Neider, die den Besser-Hörenden und Besser-Verdienenden ihren Besitz missgönnen. So erzeugt Hifi-Zeugs vom Billigsten – vom Blindtest beglaubigt – in allen Minder-Bemittelten ein wahrlich erhaben zu nennendes Hoch-Gefühl. Wenn all diese Billigware wie im Märchen sprechen könnte, würde sie sich ungefähr so anpreisen: „Bei uns, dem Billig-Ramsch, den Ihr leicht erwerben könnt, ist wirklich jeder Pfennig sein Geld wert! Macht also nur einen Blindtest, dann werdet Ihr zu den Gewinnern der Konsumgläubigkeit zählen, die alles Glück der Welt verspricht und Euch rundum zufrieden sein lässt. Bei uns werden keinerlei höhere Ansprüche gestellt und vor allem keine unerfüllbaren Wünsche nach dem für Euch Unerschwinglichen, dem sogenannten „High-End“, mehr geweckt. All diese Sehnsüchte gehören zur Mogelpackung für Suggestionisten, wie sie sogenannte High-End-Produkte darstellen. Einen Kauf lohnt – mit optimalem Preis-Leistungsverhältnis – nur das, was wir sind: der ganz ehrlich minderwertige Massenartikel und Billig-Schrott!“


    Rache ist bekanntlich süß. Und die des Ressentiments umso süßer, als die Abstreiter alles Höherpreisig-Höherwertigen noch eine Blindtest-Trumpfkarte im Ärmel haben: den Fake-Test. Diese Karte gewinnt garantiert immer – sowohl bei Hifi als auch beim Wein! Unsere Weintester in der Einkaufspassage verpassten natürlich nicht die Gelegenheit, die Weinkenner mit so einem Fake-Test zu überrumpeln. Eifrig haben sie diese nach subtilen Geschmacksnuancen suchen lassen. Und natürlich wurden sie auch gefunden! Nur einer der Passanten fiel nicht auf diesen Fake herein und sprach mit der Miene eines Ungläubigen in die Kamera: „Ich schmecke da eigentlich keinen Unterschied. Aber ich bin auch kein Weinkenner, denn ich trinke gar keinen Wein!“


    Und genau das bringt uns auf den Kern des Problems! Für die Blindtestomanen ist die Sache völlig eindeutig: Die Kenner mit ihrem Sinn für Subtilitäten des Geschmacks oder Gehörs – sie sind allesamt Suggestionisten! Der Fake-Test „beweist“ es ja scheinbar so eindeutig: Was die Kenner da alles an feinen Nuancen herausschmecken oder heraushören, nichts davon existiert! Dem Dummen, Unerfahrenen und Unkultivierten erschließt sich also nur die Wahrheit, nicht dem Kenner, dem mit Bildung und Kultur reich Beschenkten. So wie es die Bibel schon wusste, als Jesus sprach: „Eher geht das dümmste Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt!“ Also lautet das Abstreiter-Bibelwort: Von Suggestionen frei ist allein der Stumpfsinn des Durchschnittsgeschmacks. Nur wer überall nichts schmeckt und nix hört, darf sich erlöst vom Suggestionsteufel wissen! In Abstreiter-Hifi-Foren wurde deshalb schon das folgende Werbebanner über dem Eingangstor, die ins Reich der Hifi-Wahrheit der Seligen führt, gesichtet:


    „Hier geht es zum Fake-Test! Wir garantieren – freilich ohne Rückgabegarantie: Die Highender-Welt wird endlich zur Fabel! Wir versprechen die Erlösung von allen Übeln des Goldohren-Feinsinns und Sie werden, vom Blindtest gehörig gefaket, schließlich in alle Welt ausposaunen: „Ich, der Holzohren-Stumpfsinn, bin die Wahrheit.““


    Aber Spaß beiseite: Was ist von einem solchen Fake-Test zu halten? Antwort: Er ist in Wahrheit selber Fake, ein für alle nicht vom Virus der Blindtestomanie Angesteckten – mit etwas psychologisch-analytischem Scharfsinn freilich – durchschaubarer, sehr suggestiver Hütchenspieler-Trick. Die gefaketen Weinkenner – haben sie etwa gar keine Unterschiede geschmeckt und sich alles nur eingebildet? Weit gefehlt! Es ist natürlich klar, dass die Hereingefallenen von ihren Sinnen getäuscht wurden. Nur ist die Frage: wie! Der Geschmack des Weines ändert sich mit der Temperatur, der Menge der Abfüllung im Glas, auch damit, wie groß oder klein der Schluck des Trinkers ist. Bei einem Fake-Test klammert sich der Proband an solche Kleinigkeiten wie der Ertrinkende an den Strohhalm – er bläht sie mit Bedeutung auf. Unkalkulierbare Zufälligkeiten werden zu Kriterien aufgewertet in der gezielt fehlgeleiteten Suche danach, zwei schwierig zu unterscheidende Dinge unterscheiden zu sollen, die in Wahrheit nicht zu unterscheiden sind: Der Wein in den beiden Gläsern kommt aus derselben Flasche! Im Falle des Fake-Testes spielt die selektierte Wahrnehmung verrückt, indem sie sich an eine Variante heftet, die der Zufall in den Vordergrund gespielt hat: das nicht mit Messbecher-Genauigkeit mit gleicher Menge gefüllte Glas, der minimale Temperaturunterschied, der entsteht durch eine nicht auf exakt dieselbe Art erfolgte Abfüllung usw. Was in diesem Fake-Test, der bezeichnend ein Schnelltest für eilig vorübergehende Passanten ist, verloren geht, ist eine wesentliche Fähigkeit, die nur durch eine lange andauernde Gewohnheit entstehen kann: Der Liebhaber guten Weines hat seinen Lieblingswein, den er oft Jahrzehnte lang Jahrgang für Jahrgang in jedem Herbst neu einkauft. Er weiß aus Erfahrung, dass nicht jeder Jahrgang ein guter Jahrgang ist und er also immer anders schmeckt. Dazu kennt er die gewisse Labilität seines Geschmackssinns, dem derselbe Wein je nach den Umständen des Tages – was hat man vorher gegessen und getrunken, ist die Temperatur vielleicht minimal unterschiedlich – keineswegs immer gleich gut schmeckt. Der Weinliebhaber kann sich dabei aber stets sicher sein, dass es sich trotz aller Geschmacksunterschiede immer um denselben Wein handelt. Das Wissen darum, um welchen Wein es sich handelt ermöglicht es ihm nämlich, die wirklich signifikanten Geschmacksunterschiede herauszuschmecken und von den nicht signifikanten zu unterscheiden. Die selektive Wahrnehmung hilft dem Kenner und Liebhaber hier, die von den gleichbleibenden Eigenschaften aller Jahrgänge wie auch den zufälligen Geschmacksnuancen des Moments abweichenden, signifikanten Geschmackseigenschaften nur dieses speziellen Jahrgangsweines herauszufinden und sich darauf zu konzentrieren. Diese Unterscheidungsmöglichkeit wird ihm durch den Blindtest und insbesondere den Fake-Test genommen – und entsprechend verliert die selektive Wahrnehmung ihre Orientierung und wird zum Irrläufer.


    Blindtests und Fake-Tests können deshalb über unsere alltägliche Urteilsfähigkeit in Sachen Geschmack auch keine wirklich verbindlichen Aussagen treffen. Die Testverkostung ist mit der Art, wie wir im Alltag Wein trinken, schlicht nicht vergleichbar. Während sich passionierte Weintrinker von solchen Test-Abenteuern letztlich nicht beirren lassen, ist es bei den Hifi-Blindtestomanen allerdings ganz anders. Den Unterschied macht hier ihre dogmatische Technik-Gläubigkeit und die daraus resultierende Mentalität des Abstreitens. Die Erfahrung mit „Abstreitern“ in Hifi-Foren ist, dass sie sich generell völlig unzugänglich zeigen für jegliche Arten von pragmatischer Denkweise, die sich auf so etwas eigentlich Selbstverständliches stützen wie die Alltagsklugheit und ganz persönliche Lebenserfahrung. Gegen das abgrundtiefe Misstrauen gegenüber allem, was nicht gemessen und getestet ist, kann schließlich kein Vertrauen in die Erfahrung, wie vielfach es sich auch bewährt hat, etwas mehr ausrichten. Denn wer in der Hörerfahrung immer nur das Negative sieht, dass sie sich nämlich messtechnisch nicht „erklären“ kann oder will, der findet in ihr auch stets einen Grund, sie abzustreiten. Der Fake-Test ist deshalb eines der beliebtesten „Totschlags“-Argumente, mit der die Erklärer-Abstreiter das eigentlich Plausible und Glaubwürdige als unplausibel und unglaubwürdig erscheinen lassen, indem sie die Plausibilitätsbasis sämtlicher Aussagen und Urteile, die sich auf die Erfahrung stützen, gleichsam in die Luft sprengen. Der Fake-Test – er ist gleichsam eine argumentative Bombenexplosion! Denn er scheint alle Bemühungen um differenzierte Hörvergleiche ad absurdum zu führen, als er die Probanden ganz einfach an der Nase herumführt und den Abstreitern zum Triumph verhilft, den sie dann auch verkünden: „Alles ist nur Suggestion, die ganze Hörerfahrung. Wer seinen Wahrnehmungen traut, ist ein Illusionist. Die Hörerfahrung scheidet als zuverlässige Erkenntnisquelle schlechterdings aus. Dafür kommt nur die Messung in Frage!“


    Der Fake-Test als Abstreiter-Apologie ist jedoch nichts als Sophistik. Man kann aus der banalen Tatsache, dass es Wahrnehmungstäuschungen gibt, eben nicht kurzschlüssig ableiten, dass wir uns auf unsere Wahrnehmungen generell nicht verlassen könnten. Das widerspricht erst einmal der Biologie. Die menschliche Wahrnehmung war – ihrer Täuschungsanfälligkeit zum Trotz – sehr erfolgreich im evolutionären „Kampf ums Dasein“. Sonst wäre die Tierart Mensch nämlich längst ausgestorben. Dass es Grenzsituationen gibt, wo die Mechanismen unser Wahrnehmungsorientierung versagen, heißt beileibe nicht, dass sie in der Normalsituation nicht gut funktionieren könnten. Das sagt schließlich auch der bekannte Klugheits-Grundsatz: abusus usum non tollit, „der Missbrauch hebt den Gebrauch nicht auf“. Die Grundlage dafür findet sich schon in der antiken Philosophie, beim klugen Aristoteles nämlich. Der Normalfall darf niemals durch den Extremfall begriffen werden, formuliert Aristoteles als Prinzip praktischer Vernunft. Die Verkehrung dieses Grundsatzes geschieht z.B., wenn man verkennt, dass der Mensch im Prinzip nach dem Guten strebt, indem statt diesem Normalen und Positiven das Extreme und Negative, das Streben nach dem Bösen, zum Normalmaßstab erhoben wird. Es gibt freilich die schlechte Handlung und den bösen Menschen. Die Abstreiter des Guten im Menschen ziehen aufgrund dieser unbestreitbaren Tatsache nun den viel weiter reichenden Schluss, dass der Mensch, weil er nicht nur Gutes, sondern auch Schlechtes tun kann und auch tut, im Grunde immer schlecht ist und das Böse will, das Streben nach dem Bösen und nicht nach dem Guten also das ist, was den Menschen normaler Weise beherrscht. So gedacht besteht das Gute letztlich nur noch darin, das Böse, das man eigentlich immer will, mit Anstrengung zu vermeiden. Das Extrem, der „böse“ und nicht „gute“ Wille, wäre damit keine Ausnahme mehr, sondern die Regel.


    Auf die psychologisch fatalen Konsequenzen einer solchen Abstreiter-Ethik, die den „guten Willen“ als Triebfeder menschlichen Lebens leugnet, hat Max Scheler hingewiesen: Weil sich die Vermeidungsstrategie auf das Nicht-Gute, das Böse, fixiert, bringt es dieses Ungute gerade dynamisch verstärkend hervor. Im Falle der Psychologie des Verdachts und der Verdächtigung von „Abstreitern“ aus Hifi-Foren ist das Ergebnis nicht weniger ruinös: Das manische Misstrauen in die eigenen Erfahrungen führt dazu, dass das Individuum nur noch in großer Anstrengung mit permanenter Suggestionsvermeidung beschäftigt ist, deren Grundlage aber letztlich nur eines ist: die Angst davor, sich aufgrund eigener Erfahrung ein Urteil zu bilden. Die Folge davon ist, dass sich ein empirisches Urteilsvermögen, wo eine Erfahrung auf dem Grund der anderen sich bestätigend aufbaut, auch nicht im Ansatz entwickelt wird, weil genau dies ein Grund-Vertrauen auf das Fundament der Erfahrung voraussetzt, was Erfahrungs-Angst und tiefgreifendes Misstrauen immer schon untergraben haben. Das Gebrechen der „Abstreiter“ in Hifi-Forum ist deshalb ein Totalschaden, der nahezu vollständige Verlust an Urteilskraft, was sowohl ihre eigenen als auch ihre Beurteilung der Hörerfahrungen Anderer angeht. In hitzigen Foren-Diskussionen offenbart sich dieser Verlust schließlich in der Abstreiter-Taubheit für jegliche guten Argumente eines vernünftig-maßvollen Alltagspragmatismus. Technik gläubige Erklärer-Abstreiter, welche die Hifi-Forenwelt verunsichern, können nur einem, den Messungen, wirklich vertrauen. Warum? Weil es dazu schlechterdings keinerlei (Hör-)Erfahrung, sondern allein bloßer (technischer) Kenntnisse braucht.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"

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    15. Warum ein Blindtest kein Lügendetektortest ist – oder: Wie die Blindtestomanie zur Filterblase wird (Hifi-Blindtests Teil IV)


    Beim Fake-Test wird es offensichtlich: Blindtests werden von den Abstreitern als eine Art von Lügendetektor betrachtet, welcher die „Wahrheit endlich ans Licht bringt“. Das bedeutet, dass der Blindtest mit der strategischen Absicht durchgeführt wird, die „Uneinsichtigen“ bloßzustellen oder sich selbst davon zu überzeugen, dass natürlich nichts zu hören ist. Dahinter steckt aber letztlich nur eine Fiktionalisierung und Immunisierungsstrategie, welche dazu dient, die Mauern eines geschlossenen Weltbildes geschlossen zu halten sich in einer schützenden Filterblase vor der – die eigenen verqueren Ansichten gefährdenden – Wahrnehmung der Realität gleichsam einzukapseln und abzuschotten.


    Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es gibt sie sehr wohl, die sinnvolle und aussagekräftige Verwendung von Blindtests – sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft. Blindtests sind in vielen Bereichen fester Bestandteil der industriellen Produktentwicklung. Sie haben die Aufgabe, vor der Markteinführung die Marktchancen eines Produktes, inclusive möglicher Verbesserungen des Produktdesigns, abzuklären, um kostspielige Fehlentscheidungen schon vor dem Anlauf der Serienproduktion zu vermeiden. So werden z.B. Tütensuppen blind getestet oder im Hifi-Bereich auch Audio-Kabel – etwa vom US-amerikanischen Hersteller Wireworld, einem der weltweit agierenden Marktführer. In solchen Tests ist aber nicht der Tester das Testobjekt, sondern das Produkt. D.h. die individuelle Urteilsfähigkeit der Testpersonen ist gar nicht der Gegenstand, der im Blindtest getestet wird, sie wird vielmehr immer vorausgesetzt – also dass der Tester grundsätzlich in der Lage ist, unterschiedlich zu schmecken oder den Klangunterschied verschiedener Kabel zu hören. Der verblindete Test stellt lediglich sicher, dass die Testperson nicht durch eine individuelle Vormeinung über das zu bewertende Produkt beeinflusst wird („dieses Produkt kenne ich und weiß, dass es gut und besser ist als andere“), also möglichst unbefangen urteilt. Das Entscheidende ist hier einmal mehr zu betonen – weil Hifi-Hobbyisten und Blindtestomanen es schlicht nicht verstehen: Auch solche kommerziellen Blindtests dienen keineswegs der individuellen Orientierung und Wahrheitsfindung, sondern stellen ein Verfahren methodischer Verallgemeinerung dar, indem garantiert werden soll, dass der Einzelne als Angehöriger einer Käufergruppe repräsentativ urteilt. Der kommerzielle Blindtest zielt also nicht auf das jeweilige Individuum, sondern will Aussagen über das gewinnen, was sich ökonomisch eindeutig berechnen und kalkulieren lässt: das Normalverhalten einer bestimmten Gruppe potentieller Käufer, zu der das singuläre Individuum gehört.


    Diese Unbefangenheit eines repräsentativen Urteils, die der Blindtest garantieren soll, unterstellt dem Tester deshalb gerade nicht, dass er „lügt“. Ihm wird also keinesfalls generell die Urteilsfähigkeit wegen seiner Belastung durch ungeprüfte Vorurteile abgestritten. Das aussagekräftige Blindtest-Urteil darf vielmehr durchaus auch auf Vorurteilen beruhen, die auf ihre „Wahrheit“ gar nicht überprüft werden müssen, weil es um einen Wahrheitsfindungsprozess bei einem solchen kommerziellen Blindtest schlicht nicht geht, sondern lediglich um die Möglichkeit, zu allgemeingültigen im Sinne von repräsentativen Aussagen über das Verhalten potentieller Käufer zu kommen. Wenn die Industrie so wie die Foren-Abstreiter davon ausginge, dass der Hörer in seiner alltäglichen Wahrnehmung gar keine Unterschiede detektieren kann, sondern sich diese aufgrund seiner Vorurteile nur einbildet, würden solche Blindtests schlicht nicht stattfinden. Sie wären als Hilfsmittel für die Produktentwicklung ganz einfach wertlos.


    Dass der Blindtest so gar nicht zum Lügendetektor-Test tauglich ist, wird noch deutlicher im Vergleich von solchen amateurhaften Hobbyisten-Veranstaltungen, wie sie Hifi-Blindtests darstellen, mit einer wirklich wissenschaftlichen Testmethodik. Dem Wissenschaftler geht es um die größtmögliche Verallgemeinerung von Aussagen. Von daher braucht er eindeutige Ergebnisse, die unabhängig von jeder uneindeutigen individuellen Wahrnehmungslage gelten können. Diese Test-Eindeutigkeit wird aber ebenso wenig wie bei den kommerziellen Blindtests der Industrie dadurch erreicht, dass man den Blindtest als eine Art Lügendetektor zur Überführung der Suggestionsanfälligkeit des einzelnen Probanden betrachten würde. Es geht auch hier nicht darum, das Individuum und seine psychologischen Dispositionen einem Test zu unterziehen, sondern lediglich um die Testung von dem, was er kann oder nicht kann: etwas wahrnehmen oder nicht wahrnehmen. Einmal ist eine individuelle Wahrheitsprüfung im Rahmen einen solchen Blindtest gar nicht möglich, denn die tatsächlichen Gründe, warum z.B. der Proband im Test abweichend von seiner Alltagserfahrung einen Unterschied nicht eindeutig detektieren kann, bleiben schlechterdings im Dunkeln, wenn es nur darum geht festzustellen, ob er das Ergebnis „A kann ich eindeutig von B unterscheiden“ erzielen oder nicht erzielen kann. Die Aufdeckung einer Täuschung ist nur eine von tausend möglichen anderen Erklärungen – ganz anders als beim Schwangerschaftstest, wo das Ergebnis eben eine zu testende Ursache eindeutig anzeigt und damit zugleich die subjektive Bewertung von uneindeutig bleibenden Wahrnehmungs-Symptomen – etwa eine ausbleibende Periode – eindeutig bestätigt oder nicht bestätigt.


    Zum anderen und vor allem aber geschieht die methodisch verallgemeinernde Auswertung von Blindtests so, dass das Individuum in diesem Verallgemeinerungsverfahren überhaupt verschwindet. Das Testergebnis enthält mit Bezug auf die Gesamtzahl der beteiligten Probanden in der Regel eine Streuung von positiven und negativen Ergebnissen. Der Test ist also mit Blick auf die Gesamtheit der Teilnehmer eines solchen Tests nie völlig eindeutig. Damit diese Uneindeutigkeit die Aussagekraft solcher Tests nicht beeinträchtigt, werden die vom Durchschnitt abweichenden Ergebnisse durch mathematische Ausmittelung beseitigt. Für den Wissenschaftler zählt damit das einzelne Individuum, das sich einem solchen Blindtest unterzieht, nur als eine im Prinzip austauschbare Nummer in der Statistik, wohingegen das getestete Individuum dazu neigt, so ein Testergebnis zu personalisieren, also persönlich zu nehmen. Was ein solcher Test für die individuelle Orientierung des jeweiligen Probanden bedeutet, interessiert die wissenschaftliche Auswertung aus methodischen Gründen jedoch schlechterdings nicht, also auch nicht, ob das Individuum meint, durch einen solchen Test endlich die „Wahrheit“ zu erfahren, was die Kompetenz oder Inkompetenz angeht, seine Höreindrücke zuverlässig beurteilen zu können. Die Foren-Blindtestomanie speist sich aber aus dem Glauben, der Blindtest könne dem Individuum endlich die subjektive Gewissheit geben, welche er bisher durch seine – unverblindeten – Hörerlebnisse nicht erlangen konnte. Genau das, den Blindtest als einen Lügendetektortest zur subjektiven Wahrheitsfindung zu betrachten, ist aber letztlich kein wissenschaftliches, sondern ein sehr privates Interesse, was sich dem, worum es in der Wissenschaft immer geht und auch nur gehen kann – die Verallgemeinerbarkeit von gewonnenen Erkenntnissen – prinzipiell entzieht.


    Wer sich leiderprobt den nicht enden wollenden Blindtest-Debatten in Hifi-Foren ausgesetzt hat, wird zudem kennen, dass es unter den Blindtestomanen selbst wiederum zwei Parteien gibt. Die einen verwechseln den Blindtest nur zu gerne mit einem Schwangerschaftstest. Sie meinen nämlich, das Blindtestergebnis sei so einfach und eindeutig abzulesen wie der Indikator auf einem Teströhrchen oder die Temperaturangabe auf einem Fieberthermometer. Von den komplizierten Methodenproblemen der Herstellung eines Testdesigns wie der Auswertung eines solchen Tests wollen sie schlicht nichts wissen. Die anderen wiederum bemühen sich mit quasi wissenschaftlicher Gründlichkeit, das Blindtest-Verfahren so zu optimieren, dass das erwünschte eindeutige Ergebnis wirklich eindeutig ausfällt. Solche Disputationen pflegen mit großem Eifer ausgefochten zu werden, sie enden jedoch mit schöner Regelmäßigkeit wie das berühmte Hornberger Schießen mit der Bekundung gegenseitigen Unverständnisses.


    Wenn sich allerdings die Blindtestomanen selbst so gar nicht einigen können, wie ein „richtiger“ Blindtest eigentlich auszusehen hat, stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Praxistauglichkeit solcher Hifi-Blindtests. Dies umso mehr, als sich in der Regel weder beim Händler, noch im heimischen Wohnzimmer ein aufwendiger Blindtest realisieren lässt. Ist daher der unverblindete Hörtest nicht legitim, weil ein Ergebnis zu haben schließlich besser ist als kein Ergebnis? Entspricht dies nicht genau der pragmatischen Vorgehensweise des Verkehrspolizisten, der offenbar doch nicht erfolglos nach Augenschein urteilt, weil es schlicht unmöglich ist, alle alkoholisierten Verkehrsteilnehmer, die er aus dem Verkehr zieht, zu testen? Meine Antwort in dieser Frage lautete immer wieder so oder ähnlich: „Wer einen Blindtest machen möchte, soll es tun. Ich selbst habe in solchen Testsituationen immer gut abgeschnitten, scheue sie also durchaus nicht. Nur brauche ich schlicht keine Blindtests, weil ich auch ohne sie zu einer für mich klaren Entscheidung gelangen kann. Ich bin auf diese Weise über vier Jahrzehnte verfahren und habe keine einzige meiner Entscheidungen bereut.“


    Doch für solchen Pragmatismus haben Blindtestomanen schlicht kein Ohr und können auch kein solches haben, weil sie das Vertrauen in sämtliche Hörerfahrungen – die eigenen wie auch die Anderer – grundsätzlich verloren haben. Doch wie halten es die Blindtestomanen eigentlich selbst mit ihrem Lieblingskind, den Blindtests? Fragt man die Abstreiter nach ihrem ganz persönlichen Umgang mit Blindtests, bekommt man die verblüffend ehrliche Antwort: „Nein, wir haben noch nie aufgrund eines Blindtests eine Hifi-Anlage gekauft und würden das auch niemals tun!“


    Wer nun in das Wohnzimmer oder den Hörkeller von Blindtestomanen und Abstreitern schauen könnte, würde die ebenso überraschende Entdeckung machen: Gerade bei denen, die in Foren am lautstärksten agitieren, steht selbstverständlich kein Billig-Verstärker im Rack und die Geräte sind auch nicht mit dem Telefondraht von der Rolle für 20 Cent verbunden. Nein, die „Holzohren“ betreiben denselben teuren Accuphase wie die „Goldohren“, lieben ihren Marantz mit „Voodoo“-Technik wie verkupferten Platinen, besitzen teure B&W-Lautsprecher mit Diamanthochtönern und WBT-Steckern und haben selbstverständlich auch durchaus teure Kabel – eine highendige Ausstattung also, die nach der „Abstreiter“-Philosophie doch eigentlich technisch sinnlos und klanglich völlig irrelevant ist. Auf diesen Widerspruch angesprochen, antworten die Abstreiter dann mit dem kindischen Stolz von Technik verliebten erwachsenen Männern, die immer noch mit der Modelleisenbahn spielen: „Nein, um Gotteswillen, diese Geräte haben wir selbstverständlich nicht wegen des Klanges gekauft, sondern weil das so schöne und nobel verarbeitete Technik ist!“ Natürlich gibt es auch die Abstreiter-Partei, welche tatsächlich keinen Accuphase, Nobelklasse-Marantz oder AVM, sondern das Durchschnitts-Serienprodukt ihr eigen nennt. Von solchen „Fundis“ und „Realos“ unter den Abstreitern bekommt man zu hören: „Wir wählen unsere Geräte nicht nach Gehör aus, sondern nach den Messdaten!“ Auch diese Antwort ist allerdings nur eine faule Ausrede und im Prinzip genauso unehrlich und lächerlich, wie die des Blindtest-Propagandisten mit der 50000 Euro-Anlage im Hifi-Keller. Wer predigt, dass der 400 Euro-Verstärker perfekt ist und der niedrigste Dämpfungsfaktor absolut ausreichend, der kann im Prinzip solche Geräte im Blindekuhspiel aussuchen, denn messtechnisch unterscheiden sie sich allenfalls in der vierten Stelle hinterm Komma. Jedes beliebige ordentliche Seriengerät, wenn es keinen technischen Effekt hat, ist dann für Hifi gut genug.


    Damit entpuppt sich die Hifi-Blindtestomanie – und mit ihm der ganze Abstreiter-Wahn – endgültig als Farce. Worum es geht, ist letztlich nur das Abstreiten um des Abstreitens willen. Die moralisierende Frage: „Hast Du einen Blindtest gemacht, damit wir Dir glauben dürfen?“ zielt also immer nur auf die Anderen, die „Hörer“. Ihnen wird – sehr suggestiv – vermittelt, dass allein der Blindtest zur Hifi-Seligkeit und Befreiung von den Suggestions-Teufeln der Hörerfahrung führt, wie in dem folgenden realen (!) Fall:


    Ein als Emotionalist und euphorischer „Hörer“ bekannter Forist, ein wahres sogenanntes „Goldohr“, kommt der drängenden Aufforderung zu einem Blindtest schließlich nach, wo er den Abstreitern endlich „beweisen“ soll, dass sein teurer CD-Spieler wirklich so unendlich viel besser klingt als ein x-beliebiges, schnödes Billiggerät. Und was passiert? Besser könnte es für die Abstreiter nicht kommen, denn es tritt genau das Erwartete ein: Natürlich versagt das „Goldohr“ in dieser Blindtestsituation und wird zum „Holzohr“, denn einen klanglichen Unterschied zwischen den Geräten kann er zu seiner eigenen Verwunderung absolut nicht feststellen. Ehrlich wie er ist, verkauft der über sich selbst verblüffte Blindtest-Versager daraufhin seinen teuren CD-Spieler und ersetzt ihn durch den billigen. Im Sinne der Foren-Abstreiter müsste er nun der zufriedenste Hifi-Freund auf der Welt sein. Aber leider: Nein! Tag für Tag, Woche für Woche hört er seine Lieblings-Aufnahmen und ist immer wieder entsetzt, dass er das, was er mit seinem Nobel-CD-Spieler immer gehört hat, jetzt mit dem Billig-Gerät einfach nicht mehr hören kann! Und so endet diese Episode eines „Goldohrs“, das trotz Blindtest-Bekehrung doch nicht zum „Holzohr“ werden konnte, traurig: Seine Entscheidung, seinen teuren und gut klingenden CD-Spieler verkauft zu haben, bereut der enthusiastische „Hörer“ schließlich bitter!


    Was lernen wir daraus? Die Inkonsequenz von Blindtestomanen, Blindtests einerseits als unbedingt notwendig für die Hifi-Wahrheitsfindung einzufordern, andererseits aber keine Bereitschaft zu zeigen, eine Kaufentscheidung in Sachen Hifi von einem Blindtest abhängig zu machen, hat sich ironischer Weise an diesem Beispiel als intuitiv richtig bestätigt: Die Probe auf´s Exempel hat die Praxis-Untauglichkeit von Hifi-Blindtests offensichtlich werden lassen – mit der zudem ernüchternden Erkenntnis, dass auch ein Blindtest nicht zum Lügendetektor taugt, sondern sehr wohl suggestionsanfällig ist. In vorausgegangenen unzähligen Foren-Diskussionsschlachten hat man dem armen, Blindtest unwilligen „Hörer“ kräftig suggeriert, dass aus technischen Erklärungs-Gründen der billige und teure CD-Spieler nur gleich klingen könnten und genau dieses Ergebnis bei einem Blindtest auch notwendig herauskommen müsse. Zu dieser Einsicht würde der Unwillige zwangsläufig selbst gelangen, wenn er nur endlich den Mut beweisen würde, sich einem solcher Blindtest-Prüfung zu stellen. Und – wen wundert es eigentlich – genau dieser überwältigenden Suggestivität der Erklärer-Abstreiter ist er schließlich bei seiner Blindtest-Mutprobe erlegen.


    Das Desaster für die Erklärer-Abstreiter macht schließlich die psychologische und nicht nur technische Erklärung perfekt, die nahelegt, dass gerade nicht – wie von den Blindtestomanen unterstellt – die unverblindete Hörerfahrung, sondern der Blindtest die Täuschungsquelle war. Es ist nämlich eine psychologischen Gesetzmäßigkeit, dass Enttäuschungserlebnisse nicht reversibel, sondern irreversibel sind. Wer im Nebel einen Baumstumpf zunächst für einen sitzenden Menschen gehalten hat, beim Nähertreten aber merkt, dass dies nur eine Sinnestäuschung war, wird, wenn er sich von diesem Gegenstand wieder entfernt, auch im dicksten Nebel kein Phantasma von einem Menschenbild mehr in diese nur sehr undeutliche Wahrnehmung von einem Baumgebilde hineinprojizieren können. Der Baum im Nebel bleibt ein Baum. Wenn also die Erfahrungskontinuität das Blindtestergebnis enttäuschend wieder aufhebt, dann war der durchgeführte Blindtest in Einheit mit der vorausgehenden, sehr suggestiven Blindtest-Werbung der „Erklärer“ die Quelle der Täuschung und nicht – wie unterstellt – die alltägliche Hörerfahrung.


    Mit der Blindtestomanie schließt sich deshalb ein Kreis. Das Abstreiten jeglicher Urteile und Einsichten aus der Quelle alltäglicher Hörerfahrung bedeutet eine strategische Ignoranz – und genau damit bildet sich eine Filterblase. Kein Mensch bestreitet im Ernst, dass es Suggestionen und Suggestionsquellen in der Erfahrung gibt wie etwa die Beeinflussbarkeit des Kaufverhaltens durch Werbung. Auch tatsächliche oder potentielle Käufer von Hifi-Geräten machen da keine Ausnahme. Nur folgt aus der bloß hypothetischen Möglichkeit suggestiver Beeinflussung noch keine wirkliche oder auch nur wahrscheinliche Anfälligkeit für Suggestionen, wie die Abstreiter-Sophistik nur zu gerne unterstellt, die hier ihren Schindluder mit den Seinsmodalitäten treibt. Man kann sich überall mit Corona anstecken – sicherlich. Aber es ist ebenso möglich, das generelle Ansteckungsrisiko effektiv zu minimieren, so dass die hypothetisch allgegenwärtige Ansteckungsgefahr schließlich zu keiner hochgefährlich realen wird, etwa dadurch, dass man Massenveranstaltungen meidet, sich impfen lässt und eine Maske trägt. Das lässt sich so wenig abzustreiten wie die entsprechende Strategie der Risikovermeidung des bewussten und kritischen „Hörers“, mögliche Suggestionsquellen ausschalten, indem er etwa keine Werbeprospekte oder Hifi-Testzeitschriften liest, bevor er ein bestimmtes Gerät testet und seine unverblindeten Hörtests methodisch sorgfältig und nicht einfach nur spontan und naiv durchführt. Anders als in der reinen Logik bieten Erkenntnisse, die aus der Erfahrung gewonnen werden, freilich keine vollkommene Sicherheit. Doch ist es eben nicht so, dass die Alltagsklugheit dem nicht vernünftig Rechnung tragen könnte.


    Selbst wenn man das, was in Foren über Hörerfahrungen berichtet wird, nicht an der Quelle gewissermaßen nachprüfen kann durch einen Hausbesuch – ein Nachhören, was diese Eindrücke bestätigen oder nicht bestätigen kann – bleibt immer noch ein effektives Instrument der kritischen Beurteilung: die verwendete Sprache nämlich. Suggestivhörer verraten sich durch Worthülsen und Stereotype, die im Unterschied zu seriösen Berichten nie wirklich konkret werden und durch ein undifferenziertes Urteil wie auch eine zu euphorischer Pauschalität neigende Rhetorik ihre Glaubwürdigkeit einbüßen. Wer sich nun ehrlich bemüht, sachlich nüchtern und nachvollziehbar über seine Hörerfahrungen zu berichten, wird jedoch leider die Erfahrung machen, dass ihm all das gar nichts nützt. Er wird von den Foren-Abstreitern so wenig Ernst genommen wie ein Suggestionist, der nur Sprechblasen produziert. Wer nämlich der Erfahrungserkenntnis generell und damit pauschal die Glaubwürdigkeit abstreitet, für den ist eine immer wieder neue Glaubwürdigkeitsprüfung von Erfahrungen im Einzelfall, wie es der Alltagsklugheit entspricht, schlicht sinnlos. Weil der Abstreiter nur den vermeintlich eindeutigen Blindtest als „Beweis“ für den Realitätsgehalt des Gehörten gelten lässt, kennt er die Hörerfahrung – so bewährt sie auch sein mag – als Quelle der Erkenntnisgewinnung grundsätzlich nicht an. Damit ist er auch nicht mehr offen für andere Erfahrungen und Überzeugungen, die der eigenen widersprechen, die sein Weltbild eventuell zumindest korrigieren könnten. Der Abstreiter folgt sozusagen der Maxime: „Was meiner Meinung nicht entspricht und sie nicht bestätigt, ist auch nicht wert, beachtet zu werden.“


    So wird die Blindtestomanie zum Vehikel, zu einer geschlossenen Hifi-Weltanschauung des nur noch in sich selber kreisenden Technizismus zu gelangen. Die Filterblase der Foren-Abstreiter ist dicht, abgedichtet jeglicher störenden, uneindeutigen Erfahrung gegenüber in der großen Welt da draußen, die das partout nicht bestätigen will, was sich nur dem, der in dieser kleinen Blase von sektiererischen Hifi-Wahrheitsfundamentalisten sitzt, so scheinbar eindeutig erklärt.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"