Hanns Eisler. „Hollywooder Liederbuch“

  • Im kompositorischen Schaffen Hanns Eislers spielt das Lied eine große Rolle. Bei den frühesten erhalten gebliebenen Kompositionen handelt es sich um während seiner Militärzeit 1917 entstandene Lieder, und sein letztes Werk sind die „Ernsten Gesänge“ von 1962. Allein schon vom Aspekt der Quantität her ist er der Gruppe der musikhistorisch bedeutenden Liedkomponisten zuzurechnen, vor allem aber ist das von dem der Qualität her der Fall. Die Gattung „Kunstlied“ hat er durch eine Fülle von neuen Formen, Inhalten und eine dementsprechend ganz eigene Liedsprache enorm erweitert. Das reicht von der traditionellen Form des Klavierliedes über das Chanson, das was er „Ballade“ nannte bis hin zum politischen „Kampflied“. Selbst wenn er sich an der Form des herkömmlichen Kunstliedes orientierte, was nur in seinem „Liederjahr 1942/43“ der Fall war, der Entstehungszeit des sog. „Hollywooder Liederbuchs“ also, so übernahm er diese nicht einfach, sondern benutze sie als Vorlage, um sie zu transzendieren, ja sogar zu pervertieren.

    Die Faktoren, die seine ihm ganz eigene Liedsprache und die kompositorische Faktur seiner Lieder prägen, wurzeln in der Art und Weise, wie er das für die Liedkomposition grundlegende „Wort-Ton-Verhältnis“ sah. Dem „Wort“ kommt dabei die primäre Rolle zu. Dies aber nicht in dem Sinn, dass die Musik das „Wort“, auftretend in Gestalt eines lyrischen Textes, in seinem semantischen Gehalt und den ihm innewohnenden affektiven Dimensionen zu erfassen und zu interpretieren habe. Diese für das romantische Klavierlied konstitutive kompositorische Intention lehnt Eisler von Anfang an radikal und kompromisslos ab. In seinen Gesprächen mit Hans Bunge mit er das mit den Worten zum Ausdruck:
    „Wenn man mich einmal rühmen wird, wird man mich dafür rühmen, dass ich dem Text widerstanden habe. Ich habe dem Inhalt des Gedichts widerstanden und habe ihn in meiner Weise aufgefaßt. Das gehört zur Intelligenz der Musik, und wer das nicht macht, ist ein Dummkopf.“
    Brecht merkt in seinem „Arbeitsjournal“ zu den Vertonungen seiner Gedichte durch Eisler an:
    „Für mich ist seine vertonung, was für stücke die aufführung ist: der test. Er liest mit enormer genauigkeit.“

    Wie seine großen Liedkompositions-Vorgänger vertonte Eisler auch lyrische Texte bedeutender Dichter, Neben Brecht etwa auch Hölderlin, Christian Morgenstern, Rilke, Matthias Claudius, Blaise Pascal oder Heine (in Chorkompositionen), aber anders als bei diesen konnte der lyrischen Text bei ihm keine Autonomie beanspruchen. Er wähle ihn nur zur Vertonung aus, wenn die lyrische Aussage dem entsprach, was er selbst als Komponist zu sagen hatte. Wenn das nicht voll und ganz der Fall war, griff er auf massive Weise in ihn ein oder schuf eine Musik, die in totalem Gegensatz zur lyrischen Aussage stand. Seine innere Distanzierung vom liedkompositorischen Konzept des romantischen Klavierliedes zeigte sich schon früh in der Morgenstern-Vertonung der „Galgenlieder“ (1917), und sie wurde dann schließlich in aller Deutlichkeit manifest in den 1925-27 entstandenen „Zeitungsausschnitten op.11“, denen Texte von Jarislav Hasek, Erwin Ratz, aber auch solche aus Tageszeitungen (Heiratsannoncen) und ein Kinderlied aus dem Wedding zugrunde liegen. Damit ist Eisler ostentativ aus der Gattung des romantischen Kunstliedes ausgestiegen.

    Er kommt auf dieses allerdings noch einmal zurück, nicht in Gestalt einer einfachen Übernahme der Faktur und der dahinterstehenden kompositorischen Intention des romantischen Klavierliedes, sondern einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem, die bei der Komposition von eigenen Klavierliedern von der Nutzung der liedmusikalischen Ausdrucksmittel für andere Zwecke, der Konfrontation von zitierter romantischer Liedsprache mit dafür ungeeignetem Text, der Ironisierung und Pervertierung bis hin zur Dekonstruktion reicht. Das Erstaunlich ist freilich, dass Eisler – völlig abweichend von seinem bisherigen kompositorischen Schaffen – sich der Gattung Klavierlied zuwendet und dabei – neben moderner, vor allem Brecht-Lyrik, auch auf lyrische Texte von Autoren der Vergangenheit zurückgriff: Pascal, Anakreon, Eichendorff, Hölderlin, Rimbaud, Goethe, sogar Bibelworte.

    Das geschah in Gestalt von 47 Klavierliedern, die zwischen Mai 1942 und Dezember 1943 in Hollywood, bzw. im benachbarten Pacific Palisades entstanden. Der Emigrant Eisler hatte sich im April 1942, entschlossen, von New York nach Hollywood umzuziehen, weil er darauf hoffte, in der Filmindustrie Geld für seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Dort blieb er dann auch sechs Jahre. Dort traf er, neben vielen anderen deutschen Emigranten mit großem Namen (Adorno, Thomas und Heinrich Mann, Fritz Kortner, Lion Feuchtwanger u.a.) auch auf Bert Brecht, der bereits im Juli 1941 nach seiner langen Odyssee von Helsinki nach Wladiwostok im Hafen von Los Angeles angekommen war. Aber wie dieser auch, musste Eisler lange auf einen Auftrag aus der Filmindustrie warten. Gleichwohl notierte Brecht damals: „ein wenig ist es, als würde ich, in irgendeiner menge stolpernd, mit unklarem kopf plötzlich angerufen mit meinem alten namen, wenn ich eisler hier sehe.“

    Die Wartezeit bis zum Eintreffen des ersten Auftrages dauerte allerdings lang, und sie war, wie wir aus dem Briewechsel mit seiner in New York gebliebenen Frau Lou wissen, für Eisler recht qualvoll. Er schreibt zum Beispiel:
    „Ich lebe hier in einer abscheulichen Hitze (und mit meinen äußerst mageren Geldmitteln) von Verabredung zu Verabredung, von Telephonanruf zu Telephonanruf wie in einem abscheulichen Traum. Für mich ist es hier eine Hölle der Dummheit, der Korruption (einer wahrlich unbeschreibbaren!) und der Langeweile. Das einzige ist mein neues Liederbüchlein („Hollywooder Liederbüchlein“ genannt).“

    Langeweile als Grund und Ursache für die Entstehung dieser großen Gruppe von Liedern, die die Musikologen den großen Liederzyklen der Musikgeschichte als gleichwertig zur Seite stellen?
    Die Eisler-Biographin Friederike Wißmann stellt in der Tat fest: „Das aus Langeweile entstandene >Hollywooder Liederbuch< zählt bis heute zu den bedeutendsten Exilwerken. Und liest man, was Eisler selbst zur Entstehung desselben berichtet, so scheint sich das zu bestätigen. Es heißt dort:
    „Ich schrieb damals – ich habe den Titel übrigens fallengelassen – wirklich ein >Hollywooder Liederbuch<. Das heißt, ich schrieb fast jeden Tag zumindest ein Lied – manchmal auch mehr – entweder nach einem Text von Brecht oder nach Hölderlin oder andere Sachen, zum Beispiel nach Pascal. Und auf eine große Mappe schrieb ich drauf: >Hollywooder Liederbuch< - oder >Hollywooder Tagebuch< (daran erinnere ich mich nicht) – und sagte: >Das ist so mein Zeitvertreib, das ist, was ich neben der Arbeit mache<. Denn ich schrieb ja viele ganz andere Sachen in Hollywood, vor allem Orchesterwerke.

    „Langweile“, „Zeitvertreib“, - das trifft es allerdings nicht ganz, was die Motivation anbelangt, wie ich meine. Ich höre in diesen Liedern noch etwas Anderes: Heimweh. Heimweh, das sich auslebt im Hereinholen der Tradition des deutschen romantischen Klavierliedes in die immer eine Fremde bleibende Welt des amerikanischen Exils. Man komponiert nicht fast fünfzig Lieder, in denen man sich auf intensive Weise mit eben dieser Tradition auseinandersetzt, nur so aus Langeweile. Wie sich diese Auseinandersetzung im Einzelnen gestaltete, das soll nachfolgend in den Liedbesprechungen aufgezeigt werden.

    Und noch etwas ist in dieser Liedmusik zuhören. Eisler schuf während seines Exils in der Hoffnung und im Glauben daran, dass eine neue Welt entstehen würde, in der der Mensch ein erfülltes und in seiner Existenz nicht mehr gefährdetes Leben führen kann. Er drückte das selbst, während er an den Hölderlin-Fragmenten arbeitete, in einem „Vorwort für das Hollywooder Liederbuch“ aus:
    „In einer Gesellschaft, die in solches Liederbich versteht und liebt, wird es sich gut und gefahrlos leben lassen. Im Vertrauen auf eine solche sind diese Stücke geschrieben.
    Hanns Eisler 3 Juni 1943
    Pacific Palisades“

    Noch einiges zur formalen Anlage und Gestalt des „Hollywooder Liederbuchs“. Die vollständige Edition, wie sie Manfred Grabs 1976 vorlegte, kann sich, was die Zahl und die Reihenfolge der Lieder anbelangt, nicht auf eine von Eisler autorisierte Vorlage stützen. Es existieren 38 Autographe, die den Vermerk „Hollywooder Liederbuch“, bzw. „Hollywooder Liederbüchlein“ tragen, und neun Kompositionen lassen sich aufgrund der Datierung oder der Papiersorte dieser Gruppe zuordnen. Die erste Edition auf Initiative Eislers erfolgte 1948 in Gestalt von 16 hektographierten Liedern unter dem Titel „Die Hollywood-Elegien“. Danach gab es noch in der DDR Teileditionen.


  • „In einer Gesellschaft, die ein solches Liederbuch versteht und liebt, wird es sich gut und gefahrlos leben lassen. Im Vertrauen auf eine solche sind diese Stücke geschrieben"

    Lieber Helmut Hofmann,


    welch große Freude, dass Sie sich der Liedersammlung von Hanns Eisler zuwenden. Ihrem Projekt wünsche ich gutes Gelingen und aufmerksame Leser. Der Gegenstand Ihrer Betrachtung verdient sie zweifellos.


    Herzlich


    udohasso

  • Hab´ Dank, lieber udohasso, für die freundliche Begrüßung dieses Threads und die guten Wünsche dazu. Das ist ja auch zugleich auch eine Ermunterung, ihn anzupacken und durchzuführen.

    (Aber bitte benutze doch bei der Anrede künftig das hier im dialogischen Verkehr unter den Mitgliedern des Forums übliche "Du". Das würde mich freuen!)

  • Normalerweise beginne ich mit der Vorstellung der Lieder am Tag nach dem Start eines neuen Threads.

    Das hat dieses Mal nicht geklappt. Die Gedanken und Vorstellungen des Forumsbetreibers hinsichtlich der künftigen Gestalt des Tamino-Forums kamen dazwischen und brachten für mich eine Verunsicherung bezüglich meiner eigenen Zukunft darin mit sich.

    Ich werde mich wieder melden, wenn ich in dieser Sache klar sehe, und bitte um Verständnis.

  • Ich kann diesen Thread fortsetzen, freue mich sehr darüber und danke Alfred Schmidt auch an dieser Stelle noch einmal für die Entscheidung, die das ermöglicht hat.

  • „Der Sohn I“


    (Der auf einem Brecht-Gedicht basierende Text wurde wegen möglicher Urheberrechtsprobleme gerade gelöscht)


    Das ist, was die Chronologie der Entstehung dieses „Hollywooder Liederbuchs“ anbelangt, die erste Komposition Eislers. Sie besteht aus zwei Teilen: An dieses schließt sich unmittelbar ein Lied mit dem Titel „Der Sohn II“ an. Beiden liegt jeweils ein Gedicht Brechts zugrunde, die lyrischen Texte sind aber zu verschiedenen Zeiten entstanden, und es besteht außer der Tatsache, dass es in beiden Fällen um einen „Sohn“ geht, kein weiterer inhaltlicher Zusammenhang zwischen ihnen. Den hat Eisler hergestellt, und wie das, mitsamt seinen textlichen Eingriffen, zu verstehen ist, darüber wird noch nachzudenken sein.

    Eisler entnahm die insgesamt 14 Kompositionen auf Gedichte Brechts der Sammlung, die Margarete Steffin (1908-1941) im finnischen Exil zusammengestellt hat. Nach ihrem Tod überarbeitete und ergänzte Brecht in Santa Monica diese sog. „Steffinsche Sammlung“, ließ aber die Reihenfolge der Gedichte im Wesentlichen unangetastet. In dieser Fassung lag sie Eisler vor. Was dieses Gedicht „Der Sohn I“ anbelangt, so findet es sich der „Steffinschen Sammlung“ zwar nicht, das Typoskript trägt aber den Vermerk „St. S.“. Der Text des zweiten Liedes ist dort aber als Nr.6 aufgelistet.

    Auf die Frage, was sich Eisler wohl dabei gedacht haben mag, zwei entstehungszeitlich auseinanderliegende und inhaltlich nur in einem formalen Aspekt zusammengehörige Brecht-Texte zur Grundlage einer Liedkomposition zu machen, ist sinnvollerweise erst nach der Vorstellung und Besprechung des zweiten Liedes einzugehen. Hier steht zunächst einmal dieses zur Betrachtung an.
    Da ist zunächst einmal die Frage, wie Brechts Gedicht zu lesen und zu deuten ist. Die erste Strophe entwirft das Bild einer Mutter, die nachts mit laut pochendem Herzen wach liegt bei dem Gedanken, dass ihr Sohn „auf der grimmigen See“ ist. Brecht versieht die Worte „grimmige See“ ausdrücklich mit einem Ausrufezeichen. Eisler macht daraus einen Gedankenstrich. Und das ist wohl so zu verstehen, dass es ihm nicht so sehr auf das lyrische Bild von der See, vielmehr um das Verhalten der Mutter und ihr Seelenleben geht.

    In der zweiten Strophe greift Brecht das Bild vom Nicht-schlafen-Können auf, aber wendet es nun ins Absurd-Sinnlose. Die „See“ ist eine wesenhafte „grimmige“, das heißt für den sie Befahrenden tödliche. Und das umso mehr, wenn, wie es zurzeit der Entstehung dieses Gedichts der Fall ist, dort Krieg herrscht. Die Mutter weiß das, eben deshalb ihre Schlaflosigkeit. Aber da sie meint, ihr Sohn fände ruhigen Schlaf nur dann, wenn er sich ausgerechnet an dem Ort aufhält, der ihr den Schlaf raubt, begeht sie einen völlig sinnlosen Akt: Wasser aus einem Eimer an die Wand zu schütten, hinter der ihr vermeintlich schlafloser Sohn liegt.
    Das ist in seiner Sinnlosigkeit Furchtbares, was Brecht hier in dem für ihn so typischen epischen Gleichmut seiner Lyrik zum Ausdruck bringt, - die Grauenhaftigkeit seiner Lebenszeit lyrisch evozierend. Und er tut das hart und schroff, indem er, anders als Eisler, die beiden letzten Vers in die Worte fasst: „… damit er wußte, ich bin auf der See“.

    Eisler ersetzt sie durch einen weichen Konjunktiv: „Damit er meinte, er wär´ noch auf der See“. Das ist eine von den unzähligen, bei ihm in allen seinen Liedkompositionen geradezu zum Prinzip gewordenen Eingriffen in den lyrischen Text, die dessen poetische Aussage in seinem Sinn umwandeln. Durch die Verlagerung der lyrischen Perspektive vom Sohn auf die Mutter wird wieder deren Grundhaltung dem Sohn gegenüber durch das Aufzeigen ihrer Handlungsabsicht aufgezeigt. Eisler setzt an die Stelle von Brechts Faktizität in Gestalt des sprachlichen „ich bin“ die Imagination des konjunktivischen „ich wär`“.

    Verfälscht er damit Brechts poetische Aussage? Wenn ja, in welcher Absicht?
    Diese Fragen sind nur durch eine analytische Betrachtung seiner Liedkomposition zu beantworten. Bei ihm ist das in besonders dringlicher Weise geboten, liegt doch allen seinen z.T. tiefen Eingriffen in den lyrischen Text eine genuin musikalische Aussage-Intention zugrunde, in der dem Text nur die Funktion eines semantischen Trägers derselben im Sinne eines Dienstleisters zukommt. Was also hat die Musik zu sagen, und mit welchen Mitteln tut sie das?

    Kompositorische Vorgaben weist sie nicht auf: Der anfängliche Dreivierteltakt schlägt schon im zweiten Takt des Vorspiels in einen Vierviertel- , im vierten in einen Fünfviertel-Takt um, um im sechsten wieder zu drei Vierteln überzugehen. Angaben zur einer Grundtonart gibt es nicht, und das heißt: Die Liedmusik weist kein tonales Zentrum auf, sie ist zwar nicht atonal angelegt, wohl aber in ihrer Tonalität, im Tongeschlecht und in Diatonik und Chromatik permanent fließend und sich wandelnd, wobei der Chromatik eine dominante Rolle zukommt. Im Grunde gibt es keinen rein diatonischen Akkord in dieser Musik. Diatonik erklingt zwar da und dort im Diskant des Klaviersatzes, aber sie wird allemal in Gestalt von Einbrüchen einzelner Töne oder Akkorde im Bassbereich chromatisch verstört.
    Das ist bei Eisler der Regelfall. Klanglich heile Welt kann es in seiner Musik nicht geben, will sie doch zu ihrer Zeit in ihrer Aussage wahr und wahrhaftig sein.


  • „Der Sohn I“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Auss


    Schon im achttaktigen, in einem fermatierten Akkord piano ausklingenden und damit dem Einsatz der Singstimme ohne Klavierbegleitung Platz machenden Vorspiel ist das zu vernehmen. Achtel beschreiben, und das partiell triolisch, im Diskant über ruhendenden Akkorden im Bass eine in Chroma gebettete Fallbewegung, finden in der Tiefe in Gestalt von Tonrepetitionen kurz Ruhe, schwingen sich danach, und das alles im Pianissimo und dreifachen Piano, in hohe Lage empor, um schließlich einen langen Fall bis in den Bass-Bereich zu beschreiben. Das alles in permanent modulierender, an keiner Stelle einen festen Ort findender Moll-Tonalität, und selbst der fermatierte vierstimmige Achtelakkord ist, aus den Tönen Ges-B-E-F gebildet, tonal nicht recht zu verorten.

    Wenn man sich fragt, was dieses in allen Bereichen, der Bewegung der Achtel, der chromatischen Tonalität und der vom Piano-Pianissimo bis zum einfachen Piano reichenden Dynamik tiefe musikalische Unruhe verkörpernde Vorspiel sagen will, so könnte man darin die klangliche Imagination der alles ergreifenden seelischen Unruhe der Mutter vernehmen. Und das ist deshalb naheliegend, weil der nachfolgende, der Melodik zugeordnete Klaviersatz als wesentlicher und ihn prägender Bestanteil pochend repetierende Achtelfiguren und sich bogenförmig entfaltende Zweiunddreißigstel-Figuren aufweist.
    Eisler nutzt den Klaviersatz ganz offensichtlich als Mittel zur klanglichen Imagination der Seelenlage der Mutter.

    Bei den Worten „Wenn sie nachts lag und dachte“ setzt die melodische Linie ohne Klavierbegleitung mit einem zweimaligen Fall ein, der sie von der Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage, bis hinunter zu der eines „Des“ in tiefer Lage führt. Sie soll mezzoforte, aber „freundlich“ vorgetragen werden. Der erste Fall erfolgt in Terzschritten, der zweite, auf einem „G“ in mittlerer Lage ansetzend, in Sekunden. Eislers Vortragsanweisung ist wohl so zu verstehen, dass das um den Sohn kreisende Fühlen und Denken als ein emotional warmes und zärtliches zum Ausdruck gebracht werden soll.

    Erst wenn die melodische Linie das tiefe „Des“ erreicht hat, lässt das Klavier einen vierstimmigen, den ganzen Takt ausfüllenden dissonanten, weil aus den Tönen „C-E-B-Des“ gebildeten Piano-Akkord erklingen. Und nun geht die melodische Linie bei den Worten der nächsten beiden Verse zu einer höchst eindringlichen deklamatorischen Entfaltung in triolischen Tonrepetitionen über. Eindringlich sind sie, und darin tiefe personale Betroffenheit reflektierend, weil sie sich bei den Worten „Und ihr Sohn auf der grimmigen See“ fast bis zum Ende auf der tonalen Ebene des tiefen „Des“ ereignen, auf dem die melodische Linie in ihrem anfänglich Fall endete, nun aber nicht weiter im dortige Mezzoforte, sondern im Piano-Pianissimo.

    Es sind höchst innige, in stiller nächtlicher Einsamkeit sich einstellende, zugleich aber bohrende und das Herz bedrängende Gedanken, um die es da geht. Bei den Worten „grimmigen See“ dringt die Außenwelt des fernen Sohnes in sie ein, und die melodische Linie lässt von der Tonrepetition ab und beschreibt einen zweischrittig verminderten Sekundanstieg, um danach bei „See“ in einen Quartfall zu einem tiefen „C“ überzugehen. Hier lässt das Klavier wieder „“ppp“ einen vierstimmig dissonanten Akkord erklingen, aus dem sich „zögernd“ im Diskant ein an einem „C“ ansetzender Sekundfall von zwei Einzeltönen ereignet, - bezeichnend für die Sparsamkeit, zugleich aber klangliche Zielgerichtetheit von Eislers Klaviersatz. Und das gilt, um es gleich hier am Anfang zu vermerken, generell für die Anlage seines Klaviersatzes in diesem Liederbuch.

    Die Anmutung von Eindringlichkeit setzt sich bei den Worten „Sie konnte nicht einschlafen“ in der Melodik nicht nur fort, sie erfährt sogar noch eine Steigerung. Denn nun ereignen sich die deklamatorischen Tonrepetitionen eine ganze Oktave höher, also auf der Ebene eines hohen Des, und dies nicht mehr im dreifachen Piano, sondern nun einem mit einem Crescendo versehenen Mezzoforte. Und sie weisen bei der ersten Silbe von „einschlafen“ sogar einen verminderten Septsprung mit nachfolgendem Rückfall auf die Des-Ebene auf, wobei das Klavier nun einen der höchst seltenen und taktlang gehaltenen Dur-Akkord in der Tonart „A“ erklingen lässt. Aber wenn es um das „Herz“ der Mutter geht, verfällt die Harmonik wieder ins Chroma, und die Melodik kehrt bei den Worten „Ihr Herz, das pochte so laut“ zum deklamatorischen Fall-Gestus des Anfangs zurück, in Gestalt einer im Zweivierteltakt erfolgenden triolischen Fallbewegung über zumeist Terzen, zuletzt aber Sekunden, von einem hohen „E“ bis hinab zu einem tiefen „Es“ bei dem Wort „laut“, über eine ganze Oktave also.

  • „Der Sohn I“ (II)

    Dann aber geschieht Bemerkenswertes.
    Das Klavier lässt von seinem bescheidenen, sich auf schlichte klangliche Begleitung der Melodik beschränkenden Habitus ab und tritt in einem siebentaktigen Zwischenspiel auf höchst eigenständige Weise auf, und dies „mezzoforte“ und versehen mit der Anweisung „poco stringendo“, sempre marcatiss.“ im Bass, und erst am Ende „poco pesante“. Im Bass erklingen mit Portato-Zeichen versehene Achtel- und Sechzehntel-Repetitionen erst auf der Ebene eines „Ges“, dann eine Terz tiefer auf der eines „E“, dazwischen rauschen im Diskant Zweiunddreißigstel bogenförmig auf und ab. Bei der zweiten Repetition geht das Klavier im Diskant sogar in einen langen Triller über, und schließlich klingt dieses Zwischenspiel in Zweiunddreißigstel-Quartolen aus, die sich langsam in die Tiefe absenken und dabei zu Sechzehnteln und Achteln übergehen. Am Ende beschreiben Zweiunddreißigstel zweimal einen Terzsturz in die Tiefe. Eine Abwärtsbewegung beschreibt in all dem auch die ganz und gar chromatische Harmonik.

    Man geht wohl nicht fehl, wenn man diese Überleitung von der ersten zur zweiten Strophe als klangliche Imagination der seelischen Befindlichkeit der Mutter im Gedenken an den fernen Sohn auffasst: Aufwallende Emotionen in den Diskant-Figuren und Herzschlag in den Bass-Tonrepetitionen. Eisler weist dem Klavier, wie sich schon im Vorspiel zeigte, hier eine bedeutsame Funktion im Hinblick auf das Generieren der liedmusikalischen Aussage zu, während er seine Funktion in den Vokalpassagen der Komposition auf die einer Begleitung der melodischen Linie und die Akzentuierung von deren Aussage beschränkt. Und beim Nachspiel ist diese Funktion, wie noch zu aufzuzeigen ist, noch stärker ausgeprägt. In ihm konstituiert sich die liedmusikalische Aussage sogar allererst.

    Auf den Worten „Wenn ihr Sohn sie besuchen kam“ liegt die gleiche Melodik wie auf denen des Eingangsverses, und auch der Klaviersatz und die Harmonik sind identisch. Die Liedmusik reflektiert darin die für Brechts epische Lyrik so typische Wiederholung einer syntaktischen Figur zur Herstellung eines Kontextes, - hier in der Einleitung des Verses mit einem temporal-konditionalen „Wenn“. Nun aber ist in der gewandelten Situation von der Mutter episch-lyrisch ganz Anderes zu berichten. Sie denkt nicht, fühlt nicht nur, sie handelt. Und das hat zur Folge, dass Eisler die Melodik auf lebhaftere, größere Sprungbewegungen beschreibende und dynamisch stärker ausgreifende Bewegung anlegt. Das Klavier aber zieht sich wieder auf die Begleitung mit vorwiegend lang gehaltenen Akkorden zurück, aus denen nur zwei Mal aufsteigende Achtel im Diskant hervorgehen. Und es ist vielsagend, bei welchen Worten er auf diese Weise den Klaviersatz zu einer stärkeren Akzentuierung der melodischen Linie übergehen lässt. Es geschieht bei den Worten „damit er einschlief“ und „damit er meinte“.

    Auf diesen ereignen sich in der Melodik, die zuvor bei den Worten „Wasser aus einem Eimer schüttete sie / An die Wand, hinter der ihr Sohn lag“ fast identische Terzanstiege nach vorangehender deklamatorischer Tonrepetition beschrieb, zweimal dieselben, in ihrem Ambitus geradezu herausragenden Fallbewegungen: Nach einer Tonrepetition mit nachfolgendem Sekundfall geht die melodische Linie, und dies forte vorgetragen, in einen verminderten Terzsprung zu einem hohen „Es“ über und beschreibt von dort, dies also bei „einschlief“ und „meinte“, einen ausdrucksstarken Fall über das große Intervall einer Septe. Ganz identisch verläuft dieser beim zweiten Mal aber nicht, und das zeigt, wie tiefgreifend Eisler die Melodik Brechts lyrischen Text in seinen semantischen und affektiven Dimensionen reflektieren lässt. Bei dem Wort „meinte“ wird aus dem großen Septfall ein kleiner, einer der nicht bis zu einem „F“ in tiefer Lage, sondern nur zu einem „Fis“ reicht und mit einer harmonischen Rückung nach D-Dur einhergeht.

    Diesen lyrischen Worten kommt für Eisler eine große Bedeutung zu, geben sie doch Einblick in die Seelenlage der Mutter. Die Mutter, ihre Gedanken, seelischen Regungen in der Abwesenheit und der Gegenwart des Sohnes und ihr Verhalten ihm gegenüber ist Eislers zentrales Thema. Darauf richtet er seine Liedmusik aus und geht darin über Brecht hinaus, bis zu Eingriffen in seinen Text insbesondere in den beiden letzten Versen.
    Deshalb auch die in ihrer Expressivität so stark gesteigerte Liedmusik auf diese, was ihre Struktur der Melodik ihre Harmonisierung und ihre Dynamik anbelangt. Und dazu gehört auch, dass er diese bei den Schlussworten „Er wä´r noch auf der See“ in einen so starken Kontrast zu den so ausdrucksstarken, forte auszuführenden und vom Klavier mit triolischen Sekundanstiegen im Diskant versehenen melodischen Septfall-Stürzen treten lässt. Denn auf diesen liegt nun eine im Piano-Pianissimo vorzutragende und vom Klavier nur noch mit einem vierstimmigen B-Dur-Akkord begleitete Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „Cis“ in tiefer Lage, aus der sich die melodische Linie gerade mal, als fehle ihr die Kraft dazu, in zwei Sekundschritten zu erheben vermag, um schließlich bei dem Wort „See“ noch tiefer zurückzufallen, - nicht zum „Cis“, sondern einen Halbton tiefer zu einem „C“.

  • „Der Sohn I“ (III)

    Der so stark ausgeprägte Kontrast in der Liedmusik auf den beiden, für Eisler aufgrund seiner Textänderungen offensichtlich höchst bedeutsamen Schlussversen ist wohl so zu verstehen, dass die Mutter sich sehnlichst wünscht, dass ihr Sohn den Schlaf finden möge, der ihr während seiner Abwesenheit draußen auf der „grimmigen See“ verwehrt ist, dann aber, nach ihren darauf abzielenden, im Grunde aber doch sinnlosen, ja absurden Aktivitäten ins Zweifeln gerät, ja sogar befürchtet, dass sie keinen Erfolg damit haben könnte. Diese Deutung legt die „ppp“-Melodik auf den Worten des letzten Verses nahe.

    Aber das letzte musikalische Wort ist noch nicht gesprochen. Für Eisler kommt, wie Vorspiel und Zwischenspiel erkennen lassen, dem Klavier diesbezüglich eine maßgebliche Funktion und Rolle zu. Im Grunde ist, was den lyrischen Text anbelangt, die liedmusikalische Aussage noch offen. Was die Mutter da getan hat, lässt tiefe Liebe zum Sohn erkennen, ist zugleich aber in der Sache völlig absurd und sinnlos: Mit der durch die Eimer-Aktion erfolgenden Imagination von „Aufenthalt auf dem Meer“ “ schickt sie ihren Sohn ja hinaus auf die die See, die von Brecht ausdrücklich als „grimmig“, also todbringend bezeichnet wird.

    Und was hat das Nachspiel zu sagen?
    Es ist vernichtend. Das Klavier lässt zu dem in eine Dehnung mündenden melodischen Terzfall auf dem Wort „See“ einen Forte-Akkord in der Dominantseptversion der Tonart „C“ erklingen, greift danach im Diskant die bogenförmige, im Zwischenspiel die seelischen Regungen der Mutter klanglich imaginierende Zweiunddreißigstel-Figur auf, lässt diese zwei Mal forte erklingen, dabei den begleitenden Akkord im Bass in ein Tremolo übergehen.
    Und dann wird aus dieser Figur ein klanglich geradezu schrecklicher Sturz von Sechzehntel-Triolen aus dem hohen Diskant bis in den abgrundtiefen Bass, dem im letzten Takt erst Forte, dann „fff“ zweimal, mit einer Zweiviertelpause dazwischen, ein triolischer Terzsturz von Zweiunddreißigstel im Diskant nachfolgt, der – anders als im Zwischenspiel – nun in sehr tiefer Lage von einem zweistimmigen Tremolo begleitet wird.

    All die Hoffnungen und die sich bis ins Absurd-Sinnlose steigernden Aktivitäten von Mutterliebe sind vergeblich. In diesen Zeiten von kriegerischer Vernichtung menschlichen Seins und Lebens.
    Das will die Liedmusik sagen. Und sie ist darin in Einklang mit Brecht. Eislers Abweichungen von dessen lyrischem Text haben sich als ein liedkompositorisches Mittel erwiesen, dessen poetische Aussage eindrücklicher werden zu lassen: Unter verstärkter Nutzung des emotionalen Aspekts „Mutterliebe“.

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  • „Der Sohn II“

    (Das dem Lied zugrundeliegende Gedicht von Bertolt Brecht wird wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Urheberrecht hier nicht wiedergegeben)

    Auch in diesem Brecht-Gedicht geht es um einen „Sohn“ und eine Interaktion zwischen diesem und einem Elternteil, wobei dieses allerdings als lyrisches Ich auftritt und Brecht offenlässt, ob es sich um Mutter oder Vater handelt. Überdies ist die Interaktion nun kein Mitfühlen, Sich-Sorgen und ein daraus hervorgehendes Handeln, sondern eine dialogische und darin eminent rationale. Die Ebene der Emotionalität, der in „Sohn I“ die zentrale Rolle zukommt, bleibt hier lyrisch-sprachlich ausgeblendet. Es gibt sie allerdings, vernehmlich in der drei Mal refrainartig auftretenden Anrede „mein junger Sohn“ und – das freilich indirekt – in dem Umschlag, der sich im Verhalten des lyrischen Ichs in den beiden Schlussversen ereignet.
    Und diese Ebene ist es, genauer das von Sorge und Fürsorge getragene und geleitete Verhalten von Vater und Mutter (oder nur einem von beiden) dem „Sohn“ gegenüber scheint das gewesen zu sein, was Eisler wohl dazu bewogen hat, diese beiden Brecht-Gedichte zur Grundlage einer zweiteiligen Liedkomposition zu machen.

    Beide „Söhne“ leben – aus der lebensweltlichen Perspektive Brechts – in schwierigen, gar „finsteren“ und lebensbedrohlichen Zeiten, und das scheint für Eisler wohl die Frage aufgeworfen zu haben, welchen Sinn da elterliche Fürsorge haben und was sie zu bewirken vermag. Das erste Lied zeigte ja, dass die Liedmusik ganz auf das Erfassen der seelischen Regungen und das daraus resultierende Verhalten der Mutter ausgerichtet war. Und hier, in diesem Gedicht, stellt Brecht das elterliche lyrische Ich so dar, dass es den drei Fragen des „jungen Sohnes“ erst einmal mit argumentativ fadenscheiniger, weil in Gemeinplätzen sich ergehender Argumentation ausweicht, bis dann die - für einen Marxisten höchst bedeutsame – Frage kommt: „Soll ich Geschichte lernen?“.

    Das nun wieder erfolgende Ausweichen in die Plattitüde „Steck den Kopf in die Erde“ ist für einen aus dem historisch-dialektischen Materialismus eines Karl Marx sich speisenden Denken eines Bert Brecht ein ganz und gar unerträgliches, weil unzulässiges. Also fügt er in sein Gedicht vor den letzten beiden Versen einen Absatz ein und bringt dann seinen – so gerne auch in der Lyrik immer wieder einmal eingesetzten – V-Effekt in Anschlag. Völlig überraschend tritt als lyrische Ich dem Sohn gegenüber in der Haltung des – geradezu fordernden - „Ja, sage ich“ auf. „Lerne Mathematik“, „lerne Englisch“ und, noch einmal mit einem „Ja“ akzentuiert, „Geschichte“.

    Eisler liest diese Verse Brechts – mit ihm, unbeschadet aller strittigen Diskurse, in der Ideologie und der Weltanschauung grundsätzlich auf einer Linie – in ihrer poetischen Aussage so, wie dieser sie angelegt hat. .Aber mit seiner Liedmusik setzt er, wie auch im ersten Lied, einen anderen, einen eigenen Schwerpunkt, ohne dazu freilich dieses Mal in den lyrischen Text eingreifen zu müssen. Auch hier lässt die Liedmusik vernehmen, dass es ihm wie auch in „Sohn I“ um das Ausloten der affektiven Dimensionen im Verhältnis und im Verhalten des Elternteils dem „Sohn“ gegenüber geht. Die Ausdrucksmittel der Liedmusik bieten ihm die Möglichkeit dazu.


  • „Der Sohn II“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Kompositorische Vorgaben bezüglich Metrum, Harmonik, Tempo und Vortragsanweisung gibt es nicht. Da Eisler im „Hollywooder Liederbuch“ die Liedmusik grundsätzlich zwar nicht atonal anlegt, wohl aber die Tonalität dezentriert, also nicht in Ausrichtung auf ein tonales Zentrum zum Einsatz bringt, reine Diatonik eher meidet und Chromatik und harmonische Verminderung bevorzugt, finden sich in den Notentexten zwar in der Regel Angaben zum Metrum und zur Vortragsweise, niemals aber solche zu einer Grundtonart. Er ist schließlich Schönberg-Schüler, handhabt die Harmonik in dessen Sinn, ohne allerdings in seinem eigenen kompositorischen Schaffen strikt dessen Zwölfton-Konzept zu übernehmen. Das geschah nur in einer zeitlich begrenzten Phase seiner kompositorischen Aktivitäten. Im „Hollywooder Liederbuch bleibt er, was die Harmonisierung der Melodik betrifft, allerdings strikt diesseits der Atonalität, - vielleicht, weil diese Lieder im Geist einer durch die Situation des Exils zustande gekommenen kompositorischen Auseinandersetzung – ich würde fast sagen: einem schmerzlichen Liebäugeln – mit der Tradition des romantischen Klavierliedes entstanden.

    Dieses zweite Lied zum Thema „Sohn“ unterscheidet sich vom ersten darin, dass die Liedmusik den lyrischen Text nicht nur unverändert übernimmt, sondern ihn sogar in seiner spezifischen Anlage und sprachlichen Struktur konsequent reflektiert. Das geht so weit, dass sie, formal betrachtet, eine Kombination aus Strophenlied und Durchkomposition darstellt. Denn Eisler legt auf die Worte „Mein junger Sohn fragt mich: Soll ich (…) lernen? Wozu, möchte ich fragen“, eben weil sie mit Ausnahme des Akkusativ-Objekts drei Mal unverändert auftreten, die in Melodik, Harmonik und Klaviersatz unveränderte Liedmusik, einschließlich des sich anschließenden dreitaktigen Nach- und Zwischenspiels. Nicht ganz allerdings. Der marxistische historische Materialist in ihm nötigt ihn (so scheint mir), im dritten Fall, in dem es um „Geschichte“ geht, von diesem Strophenprinzip abzuweichen. Auf der zweiten Silbe dieses Wortes geht die melodische Linie, abweichend von ihrer Entfaltung in den beiden Fällen zuvor, in einen verminderten Sekundfall mit nachfolgendem Terzsprung und wiederum verminderten Sekundfall in hoher Lage über und verleiht damit dem Wort „Geschichte“ einen starken Akzent. Und auch die Harmonik ist hier eine andere: Ein D-Dur-Akkord, in den sich ein „Cis“ einlagert. .

    Alle sich an diesen Refrain-Passus sich anschließenden lyrischen Worte weisen dann eine je eigene und den semantischen und affektiven Gehalt reflektierende Liedmusik auf. Auf den Worten „Mein junger Sohn“ beschreibt die melodische Linie, mezzoforte und in B-Dur harmonisiert, einen sich über das Intervall einer None erstreckenden Anstieg in Terz- und Quartschritten, der wohl darin die Bedeutung des Ereignisses für das lyrische Ichs und seine Hochschätzung des Sohnes zum Ausdruck bringt. Auf „fragt mich“ geht sie mit einem verminderten Terzsprung zu einer das Wort „mich“ akzentuierenden Dehnung in hoher Lage über. Betroffenheit drückt sich darin aus. Der Frage selbst verleiht Eisler starken Nachdruck. Die melodische Linie setzt, nun forte, mit einer vierschrittigen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines hohen „Es“ ein, also einen Halbton höher, als die Ebene, auf der die Dehnung auf „mich“ angesiedelt ist, und sie lässt damit das Angesprochen-Sein des lyrischen Ichs auf recht deutliche Weise vernehmen.

    Das Klavier begleitet das mit einem lang gehaltenen und „sffz“ vorgetragenen, aus den Tönen „As-Ces-Fes-Es-Ges“ gebildeten, also stark dissonanten Akkord. Am Ende aber geht die melodische Linie, und das noch während des Akkusativ-Objekts („Mathematik“ / „Englisch“) in einen verminderten Sekundfall über, der sich in einem regelrechten Sturz über das Intervall einer Sexte mit nachfolgendem vermindertem Sekundfall fortsetzt. Nun aber lässt das Klavier, nach seinem zuvor dissonanten, einen reinen D-Dur dazu erklingen.

    Wie will das verstanden werden?
    Ich denke, Eisler will mit dieser melodischen Gestaltung der Frage den Sohn als einen Menschen darstellen, der, weil es ihm um eine wichtige Sache geht, erst nachdrücklich und eindringlich fragt, dann aber davon ablässt, weil er dem Adressaten gegenüber, Vater oder Mutter also, menschlich so nahesteht, dass er nicht aufdringlich werden will. Der starke Fall in der Melodik, die Fortsetzung desselben am Ende sogar noch in einem verminderten Schritt weiter nach unten und der Übergang der Harmonisierung von schriller Dissonanz zu sanfter Diatonik dürfen wohl so interpretiert werden.

    In diese liedmusikalische Gestaltung der für die poetische Aussage von Brechts Gedicht gleichsam konstitutiven und deshalb dreimal refrainartig aufgeworfenen Frage hat Eisler, wie mir scheint, viel kompositorische Reflexion gesteckt, wird doch damit die Grundlage für das Verständnis der Art und Weise gelegt, wie das lyrische Ich auf die an es gerichteten Fragen reagiert. Und welches Gewicht diese in ihrem Zugleich von expressiver Eindringlichkeit und personalem Bezug haben, das betont Eisler dadurch, dass er ihnen eine hochexpressive, fortissimo auszuführende und aus einem Sekundfall von drei dissonanten Sechzehntel-Quartolen im Diskant bestehende Figur nachfolgen lässt, die am Ende, zur Reaktion des lyrischen Ichs überleitend und darin Erwartung aufbauend, in einen schlichten und am Ende gar als Tremolo angelegten Sekundfall von vier Achteln übergeht.

    Das lyrische Ich reagiert auf diese Fragen mit der immer gleichen und deshalb von Eisler in identische Liedmusik umgesetzten Gegenfrage: „Wozu, möchte ich fragen.“. So wie man sie vernimmt, bringt sie eine Grundhaltung im Sinne eines förmlich-höflichen Ausweichen-Wollens zum Ausdruck. Brecht hat das ja durch das sprachliche „möchte ich“ zum Ausdruck gebracht, und Eisler hat darauf eine melodische Figur aus einer Tonrepetition mit nachfolgend verminderten Terzfall gelegt, die anschließend in einen noch tiefer ansetzenden Sextsprung übergeht, der, weil mit einem aus den Tönen „A-Des-F“ gebildeten Akkord begleitet, dem Wort „fragen“ einen Akzent verleiht. Das eineinhalbtaktige Nachspiel mutet wie eine Wiederholung der Melodik auf diesen Worten an.

  • „Der Sohn II“ (II)

    Bei den Worten „Daß zwei Stück Brot mehr ist als eines“ nimmt die melodische Linie den Gestus des eiligen Konstatierens an: Sie entfaltet sich in Achtel-Tonrepetitionen auf ansteigender und wieder fallender tonaler Ebene, in die überleitende Achtelsprünge eingelagert sind. Erst bei „eines“ ereignet sich ein Abweichen von diesen deklamatorisch raschen Achtelfolgen in Gestalt einer Repetition aus Achtel und gedehntem Viertel. Diese enge Anbindung der Melodik an den rhetorisch-deklamatorischen Gestus der lyrischen Sprache - die für Eislers Liedmusik ganz typisch ist – setzt sich bei den Worten „Das wirst du auch so merken!“ fort, wobei er allerdings mit seinen musikalischen Mitteln einen Unterton einbringt, zu dem Brecht mit seinen lyrischen nicht in der Lage ist.

    Dem Ratschlag-Gestus, der diesen Worten innewohnt, ist an sich eine fallende melodische Linie nicht gemäß. Dass Eisler gleichwohl eine solche in Gestalt von abwärts gerichteten Terz- und Sekundschritten auf sie legt, die erst im letzten Moment bei „so“ in einen Quartsprung übergeht, um danach allerdings eine Tonrepetition auf der Ebene zu beschreiben, von der aus dieser Sprung erfolgte, bringt eine Anmutung von herablassender Überheblichkeit in die Melodik. Dazu trägt auch bei, dass die Harmonik hier vom vorangehend verminderten Fes eine Rückung zu reinem D-Dur beschreibt.

    Eisler lässt das lyrische Ich auf die Frage des „Sohnes“ in den Habitus des überheblichen Ratschlags ausweichen, darin Brechts lyrischer Aussage völlig gerecht werdend, diese aber mit seinen liedmusikalischen Mitteln auf viel markantere, gleichsam potenzierte Weise darstellend. Und so verfährt er auch in den beiden nachfolgenden Fällen, steigert sich darin sogar noch. Auf den Worten „. Dieses Reich geht unter, und reibe du nur“ ergeht sich das lyrische Ich deklamatorisch wieder wie zuvor im konstatierenden Gestus der Tonrepetition auf ansteigender tonaler Ebene, geht bei „mit der flachen Hand“, in verminderte F-Harmonik gebettet, in einen Anstieg zu tonalen Ebene eines hohen „F“ über und beschreibt nun dort bei den Worten „ den Bauch und stöhne“ ein bei „Bauch“ gedehntes Auf und Ab in partiell verminderten Sekundschritten, die in d-Moll gebettet und allesamt mit Portato-Zeichen versehen sind.

    Die Melodik mutet in dieser ihrer spezifischen, immer wieder in ein Decrescendo übergehenden Expressivität so an, als würde das lyrische Ich in seiner Überheblichkeit in Ironie verfallen. Und für das Beibehalten des Grundhabitus der herablassenden Überheblichkeit spricht, dass die melodische Linie bei den Worten „Und man wird dich schon verstehen“ wieder in den gleichen Fall-Gestus mit Repetition verfällt. Bei den Worten „Lerne nur, deinen Kopf in die Erde stecken, / Da wirst du vielleicht übrigbleiben“ kommt die melodische Linie in diesem spezifischen Gestus des eindringlichen Vorbeiredens zu ihrem Höhepunkt. Das ist ja auch bei Brecht der schlimmste Fall des der Frage ausweichenden und die Antwort scheuenden Geschwätzes. Dieses Mal entfaltet sie sich nicht in deklamatorischen Tonrepetitionen, sondern beschreibt einen geradezu beschwingt anmutenden, weil in gebundener Deklamation von triolischen Auf- und Abwärtsschritten angelegten und weit gespannten, nämlich sich über vier Takte erstreckenden Bogen, den das Klavier mit taktlang gehaltenen vier- bis sechsstimmigen dissonanten Akkorden begleitet.

    Auch in dieser Melodik meint man eine von Eisler eingebrachte Ironie zu vernehmen. Auf dem Wort „lerne“ liegt eine Tonrepetition, und dann stürzt die melodische Linie bei dem nachfolgenden Wort „nur“ über das Intervall einer Quinte zur tonalen Ebene eines tiefen „H“ ab, um dort in eine Dehnung überzugehen. Das ist von der Semantik her ohne Sinn und kann nur als Ausdruck einer sich schulmeisterlich gebenden Haltung des lyrischen Ichs verstanden werden. Und die zeigt sich auf die gleiche übertriebene Weise noch einmal in der melodischen Linie auf den Worten „wirst du vielleicht übrig bleiben“. Nach einem in mittlerer Lage ansetzenden, triolischen Sekundfall beschreibt sie bei dem Wort „übrig“ einen Quartsprung und geht danach in einen ausdrücklich mit einem Ritardando versehenen, nun verminderten Quartfall über, der dieses Wort auf markante Weise akzentuiert, auch weil sie anschließend bei „bleiben“ auf der damit erreichten tonalen Ebene in einer Repetition verharrt.

  • „Der Sohn II“ (III)

    Überraschend ist, wie Eisler den Schluss des Liedes, also die Melodik auf den beiden Schlussversen anlegt. Brecht hat in seinem Gedicht ja vor diesen einen Absatz eingelegt, damit einen Reflexionsprozess im lyrischen Ich andeutend, der sie in ihrer Aussage verständlich werden lässt. Man würde erwarten, dass Eisler darauf mit einer Pause in der Melodik reagiert, die mit einem Zwischenspiel ausgefüllt ist. Nichts dergleichen geschieht. Nach der der deklamatorischen Tonrepetition auf dem Wort „bleiben“ auf der Ebene eines tiefen „Es“ setzt die melodische Linie ohne Pause mit einem – allerdings ausdrucksstarken – Septsprung zu hoher Lage auf dem Wort „Ja!“ ein, den das Klavier mit einem wiederum dissonanten (F-Es-Ges-B-D) Akkord ein und geht bei dem Wort „lerne“ dort in eine Tonrepetition über. Das aber ist eine in bislang noch nicht benutzten deklamatorischen Sechzehntelschritten.

    Und darin drückt sich der Geist aus, in dem sich die melodische Linie am Ende des Liedes entfaltet und in den sie sich geradezu hineinsteigert. Eisler gibt das mit der Anweisung „a tempo ed accel.“ ausdrücklich vor. Bei dem Wort „Mathematik“ beschreibt die melodische Linie eine mit einem verminderten Sechzehntel-Quartfall einsetzende und dann sich in einem überraschenden, das Wort mit einem starken Akzent versehenden Quintsprung mit Tonrepetition auf den beiden letzten Silben fortsetzende Bewegung. Und danach geht es melodisch auf für dieses Lied ganz und gar ungewöhnlich rasante Weise weiter. Eine auf der anstehenden tonalen Ebene erfolgende Tonrepetition bei „sag ich“, ein triolischer Terzfall auf „lerne“, eine neuerliche dreischrittige Tonrepetition auf der nun um eine Sekunde abgesenkten Ebene von „Mathematik“ und ein weiterer dreischrittiger, nun aber in deklamatorischen Sechzehntelschritten ausgeführter und in der tonalen Ebene um eine Sekunde abgesenkter Terzfall.

    Und am Ende, das Tempo hat nun seine Spitze erreicht, beschreibt die melodische Linie bei dem so relevanten Wort „Geschichte“ einen auf einem tiefen „Cis“ ansetzenden und in eine Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage übergehenden verminderten Septsprung. All das begleitet das Klavier mit angesichts des permanent anwachsenden Tempos geradezu Ruhe ausstrahlenden, den jeweils den ganzen Takt einnehmenden fünfstimmigen Akkorden in den leicht chromatisch angehauchten Tonalitäten „F“. „B“ und „Es“.
    Ein schroff anmutender, weil „ssffz“ ausgeführter vierstimmig dissonanter Akkord in den Tönen A-H-D-Ges erklingt im Bassbereich. Und das Lied ist zu Ende.

    Wie ist dieses Ende zu verstehen?
    Bei Brecht stellt man sich die beiden Schlussverse, weil aus einer Reflexion hervorgehend, als einen mit Nachdruck versehen und mit Bedacht an den Sohn gerichteten Ratschlag vor. Das zweimalige „Ja“ und der der Aussage Gewicht verleihende Einschub „sag ich“ sprechen für dieses Verständnis.
    Die Eislersche Liedmusik will dazu in gar keiner Weise passen. Ihr liegt offensichtlich ein anderes Bild von diesem lyrischen Ich und seiner Reaktion auf die vielen Fragen des Sohnes zugrunde. Es wirkt bei ihm, als würde es am Ende aus der Haut fahren und, seines permanenten Ausweichens nicht nur überdrüssig, sondern sich sogar ärgernd darüber, mit der Wahrheit schließlich herausplatzen, dem Sohn also endlich die sachlich gebotenen Antworten geben.

    Es wird in diesem „Hollywooder Liederbuch nicht der einzige Fall bleiben, dass Eisler in seiner Liedmusik die Lyrik seines Freundes Bert Brecht anders interpretiert, als dieser es poetisch intendiert hat. Bis ins Grundsätzliche, zu Perversion der dichterischen Aussage also, wird diese Abweichung allerdings niemals vordringen. Hier, in diesem Fall, beschränkt sie sich ja auf das Bild vom lyrischen Ich und bringt, wie ich finde, einen amüsanten Aspekt in die bitter ernste Brecht-Lyrik.

  • „In den Weiden“

    (Das dem Lied zugrundeliegende Gedicht von Bertolt Brecht wird wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Urheberrecht hier nicht wiedergegeben)

    „In den Weiden“, - dieser Gedicht-Titel löst die Erwartung von Natur-Lyrik aus. Und die beiden ersten Verse könnte man auch als Einlösung derselben rezipieren. Man hätte allerdings dabei überlesen, dass die durchaus eminent lyrischen Bilder „Weiden am Sund“, „Frühlingsnächte“ und der Diminutiv „Käuzlein“ in eine nüchtern-narrative Sprachlichkeit eingelassen sind. Und diese lyrische Sprache setzt sich bei den nachfolgenden Versen in diesem Gestus sachlich-nüchternen Berichtens fort und schlägt nun sprachlich in ganz und gar unlyrische Abstraktheit um wie „Wissen“, „in Kenntnis setzen“, „die Wahrheit sagen“ und „die Herrschenden“.

    Es ist die für Brecht so typische, den lyrisch-sprachlichen Gestus und eine entsprechende Metaphorik gleichsam instrumentell nutzende, aber wesenhaft sachlich deskriptiv und narrativ ausgerichtete poetische Sprache, der man hier begegnet. Und hier sagt er auch auf unverblümt-direkte Weise, wozu sie da ist: Die „Wahrheit“ auszusprechen. Und bei ihm geht es dabei grundsätzlich um die Wahrheit menschlicher Existenz in ihrer Bedingtheit, ihrer Abhängigkeit und ihrem Leiden durch die reale, politische und sozioökonomische Lebenswelt. In diesem Fall sollen die „Herrschenden“ erfahren, was ihnen das kleine „Käuzlein“, das alsbald als „Totenvogel“ demaskiert wird, zu sagen hat: Auch ihr werdet sterben.

    Nun ist es im Hinblick auf Eislers liedkompositorische Grund-Intention zweifellos bemerkenswert, dass er diese für Brecht so hochrelevanten Worte „über die Herrschenden“ mitsamt dem zugehörigen Wort „davon“ in seine Vertonung nicht aufgenommen hat. Dass er, der sein Leben lang künstlerisch und lebenspraktisch die kommunistische Ideologie vertrat, die genuin politische Dimension aus Brechts Gedicht eliminierte, ist höchst erstaunlich. Denn er reduziert dessen dichterische Aussage auf die Ebene allgemein menschlicher Relevanz: Die der existenziellen Vergänglichkeit.
    Oder sollte es eher heißen: Er hob sie daraufhin an? Vielleicht war das seine künstlerische Aussage-Absicht.

    Und das liefe ja nicht auf eine Perversion dessen hinaus, was der Dichter Brecht mit diesen Versen poetisch sagen will. Im Gegenteil, es ist dessen eigentlicher Kern. Eisler scheint die Worte „über die Herrschenden“ als eine im Hinblick auf diesen poetischen Aussage-Kern irrelevante Passage des Gedichts betrachtet zu haben, eine ihm gleichsam beigefügte, aber eigentlich entbehrliche Randnotiz.

    Gar gern hätte ich gewusst, was Brecht dazu zu sagen hatte. Es sind einige kommentierende Äußerungen zum „Hollywooder Liederbuch“ überliefert, darunter seine Empörung über Eislers Hölderlin-Vertonungen – worauf noch einzugehen sein wird -, aber zu diesem Lied vermochte ich keine zu finden. Eigentlich, so stelle ich mir vor, hätte er mit dieser Vertonung seiner Lyrik höchst zufrieden sein müssen, denn das, worum es ihm hier poetisch geht, die Erfahrung der existenziellen Vergänglichkeit im Ruf des aus poetisch-dialektischen Gründen zum „Käuzlein“ verniedlichten „Totenvogels“ Kauz, hat in ihr voll und ganz adäquaten liedmusikalischen Ausdruck gefunden.


  • „In den Weiden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Feststellung „adäquater liedmusikalischer Ausdruck“ bedarf der Konkretisierung, denn sie ist als solche unzureichend, erfasst nicht das, was Eisler aus Brechts Versen liedkompositorisch gemacht hat. Denn er hat ja nicht nur deren spezifischen, auf sachlich-berichtende Narrativität ausgerichteten lyrisch-sprachlichen Gestus aufgegriffen und damit sinnlich erfahrbar gemacht, er hat die affektive Dimension dessen erschlossen, was Brechts lyrisches Ich in all seiner distanzierten Sachlichkeit lyrisch artikuliert.
    Brecht verdrängt diese sprachlich gerne, seinem dichterischen Auftrag gehorchend, den er sich selbst auferlegt hat. Aber er ist einer der Großen unter den deutschsprachigen Lyrikern, und so sucht sie sich vor allem in seiner Metaphorik ihren Ausdruck. Hier ist es die der beiden Einleitungsverse, und Eisler zeigt sein tiefes Verständnis der Brecht-Lyrik, indem er sie als die lyrische Aussage bedingenden und prägenden Ausgangspunkt und Rahmen auffasst und versteht.

    „Andante“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Aber schon die ersten, für die Melodik auf den Worten „in den Weiden am Sund“ geltenden kompositorischen Vorgaben zur Dynamik sind vielsagend: Von einem Mezzoforte geht diese innerhalb eines Taktes ins Piano über. Und diese starken, auf engem Raum sich ereignenden Schwankungen in der Dynamik setzen sich im Folgenden fort, Melodik und Klaviersatz betreffend, und erstrecken sich bis zum Nachspiel. Dieses lyrische Ich, und das lässt im Einzelnen auch Melodik in ihrer spezifischen Struktur und der ihr zugeordnete, sie nicht nur begleitende, sondern auch akzentuierende Klaviersatz vernehmen, ist bei Eisler ein kognitiv ausdrucksstarkes, zugleich aber auch seelisch tief bewegtes.

    Schon die melodische Linie auf den an sich ja doch sich in schlichter lyrischer Deskription ergehenden Worten der beiden Eingangsverse lässt das vernehmen und erkennen. Sie setzt, ungewöhnlicher Weise, mezzoforte mit einem sich über das große Intervall einer None erstreckenden Fall von Achteln ein, die mit einem Portato versehen sind, und das Klavier begleitet sie dabei mit einem lang gehaltenen Pianissimo- Akkord in einer verminderten Ges-Tonalität ein. Bei dem Wort „Sund“ hin geht sie mit einem verminderten Quintsprung zu einer Dehnung über, die dieses Wort hervorhebt, das nun im Piano. Und Ähnliches ereignet sich melodisch gleich noch einmal bei den Worten „Frühlingsnächten oft das Käuzlein“. Wieder eine Fallbewegung, nun aber nur über eine kleine Septe, aber staccato und piano ausgeführt und mit dieses Mal zwei Akkorden begleitet. Bei „das Käuzlein“ dann ein verminderter Septsprung, ein kleiner Sekundfall danach und schließlich ein Sturz von einem „B“ hinab zu einem tiefen „C“. Dieser ereignet sich auf den beiden Silben des Wortes „Käuzlein“ und wird – auch das ungewöhnlich – von einer Achtelpause unterbrochen, so dass die Silbe „-lein“, auch weil das tiefe „C“ im Unterschied zu den vorangehenden Achtelschritten den Wert einer Viertelnote hat, auf markante Weise hervorgehoben wirkt. Ein lang gehaltener fünfstimmiger Akkord in „As“ begleitet das. Er wird, wie alle Akkorde bei dieser Melodiezeile „fp“ ausgeführt.

    Dass Eisler diese lyrisch deskriptive Einleitung des Brecht-Gedichts mit einer durch ihre Struktur und ihre Portamento-, bzw. Staccato-Akzentuierung derart expressiven Melodik versieht, soll wohl zum Ausdruck bringen, dass sich das lyrische Ich von diesem Geschehen innerlich stark angesprochen fühlt. Vor allem die geradezu übertriebene deklamatorische Akzentuierung der Silbe „-lein“ mutet vielsagend an. Weil Eisler aus den beiden ersten Versen eine für das lyrische Ich höchst bedeutsame existenzielle Erfahrung herausliest, stört er sich wohl, so scheint mir, an Brechts Diminutiv und beraubt ihn seiner verkleinernden Semantik, indem er ihm ein völlig unangebrachtes Gewicht verleiht. Aus dem „Käuzlein“ wird bei ihm auf diese Weise ein „Kauz“. Die Tatsache, dass in der fast eintaktigen Pause für die Melodik eine forte auszuführende Folge von fünf dreistimmigen Staccato-Achtelakkorden im Bass erklingt, wobei sich eine harmonische Rückung von As- nach B-Dur ereignet, spricht für eine solche Deutung der Liedmusik auf den Eingangsversen, und sie lässt – und wurde aus diesem Grund einer detaillierten Betrachtung unterzogen – erkennen, wie hochgradig reflektiert Eisler liedkompositorisch mit Brechts Lyrik verfährt.

  • „In den Weiden“ (II)

    Die Worte „Nach dem Aberglauben der Bauern / Setzt das Käuzlein die Menschen davon in Kenntnis“, Inhalt des nachfolgenden Verspaares, erschöpfen sich semantisch nun wirklich in reiner Narration. Und so legt Eisler auf sie eine Melodik, die in rascher Entfaltung in Gestalt von vorwiegend deklamatorischen Sechzehntel-Schritten lange im Auf und Ab von Sekundintervallen auf der tonalen Ebene eines hohen „C“, bzw. „Cis“ verbleibt und nur einmal, nämlich aus Gründen der Akzentuierung bei dem Wort „Bauern“ einen – allerdings doppelt verminderten –Terzsprung mit nachfolgendem Sekundfall beschreibt. Das Klavier begleitet hier durchweg mit dissonanten und tonartlich schweifenden dreistimmigen Achtel-Akkorden ausschließlich im Bass-Bereich. Erst bei den Worten „in Kenntnis“ geht die melodische Linie, die Bedeutsamkeit der lyrischen Aussage reflektierend, in einen verminderten Quartfall und anschließend in eine Tonrepetition eine Sekunde tiefer über, wobei die Harmonik Rückungen von Moll über Dur und Verminderung im Bereich der Tonalität „D“ beschreibt.

    Auf diese Weise leitet die Liedmusik über zu der nun wirklich hoch relevanten Aussage des fünften Verses: „Daß sie nicht lang leben“, dass der Menschen Leben also ein wesenhaft vergängliches ist. Bemerkenswert ist, dass Eisler auf diese Worte eine Melodik legt, die von ihrer Struktur her in keiner Weise gewichtig und bedeutsam anmutet. Sie setzt ohne Pause auf der tonalen Ebene an, auf der sich der kleine Sekundfall bei „Kenntnis“ ereignet, ist also als Fortsetzung der Melodiezeile angelegt, beschreibt danach auf dieser Ebene einen kleinen Bogen, um schließlich nach einem Quartfall auf der tonalen Ebene eines tiefen „Cis“ noch einmal den gleichen verminderten Sekundfall zu vollziehen.
    Das lyrische Ich trifft diese Feststellung also, so wie Eisler es verstanden wissen will, nicht mit mahnendem Zeigefinger, sondern als Äußerung eines bedauerlichen, aber zum menschlichen Leben nun einmal wesenhaft gehörenden Sachverhalts. Dem Klavier aber kommt die Aufgabe zu, diese Feststellung als doch bedeutsame zu akzentuieren, denn es lässt in der nachfolgenden Dreiachtelpause im Bass „molto espress.“ eine Folge von sechs vierstimmig-dissonanten Akkorden erklingen, die ein Portato-Zeichen tragen.

    Nun aber, wenn das lyrische Ich von sich selbst, seiner Haltung und seinem Verhalten zu sprechen beginnt, verlässt die Melodik diesen Gestus des gleichsam sachlichen Berichtens und Feststellens und entfaltet wieder Expressivität. Bemerkenswert dabei ist, dass sie in der Bewegung, die sie bei den Worten „Mich, der ich weiß, daß ich die Wahrheit gesagt habe“ den Gestus der Entfaltung auf den Eingangsworten aufgreift, nur dass sie nun, und das nicht „mezzo“, sondern „forte“, in ihrem anfänglichen Fall eine Terz höher ansetzt, um aber gleichwohl wieder bei der Tonrepetition auf den Worten „dass sich die“ auf der Ebene eine tiefen „Cis“, bzw. „C“ zu landen.

    Und noch etwas bringt eine Steigerung der Expressivität mit sich: Das Klavier begleitet nun nicht mit lang gehaltenen Akkorden, sondern mit einer fünffachen Repetition von „fp“ auszuführenden dissonanten Ges-Akkorden. Bei den Worten „Wahrheit gesagt habe“ kann die melodische Linie allerdings nicht in dieser tiefen Lage verbleiben. Sie geht erst zu einem Auf und Ab im Intervall einer Sekunde auf der Ebene eines „Gis“ in mittlerer Lage über und beschreibt dann bei „habe“ den der lyrischen Aussage geschuldeten zweischrittigen Terz-und Quartsprung zur Ebene eines hohen „D“.

    Bemerkenswert aber: Diese melodische Bewegung erfolgt nun nicht weiter im Forte, sondern im Piano und wird vom Klavier mit zwei harmonisch reinen E-Dur und D-Dur-Akkorden begleitet. Dem Aufschwung-Gestus, in den das lyrische Ich bei diesem Bekenntnis des permanenten „Die-Wahrheit-Sagens“ verfällt, wird auf diese Weise eine geradezu raffinierte Eindrücklichkeit verliehen. Und prompt schlägt die Dynamik bei den nachfolgenden Worten „braucht der Totenvogel“ wieder ins Forte-piano um. Die melodische Linie geht zwar wieder – dem lyrischen Bild „Totenvogel“ geschuldet – in den bis zum tiefen „Cis“ reichenden Fall-Gestus in Terz- und Sekundschritten über, aber die werden auf höchst prononcierte Weise im Staccato deklamiert, und am Ende gehen sie – was Eisler als melodisches Ausdrucksmittel offensichtlich gerne nutzt – wunderlicher Weise auf der letzten Silbe des Wortes, also bei „-gel“, in einen ausdrucksstarken Legato-Septsprung über. Die Harmonik beschreibt dabei in Gestalt zweier Akkorde eine Rückung von dissonanter C- nach A-Dur-Tonalität.

  • „In den Weiden“ (III)

    Den ausdrucksstarken und stark rhetorisch-deklamatorisch geprägten Gestus behält die melodische Linie nicht nur bei, sie steigert sich geradezu in ihn hinein, indem sie auf den Worten „nicht erst davon in“ und „Kenntnis zu setzen“ noch zwei weitere Mal die strukturell gleiche „fp“ vorzutragende Staccato-Fallbewegung über zwei Terzen und zwei Sekunden wie auf „braucht der Totenvogel“ beschreibt. Nur dass nun der Septsprung am Ende nicht stattfindet, bei der ersten Wiederholung die Fallbewegung einen Halbton tiefer ansetzt und die Terzen und eine Sekunde jeweils verminderte sind, was eine harmonische Rückung in den Bereich der Tonalität zur Folge hat. Beim zweiten und letzten Mal setzt sich die Absenkung der tonalen Ebene fort, so dass der Fall nun einen Ganzton tiefer einsetzt als beim ersten Mal, infolgedessen nun auch bis zur tonalen Ebene eines tiefen „H“ reicht und vom Klavier nicht mit einem verminderten Ges-Akkord, sondern einem in dissonanter D-Harmonik begleitet wird.

    Eisler stellt ausweislich dieser Liedmusik am Ende das lyrische Ich Brechts also so dar, als würde es die Aussagen des letzten Verses aus massiver Verärgerung darüber treffen, dass das „Käuzlein“, das nun zum „Totenvogel“ gemacht wird, ihm etwas mitteilt, was es, als „der Wahrheit“ verpflichteter Publizist, der Menschheit ohnehin schon mitgeteilt hat. Und das unterstreicht und bekräftigt auch das Nachspiel, in dem sich, ganz und gar in chromatisch dissonante Harmonik gebettet, zwei Fallbewegungen ereignen, erst von Akkorden im Bass, dann von mit Portato-Zeichen versehenen Vierteln und Achteln, um am Ende, nach einem Staccato-Auf und Ab von Sechzehnteln auf der Ebene eines tiefen „C“ , bzw. „Cis“ in einem vierstimmig verminderten D-Akkord im Wert einer halben Note zu enden.

    Hat Eisler hier, in dieser kompositorischen Gestaltung des lyrischen Ichs, ein liedmusikalisches Porträt des Lyrikers Bert Brecht vorgelegt?
    Dann hätte er ihn als einen über die Erfolglosigkeit seiner poetisch-publizistischen Bemühungen in Verbitterung gefallenen Autor dargestellt.
    Oder hat er sich in diesem Ich sich selbst gesehen?
    Letzteres ist eine eher wahrscheinliche Hypothese, die sich in der reflexiven Auseinandersetzung mit diesem Lied einstellt.
    Gegen die erste spricht, dass er den für die poetischen Intentionen Brechts so eminent relevanten Vers „über die Herrschenden“ nicht in seine Liedmusik aufgenommen hat.

  • „An den kleinen Radioapparat“

    (Das dem Lied zugrundeliegende Gedicht von Bertolt Brecht wird wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Urheberrecht hier nicht wiedergegeben)


    Das Gedicht gehört zu den drei von ihm mit Reimen versehenen „Finnischen Epigrammen“ Brechts. Hier ist es ein Kreuzreim, der in beiden Strophen jeweils zwei Verse miteinander verbindet. Diese bestehen durchweg aus fünf Jamben, die Strophen unterscheiden sich aber in der Kadenz. In der ersten weisen der zweite und der vierte Vers eine klingende auf, in der zweiten Strophe sind alle Verse in stumpfer angelegt. Auf die prosodische Anlage der Strophen wird hier deshalb hingewiesen, weil sich dieser Sachverhalt hinsichtlich der Anlage von Eislers Liedmusik als bedeutsam erweisen wird.

    Brecht thematisiert in diesem Gedicht, wie in so oft in seiner zu dieser Zeit entstandenen Lyrik, das Thema Flucht und Exil, und was es so originell und lyrisch gelungen werden lässt, ist die gleichsam exemplarische metaphorische Verdichtung in einer Sache, einem Gerät, einem transportablen, deshalb „kleinen Radioapparat“. Er wird als ständiger Begleiter auf der Flucht und an den verschiedenen Orten, an denen diese vorübergehend zur Ruhe kommt, zum Medium der Verbindung mit der Außenwelt. Und eben deshalb erfährt er eine – in Brechts lyrischer Sprache natürlich trocken-sachliche Anrede: „Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug“.

    Der aber wird „besorgt“ „vom Haus zum Schiff“ und „vom Schiff zum Zug“ getragen, denn er ist etwas höchst Kostbares. Wenn Brecht nur seine „Feinde“ nennt, die über dieses kostbare Gerät mit ihm sprechen können, so ist das ein Zug lyrischer Ironie, die die Bitterkeit des Exils aufscheinen lässt, und muss deshalb verschweigen, dass es ihn auch mit der Heimat verbindet. Es wird nur benannt, dass der kleine Kasten bei aller „Pein“ des Nachts und in der morgendlichen Frühe bei ihm ist, aber wenn er nicht von mehr kündete, als von den „Siegen“ der Feinde, wie wäre dann das liebevoll bittende „Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein“ am Ende verständlich?

    Ich höre Eislers Liedmusik auf diese Verse und wundere mich:

    Das ist Liedmusik im Geist Franz Schuberts: Eine zwar noch stark rhetorisch-deklamatorisch geprägte, gleichwohl aber in gebunden-lyrischer Weise strophisch sich entfaltende Melodik, ein Klaviersatz, der durchweg als bitonale bis dreistimmige Achtel-Akkordrepetition angelegt ist, und sogar eine Harmonik, die – ganz und gar ungewöhnlich für die Liedmusik eines Hanns Eisler – aller chromatisch-dissonanten Schroffheit aus dem Wege geht, vorwiegend in der reinen Dur- Diatonik verbleibt, das Tongeschlecht Moll zwar einbezieht, aber nur ein einziges Mal, nämlich bei den Worten „von ihren Siegen“ in die Verminderung ausbricht.

    Wirklicher Schubert ist das freilich nicht, was da liedmusikalisch erklingt. Im Bassbereich des Klaviersatzes klingen reine Diatonik störende Töne im Wert von Vierteln und Halben auf, rezitativisch angehauchter und oft in Repetitionen verfallender Gestus prägt die Melodik und hindert sie, sich in großem Ambitus zu entfalten. Und da ist dann auch noch das abgrundtief einsame, in den Pianissimo-Ausklang des Nachspiels fortepiano als Liedschluss einbrechende „Fis“. Gleichwohl ist die Anmutung von Schubertscher Liedsprache unüberhörbar, und das wirft die Frage auf, warum sich Eisler hier kompositorisch so meilenweit von seiner eigenen Liedsprache wegbewegt hat und sich in eine liedmusikalische Welt begeben hat, die für ihn nur noch eine von historischer Ferne sein kann, und als solche nicht mehr hereinholbar in die eigene Lebenswelt.


  • „An den kleinen Radioapparat“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Da es sich bei diesem Lied mit Sicherheit nicht um eine kompositorische Auseinandersetzung mit dem romantischen Klavierlied im Sinne der ironischen Dekonstruktion handelt, aber auch nicht um ein Produkt schlichter historisierender Rekonstruktion, kann das Motiv nur in der existenziellen Befindlichkeit Eislers im Augenblick seiner Begegnung mit Brechts lyrischem Gedicht zu finden sein. Daraus resultiert die Art und Weise seiner spezifischen Rezeption desselben, und daraus geht dann auch die Frage hervor, mit welcher Art von Liedmusik die poetische Aussage zu erfassen sei.

    Der Exilant Eisler liest die Verse des Flüchtlings und Exilanten Brecht, in dem dieser in seiner situativ bedingten Einsamkeit in schlichter, gleichwohl metrisch geregelter Sprache liebevoll einen „kleinen Kasten“ anspricht, der sein einziges Bindeglied zur Welt nach draußen darstellt. Könnte man dann seinen Griff nach der Liedsprache des romantischen Klavierlieds als einen Versuch verstehen, sie, wie Brecht mit seinem „kleinen Kasten, als Medium zu nutzen, eine ferne musikalische Welt in seine Exil-Einsamkeit hereinzuholen, die seine Heimat verkörpert und ihm auf schmerzliche Weise verloren gegangen ist?

    Zugegeben: Ein wenig waghalsig-spekulativ, dieser Erklärungsversuch, aber so ganz abwegig doch wohl nicht. Zumal es ja nicht der einzige Fall ist, bei dem Eisler sich in seinem „Hollywooder Liederbuch“ mit dem romantischen Klavierlied auseinandersetzt, und das nicht nur in Gestalt einer Anmutung, sondern sogar, im Fall Robert Schumanns nämlich, in Gestalt eines direkten Zitats.
    Aber hören wir mal hin auf das, was dieses Lied musikalisch zu sagen hat, und mit welchen kompositorischen Mitteln es das tut. Vielleicht bestätigt sich darin ja meine kühne Hypothese, - oder sie erweist sich als unhaltbar.

    Eisler macht, weil er die Harmonik als wesentliches musikalisches Ausdrucksmittel in ungebundener Weise einsetzt, gewöhnlich keine grundtonartlichen Vorgaben. Hier aber tut er es, in Gestalt von zwei Kreuzen nämlich, und das allein schon hebt das Lied aus den anderen dieser Sammlung heraus. Bemerkenswert aber: Es fehlt eine Angabe zum Metrum. Überprüft man nun den Notentext diesbezüglich, so stellt man fest, dass er den zugrundeliegenden Dreivierteltakt zweimal in einen von geraden Zahlen übergehen lässt. Und das hat seinen Grund darin, dass er nur so sein liedkompositorisches Grundanliegen verfolgen kann: Die für die musikalische Aussage relevanten lyrischen Worte mit der gebotenen Akzentuierung zu versehen. Und aus der gleichen kompositorischen Absicht geht auch die Tatsache hervor, dass er das Strophenliedkonzept nicht durchhält, sondern in der zweiten Liedstrophe davon abweicht.

    In D-Dur-Harmonik gebettet setzt die melodische Linie auf den Worten „Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug“ ein, und das im Pianissimo. Der silbengetreuen Abfolge von deklamatorischen Achteln im Auf und Ab von Sekundschritten wohnt zwar der rhetorische Gestus der Ansprache inne, gleichwohl aber auch eine ganz leichte Anmutung von Lieblichkeit, gar Zärtlichkeit. Und das liegt einerseits daran, dass das Klavier hier im Diskant mit einer synchronen Folge von bitonalen Achtel-Akkorden begleitet, die sich immer wieder von der Terz zur Quarte ausweiten, vor allem aber ist es der in eine Dehnung auf „trug“ übergehende und mit einer Rückung in die Subdominante einhergehende melodische Quartsprung am Ende, der diese Anmutung bewirkt.

    Diesen deklamatorischen Gestus behält die Melodik auch bei den beiden nachfolgenden Versen der ersten Strophe – und auch, entsprechend dem Strophenlied-Konzept, auf den ersten beiden der zweiten – bei, und ganz offensichtlich will Eisler auf diese Weise die im Gestus der Ansprache sich bekundende Grundhaltung und die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs auf optimal eindringliche Weise zum Ausdruck bringen. Auf den Worten „Daß seine Lampen mir auch nicht zerbrächen“ beschreibt die melodische Linie die strukturell gleiche Bewegung, nur auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene und dementsprechend nun in D-Dur-Harmonisierung, und auch das Klavier begleitet mit der gleichen Folge von Terzen und Quarten im Diskant. Allerdings hat das eine klingende Kadenz bewirkende Wort „zerbrächen“ zur Folge, dass die melodische Linie nun nicht in einer einfachen Dehnung, sondern in einer deklamatorisch gedehnten Tonrepetition endet. Auf diese Weise erfährt es eine Akzentuierung.

    Auch noch auf den Worten „Besorgt vom Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug“ behält die melodische Linie, nun um eine weitere Terz in der tonalen Ebene abgesenkt, aber weiterhin in D-Dur-Harmonisierung, diese Struktur bei. Die Worte „zum Zug“ erfahren nun wieder, wie zuvor das Wort „zerbrächen“, eine Hervorhebung, nur ist sie dieses Mal noch stärker ausgeprägt, weil nicht nur die Harmonik eine Rückung zur Subdominante G-Dur vollzieht, sondern der in eine melodische Dehnung mündende Sprung nun über das Intervall einer Quarte erfolgt und das Klavier in der erstmaligen Pause für die Melodik im Diskant eine Folge von fünf Achtelakkorden erklingen lässt, die aus bitonalen Terzen und Quarten besteht.

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  • „An den kleinen Radioapparat“ (II)

    Den Worten „Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen“ wohnt ein hoher affektiver Gehalt inne, und so verlässt denn die melodische Linie ihr zart anmutendes und in Dur-Harmonik gebettetes Auf und Ab in Sekundschritten und beschreibt auf „daß meine Feinde“ einen ausdrucksstarken Fall über eine Sexte und eine Sekunde bis hinab zu einem tiefen „Cis“, um dann mit einem Septsprung zur Ausgangslage zurückzukehren und nun nur noch in einen Sekundfall überzugehen. Diese melodische Bewegung ist in g-Moll harmonisiert, und sie will auch nicht auf der nun erreichten tonalen Ebene in mittlerer Lage verharren, sondern steigt mit einer Kombination aus Quint- und Sekundsprung in hohe auf, um von dort in einen zweischrittigen Fall über das Intervall einer Septe überzugehen und bei „sprächen“, wieder die klingende lyrische Kadenz reflektierend, einen silbengetreuen Sekundfall mit Dehnung zu vollziehen. Hierbei ereignet sich, auch das Ausdruck der starken seelischen Regungen des lyrischen Ichs, eine harmonische Rückung vom vorangehenden D-Dur nach E-Dur. Und schließlich trägt auch das Klavier zu der Steigerung der musikalischen Expressivität dieser Melodiezeile bei, indem es die bislang zur Begleitung eingesetzten zweistimmigen Achtelakkorde im Diskant zu dreistimmigen erweitert und sich dabei sogar in einen Dominantseptakkord steigert.

    Die beiden ersten Verse der zweiten lyrischen Strophe erklingen in der gleichen Liedmusik wie die der ersten, nur dass die melodische Linie bei „Früh“ nun, der stumpfen lyrischen Kadenz geschuldet, in einer einfachen Dehnung auf dem „A“ in mittlerer Lage endet. Diese – für Eisler ganz und gar ungewöhnliche – Nutzung des Strophenlied-Konzepts ist Bestandteil seines hier praktizierten kompositorischen Eintauchens in die Welt des romantischen Klavierliedes. Aber dabei bleibt er ja auch immer mit einem Bein in seiner eigenen, von Krieg, Tod, Vertreibung und Exil geprägten Lebenswelt, und er produzierte liedmusikalischen Kitsch, wenn dieses Eintauchen ein totales wäre. Für einen Hanns Eisler völlig unmöglich. Sieht er doch seinen Auftrag als Liedkomponist darin, eben diese seine ganz und gar schreckliche Lebenswelt und die eigene Existenz darin musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Das Eintauchen in vergangene liedmusikalische Welten, die eines Franz Schubert etwa, wie sie hier aufklingen, dient ihm letzten Endes ja nur dazu, in eine leise Klage darüber auszubrechen, dass diese ein für allemal verloren gegangen ist, - und das in der persönlichen Situation auf besonders schmerzliche Art und Weise.

    So ist denn das Strophenlied-Konzept nicht wirklich bis zum Ende durchzuhalten. Bei den beiden letzten Versen weicht die Melodik zwar nicht von ihrem zart und leicht wehmütig anmutenden und im Pianissimo sich entfaltenden Grund-Gestus ab, aber sie vermag ihn nicht mehr in großen Zeilen durchzuhalten und bricht in kleine auseinander. Die erste besteht aus den Worten „von ihren Siegen“. Die melodische Linie beschreibt darin einen in mittlerer Lage ansetzenden Anstieg über einen Terz- und einen Sekundschritt in hohe Lage, bei dem das Klavier sie allein lässt. Erst bei dem ausdrucksstarken Fall, den sie über eine Septe bei dem Wort „Siegen“ vollzieht, um dort in eine silbengetreue Tonrepetition mit Dehnung überzugehen, lässt es im Diskant eine Folge von dreistimmigen Achtelakkorden in der Tonart „D“ erklingen, in die sich im Bass allerdings ein lang gehaltenes und Dissonanz bewirkendes „Gis“ hineindrängt.

    Diese Akkordfolge mit dem „Gis“ im Bass setzt sich auch noch in der Viertelpause für die melodische Linie fort, bevor diese mit ihrer Bewegung in der nächsten kleinen Melodiezeile auf den Worten „und von meiner Müh“ beginnt. Eisler setzt auf diese Weise die beiden Aussagen des lyrischen Ichs, eben weil sie zwei gegensätzliche Erfahrungsbereiche ansprechen voneinander ab, und greift die zweite deshalb auch mit einer anderen Liedmusik auf. Die melodische Linie beschreibt zwar wieder die gleiche, nur aus deklamatorischen Gründen um eine Tonrepetition bereicherte Aufstiegsbewegung zu einem hohen „D“, aber das nun nicht „a cappella“, sondern begleitet von einem lang gehaltenen D-Dur-Akkord. Und der nachfolgende Fall mit Dehnung erstreckt sich nun über eine Septe, endet also auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene, und die während der Dehnung erklingende Achtelakkordfolge weist keine dissonante Verstörung mehr auf, sondern besteht aus Dominantseptakkorden der Tonart „G“. Die „Müh“ des lyrischen Ichs verdient eine andere Liedmusik als die „Siege“ seiner „Feinde“.

  • „An den kleinen Radioapparat“ (III)

    Ein nun lang gehaltener G7-Akkord erklingt auch in der Achtel-Pause, die der letzten Melodiezeile vorausgeht, die Worte des letzten Verses enthält und nun nicht mehr von einer Pause unterbrochen ist. Vielsagend ist, dass die melodische Linie auf den Worten „Versprich mir, nicht auf einmal…“ identisch ist mit der, die auf den Worten „Daß meine Feinde weiter…“, dem Inhalt des vierten Verses der ersten lyrischen Strophe also. Nur der dortige Klaviersatz aus bitonalen und dreistimmigen Achtelakkorden im Diskant ist nun durch den G7-Akkord im Wert einer punktierten halben Note ersetzt. Auf den Worten „stumm zu sein“ weicht die melodische Linie aber von jener in der ersten Strophe ab. Nun geht sie nach dem Sekundanstieg in hoher Lage auf „einmal“ in einen regelrechten Sturz über das große Intervall einer None bis hinab zu einem „C“ in tiefer Lage über, um anschließend den Fall über eine Sekunde fortzusetzen und auf „zu sein“ eine die Liedmelodik beschließende Tonrepetition auf der tonalen Ebene eine tiefen „H“ zu beschreiben. Das Klavier begleitet das wieder mit seinen Achtelakkord-Folgen im Diskant, die, wieder dreistimmig, von D-Dur in f-Moll übergehen.

    Sie setzen sich im dreitaktigen Nachspiel zunächst in dieser Harmonik fort, aber es drängt sich ein „Gis“ im Bass in sie, und so gehen sie zu G7-Harmonik über, verkleinern sich zu bitonalen Sekunden und enden darin auch. Das alles erfolgt in einem Piano-Decrescendo. Und danach klingt im Schlusstakt mit einem Mal fortepiano das einsame abgrundtiefe Fis im Bassbereich auf.

    Wie ist dieser Liedschluss zu verstehen?
    Erschöpft sich das Wieder-Aufgreifen der Melodik des letzten Verses der ersten Strophe in dem der zweiten in der schlichten Wahrung des Strophenlied-Konzepts? Oder steckt mehr dahinter? Und was ist mit diesem einsamen tiefen „Fis“ am Ende? Was will es sagen?

    Zunächst zur ersten Frage.
    Die Wahrung des Strophenliedkonzepts liegt sicher in der kompositorischen Absicht Eislers, denn er hat die Liedmusik ja darauf angelegt und ist nur im dritten Vers der zweiten Strophe aus semantischen Gründen davon abgewichen. Aber die Wiederholung der Melodik auf deren letztem erhält damit einen höchst subtilen Sinn: Wenn das lyrische Ich seinen „kleinen Radioapparat“ unständig bittet, nicht zu verstummen, dann auf „daß meine Feinde weiter zu mir sprächen“, wie es in gleicher Melodik im letzten Vers der ersten Strophe heißt.

    Und das „fp“-Schluss-Fis?“
    Man kann es nach den in G7-Harmonik erklingenden Achtelakkord-Repetitionen als Terz zum Grundton „D“ und damit Ausdruck von D-Dur-Harmonik hören. Dann ereignete sich am Ende eine harmonische Rückung zur Dominante und damit die klangliche Suggestion eines offenen Liedschlusses.
    Er wäre dann, so kann man das verstehen, Ausdruck von Hoffnung. Hoffnung, dass der so liebevoll angesprochene „kleine Kasten“ weiterhin das tut, was für das lyrische Ich von so großer existenzieller Relevanz ist:
    Ihm in der Einsamkeit des Exils das Tor zur weiten Welt offen zu halten. Auch wenn daraus auch die Stimmen seiner Feinde zu ihm dringen.
    Aber nur unter anderen.

  • „Frühling“

    (Wie üblich kann der dem Lied zugrundeliegende Text aus den bekannten Gründen hier nicht wiedergegeben werden)

    Brechts Gedicht besteht aus zwei Strophen. Auf die acht Verse der ersten Strophe folgen abgesetzt, noch einmal sechs, und diese kreisen ganz und gar um die Figur des „Flüchtlings“ im „Erlengrund“. Dieser nimmt die landwirtschaftlich geprägte Welt um sich herum wahr, insbesondere die Leistung, die die Menschen darin erbringen, merkt aber an, dass „Korn und Milch sie nicht nährt“ und versteigt sich mit der Schlussfeststellung „Und sieht ein Volk, das in zwei Sprachen schweigt“ gar auf die Ebene der Abstraktion.

    Dass Brecht hier poetisch eine eminent politische Aussage intendiert, lässt ja schon die erste Strophe erkennen. In die frühlingshaften Naturbilder, die ihn in ihrer sprachlich knappen und präzisen Zeichnung als einen großen Lyriker erweisen, kommt im vierten und fünften Vers mit dem exemplarisch eingesetzten Bild von den „Milchbehältern“ die menschliche Arbeitswelt in Natur-Metaphorik.

    Mit den beiden letzten Versen der ersten Strophe lässt er unvermittelt – wie das seine oft praktizierte poetische Verfahrensweise ist – die anfänglich erweckte Anmutung von Naturlyrik in politische Lyrik umschlagen: Im Bild vom „Flüchtling im Erlengrund“. Mit einem einzigen Wort, und auch darin wieder großer Lyriker, zeichnet er dessen existenzielle Situation. Und er wählt nicht das Abstraktum, „Hoffnung“ also, sondern setzt das verbale „Hoffen“ ein. Dies deshalb, weil er es, um dessen Vergeblichkeit zum Ausdruck zu bringen, mit einem sarkastisch-bitteren, weil sachlich danebenliegenden, den „Flüchtling“ zum Teil der Arbeitswelt machenden Epitheton versehen muss: „Schwieriges Handwerk“.

    Eisler hat nur die erste Strophe in seine Liedmusik aufgenommen. Lyrische Worte wie „Er fragt die Fähre, die mit Stämmen fährt: / Ist dies das Holz, ohn das kein Holzbein wäre?“ wollte er nicht in sie einbeziehen. Störten sie ihn in ihrer lyrisch-metaphorischen Grobheit? Dabei ist das doch ein für Brecht höchst wichtiges, weil die poetische Aussage konstituierendes lyrisches Ausdrucksmittel.

    Das aber würde bedeuten, dass er gar nicht beabsichtigte, Brechts poetische Aussage in ihrem eminent politischen Kern liedkompositorisch aufzugreifen und umzusetzen. Ihn hätte nur das Thema „Frühling“ interessiert, so wie Brecht es in der ersten Strophe mit den ersten Versen („Fischreiche Wässer, schönbaumige Wälder, Birken- und Beerenduft. Vieltöniger Wind durchschaukelt eine Luft“) poetisch skizziert, - einschließlich der Einbeziehung von menschlicher Arbeitswelt („jene eisern Milchbehälter, die dort vom weißen Gute rollen“) und der existenziellen Situation eines Flüchtlings. Denn das ist auch die Art und Weise, wie er als Exilant in einer fremden Lebenswelt „Frühling“ erfährt.

    Eisler sieht sich also – und das gilt generell für seinen liedkompositorischen Umgang mit Brechts Lyrik – nicht als künstlerisch-kompositorischen Dienstleister, was dessen politische Intentionen als Lyriker anbelangt. Das ist bemerkenswert, weil er diese in der zugrundeliegenden Ideologie ja nicht nur teilt, sondern zutiefst befürwortet. Aber er versteht sich als Komponist mit genuinem künstlerischem Ausdrucksbedürfnis, das ihn nicht nur zur Auswahl aus dem lyrischen Werk, sondern auch zum Eingriff in den zur Vertonung herangezogenen lyrischen Text berechtigt.
    Brecht war damit – wie in allerdings nur wenigen Einzelfällen schriftlich überliefert ist – nicht immer einverstanden. Auf seine empörte Reaktion hinsichtlich Eislers Hölderlin-Vertonungen wird noch einzugehen sein.


  • „Frühling“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Auch bei diesem Lied gibt es außer der Vortragsanweisung „ppp dolciss.“ Keine weiteren kompositorischen Vorgaben. Die Harmonisierung der Melodik weist wieder die bei Eisler für die musikalische Aussage konstitutive schweifende, an kein Zentrum gebundene und die Dissonanz bevorzugende harmonische Modulation vor. Und auch das Metrum wird hier auf besonders markante Weise als kompositorisches Ausdrucksmittel genutzt: Es schwankt permanent in allen Stufen zwischen zwei bis sechs Achteln.

    Schon das fünftaktige Vorspiel lässt all das vernehmen. Drei Takte lang steigen Sechzehntel wellenartig in vorwiegend Terzschritten über ein großes Intervall auf und ab, und dies in einer dissonanten Chromatik, in der sich keinerlei tonartliches Zentrum herausbildet. Von Takt zu Takt sinkt das Metrum von sechs über fünf zu drei Achteln ab, und dann geht das Klavier, nun im Zwei- und Dreiachteltakt, zu einem Auf und Ab von Sechzehnteln im Intervall von Terzen, Quarten und Quinten über, um schließlich „etwas ruhiger“ zwei- bis dreistimmige Sechzehntelakkord-Repetitionen erklingen zu lassen, dies ebenfalls in Gestalt harmonischer Dissonanz. In dieser Gestalt, bitonalen Sechzehntelakkord-Folgen im Diskant und Vierteln im Bass, begleitet es anschließend auch die melodische Linie der Singstimme auf den ersten vier Versen.

    Die durch die wellenartigen Sechzehntel-Bewegungen erzeugte chromatisch-schweifende, dann aber durch die Akkordrepetitionen in eine Statik übergehende Klanglichkeit des Vorspiels, zu dem das so überaus unruhige Metrum einen wesentlichen Beitrag liefert, fängt wohl musikalisch die Aura des lyrischen Bildes ein, wie Brecht es in den ersten vier Versen entwirft. Denn dieses nimmt aus anfänglicher Statik mit den Worten „Vieltöniger Wind durchschaukelt eine Luft“ eine innere Bewegtheit an, die dann mit dem Bild von den „eisernen Milchbehältern“ und schließlich dem vom „Flüchtling“ von der Sphäre der Natur zu der menschlicher Lebenswelt übergeht.

    Dass man mit diesem Verständnis des Vorspiels nicht falsch liegt, lässt die die Struktur der melodischen Linie auf den Worten der ersten vier Verse erkennen. Bei den Worten „Fischreiche Wässer, schönbaumige Wälder“ entfaltet sich die melodische Linie in kurzschrittigen (Sechzehntel) Tonrepetitionen auf sich erst um eine Sekunde absinkender, dann aber über einen Quartsprung angehobener tonaler Ebene, und in diesem Gestus setzt sich ihre Bewegung „molto rit“ auf den Worten „Birken- und Beerenduft“ fort, das allerdings erst nach einer Sechzehntelpause und mit einem Übergang vom Sechs- zum Fünfachteltakt. Die Harmonik beschreibt dabei permanente Rückungen über g-Moll, f-Moll und in Verminderung der Tonarten „F“, „Fes“, „Es“ und „Des“. Mit dieser klanglichen Anmutung von Stasis, die ja auch der Klaviersatz mit seinen repetierenden bitonalen Sechzehntel-Akkorden im Diskant aufweist, reflektiert die Liedmusik das lyrische Bild in seiner wesenhaften Unbewegtheit.

    Die Bewegung, die mit den Worten „Vieltöniger Wind durchschaukelt eine Luft“ in die Metaphorik kommt, führt dazu, dass die melodische Linie von dem Verharren in der Statik von Tonrepetitionen ablässt und zur Entfaltung in einem geradezu weitschweifig anmutenden, weil in deklamatorischen Schritten von Terzen und Quarten erfolgenden und wellenartig angelegten Ambitus übergeht. Und von ihrer Struktur her ähnelt diese Bewegung auffällig stark derjenigen, die die Sechzehntel in den ersten drei Takten des Vorspiels beschreiben, einschließlich des Übergangs im Metrum von sechs zu fünf Achteln. Und so setzt sich die Melodik auch auf den Worten „So mild, als stünden jene eisern Milchbehälter“ fort, wobei das Klavier hier, dem deklamatorischen Gestus der Melodik entsprechend, ebenfalls von seinen Sechzehntel-Akkordrepetitionen ablässt und in Diskant und Bass lang gehaltene (punktierte Viertel) bitonale Akkorde erklingen lässt.

  • „Frühling“ (II)

    Mit den Worten „Die dort vom weißen Gute rollen, offen“ ist der lyrische Text endgültig in der menschlich-landwirtschaftlichen Arbeitswelt angekommen. Die Fallbewegung aus hoher Lage, zu der die melodische Linie auf dem Wort „Milchbehälter“ übergegangen ist, setzt sie bei den Worten „die dort vom“ bis zu tonalen Ebene eines tiefen „C“ fort, wobei sie das Klavier mit einem „kurzen Arpeggio“ in Es-Dur-Harmonik begleitet. Den Worten „weißen Gute rollen“ und dem durch Brecht ins syntaktische Abseits gesetzten Wort „offen“ verleiht Eisler einen auffällig starken liedmusikalischen Ausdruck. Mit der Vortragsanweisung „marcato“ versehen beschreibt die melodische Linie erst ein Auf und Ab von deklamatorischen Sechzehnteln auf der Ebene eines „As“ in tiefer Lage, über das Intervall einer Quarte, das das Klavier mit einem lang gehaltenen fünfstimmigen As-Dur-Akkord begleitet. Auf dem Wort „offen“ liegt dann ein lang gedehnter und als Legato in diesem Lied ein Exot darstellender melodischer Fall von einem „D“ zu einem „H“ in tiefer Lage, der mit der Vortragsanweisung „poco rit“ versehen ist, darüber hinaus aber auch mit einem „dolce“. Das Klavier ist hier wieder zu seiner Begleitung mit repetierend-bitonalen Sechzehntelakkorden übergegangen, zunächst in D-Dur-Harmonik, die dann aber im dreitaktigen nach- und Zwischenspiel „espress.“ zu d-Moll wechselt..

    Was will Eisler damit sagen, - mit dieser Melodik, deren Harmonisierung und den zugehörigen und, was das „Dolce“ anbelangt, geradezu verwunderlichen Vortragsanweisungen?
    Ich denke, er will damit das spezifische evokative Potential des lyrischen Bildes zum Ausdruck bringen, das in einer ungewöhnlichen Synthese von Natur und menschlicher Arbeitswelt von eigenartigem Charakter ist. Denn der als „vieltonig“ charakterisierte „Wind“ wird von Brecht in seiner spezifischen Eigenart in Beziehung gesetzt zu den offen stehenden Milchbehältern eines „weißen Gutes“. Die Atmosphäre dieser lyrischen Szene wird mit all diesen musikalischen Mitteln evoziert, wobei Eisler, darin Brecht gerecht werden wollend, die arbeitsweltliche Komponente auf markante Weise hervorhebt, so dass dann das Wort „offen“ in einem gedehnten Legato-Terzfall in tiefer Lage „dolce“ deklamiert wird.

    Das in den ersten vier Versen entfaltete lyrische Bild wird von Brecht um der intendierten poetischen Aussage willen mit jenem anderen kontrastiert, das Inhalt der letzten beiden Verse ist. Der sechste Vers mildert den Worten „Geruch und Ton und Bild und Sinn verschwimmt“ die Härte des Kontrasts ein wenig ab. Der „Flüchtling“ soll in die Szene eingebunden sein, was ja lyrisch-sprachlich auch darin Ausdruck findet, dass seine Tätigkeit, das „Hoffen“ also auf untergründig ironische Weise als „Handwerk“ bezeichnet wird. Eisler hebt diese lyrische Überleitungsfunktion dadurch hervor, dass er die melodische Linie, in cis-Moll harmonisiert, in fallend angelegten Sechzehntel-Sekundschritten aus tiefer Lage in mittlere Lage aufsteigen und danach in steigende Sekundschritte übergehen lässt, die bis zur tonalen Lage eines hohen „F“ reichen und dort in eine Dehnung übergehen, der das Klavier mit einem sechsstimmigen Des-Akkord einen starken Akzent verleiht.

    Auf diesem hohen „F“ setzt anschließend auch die melodische Linie mit den Worten „der Flüchtling“ ein, und das nun im Zweiachteltakt, unter Fortklingen des Des-Dur-Akkords und, so die ausdrückliche Vortragsanweisung „mit Brutalität, gut betont“. Das geschieht in Gestalt einer dreimaligen Tonrepetition auf der tonalen Ebene des hohen „F“, danach geht die melodische Linie auf den Worten „sitzt im“ in einen starken Fall über eine Sexte und eine Sekunde über. Diese, wie auch alle nachfolgenden deklamatorischen Schritte sind allesamt mit einem Portato-Zeichen versehen, sollen also gewichtig vorgetragen werden. Und das Klavier begleitet sie deshalb mit taktlang gehaltenen sechsstimmigen Akkorden in den verminderten Tonarten „D“ und „H“.

  • „Frühling“ (III)

    Bei den Worten „im Erlengrund“ beschreibt die melodische Linie, darin den deskriptiven Charakter der lyrischen Aussage reflektierend, erst ein Auf und Ab im großen Intervall einer verminderten Septe, danach aber vollzieht sie auf den Worten „sein schwieriges Handwerk“ einen ausdrucksstarken, weil nicht kontinuierlichen Anstieg in Terzschritten, der bei „wieder auf“ zu solchen in Sekunden übergeht, um in einer wiederum ausdrucksstarken , weil mit einem Forte-Crescendo versehenen Dehnung auf der Ebene eine hohen „Fis“ zu enden, die das Klavier zusätzlich noch mit einem starken, weil stark dissonanten sechsstimmigen Akkord akzentuiert.

    Eine Sechzehntelpause folgt für die Melodik. Das Klavier setzt darin mit seinen Sechzehntel-Figuren im Diskant ein, und dann erklingt die Melodik auf den Worten „das Hoffen“. Bei ihnen handelt es sich um eine von Brecht in seiner Lyrik häufig eingesetzte Variante seines dramatischen V-Effekts: Der Leser erwartet nach der vorangehenden, von dem Begriff „Handwerk“ dominierten lyrischen Aussage alles andere als die Worte: „das Hoffen“. Diesen Effekt setzt Eisler dergestalt in Liedmusik um, dass er die Melodik in einer Weise vortragen lässt, die in ähnlicher Weise unerwartet ist und deshalb geradezu verblüffend wirkt. Eine Sechzehntel-Tonrepetition auf einem „As“ mit mittlerer Lage geht in einen Terzfall über, vom Klavier mit repetierenden Sechzehntel-Akkorden in verminderter Des-Harmonik begleitet. Diese melodische Figur wird aber – und dies nach der höchst gewichtig im Mezzoforte ansteigenden und in einer Forte-Dehnung aufgipfelnden Melodik davor – „poco agitando“ im Pianissimo vorgetragen, und das heißt: Man vernimmt sie wie flüchtig hingehaucht.

    Wenn man das als kompositorische Interpretation der lyrischen Aussage des letzten Verses auffasst und versteht, dann will Eisler wohl mit dieser – im Grunde ja doch befremdlichen – liedmusikalischen Gestaltung derselben zum Ausdruck bringen, dass das von Brecht mittels V-Effekts so markant hervorgehobene „Hoffen“ ein letzten Endes vergebliches ist, - ein „Handwerk“, das nichts zustande bringt.

    Das nachfolgende fünftaktige Nachspiel mutet – in meinem Verständnis – wie eine geradezu höhnische Bekräftigung dieser Interpretation von Brechts Lyrik an, die dieser wohl nicht so ganz akzeptiert haben dürfte.
    In einem Crescendo lässt das Klavier seine triolischen Sechzehntel-Akkordrepetitionen erklingen, danach die bogenförmige Sechzehntel-Figur aus dem Vorspiel und schließlich, wiederum unerwartet und verblüffend – einen das Lied beschließenden und im Bass mit einem dissonanten Akkord aus den Tönen „Ais-H-C“ begleiteten und lang gehaltenen Pianissimo-Triller.

  • „Über den Selbstmord“

    (Wie üblich kann der dem Lied zugrundeliegende Text von Brecht aus Urheberrechtschutz-Gründen hier nicht wiedergegeben werden)

    In dieses Gedicht Brechts hat Eisler – wie das ja seine grundsätzliche Verfahrensweise mit lyrischen Vorlagen für seine Liedkomposition ist – auf markante Weise eingegriffen. Vor allem in der Überschrift, denn die lautet bei Brecht „Angesichts des Elends“. Alle Änderungen, die er vornimmt, laufen auf eine Steigerung der lyrischen Aussage in Richtung Härte und Direktheit hinaus. Das zeigt besonders der provokative Titel, aber auch die auf die gleiche Intention zurückzuführende Elimination der Differenziertheit und Behutsamkeit, in der Brecht sein Gedicht in seiner Aussage enden lässt. Bei Brecht lautet der Schluss: „Genügt ein Weniges, / Und die Menschen werfen / Das unerträgliche Leben fort“. Eisler macht daraus: „Denn angesichts des Elends / Werfen die Menschen in einem Augenblick / Ihr unerträgliches Leben fort“.

    Das Ersetzen von Brechts Eingangsvers („In unserem Lande…“) durch die Worte „in diesem Lande und in dieser Zeit“ lässt erkennen, dass Eisler dessen lyrischen Text aus seiner subjektiven existenziellen Situation heraus liest und entsprechend in Liedmusik umsetzt. Und das Erstaunliche, Verwunderliche und jede Menge Fragen Aufwerfende dabei ist, dass er – wie das ja schon einmal bei „An den kleinen Radioapparat“ der Fall war – erneut auf den liedmusikalischen Fundus des romantischen Klavierliedes zurückgreift.

    Dieses Lied weist in seiner Melodik starke Anklänge an das erste von Schuberts „Winterreise“, speziell die melodische Fallfigur auf den Worten „Fremd bin ich eingezogen“ auf. Sie erklingt darin, zwar nicht in identischer, wohl aber strukturell ähnlicher Gestalt, gleich drei Mal. Vielsagend ist, auf welchen Worten das geschieht, - nämlich: „trübe Abende“, „die ganze Winterzeit“ und „unerträgliches Leben“. Und das unter dem von Eisler selbst vorgegebenen Titel-Oberbegriff „Selbstmord“.

    Wie Eisler diese seine Liedmusik in ihrem spezifischen Rückgriff auf Schubert verstanden wissen will, das wird hier die zentrale Frage sein. Das hat er ja regelrecht provoziert. Nicht in vordergründig effektorientierter Absicht allerdings, sondern im Hinblick auf den Kern seiner liedkompositorischen Aussage, wie sie sich in der Dialektik von Schuberts Melodik und seiner eigenen konstituiert. Es ist die einer höchst subtilen, am Ende aber in harte und kalte Schroffheit mündenden und darin den Bruch zwischen romantischer Klavierlied-Musik und zeitgenössischer Moderne reflektierenden Auseinandersetzung mit Schubert.


  • „Über den Selbstmord“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und sie soll „Andante molto (sehr leise)“ vorgetragen werden. Ohne Vorspiel, ja sogar ohne Klavierbegleitung setzt die melodische Linie pianissimo in Gestalt eines auf einem tiefen „A“ ansetzenden und danach in einen Sekundanstieg übergehenden Quartsprungs auf den Worten „in diesem“ ein. Danach beschreibt sie auf „Lande“ einen sie in die tiefe Lage wieder zurückführenden verminderten Terzfall, der nun vom Klavier mit einer – ebenfalls pianissimo auszuführenden – Folge von drei dreistimmigen Akkorden im Bass begleitet wird, wobei zwei den Wert eines Viertels, der dritte aber den einer halben Note haben. Dieser in eine Dehnung mündende dreistimmig-akkordische Dreischritt stellt – und das ist bemerkenswert - durchgehend und ohne Abweichung davon die Struktur des Klaviersatzes dar, und er erfüllt darin nur die Funktion einer Begleitung der melodischen Linie der Singstimme, die die Aufgabe hat, die musikalische Aussage zu generieren.

    Erst im zweitletzten Takt, dem letzten der Melodik, und im eintaktigen Nachspiel tritt eine grundlegende Wandlung in dieses Verhältnis von Klaviersatz und Melodik. Das, was hier musikalisch geschieht, stellt ohnehin so etwas wie ein explosives Ereignis dar, dem darin eine liedkompositorisch zentrale Funktion zukommt: In diesem höchst expressiven Einbruch eines dissonanten Fortissimo-Akkords in eine sich durchweg im Pianissimo entfaltende Melodik konstituiert sich erst die kompositorische Aussage. Und das buchstäblich im allerletzten Moment. Das ist von großer Bedeutung für die Frage, wie Eisler hier kompositorisch mit Schuberts Liedmusik umgeht. Lange ergeht er sich in ihr, - in einer liedhaften, in gebundener Deklamation sich entfaltenden und relativ weiträumig phrasierten Melodik und in einer diatonisch und vorwiegend auf das Tongeschlecht Dur ausgerichteten Harmonisierung derselben und einem Klaviersatz, der sogar eine Simplifizierung Schubertscher Liedsprache darstellt.

    Und dann dieser unerwartete Knall am Ende, - dieser Fortissimo-Einbruch von harmonischer Dissonanz in eine Liedmusik, die zwar in den Halbtonschritten, in denen das Schubert-Zitat erfolgt, bereits erkennen lässt, dass sich hier eine Verfremdung ereignet, und das ebenso in dem immer wieder erfolgenden Eindringen von Moll-Harmonik in die Dur-Diatonik. Der Rezipient dieser Liedmusik weiß längst, spätestens wenn sich auf den Worten „das ist gefährlich“ eine deklamatorische „pppp“-Tonrepetition mit nachfolgend verminderten Terzsprung- und Sekundfallbewegungen in extrem tiefer Lage ereignet, dass Eisler die Musik des romantischen Klavierliedes hier nur nutzt, um im Akt ihrer Verfremdung zu bekunden, dass sie, so liebenswert und bedeutsam sie sein mag, gleichwohl nicht mehr dazu taugt, die moderne, von Krieg und Emigration geprägte gegenwärtige Lebenswelt zu erfassen.

    Dass dieser Verfremdungseffekt sich am Ende aber in diese extreme Schroffheit steigert, das kommt für diejenigen, die mit Eislers Liedmusik wenig vertraut sind, ganz und gar unerwartet. Es stellt allerdings ein Wesensmerkmal seiner Liedmusik, ja seines ganzen kompositorischen Schaffens dar, das in seiner auf extreme Expressivität hin angelegten Eigenart als Ausdruck eines hochgradig subjektiven künstlerischen Ausdrucksbedürfnisses zu verstehen ist. In dem Tagebuch, das er in den zwanziger Jahren führte, findet sich die Bemerkung: „Ein Kalauer ist besser als ein schlechtes Andante.“ Für die Eisler-Biographin Friederike Wißmann (Hanns Eisler, München 2012) ist das Ausdruck einer „Einstellung, die zu seiner menschlichen wie künstlerischen Grundüberzeugung werden sollte: „Charakteristisch ist die für Eisler typische unsentimentale, oft bissige Pointe, die in allen Perioden seines künstlerischen Schaffens aufzufinden ist.“ (S.43)

    Nach der bogenförmigen, in b-Moll harmonisierten Entfaltung in tiefer Lage auf den Einleitungs-Worten „in diesem Lande“ geht die melodische Linie nach einer Achtelpause auf den Worten „und in dieser Zeit“ in eine Bewegung über, die die Zeitbezogenheit der lyrischen Aussage deutlich hervorhebt: Nach einem Terzfall auf „und in“ beschreibt sie mit einem verminderten Quintsprung eine gedehnte und rhythmisierte Tonrepetition auf einem „As“ in mittlerer Lage, die bei „“Zeit“ in einen Sekundfall mit Dehnung übergeht. Das Klavier begleitet das mit G-Dur-Akkorden, und in der Art und Weise, wie Eisler diese kleine Melodiezeile von der ersten absetzt, manifestiert sich, warum er die Worte „in dieser Zeit“ zum Brecht-Original hinzugefügt hat: Er versteht diese seine Liedkomposition als eine Aussage über das Wesen der Zeit, in der er lebt.

    Und wenn er dazu die Liedsprache einer längst vergangenen Zeit benutzt, dann ganz offensichtlich in der Absicht, in deren Verfremdung auf schmerzliche Weise vernehmlich werden zu lassen und am Ende auf schockartige Weise ins Bewusstsein zu rufen, dass diese Zeiten schrecklichere sind als jene, in denen ein Schubert das Leiden eines in die existenzielle Einsamkeit getriebenen und durchaus auch in die Nähe des Todes geratenen Menschen zum Gegenstand von Liedmusik gemacht hat. Aber dieser begeht bei Schubert nicht „Selbstmord“, sein Leiden ist zur Manifestation des existenziellen Seins zum Tode geworden. Ganz anders ist das bei dem Menschen in „diesen Zeiten“, als der Eisler sich selbst erlebt und das in seinem Wesen künstlerisch-kompositorisch zum Ausdruck bringen will. – auch, und das auf durchaus relevante Weise, in diesem „Hollywooder Liederbuch“.

  • „Über den Selbstmord“ (II)

    Bemerkenswert und vielsagend ist, wie er das in die Melodik auf den Worten „Dürfte es trübe Abende nicht geben“ erstmals einbezogene „Winterreise“-Zitat gestaltet. Ihr liegt ja das dortige Metrum zugrunde, allerdings nicht ein Gestalt von zwei, sondern vier Vierteln, aber immerhin mit dem lang gehaltenen dritten Akkord des Klaviersatzes so etwas wie eines ruhige Basis für die Melodik bereitstellend. Aber was da melodisch erklingt, ist nicht die Melodik, in die Schubert die Worte „Fremd bin ich eingezogen“ fasst. Dort ist das ein Fall, der, in d-Moll-Harmonik gebettet, mit einem kleinen Sekundschritt abwärts einsetzt, sich über eine große Sekunde, eine Quarte, eine Terz und eine weitere Sekunde bis in tiefe Lage kontinuierlich fortsetzt, um dort in ein gedehntes Auf und Ab im Intervall einer Sekunde überzugehen. Schubert drückt darin ja auch eine lyrisch-sprachliche Feststellung aus, die ein Faktum reflektiert.

    Bei Eisler geht es aber um etwas ganz Anderes: Kein Konstatieren, sondern ein gedankliches Erwägen im sprachlichen Konjunktiv. Und da dessen Gegenstand „trübe Abende“ sind, ist dem Fall erst einmal ein sich über das Intervall einer Sexte erstreckender Anstieg der melodischen Linie auf den Worten „dürfte es“ vorgelagert, bei dessen letztem Schritt es sich um eine verminderte Sekunde handelt. Die nachfolgende Abstiegsbewegung ist dann im Unterschied zu der Schuberts eine deutlich komplexere. Sie setzt mit einer verminderten Terz ein, setzt sich in zwei Sekundschritten fort und geht dann über eine verminderte und eine große Quarte zu einem regelrechten Sturz in tiefe Lage über. Und anders als bei Schubert beschreibt sie dort nicht ein einfaches Auf und Ab in Sekundschritten, sondern vollzieht bei dem Wort geben“ einen Sprung über eine verminderte Sexte, dem ein verminderter Sekundfall nachfolgt. Die Harmonik beschreibt hier eine Rückung vom vorangehenden As-Dur nach d-Moll.

    In „diesen Zeiten“ können Abende zu „trüben“ werden, und selbst einfache technische Konstrukte wie „hohe Brücken über die Flüsse“ verlieren mit einem Mal ihre Arglosigkeit und werden gefährlich. Die Melodik drückt das dergestalt aus, dass sie erst auf „Brücken“ einen in G-Dur gebetteten triolischen, weil von einer Achtelpause unterbrochenen und in eine Dehnung mündenden Sekundfall vollzieht, bei den Worten „über die Flüsse“ aber zu einem ebenfalls triolischen, aber partiell verminderten Sekundanstieg übergeht, um auf „die Flüsse“ dann in einem chromatischen kleinen Sekundfall zu enden, der in c-Moll harmonisiert ist.

    Die Welt ist eine andere, eine, in der Menschen sich nicht mehr einsam dahinwandelnd in der Reflexion von Leben und Tod ergehen, sondern sich den Tod handgreiflich antun, weil ihre existenzielle Not allzu groß, ihr Elend unerträglich geworden ist. Und so vollzieht denn die Melodik etwas, wozu selbst die ihre Zeit weit transzendierende Melodik Schuberts nicht in der Lage gewesen wäre. Nach der durchaus deren „Winterreise“-Geist reflektierenden und in Es-Dur harmonisierten Fallbewegung auf den Worten „und die ganze Winterzeit“ verleiht sie dem Wort „dazu“ einen besonderen Akzent in Gestalt eines von Achtelpausen eingehegten und in tiefe Lage führenden Quartfalls, der in verminderte Es-Harmonik gebettet ist. „Winter“ ist „in diesen Zeiten“ eine besonders gefährliche, und Eisler macht das mit dieser – liedkompositorisch ungewöhnlichen – Hervorhebung des syntaktisch nebensächlichen Wortes „dazu“ auf markante Weise bewusst.

    Bei den für die poetische Aussage des Gedichts so hochrelevanten Worten „das ist gefährlich“ bricht die Melodik endgültig aus ihrem Gestus einer Schubert-Anmutung aus. Und das radikal. Sie geht zu einem rezitativischen über, der seine hohe Expressivität aus einer ganz und gar ungewöhnlichen kompositorischen Quelle bezieht: Einer dreifachen Tonrepetition auf der extrem tiefen Lage eines kleinen „G“, einem verminderten Terzsprung daraus und einem Rückfall zur Ebene eines tiefen „As“. Und dies in einer Dynamik, die ans fast nicht mehr Vernehmliche grenzt, denn die Vortragsanweisung lautet hier „pppp“. Und sie gilt auch für das begleitende Klavier, das hier erst auf den beiden letzten Silben von „gefährlich“ seine üblichen Akkordfolgen in Gestalt von sehr tiefen Terzen erklingen lässt, um dann im Nachspiel „sehr leise“ die Bewegung der melodischen Linie in akkordischer Gestalt im Bass noch einmal wiederholt. Hier hat Eislers Liedmusik zu ihrem eigentlichen Wesenskern zurückgefunden, der ein eminent deklamatorisch wortbezogener ist, weitab von genuin lyrischer Melodik, vielmehr auf markante Weise dem Rezitativ zugewandt.

  • „Über den Selbstmord“ (III)

    Das zeigt sich auch in der Melodik der beiden Schlussverse, und hat seinen guten Grund darin, dass Eisler hier mit seinen Eingriffen in Brechts Text die lyrische Aussage auf den Punkt verdichtet hat. Prompt untergliedert er die melodische Linie nun in fünf kleine, durch Achtelpausen voneinander abgehobene Zeilen, um den semantischen Gehalt des lyrischen Textes mittels einer markant hervorgehobenen Melodik in all seinen Dimensionen zu erfassen und ihm die aus seiner Sicht angemessene Eindrücklichkeit zu verleihen. Auf den Worten „denn angesichts“ beschreibt die melodische Linie gleichsam einleitend erst einmal einen ruhigen, auf einem tiefen „A“ ansetzenden und über einer Quartsprung und zwei Sekundschritte bis zur tonalen Ebene eines „F“ in tiefer Lage führenden Anstieg. Das Klavier lässt dazu zunächst einen lang gehaltenen A-Dur-Akkord erklingen, geht dann aber bei der melodischen Dehnung auf der letzten Silbe von „angesichts“ in seinem üblichen Gestus zu b-Moll-Akkorden über. Noch bevor das melodisch artikuliert wird, deutet sich an, dass es hier um „Elend“ geht.

    Und das bringt dann auch die Melodik der nächsten, nach einer Achtelpause einsetzenden Zeile zum Ausdruck. Dies in Gestalt eines zweifachen, auf gestaffelte Weise in der tonalen Ebene um eine Terz angehobenen Falls der melodischen Linie, erst über eine verminderte Terz, danach eine wiederum verminderte Sekunde. Das ereignet sich auf den Worten „dieses“ und „Elends“ und verleiht ihnen auf diese Weise ein Gewicht, das sie von ihrer lyrischen Sprachlichkeit her gar nicht haben. Durch den um eine Terz angehobenen melodischen Fall von einem „As“ zu einem „G“ in mittlerer Lage erfährt das Wort „Elend“ eine markante Akzentuierung. Wobei bemerkenswert ist, dass Eisler hier die Harmonik vom vorangehenden b-Moll nach G-Dur rücken lässt. Das „Elend“ ist ein solch bedeutsames lebensweltliches Faktum „in dieser Zeit“, dass sich für ihn eine – aus seiner Sicht - sentimentale Harmonisierung im Tongeschlecht Moll verbietet.

    Und eben deshalb ist auch die nächste Melodiezeile auf den Worten „werfen die Menschen“ im Tongeschlecht Dur harmonisiert, - allerdings nicht in der Fortsetzung der Tonalität G-Dur, sondern, um das Ungeheuerliche der mit diesen Worten eingeleiteten lyrischen Aussage hervorzuheben, in As-Dur. Die melodische Linie beschreibt hier eine dreimalige Tonrepetition, die mit einem verminderten Terzsprung zu einem „B“ in mittlerer Lage in einen Sekundfall mit Dehnung übergeht. Auch die nach einer neuerlichen Achtelpause einsetzende vierte Melodiezeile setzt mit einer solchen deklamatorischen Tonrepetition ein, nun aber auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene, und ihr folgt auch in gleicher Weise ein Terzsprung mit anschließendem Sekundfall nach, nun in G-Dur-Harmonisierung.

    Die Aufeinanderfolge dieser vier Melodiezeilen ereignet sich auf einer ansteigenden tonalen Ebene, einhergehend mit einer harmonischen Rückung von A-Dur über b-Moll, G-Dur, As-Dur und noch einmal G-Dur, was eine weitere Steigerung der durch die Zeilen-Untergliederung ohnehin schon bewirkten musikalischen Expressivität mit sich bringt. Diese wiederum ist auf die Melodik auf den Worten „ihr unerträgliches Leben“ ausgerichtet, um gleichsam in ihr aufzugipfeln und diesen die ihnen angemessene Akzentuierung zuteilwerden zu lassen. Das geschieht in Gestalt eines neuerlichen – und letzten – Rückgriffs auf die melodische Schubert-„Winterreise“-Figur.

    Auch hier setzt Eisler wieder ein seiner wesenhaft rhetorisch-deklamatorischen Liedsprache entsprechendes melodisches Mittel ein: Er hebt das Possessivpronomen „ihr“ hervor, indem er eine volle Viertelnote darauflegt und die nachfolgende, auf einem hohen gedehnten „F“ ansetzende melodische Fallbewegung in einem Dreihalbetakt statt des bislang vorherrschenden Viervierteltakts verlaufen lässt, was im Vortrag eine rhythmische Pause mit sich bringt. Und wieder weist diese melodische Schubert-Figur eine neue, aber erneut durch verminderte Fallschritte verfremdete Gestalt auf. Sie erstreckt sich von einem hohen „F“ bis zu einem „C“ in tiefer Lage, also über das große Intervall einer Undezime, verläuft zweimal triolisch und weist in ihrer As-Dur-Harmonisierung keinerlei chromatische Eintrübung auf.

    Umso erschreckender wirkt das, was sich danach ereignet. Das Wort „fort“, das an sich ja doch syntaktisch unmittelbar an die beiden vorangehenden Worte gebunden ist, so dass man eigentlich eine Fortführung des melodischen Falls um eine weitere Sekunde erwarten sollte, erklingt auf einem lang gedehnten hohen „Es“, und das fortissimo und mit einem extrem dissonanten, aus den Tönen „F-H-Es-Ges“ gebildeten und ebenfalls fortissimo ausgeführten vierstimmigen Akkord im Diskant begleitet. Im Bass erklingt eine Dreierfolge von abgrundtiefen E-Oktaven.

    Das ist ein regelrechter Schrei, in dem die Liedmusik endet, und es folgt ihm nur noch ein dumpfes klangliches Grummeln in Gestalt eines Pochens von drei Tonrepetitionen im vierfachen Piano und eines Falls von drei dissonanten Akkorden in die Tiefe des Basses nach.
    Der Griff zur Melodik eines Schubert-Lieds zum Zweck ihrer Konfrontation mit der fürchterlichen, von der Gefahr des Selbstmords bedrohten existenziellen Situation des Menschen zu Eislers Lebzeiten erfährt hier hochexpressiven, geradezu erschütternden liedkompositorischen Ausdruck.

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