Dr. Pingel´s Lese´buch

  • Das alte Sentenzen-Thema habe ich aufgegeben (siehe dort). Das neue Thema eröffnet mit zwei rasanten falschen Apostrophen, damit jeder weiß, was ihn hier erwartet, nämlich alles!

    Nein, das nicht. Es handelt sich um eine lange existierende literarische Gattung, nämlich das "Florilegium" (auch Anthologie oder Blütenlese). worin ein Sammler alles sammelt, was ihm an Texten gefällt oder was unter einem bestimmtem Thema versammelt wird, wobei natürlich die langweiligen Sachen auch immer bestens vertreten sind. Ein gutes Beispiel gibt es von Franz Hohler, eine Sammlung von literarischen Kurzgeschichten, die auf eine Seite passen. Beispiel: "Wettrennen, Pferde und Schildkröten. Wer siegte? Bei den Pferden siegte Nr. 3, bei den Schildkröten Nummer 7!"

    Sentenzen gibt es natürlich nach wie vor, aber in dieser Umgebung verlieren sie ihren Schrecken. Englische Texte müssen in diesem Kontext unübersetzt bleiben, sonst verlieren sie ihren Reiz.

    In den Florilegien gibt es oft eine Systematik, hier nicht. Dazu dienen sie, dem Publikum eine größere Literaturkenntnis vorzutäuschen. Hier auch.

    In der Musik gibt es das auch in Form einer Sammlung verschiedener musikalischer Werke.

    Manches wird nicht vollständig zitiert, etwa bei Gedichten, in denen dann die besonderen Stellen ausgewählt werden.

    Genug der Vorrede, lasst uns endlich Texte sehen.

    " ... wie weit soll unsere Trauer gehen? Wie weit darf sie es ohne uns zu entwurzeln...(Doe tote Stadt, Schluss)

  • Mai 2022 (Fontane)


    Ich lese gerade die dritte Tour der Fontane-Romane, die im Gegensatz zu anderen literarischen Produkten ihren Reiz nicht eingebüßt haben.

    #Der Cognac, des Tees besserer Teil (Stechlin)

    #Verbebeln (sich der damaligen verfemten Sozialdemokratie von Bebel nähern) (Stechlin)

    #Was kann kein Mensch erzählen? Dass er gestorben ist (Vor dem Sturm)

    # Der Kult vor dem Goldenen Kalbe beständig wächst; lauter Jobber und die vornehme Welt obenan. Und dabei so heuchlerisch. Sie sagen "Christus" und meinen Kattun (Stechlin)

    #In den kleinen Städten gibt es immer hübsche Frauen, die die Hand im Muff haben, und wenn es sehr kalt ist, auch die Hand von ihrem Partner dazu. - Aber wo sind denn die richtigen Männer, die dazugehören? - Die sind in einem anderen Schlitten (Mathilde Möhring)

    #Ich wollte es vor den Frauen nicht ausspinnen. Sie dürfen nicht zu viel davon hören; gleich schwillt ihnen der Kamm. Denn alle wollen herrschen, und es freut sie, dass sie so viel Macht über uns haben. Darin sind sie sich alle gleich und in einer ewigen stillen Verschwörung gegen uns (Vor dem Sturm)

    #Die Musiker sind die boshaftesten Menschen. Meist denkt man, die Prediger und die Schauspieler seien die schlimmsten. Aber weit gefehlt. Die Musiker sind ihnen über. Und ganz besonders die, die die sogenannte heilige Musik machen (Stechlin)

    #Mama grüßt und küßt ihren Liebling, ich aber lege dir den Wunsch ans Herz, vergiß in der Fülle des Glücks, das dir zuteil wurde, nicht ganz deine, wie du weißt, auf ein bloßes Pflichtteil des Glücks gesetzte Victoire (Schach von Wuthenow)

    #Wie sich das alles erklärt, fragst Du und setztest hinzu: Du stündest vor einem Rätsel, das sich dir nicht lösen wolle. Meine liebe Lisette, wie lösen sich die Rätsel? Nie (Schach von Wuthenow)

    " ... wie weit soll unsere Trauer gehen? Wie weit darf sie es ohne uns zu entwurzeln...(Doe tote Stadt, Schluss)

  • 18. Mai 2022 (August von Platen, 1796-1835)


    Tristan

    (nur die erste Strophe)

    Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,

    Ist dem Tode schon anheimgegeben,

    Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,

    Und doch wird er vor dem Tode beben,

    Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!


    Wer wüßte je das Leben recht zu fassen (Sonett)

    Wer wüßte je das Leben recht zu fassen,

    Wer hat die Hälfte nicht davon verloren

    Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,

    In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?


    Ja der sogar, der ruhig und gelassen,

    Mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren,

    Frühzeitig einen Lebensgang erkoren,

    Muß vor des Lebens Widerspruch erblassen.


    Denn jeder hofft doch, daß das Glück ihm lache,

    Allein das Glück, wenn´s wirklich kommt, ertragen,

    Ist keines Menschen, wäre Gottes Sache.


    Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen:

    Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,

    Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.


    Es liegt an eines Menschen Schmerz


    Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,

    Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts,

    Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt,

    So gäb´s Beklagenswerteres auf diesem weiten Runde nichts.

    Einförmig stellt Natur sich her, doch tausendförmig ist ihr Tod,

    Es fragt die Welt nach meinem Ziel, nach deiner letzten Stunde nichts.

    Und wer sich willig nicht ergibt dem ehrnen Lose, das ihm dräut,

    Der zürnt ins Grab sich rettungslos und fühlt in dessen Schlunde nichts.

    Dies wissen alle, doch vergißt es gerne jeder jeden Tag.

    So komme denn, in diesem Sinn, hinfort aus meinem Munde nichts!

    Vergeßt, daß euch die Welt betrügt, und daß ihr Wunsch nur Wünsche zeugt.

    Laßt eurer Liebe nichts entgehn, entschlüpfen eurer Kunde nichts!

    Es hoffe jeder, daß die Zeit ihm gebe, was sie keinem gab,

    Denn jeder sucht ein All zu sein und jeder ist im Grunde nichts.

    " ... wie weit soll unsere Trauer gehen? Wie weit darf sie es ohne uns zu entwurzeln...(Doe tote Stadt, Schluss)