Alexander Zemlinsky. Liedkomposition im Spannungsfeld von Tradition und Avantgarde

  • „Altdeutsches Minnelied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein nur kurzes, gerade Mal eineinhalb Takte einnehmendes Vorspiel geht der darin auftaktig einsetzenden melodischen Linie voraus. Es hat ganz offensichtlich keinerlei interpretatorische Einführungsfunktion sondern soll nur das klangliche Bett für die nachfolgende Melodik bereiten. In meinem Notentext für hohe Stimme ist als Grundtonart Es-Dur vorgegeben, die melodische Linie setzt in der DG-Aufnahme allerdings in - vermutlich der originalen - Des-Dur-Harmonisierung ein.

    Das tut sie zunächst forte und in einem deklamatorischen Gestus, den die Vortragsanweisung treffend mit den Worten charakterisiert: „Frisch, doch mässig im Zeitmass“. Ein Viervierteltakt liegt zugrunde, der wird aber nachfolgend von einem Zweivierteltakt abgelöst, und auch dynamisch bleibt es nicht durchgehend beim Forte, es wird zu einer Zurücknahme, kommen, die bis zum dreifachen Piano reicht, wobei der Forte-Ton sich am Ende aber als der dominierende erweisen wird.
    Aber immerhin: Schon darin zeigt sich eine hochgradige Binnendifferenzierung der Liedmusik, die über die einfache Volksliedfaktur hinausgreift.

    Und das gilt auch für die innere Anlage der Strophe in Gestalt von Melodiezeilen. Diese stützen sich nicht, wie das im Volkslied zumeist der Fall ist, in ihrer Aufeinanderfolge auf den einzelnen Vers. Die Strophe weist vielmehr eine Binnengliederung auf, die ganz offensichtlich nicht Niederschlag einer einfachen musikalischen Wiedergabe des lyrischen Textes ist, vielmehr aus einer interpretatorischen Aussage-Absicht desselben hervorgeht. Die ersten beiden Melodiezeilen umfassen, mittels einer fermatierten Viertelpause voneinander abgehoben, jeweils die ersten beiden Verse der Strophe. Dann aber greift die Melodik jeden Vers in Gestalt einer in ihrer Struktur eigenen Zeile auf, um schließlich beim letzten Vers zu einer Wiederholung in Gestalt zweier nicht nur in der Dynamik, sondern auch in der melodischen Struktur stark voneinander abweichenden Zeilen überzugehen.

    Schon aus diesen allgemein-strukturellen Gegebenheiten ergibt sich eine erste Antwort auf die vorangehend aufgeworfenen Fragen:
    Die Liedmusik erschöpft sich nicht im Geist des volksliedhaften Strophenlied-Konzepts, auch wenn sie durchaus stark davon geprägt ist. Das zeigt besonders die Anlage der beiden die Strophe gleichsam einleitenden Melodiezeilen. Dieser liegt nämlich das typische Muster der Periodizität zugrunde. Die Melodik des dritten Verses weist eine starke strukturelle Ähnlichkeit mit der auf dem ersten Vers auf, die des vierten Verses weicht aber von der des zweiten ab, um eine liedmusikalische Kadenz herbeizuführen.

    Überdies weist die melodische Linie bei diesen Eingangszeilen eine stark ausgeprägte Anmutung von Volksliedhaftigkeit auf. Nach dem auftaktigen Quartsprung beschreibt sie bei den Worten „Leucht' heller als die Sonne“ in einen starken Fall über eine ganze Oktave, geht dann aber, das Bild von der Sonne reflektierend, in einen Terzsprung über, wobei, um diesem Gewicht zu verleihen, das Metrum von vier zu zwei Vierteln wechselt. Ganz dem Wiederholungsgestus des Volksliedkonzepts entsprechend, setzt auch die melodische Linie auf den Worten „Ihr beiden Äugelein“, den des zweiten Verses also, mit dem gleichen auftaktigen Quartsprung wie beim ersten ein, geht dann aber, versehen mit der Anweisung „breit“, nicht in einen Fall, vielmehr, dem schönen Bild von den „beiden Äugelein“ entsprechend, zu einem Verharren in Gestalt von Tonrepetitionen und kleinen Sekundsprüngen auf hoher tonaler Ebene über, wobei die Harmonik eine Rückung von der Dominante zur Tonika Des-Dur vollzieht.

  • „Altdeutsches Minnelied“ (II)

    Die Abweichung, die sich in der Melodik auf den Worten des dritten Verses von der des ersten ereignet, ist durch das Wort „Wonne“ bedingt. Hat das Wort „Sonne“ im ersten Fall einen Anstieg bewirkt, so bringt dieses nun eine Fortsetzung der Fallbewegung hervor, die sie in Gestalt eines leicht gedehnten Sekundschritts in tiefe Lage führt, dies aber erneut auf der Grundlage eines Übergangs zu einem Zweivierteltakt. Bei den Worten „Du zartes Jungfräulein“ verharrt die melodische Linie nun aber nicht wie auf jenen des zweiten Verses in hoher Lage, vielmehr senkt sie sich, auch weil nun in b-Moll harmonisiert, mit der Anmutung von Lieblichkeit von der hohen Ebene, auf die sie mit dem neuerlichen Quartsprung angestiegen ist, in ruhigen, weil im Wert von Vierteln erfolgenden Sekundschritten in mittlere Lage ab, geht bei der Silbe „-fräu-“ in einen kurzen Achtelsekundfall über, um sich danach dann über einen Sekundsprung auf der Endsilbe des Wortes „Jungfräulein“ einer langen Dehnung zu überlassen, die in As-Dur-Harmonik gebettet ist.

    Diese beiden Melodiezeilen muten von ihrer periodischen Anlage und ihrer harmonischen Einmündung in die Dominante her wie eine Eröffnung der Liedmusik an, auf dass sie zu ihrer zentralen „Wär ich bei dir allein“- Aussage kommen kann. Und das geschieht nun in Gestalt von Melodiezeilen, die jeweils einen Vers umfassen und in der Struktur ihrer Melodik, deren Harmonisierung und dem zugehörigen Klaviersatz einen ganz eigenen Charakter aufweisen. Das auf Periodizität und Wiederholung melodischer Figuren basierende Strophenliedkonzept ist damit verlassen. Auf den Worten „Du bist mein Augenschein“ beschreibt die melodische Linie, piano und mit der Anweisung „innig und langsamer versehen, einen mit einem Sekundsprung eingeleiteten Fall in ruhigen Viertelschritten über eine Sekunde und eine Quinte in tiefe Lage, um von dort bei Augenschein“ in eine bogenförmige Anstiegsbewegung überzugehen, die, weil in sie ein Achtel-Sekundschritt eingelagert ist, eine leicht melismatische Anmutung aufweist. Das Klavier begleitet hier jeden deklamatorischen Schritt mit Akkorden, das aber im Pianissimo, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von Des-Dur zur Dominante As-Dur.

    Nach einer Pause im Wert von zwei Vierteln erklingt die melodische Linie auf den Worten des nächsten Verses. Er ist konjunktivisch angelegt, drückt in den Worten „Wär ich bei dir allein“ einen Wunsch aus, der sich syntaktisch in den Worten des siebten Verses „Kein Leid sollt mich anfechten“ fortsetzt. Zemlinsky legt aber auf beide eine je eigene Melodiezeile mit einer Viertelpause dazwischen. Er will, und das ist nun gar nicht mehr volksliedkompositorisch, die hinter diesem lyrisch-sprachlichen Konjunktiv stehende Haltung des lyrischen Ichs liedmusikalisch erfassen, und deshalb lässt er die melodische Linie auf den Worten „Wär ich bei dir allein“ in silbengetreuen Tonrepetitionen auf mittlerer tonaler Ebene verharren, und das mit einer kleinen Dehnung auf dem Wort „ich“.
    Das Klavier begleitet diese, die Eindringlichkeit des Wunsches zum Ausdruck bringende, Tonrepetition nun nicht mehr mit Akkordfolgen, sondern mit einer die innere seelische Bewegtheit des Ichs reflektierenden Folge von steigenden und wieder fallenden, aus einem Akkord hervorgehenden Achteln, und die Harmonik ist ins Tongeschlecht Moll (des-Moll) umgeschlagen.

    Nach der erwähnten Viertelpause erklingt bei den Worten „Kein Leid sollt mich anfechten“ eine Liedmusik, die auf geradezu kontrastive Weise einen Ausbruch in Expressivität mit sich bringt. Gerade noch verblieb die melodische Linie mit ihren Repetitionen im Piano, so setzt sie nun forte, aber mit der Anweisung „mit innigem Ausdruck“ versehen, zu einem mit einem Quartsprung eingeleiteten Fall aus hoher Lage ein, der sich nach anfänglichen Sekundschritten gegen Ende mittels eines Achtel-Terzschritts beschleunigt und am Ende in Gestalt eines gedehnten Sekundanstiegs auf dem Wortteil „-fechten“ zur Ruhe findet.
    Hier ist das Klavier wieder zur Begleitung mit syllabisch synchronen Akkorden übergegangen. Aber nicht ganz bis zum Ende. Dort, bei dem Wort „anfechten“, will wieder die seelische Innenwelt des lyrischen Ichs Ausdruck finden, und deshalb kehrt das Klavier hier zu seinen akkordisch eingekleideten Achtel-Bewegungen zurück.

  • „Im Lenz“, op.2, H.2, Nr.4

    Im Lenz, im Lenz,
    Wenn Veilchen blühn zu Hauf,
    Gib Acht, gib Acht,
    Da wachen die Tränen auf.

    Im Herbst, im Herbst
    Fiel alles Laub vom Baum.
    Ach, Lieb' und Glück
    Vergangen wie im (H.: ein) Traum!

    Gib Acht, gib Acht,
    So ist der Dinge Lauf:
    Blumen und Wunden
    Brechen im Frühling auf.

    (Paul Heyse)

    Paul Heyse gehört zu den Lyrikern, zu deren Gedichten Zemlinsky mehrmals gegriffen hat. Wenn ich recht sehe, so liegen vier Lieder auf Texte von ihm vor. Eines davon („Der Himmel hat keine Sterne“) wurde ja bereits vorgestellt und besprochen, und auf die dritte und die vierte Heyse-Vertonung soll auch eingegangen werden.
    Wie es bei Heyse die Regel ist, entfaltet sich die lyrische Sprache in ausgeprägter Eleganz und wird in ihren Ausdrucksmitteln mit großer Könnerschaft eingesetzt. Hier zeigt sich das im Einsatz des Mittels der Wiederholung und in der Nutzung des Reims. Nur der jeweils zweite und der vierte Vers der Strophen weisen eine Reimbindung auf, wobei der Silbe „-auf“ eine besondere Funktion zugewiesen ist. Sie prägt die erste und die dritte Strophe in ihren Reimen, und in ihr endet auch der Vers, in dem sich die lyrische Aussage des Gedichts verdichtet und - wie bei Heyse leider allzu oft - in banaler Weise zugleich auch erschöpft: „So ist der Dinge Lauf“.

    Aber Zemlinsky hat sich ganz offensichtlich von der untergründigen Ambiguität der Metaphorik angesprochen gefühlt: Den Tränen, die beim Blühen der Veilchen aufwachen, und dem von Heyse am Ende als Parallele eingesetzten Bild von den „Wunden“, die zusammen mit den Blumen im Frühling ebenfalls „aufbrechen“, wobei ihn der etwas konstruiert anmutend sprachliche Umschlag von „aufwachen“ zu „aufbrechen“ in keiner Weise gestört zu haben scheint.
    Denn er legt gerade darauf den Schwerpunkt seiner Liedmusik in Gestalt von Wiederholungen des lyrischen Textes, bei der ersten Strophe den letzten Vers betreffend, bei der dritten sogar die beiden letzten Verse. Vielsagend ist, dass in beiden Fällen die Melodik in ihrer Anlage und ihrer Harmonisierung ganz auf diese Wiederholungen am Schluss der ersten und der dritten Strophen ausgerichtet ist, Zemlinsky aber bei der zweiten lyrischen Strophe das kompositorische Mittel der Wiederholung nicht einsetzt und der Melodik eine deutlich andere Gestalt verleiht.


  • „Im Lenz“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Mässig bewegt mit gr. Empfindung“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Ein Dreiachteltakt liegt ihr zugrunde, der aber in der zweiten Strophe zweimal taktweise in einen von vier Achteln übergeht. In meiner Ausgabe für hohe Stimme ist h-Moll als Grundtonart vorgegeben, in der DG-Aufnahme ist es aber ein gis-Moll, und daran werde ich mich in der nachfolgenden Besprechung wie üblich orientieren, also transponieren. Der Melodik, in der die melodische Linie auf den Worten „Im Lenz, im Lenz, / Wenn Veilchen blühn zu Hauf“ einsetzt, kommt eine den Charakter der Liedmusik prägende Funktion zu. Sie kehrt mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz auf dem ersten Verspaar der dritten Strophe in identischer Weise wieder, und überdies mutet die Art und Weise, wie die Melodik der zweiten Strophe einsetzt, so an, als wäre ihr die Kraft zum Quartsprung, der sich auftaktig bei „im Lenz“ und „gib Acht“ ereignet, abhandengekommen.

    Der Sprung, mit dem die melodische Linie, wieder auftaktig, in der zweiten Strophe bei den Worten „im Herbst“ einsetzt, erfolgt nun nur noch über eine Sekunde, und danach setzt sie ihre Bewegung nicht, wie in der ersten und der dritten Strophe, mit einem Terzsprung weiter nach oben hin fort, um bei der Wiederholung der Eingangsworte einen verminderten Quartfall zu beschreiben, der mit einer Rückung von gis-Moll nach Dis-Dur einhergeht, vielmehr fällt sie auf die tonale Ebene zurück, um anschließend beim zweiten „im Herbst“ den Sekundschritt noch einmal zu tätigen. Und die Harmonik vollzieht in der zweiten Strophe auch nicht die Rückung von gis-Moll nach Dis-Dur, sondern verharrt in dem dis-Moll, in das die melodische Linie bei der zweiten Strophe von Anfang an gebettet ist.

    Hier, in der Art und Weise, wie Zemlinsky Heyses poetisches Instrument der Wiederholung für seine Zwecke nutzt, zeigt sich, wie kompositorisch reflektiert er mit dem lyrischen Text umgeht. Das ist bemerkenswert, weil die Liedmusik, die daraus hervorgeht, sich in ihrer Melodik ja in dieser frühen Phase seiner Liedkomposition allemal in deklamatorisch gebundener Klangschönheit präsentieren soll. Wenn es um den Lenz geht, die Veilchen blühen oder um ein „Gib acht“ auf „der Dinge Lauf“, dann muss die melodische Linie in der Wiederholung der Worte eine bogenartige, aus dem Sprung in einen Fall übergehende Bewegung beschreiben. Im Fall eines Herbstes, in dem „alles Laub vom Baum“ fällt, macht er mit seinen liedmusikalischen Mitteln mehr aus dem lyrischen Bild, als Heyse das mit seinen poetisch-sprachlichen vermag. Er lässt die melodische Linie in repetitivem Gestus, in dem sie in der ersten Strophe einsetzt und zu dem sie sich in der dritten wieder aufschwingt, am Beginn der zweiten auf eindrückliche Weise eben diese Aufschwung-Kraft verlieren. Damit nimmt er die poetische Aussage Heyses ins Innere seiner Liedmusik herein, in der kompositorischen Vertiefung der lyrischen Aussage der Strophen-Anfänge in ihrem sprachlichen Wiederholungsgestus.

    Diese kompositorische Intention der Auslotung des lyrischen Textes in seinen semantischen Tiefendimensionen prägt die Melodik durchgehend, dies aber, und das gehört bei Zemlinsky ebenfalls zu dieser Intention, unter Wahrung ihrer Entfaltung in gebundenen, auf Eingängigkeit ausgerichteten melodisch-deklamatorischen Schritten. Bei den Worten „Gib Acht, gib Acht“ beschreibt die melodische Linie einen Anstieg, wobei auf dem ersten „Acht“ ein in H-Dur harmonisierter Legato-Sekundschritt liegt, auf dem zweiten „Acht“ dann aber eine in gis-Moll gebettete Dehnung in hoher Lage. Von dort aus geht sie bei den Worten „da wachen die“ „poco accel.“ in eine Abwärtsbewegung in triolischen Sekundschritten über, die in Dis-Dur harmonisiert sind und vom Klavier mit zwei Akkorden im Diskant begleitet werden. Das Wort „Tränen“ bewirkt einen lang gedehnten, den ganzen Takt einnehmenden, in hoher Lage ansetzenden und forte ausgeführten Sekundfall, den das Klavier erst nach einer Achtelpause mit einer sich im Intervall weitenden Doppel-Achtelfigur begleitet.

    Dem syntaktisch an sich nachgeordneten Wort „auf“ wird mittels einer Dehnung ein starker Akzent verliehen, und bei der Wiederholung dieses Verses setzt die melodische Linie in dem Sekundanstieg, den sie nun beschreibt, auf eben dieser tonalen Ebene an, um anschließend nun bei „Tränen“ einen nach einem Quartfall in mittlere Lage erfolgenden verminderten Sekundfall in mittlerer Lage zu vollziehen, der allerdings bei „auf“ nun in einen Sekundanstieg übergeht, bei dem die Harmonik eine Rückung von Dis-Dur nach gis-Moll beschreibt.

    Das ist eine in ihrer auf dem Wiederholungsprinzip basierenden Struktur und ihrer Harmonisierung komplexe Melodik, die die lyrische Aussage in den affektiven Elementen ihrer Semantik voll erfasst, gleichwohl aber klanglich schön anmutet. Und so begegnet sie einem auch in der zweiten Strophe. Deren lyrische Aussage ist nun eine ganz und gar triste, weil die Erfahrung von Vergänglichkeit mit entsprechend stark evokativen lyrischen Bildern einfangende. Und so muss sich denn die melodische Linie erst einmal ganz und gar auf tiefer tonaler Ebene entfalten und darf sich erst am Ende, bei den Worten „vergangen wie im Traum“ daraus zur Mitte hin erheben, aber nur, um alsbald in Sekundfall-Schritten eine Rückkehr zu vollziehen. Ohnehin dominiert der deklamatorische Fall-Gestus hier.

    Dass er bei der Wiederholung der Worte „im Herbst“ die melodische Linie nötigt, zwei Mal den gleichen in dis-Moll gebetteten Sekundfall zu beschreiben, wurde ja schon dargestellt, aber bei den Worten „Fiel alles Laub vom Baum“ dominiert er erneut, indem die melodische Linie nach einem auftaktigen verminderten Terzschritt in einen sie in tiefe Lage führenden Fall in partiell repetitiven Sekundschritten übergeht, der, um ihm die gebotene Expressivität zu verleihen, auf der Grundlage eines punktuellen Viervierteltakts erfolgt. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung von „Cis“- nach Fis-Dur. Und in dieser Harmonisierung erfolgt auch das Auf und Ab in - im zweiten Fall aber verminderten - Sekundschritten auf mittlerer Lage auf den Worten „ach, Lieb und Glück“, das dem schon beschriebenen Fall der melodischen Linie am Ende der Strophe vorausgeht.

  • „Im Lenz“ (II)

    Der Klaviersatz besteht in der zweiten Strophe, deren melodische Aussage reflektierend und sie darin akzentuierend, durchgängig aus fallend angelegten dreistimmigen Achtelfiguren im Diskant über Achtel-Oktavsprüngen im Bass. Damit füllt das Klavier auch die lange Pause im Wert von fast vier Takten aus, bevor die melodische Linie „sehr ruhig“ auf den Worten der dritten lyrischen Strophe einsetzt. Und das tut sie, wie schon gesagt, bei deren ersten beiden Versen genau in der Weise wie auf jenen der ersten Strophe.

    Zemlinsky hat hier auf das Strophenlied-Konzept zurückgegriffen, weil er, völlig zu Recht, die Worte „so ist der Dinge Lauf“ als lyrisch-sprachliche Bilanz der poetischen Aussage von Heyses Gedicht aufgefasst hat. Die beiden Schlussverse „Blumen und Wunden / Brechen im Frühling auf“ verlangen aber eine eigene Melodik. Das lyrische Bild knüpft an das der ersten Strophe an, weist aber ein höheres evokatives Potential auf und stellt in seiner ins Allgemeine gewendeten Sprachlichkeit gleichsam die Bilanz der poetischen Aussage dar. Und die Vortragsanweisung „steigernd“, die dann bei der Wiederholung zu „mit großem Ausdruck“ wird, macht deutlich, dass die Liedmusik hier gleichsam zu ihrem Höhepunkt und zu ihrem Aussage-Zentrum kommen will.

    Bei „Blumen und Wunden“ beschreibt die melodische Linie einen ähnlichen, in gis-Moll harmonisierten Sekundanstieg wie bei „gib Acht, gib Acht“ in der ersten Strophe, ihm fehlt aber nun der auftaktige Einstieg, so dass er eine direkter anmutende melodische Aussage aufweist. Auch der nachfolgende triolische Sechzehntel-Sekundfall auf „da brechen im“ stellt eine Wiederkehr der melodischen Figur auf den Worten „da wachen die“ in der ersten Strophe dar, und dies einschließlich des Klaviersatzes. Dann aber, bei den Worten „ im Frühling auf“ vollzieht die melodische Linie nicht wie bei „Tränen“ dort einen in einen gedehnten Sekundfall übergehenden Sprung über eine Terz, nun ist es einer über das Intervall einer Sexte, und ihm folgt kein Fall, sondern eine forte vorgetragene silbengetreu-dreifache deklamatorische Tonrepetition in hoher Lage, die auf der Silbe „Früh-“ und dem Wort „auf“ eine Dehnung aufweist. Die Harmonik hat hier eine ausdrucksstarke Rückung vom vorangehenden gis-Moll nach dem weitab liegenden hell anmutenden E-Dur vollzogen.

    Bei der Wiederholung dieser lyrischen Schlussworte verfährt Zemlinsky, um deren semantischen Gehalt musikalisch zu erschießen, kompositorisch höchst artifiziell. Nun liegt auf den Worten „Blumen und“ kein melodischer Sekundanstieg, sondern ein in hoher Lage ansetzender und in gis-Moll gebetteter Fall, der sich bei den nachfolgenden Worten „Wunden brechen im“ auf identische Weise wiederholt und anschließend bis in mittlere Lage fortsetzt. Und auf den Worten „im Frühling auf“ liegt nicht, wie beim ersten Mal, eine mit einem Riesensprung einsetzende deklamatorische Forte-Tonrepetition in hoher Lage, sondern ein geradezu müde anmutender, weil pianissimo vorgetragener, und wieder, wie schon zweimal vorangehend in Sekundschritten erfolgender, also ganz im Gestus der Wiederholung verbleibender Fall hin zur Terz über dem Grundton. Denn die Harmonik hat hier, nachdem sie das Wort „Frühling“ kurz in ein Dis-Dur gebettet hat, eine Rückkehr zu ihrem gis-Moll vollzogen.

    Zemlinsky nutzt also das kompositorische Prinzip der Wiederholung, um die Ambiguität es lyrischen Bildes „Blumen und Wunden“ in seinem evokativen Potential zu erfassen. Und dass er so verfährt, unter Wahrung des Prinzips melodischer Eingängigkeit also, und dieses nicht, wie das Schönberg möglicherweise getan hätte, mit einer einzigen Melodiezeile von schroffer harmonischer Dissonanz aufgriff, das scheint mir höchst bezeichnend für seine Grundhaltung als Liedkomponist zu sein.

  • „Das verlassene Mädchen“, op.2, H.2, Nr.5

    Ich sitze manchen langen Tag
    Mit meinem Kind am grünen Hag,
    Wo ich an seinem Herzen lag,
    Am Herzen lag.

    Da nahm er mich in seinen Arm
    Und küßte mich so warm, so warm -
    Davon mir wurde bittrer Harm,
    Ja bittrer Harm.

    Sie stießen aus dem Elternhaus
    In Nacht und Nebel mich hinaus,
    Da ging mir wohl das Lachen aus,
    Das Lachen aus.

    Ich wäre tot schon sicherlich,
    Mein armes Kind, du dauerst mich,
    Möcht' fluchen dir und küsse dich,
    Und küsse dich.

    (Otto von Leixner, 1847-1907)

    Es ist - aus meiner Sicht - nicht weiter der Rede wert, dieses im Volksliedton abgefasste Gedicht des österreichischen Schriftstellers, Journalisten und Historikers, der 1847 in Mähren als Otto Leixner geboren und dann später zu einem Otto Leixner von Grünberg wurde. Die Frage, warum Zemlinsky zu einem solchen lyrischen Machwerk griff, das nicht nur zu dem Thema „verlassenes Mädchen“, anders als etwa ein Eduard Mörike, poetisch wenig zu sagen hat, findet ihre Antwort in der Liedmusik, die er daraus gemacht hat. Er wollte sich, wie das in diesem Opus 2 ja schon einmal geschehen ist, im bereits hier vorgestellten „Altdeutschen Minnelied“ nämlich, liedkompositorisch im Volkliedton ausdrücken.

    Die vorangestellte Vortragsanweisung „Im Volkston. (mässig)“ bekundet das ausdrücklich. Und das ist ihm ja auch zweifelsfrei gut gelungen, denn es ist ein in der Variation der melodischen Grundfigur den Geist des Volksliedes aus der Perspektive der Moderne beschwörendes und damit vergegenwärtigendes Lied daraus hervorgegangen. Aber es erschöpft sich auch darin. Und in dieser Feststellung, die natürlich eine subjektive und als solche zu bewerten ist, ist auch ein Grundproblem des Liedkomponisten Zemlinsky angesprochen: Sein offensichtliches Desinteresse am Aspekt der lyrisch-literarischen Qualität, ja seine Gleichgültigkeit diesem gegenüber.

    Ein Hugo Wolf, der (neben Schumann und einigen weiteren) das themengleiche Mörike-Gedicht vertonte, hätte solche Lyrik noch nicht einmal mit spitzen Fingern angefasst, geschweige denn zur Komposition in Erwägung gezogen. Ich denke schon, dass es so etwas gibt wie die Korrespondenz zwischen literarischer und liedmusikalischer Qualität, - es sei denn, da ist ein ganz großer Komponist am Werk, der auch schwache Lyrik in ihrer Aussage gleichsam musikalisch zu potenzieren vermag, wie etwa ein Franz Schubert. Ein solcher war Zemlinsky wohl nicht, aber diesem Aspekt wird, entsprechend der diesem Thread zugrundeliegenden Fragestellung, bei der weiteren Vorstellung und Betrachtung seiner Liedkompositionen nachzugehen sein.

    Sechs Kreuze weist mein Notentext als harmonische Grundton-Vorgabe auf, aber in der DG-Aufnahme vernehme ich ein des-Moll. Es erklingt, mit Zwischenrückung nach As-Dur, im zweitaktigen Vorspiel aus einer fallend angelegten dreistimmigen Akkordfolge im Diskant, und dieses endet dort in einem vierstimmigen und mit einer Fermate versehenen Akkord, bevor die melodische Linie der Singstimme, ebenfalls in des-Moll-Harmonisierung einsetzen kann. Das ist in seiner Auftakt- und Einleitungsmanier typischer Volkslied-Gestus. Und in diesem entfaltet sich auch die nachfolgende Liedmusik, dies allerdings nur in ihrer sich am Modell des Strophenliedes orientierenden Anlage und im Einsatz der Melodik. Auf den beiden ersten Strophen liegt eine identische Liedmusik, die beiden nachfolgenden Strophen sind zwar im Notentext als musikalisch eigenständige ausgewiesen, das aber nur infolge des Klaviersatzes, denn die Melodik kehrt auch dort nahezu unverändert wieder. Neben zwei Dehnungen auf den Worten „mich“ und „dich“ in der vierten Strophe weist sie nur eine einzige, aber nur die tonale Ebene betreffende Variation auf: Bei den Worten „das Lachen aus“ am Ende der dritten Strophe.


  • „Das verlassene Mädchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der spezifische Reiz dieses Liedes liegt in der Art und Weise, wie ein Komponist der Moderne sich unter Einsatz seiner spezifischen liedsprachlichen Mittel mit dem Geist des Volksliedes auseinandersetzt. Andere kompositorische Zeitgenossen Zemlinskys taten das ja auch, es lag im Zeitgeist der Moderne, aber bei Ihnen, insbesondere im Fall Gustav Mahlers, führte es zu anderen, oft bedeutsameren liedkompositorischen Resultaten, was natürlich mit dem zugrundeliegenden Motiv und der kompositorischen Intention zusammenhängt. Bei Zemlinsky führte es zu melodisch und harmonisch überaus schöner und klanglich eingängiger Liedmusik. Und das zu zeigen ist der Grund, weshalb auf dieses Lied hier eingegangen werden soll.

    Die Melodik kann zwar in ihrer in ihrer Struktur, weil sie sich ja im Volkslied-Geist in Strophenlied-Wiederholungsmanier präsentieren will, nicht die Aussage des lyrischen Textes in Gestalt der einzelnen Strophen reflektieren, wohl aber, und darin ist eben doch ein liedkompositorisches Kunst-Produkt, die Grundhaltung des lyrischen Ichs. Das ist eine von tiefer, durch den Verstoß aus dem Elternhaus verursachter seelischer Erschütterung und Verzweiflung, die, wie es der lyrische Text indirekt zum Ausdruck bringt, nur durch die Liebe zum eigenen Kind nicht in den Tod durch Suizid mündete. Die Melodik ist deshalb auf starke Expressivität ausgerichtet, und die dafür eingesetzten kompositorischen Mittel sind eine ausgeprägte Binnendifferenzierung in ihrer deklamatorischen Grundstruktur, eine Entfaltung in einem relativ großen Ambitus und eine komplexe Harmonisierung, die bei einer Dominanz des Tongeschlechts Moll gleichwohl permanente Rückungen nach Dur und zu den Dominanten der Grundtonart vollzieht.

    Und es ereignet sich sogar, und das macht die eigentliche Kunstfertigkeit der Liedkomposition aus, trotz der - gewollten - Unfähigkeit der Melodik dazu, ein musikalisches Aufgreifen der Aussage des lyrischen Textes in den einzelnen Strophen. Dafür setzt Zemlinsky den Klaviersatz ein. Dieser ist nur bei den beiden ersten Strophen identisch. Bei der dritten und der vierten Strophe weicht er auf markante Weise davon ab, und obgleich er bei dem Ausbruch der melodischen Linie auf den Worten „Da ging mir wohl das Lachen aus“ aus Gründen der Akzentuierung zur akkordischen Gestalt der ersten Strophe zurückkehren musste, nimmt das Klavier vor dem Einsatz der melodischen Linie auf den Worten der vierten Strophe ein dreitaktiges Zwischenspiel in Anspruch, um von dem akkordischen Gestus der Begleitung mittels Bass und Diskant übergreifender Achtel-Sprungfiguren zu jener Begleitung überzuleiten, die schon die dritte Strophe klanglich prägte: Es ist ein Auf und Ab von Sprungfiguren, nur dass es dort solche in Gestalt von Achteln im Diskant und Sechzehnteln im Bass sind, in der letzten Strophe aber nur eine Sprungfigur aus bitonalem und Einzelachtel im Diskant, während nun im Bass Achtel-Oktaven eine Fallbewegung beschreiben.

    Diese komplexe, strukturell differenzierte Begleitung lässt, in Einheit mit der entsprechend differenzierten Harmonik erkennen, wie liedkompositorisch kunstvoll Zemlinsky mit diesen Versen des Otto von Leixner umgeht. Der will als Dichter thematisch und lyrisch-sprachlich Volkslied-Geist beschwören, und Zemlinsky folgt ihm darin im Einsatz des liedkompositorischen Strophenlied-Konzepts und einer sich in Wiederholung ergehenden, in ihrer deklamatorischen Gebundenheit eben diesen Volkslied-Geist atmenden Melodik. Aber er sieht sich als dem Geist der Moderne zugehöriger Rezipient dieser Verse gleichsam in der Pflicht, diesen Volkslied-Geist zugleich zu durchbrechen, indem er eine liedkompositorische Interpretation aus der Perspektive der subjektiven Rezeption dieser Lyrik vornimmt. Die Melodik bietet ihm infolge ihrer Fesselung im Volkslied-Modus außer ihrer einmaligen Strukturierung nur wenig weitere Möglichkeiten dazu. Also greift er zum Klaviersatz. Und das ist nun gar nicht volksliedhaft.

    Bei den Worten „Ich sitze manchen langen Tag“ vollzieht die melodische Linie in des-Moll-Harmonisierung einen auftaktig in tiefer Lage ansetzenden Anstieg in ruhigen Sekundschritten, der bei „manchen“ in einen Terzfall übergeht, um dann über einen Quartsprung auf dem Wort „langen“ einen Fall in vier Achtelschritten zu beschreiben, dem zu dem Wort „Tag“ hin Terzschritt nachfolgt. Auch weil die Harmonik hier eine Rückung nach ges-Moll vollzieht und das Klavier mit Achteln im Diskant dieser Bewegung folgt, wird diesem Wort auf diese Weise eine deutliche Akzentuierung verleiht. Die Achtel im Klaviersatz verbinden in diesem Fall ausnahmsweise die Viertel- und Achtelakkorde, mit denen das Klavier die melodische Linie in den ersten beiden Strophen begleitet.

    Die Bewegung, die die melodische Linie auf den Worten des zweiten Verses („Mit meinem Kind am grünen Hag“) beschreibt, ist in ihrer Struktur identisch. Die Variation besteht darin, dass sie sich nun auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ereignet und in Dur-Harmonik gebettet ist, einer Rückung von E- nach A-Dur nämlich. Die Wiederholung der anfänglich in Moll gebetteten melodischen Figur auf höherer tonaler Ebene und nun in Dur-Harmonisierung verleiht, so mutet das an, dem lyrischen Text eine Steigerung in der Bedeutsamkeit seiner Aussage.

  • „Das verlassene Mädchen“ (II)

    Die Tendenz der Steigerung melodischer Expressivität setzt sich beim dritten Vers fort. Die lyrische Aussage bedingt das infolge ihres hohen affektiven Gehalts. Und das gilt – wunderlicher Weise - für den dritten und den zugehörigen vierten Vers aller vier Strophen. Otto von Leixner verfolgte wohl das immer gleiche Muster bei der poetischen Gestaltung der situativen Befindlichkeit des lyrischen Ichs. Zemlinsky greift das auf, indem er die melodische Linie bei den Worten „wo ich an seinem“ eine mit einem Quartsprung einsetzende und in hohe Lage ausgreifende melodische Bewegung in ruhigen deklamatorischen Schritten im Wert von Vierteln beschreiben lässt, die bei „seinem“ in einen Achtel-Terzfall mündet, wobei sich eine harmonische Rückung von des-Moll nach E-Dur ereignet. Diese Bewegung erfährt durch ihr folgende vierstimmige Akkorde im Diskant eine Akzentuierung, und die ihr ohnehin schon innewohnende Expressivität wird noch weiter gesteigert Steigerung durch das, was sich liedmusikalisch nachfolgend ereignet.

    Bei den Worten „Herzen lag“ - und das gilt ja auch für „bittrer Harm“, „Lachen aus“ und „küsse dich“ - setzt die melodische Linie zu einer Wiederholung der vierschrittigen Fallbewegung über Sekundintervalle an, wie sie sie zuvor schon zwei Mal beschrieben hat, nur dass sie nun ihn sehr hoher Lage ansetzt und danach kein Wiederanstieg folgt, sondern eine Fortsetzung des Falls über einen regelrechten Absturz über das Intervall einer Quarte, um im Falle der ersten Strophe bei dem Wort „lag“ zur Ruhe in Gestalt einer Fermate-Dehnung in mittlerer Lage zu kommen.

    Aber Zemlinsky will es damit nicht gut sein lassen, so vielsagend sind ihm diese Worte hinsichtlich der seelischen Befindlichkeit des „verlassenen Mädchens“. Also lässt er die Worte des vierten Verses noch einmal deklamieren. Nun aber im Gestus eines endgültigen Zur-Ruhe-Kommens in Gestalt einer liedmusikalischen Kadenz, die im Fall der Strophen zwei und drei infolge des affektiven Potentials der jeweils zugrundeliegenden lyrischen Aussage eine dem Ruhe-Gestus geradezu widerstrebende Ambivalenz aufweist. Auf diesen Sachverhalt vermag Zemlinsky infolge der Bindung an das volksliedhafte Wiederholungsprinzip, die er sich selbst auferlegt hat, aber nur beschränkt, im Grunde auf eigentlich unzulängliche Weise kompositorisch zu reagieren.

    Die melodische Figur, die er auf die Wiederholung der Worte des letzten Verses legt, der mit einem auftaktigen melodischen Fall eingeleitete und in einer Dehnung endende Abwärtsbewegung der melodischen Linie in Gestalt ruhiger deklamatorischer Schritte in tiefer Lage, weist zwar Variationen auf, diese ändern aber, weil sie sich nur in einem Fall auf den Auftakt und die Sekundfallbewegung beschränken, nichts an der Grundstruktur und damit auch nichts Wesentliches an der musikalischen Aussage. Bei den Worten „am Herzen lag“ , „ja bittrer Harm“ und „und küsse dich“ besteht der Auftakt aus einem Terzfall in mittlerer Lage, und der nachfolgende zweischrittige Terzfall ist in einer Rückung von As-Dur nach des-Moll harmonisiert. Diese Harmonisierung ist in allen Fällen die gleiche, und immerhin bringt die Liedmusik dadurch, dass die Schlussdehnung bei allen Strophen in Moll-Harmonik gebettet ist, das Lebensgefühl dieses lyrischen Ichs in angemessener Weise zum Ausdruck.

    Nur bei der dritten Strophe sah sich Zemlinsky infolge des dort angesprochenen, das lyrische Ich „in Nacht und Nebel“ hinaus getriebenen Verstoßes aus dem Elternhaus zu stärkerem Ausbruch aus dem Wiederholungsgestus genötigt. Das betrifft auch den Klaviersatz. Hier - wie auch partiell in der letzten Strophe - lässt das Klavier durchgehend von der akkordischen Begleitung der Singstimme ab und geht im Diskant zu aus einem Sechzehntel und einem bitonalen Achtel gebildeten Sprungfiguren über, die, auch weil sie durch Sechzehntel-Pausen voneinander abgesetzt sind, die Anmutung eines drängenden Vorwärtsstürmens verleihen.

    Und auch der Schlussfall der Melodik in der Wiederholung der Worte „das Lachen aus“ erfährt nun eine Variation. Sie ist aber, wie gesagt, nicht wirklich tiefgreifend und - wie ich finde - in ihrer Aussage hinreichend. Nun ereignet sich der auftaktige Fall, dieses Mal in hoher Lage ansetzend, über eine Quarte, und auf der zweiten Silbe von „Lachen“ macht die melodische Linie aus dem einfachen, in Gestalt eines deklamatorischen Viertels erfolgenden Sekundfall, der sich ansonsten hier ereignet, einen zweischrittigen Legato-Achtel-Sekundfall. Aber weil dieser in des-Moll gebettet ist, sich die Dynamik aus dem Fortissimo des ersten melodischen Achtel-Sekundfalls auf Lachen in hoher Lage ins Piano zurücknimmt
    und das Klavier hier wieder jeden deklamatorischen Schritt mit fünfstimmigen Viertel-Akkorden begleitet, erfährt die lyrische Aussage doch die für sie im Rahmen des zugrundeliegenden „Im Volkston“-Konzepts höchstmögliche Akzentuierung.

  • Gesänge op. 5

    Wie die Lieder op.2 besteht dieses Opus auch aus zwei Heften zu je vier Liedern, die in den Jahren 1896/97 entstanden. Es wurde 1898 publiziert.

    „Schlaf nur ein“, op.5. H.1, Nr.1

    Ach, was bin ich aufgewacht?
    Ob am Haus die Liebste klopft?
    Leise tönt es durch die Nacht --
    „Schlaf' nur ein,
    Schlaf' nur ein!
    Regen an die Scheiben klopft ( H.: tropft).”

    Warum klingt mir doch das Ohr?
    Spricht von mir das falsche Kind,
    Das mich aus dem Sinn verlor? --
    „Schlaf' nur ein,
    Schlaf' nur ein!
    Herdenglocken rührt der Wind.”

    Und sie sah im Traum mich an,
    Und sie sprach: Du glaubst es kaum,
    Was ich leide, süßer Mann! --
    „Schlaf' nur ein,
    Schlaf' nur ein!
    Schlaf' ihn aus, den falschen Traum!”

    (Paul Heyse)

    Sowohl in ihrer Prosodie, als auch in der schrittweisen Genese der poetischen Aussage aus der poetischen Gestaltung einer Situation ist das hochgradig artifizielle Lyrik, ein typisches Heyse-Produkt eben. Monologisch-reflexiv angelegte Verse werden mit einem sprachlich suggestiven und darin variierten Refrain kombiniert und über ein kunstvolles Reimschema miteinander zu einer Einheit gebracht. Der dritte Vers reimt sich mit dem ersten, der zweite mit dem letzten, und dazwischen allemal das sich wiederholende, vom lyrischen Ich an sich selbst gerichtete „schlaf nur ein“. Die zugrundeliegende Situation ist ein Aufwachen des lyrischen Ichs aus dem Schlaf, und diese wird nun lyrisch ausgestaltet durch die Gedanken und Emotionen, die sich bei ihm anlässlich des nächtlichen Traumes einstellen, der diesem Aufwachen vorausging.

    Der spezifische Reiz besteht dabei darin, dass Fragen aufeinander folgen, die einen realweltlichen und einen seelisch-innweltlichen Bezug aufweisen, dann den Inhalt des Traumes umkreisen und schließlich in die geradezu nüchtern appellativen Worte münden „Schlaf' ihn aus, den falschen Traum!”, die darin auf reizvolle Art mit dem vorangehenden Schlussvers des Refrains „Herdenglocken rührt der Wind“ kontrastieren. Heyse liebt solche lyrischen Effekte.

    In dieser dichterisch raffinierten situationsgebundenen Kombination von lyrisch reflexiver und emotional suggestiver Sprachlichkeit weisen die drei Strophen in ihrem thematischen Bezug zu dem klassischen Thema „Liebe“ ein hohes evokatives Potential auf. Und das dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb Zemlinsky in liedkompositorischer Absicht zu ihnen gegriffen hat. Er musste sich dabei allerdings vor die Herausforderung gestellt sehen, diese lyrisch-sprachliche Ambiguität, wie sie ihm in der Aufeinanderfolge von drei Eingangsversen und einem dreiversigen Refrain gegenübertrat, in adäquate Liedmusik umzusetzen und dabei auch die subtilen Variationen zu berücksichtigen, die Heyse in beide Bereiche eingebracht hat. Wie er diese Herausforderung kompositorisch bewältigt hat, dieser Frage wird in der nachfolgenden Betrachtung der Liedmusik - neben den jenen grundsätzlichen, die wie hier üblich um die spezifische Eigenart seiner Liedmusik kreisen – im Folgenden nachzugehen sein.


  • „Schlaf nur ein“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Leidenschaftlich bewegt“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde, und als Grundtonart ist in meinem Notentext fis-Moll vorgegeben, das Original steht aber, wenn man der DG-Aufnahme folgt, in a-Moll.
    Die Komposition ist als Strophenlied angelegt: Auf den ersten beiden Strophen liegt unverändert die gleiche Liedmusik, die dritte Strophe weist in ihren drei ersten Versen eine eigene auf, aber selbst hier hält sich Zemlinsky anfänglich an das für das Strophenlied-Konzept konstitutive Element der Wiederholung. Melodik, Harmonik und Klaviersatz auf den Worten des ersten und der ersten Hälfte des zweiten Verses sind identisch mit jenen auf den ersten beiden Strophen, erst wenn die Traum-Geliebte zu sprechen anfängt, muss er einen neuen melodischen Ton anschlagen. Das Klavier setzt gleichwohl seine Begleitung mit den durchgängig beibehaltenen Figuren fort, und selbstverständlich erklingt der Refrain in exakt der gleichen Weise wie in den vorangehenden zwei Strophen. Die einzige Abweichung besteht in der Vortragsanweisung für die melodische Linie. Nun lautet sie nicht „ p, viel ruhiger“ wie zuvor, sondern „Langsam, pp schmerzvoll“.

    Wäre hier, so frage ich mich, nicht die Anwendung des Prinzips der Variation angebracht gewesen, - angesichts der Tatsache, dass das lyrische Ich im dritten Refrain zu der - im Grunde ja doch schmerzlich-bitteren - Erkenntnis gelangt ist, dass es sich bei diesem Auftritt der Geliebten um einen „falschen Traum“ gehandelt hat?
    Aber vielleicht übersehe ich dabei die Gründe, die Zemlinsky bewogen haben dürften, bei diesem Heyse-Gedicht kompositorisch zum Strophenlied-Modell zu greifen und dieses, bis auf die Abweichung davon in der wörtlichen Rede, konsequent umzusetzen. Sie könnten darin gelegen haben, dass er damit die innere Geschlossenheit der dem lyrischen Text zugrundeliegenden Situation herzustellen und zu wahren vermochte: Das Erwachen des lyrischen Ichs aus einem Traum und die immer gleiche Reaktion darauf in Gestalt eines suggestiven Appells zum Wieder-Einschlafen.

    Ganz ohne Zweifel fängt die Liedmusik, wie ich finde, die kognitive und die emotionale Befindlichkeit des lyrischen Ichs in dieser von Heyse so poetisch kunstvoll eingefangenen und mit den Worten „Ach, was bin ich aufgewacht“ gleichsam eröffneten Situation auf eindrückliche Weise voll und ganz ein.
    Die Worte „ach, was…“ mit denen Heyse statt einem einfachen „nun bin ich“ den ersten Vers einsetzen lässt, evozieren ja die die situativ-emotionale Betroffenheit, die nachfolgend lyrisch-sprachlich entfaltet und mit dem Refrain gleichsam aufgefangen wird. Und Zemlinskys Liedmusik reflektiert all das. Schon mit dem zweitaktigen Vorspiel fängt das an. Eine triolische Achtelfigur erklingt im Diskant, der, weil sie die melodische Linie auf den Worten der drei Eingangsverse in variierter Gestalt im Diskant oder im Bass begleitet, eine wichtige, weil die musikalische Aussage maßgeblich mitprägende Funktion zukommt. Aufschießende, danach in einen Fall übergehende und in einen Sprung über eine Quinte mündende Achtel sind das, im Bass begleitet von aus einer Dehnung in tiefe Lage absinkende Achtel-Fallfiguren.

    Dieser Klaviersatz bringt in seiner inneren Bewegtheit und seiner Moll-Klanglichkeit tiefe innere Erregung zum Ausdruck, und auch wenn diese aufschießende Achtel-Sprungfigur im dritten Vers in den Bass absinkt und dort bei den Worten der Traum-Geliebten in gleichsam verkümmerter, weil abgeflachter Gestalt erklingt, so behält sie doch ihre die Liedmusik maßgeblich prägende und damit ihre Aussage zu einem wesentlichen Teil konstituierende Funktion bei. Neben der Achtel-Sprungfigur erklingt in der Begleitung der melodischen Linie auf den Worten des dritten Verses die zweite Klaviersatzfigur, und dies im Diskant, also im Zusammenspiel mit jener nun im Bass. Sie besteht aus einem lang gehaltenen arpeggierten Akkord, der legato in einen Achtel-Oktavsekundfall am Ende des Taktes übergeht. Er fängt den affektiven Gehalt der Worte „Leise tönt es durch die Nacht“ ein, und weil das bei den Worten „Was ich leide, süßer Mann“ im dritten Vers der dritten Strophe ein anderer ist, lässt Zemlinsky diese Figur, die er natürlich wegen seines Strophenliedkonzepts beibehalten muss, den arpeggierten Akkord in einen normalen fünfstimmigen übergehen.
    Wieder einmal ein Merkmal dafür, wie bis ins Detail reflektiert seine Liedkomposition angelegt ist.

    Auch die Melodik reflektiert den semantischen Gehalt der lyrischen Aussage, - im Rahmen der Möglichkeiten freilich, die ihr im Rahmen des Wiederholungskonzepts bleiben. Sie ist, der volksliedhaft-kompositorischen Grundkonzeption entsprechend, periodisch angelegt. Beim zweiten Vers wiederholt die melodische Linie ihre aus tiefer Lage sprunghaft aufsteigenden und am Ende in einen Fall übergehenden Bewegungen auf den Worten des ersten Verses in ähnlicher Gestalt noch einmal, und die nach einer ganztaktigen Pause danach erklingende Melodik des dritten Verses mutet dann in ihrer ruhigen, partiell repetitiven Entfaltung auf mittlerer tonaler Ebene wie ein im Geist der Kadenz erfolgendes Zur-Ruhe-Kommen an. Allerdings ist es eines, das in seiner dominantischen, Offenheit beinhaltenden E-Dur-Harmonisierung kein wirkliches, endgültiges sein kann.

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  • „Schlaf nur ein“ (II)

    In der Tat: Dieses lyrische Ich muss ja noch, um aus seiner nächtlichen Aufwach-Situation herauszufinden, zur Auto-Suggestion übergehen. Und das ereignet sich beim Zemlinsky in der Liedmusik nach einer dreitaktigen Pause für die Melodik, in der im Klaviersatz bitonale Akkorde im Diskant und Achtel und Viertel im Bass in die Tiefe absinken, als wollten sie den klanglichen Raum dafür bereiten. Aber das nachfolgende und sich wiederholende „Schlaf´ nur ein“ ist nicht, wie man nach dem Ausklingen der Melodik in Gestalt einer in einem dominantisch auftretenden E-Dur harmonisierten langen Dehnung am Ende des dritten Verses erwarten würde, in A-Dur-Harmonik gebettet, sondern in die Moll-Variante der Tonart E-Dur mit nachfolgender Rückung nach F-Dur. Das ist wieder höchst subtile Liedkomposition. Denn auch diese Weise kann dieser suggestive Appell des lyrischen Ich in sich selbst die Eindringlichkeit entfalten, die sie in der Bewältigung der existenziellen Situation aufweist, der lyrische Text aber nicht zum Ausdruck zu bringen vermag.

    Nicht nur der Klaviersatz bringt mit seiner Achtel-Sprungfigur die innere Erregtheit des lyrischen Ichs in der nächtlichen Situation des Aufgewacht-Seins aus einem Traum zum Ausdruck, auch die Melodik vermag das, - und auf durchaus eindrückliche Weise. Das soll anhand der Worte der ersten Strophe aufgezeigt werden, die, wie das ja bei Strophenlied-Kompositionen üblich ist, das lyrische Material für die Gestaltung der Melodik bildet. Auf dem anfänglichen Ausruf „Ach“ liegt eine forte vorzutragende und in a-Moll harmonisierte Dehnung in tiefer Lage, und danach geht die melodische Linie mit einer Tonrepetition auf der gleichen tonalen Ebene in einen starken, weil in Terzschritten und partiell legato erfolgenden Anstieg über, um schließlich bei dem Wort „aufgewacht“ einen gedehnten Quintfall mit nachfolgender aus einem Sekundanstieg hervorgehender langer Dehnung auf der Silbe „-wacht“ zu beschreiben. Dieses für die lyrische Aussage so bedeutsame Wort erfährt auf diese Weise eine gewichtige musikalische Hervorhebung.

    Und in ähnlicher Weise geschieht das auch in der nun piano vorzutragenden und strukturell ähnlichen angelegten Melodik auf den Worten des zweiten Verses. Wieder diese mit einer Dehnung einsetzende Tonrepetition am Anfang, nun allerdings auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene und nicht mehr in a-Moll, sondern in Fis-Dur harmonisiert, geht es doch nun mit den Worten „Ob am Haus die Liebste klopft?“ um eine gleichsam sachbezogene Frage. Aber die - erhoffte - Vermutung, dass es sich da um die verloren gegangene Geliebte handeln könnte, erfährt wieder eine starke melodische Akzentuierung in Gestalt eines mit einem Quartsprung einsetzenden und nun in Cis-Dur harmonisierten Legato-Falls über die Intervalle einer Quarte und einer Terz, dem wie bei der ersten Zeile wieder eine in eine lange Dehnung mündende Anstiegsbewegung auf dem Wort „klopft“ nachfolgt, die nun aber über das Intervall einer Terz erfolgt. Und das Klavier akzentuiert diese ausdrucksstarke, im Ambitus sich über eine Sexte erstreckende melodische Bewegung mit einem gegenläufigen, sich über zwei Oktaven erstreckenden Aufstieg von Achteln im Diskant, der während der melodischen Dehnung auf „klopft“ einen ausdrucksstarken Fall und Wiederanstieg beschreibt.

    „Etwas ruhiger“ und nun „pianissimo“ soll die Melodik auf den Worten „Leise tönt es durch die Nacht“ vorgetragen werden. Die lyrische Aussage erfordert das ja, und es schlägt sich auch in der melodischen Linie nieder. Bemerkenswert ist, dass sie - der Strophenlied-Geist will es so - zwar die strukturell gleiche Anlage aufweist, aus der Variation derselben aber ihre den lyrischen Text reflektierende spezifische Aussage entfaltet. Wieder die gedehnte Tonrepetition am Anfang auf dem Wort „leise“. Aber jetzt ist sie in E-Dur harmonisiert und wird vom Klavier mit einem lang gehaltenen arpeggierten Akkord im Diskant begleitet. Nun aber erfolgt, wie vorangehend, keine Anstiegsbewegung, sondern die melodische Linie wiederholt auf den Worten „tönt es“ diese gedehnte Tonrepetition auf der gleichen tonalen Ebene in mittlerer Lage noch einmal, bevor sie dann bei den Worten „durch die“ den üblichen Anstieg beschreibt.

    Der allerdings geschieht nun in behutsamen Legato-Sekundschritten, und es folgt ihm ein einfacher Terzfall nach, der bei dem Wort „Nacht“ in eine nun sehr lange, nämlich über zwei Takte sich erstreckende Dehnung auf genau der tonalen Eben mündet, auf der die melodische Linie bei dem Anfangswort „leise“ einsetzte. Das heißt: Sie hat diese tonale Ebene in dieser dritten Zeile nicht wirklich verlassen und wurde dabei immerzu mit arpeggierten Akkorden begleitet, - die allerdings am Ende in einen Legato-Sekundfall von Oktaven übergehen und permanent von den nun in den Bass abgestiegenen Achtel-Sprungfiguren begleitet werden.

  • „Schlaf nur ein“ (III)

    Bei der geträumten Ansprache der Geliebten an das lyrische Ich muss Zemlinsky vom Prinzip der Wiederholung melodischer Figuren ablassen. Nun beschreibt die melodische Linie neue Bewegungen, und diese sind, weil die den Worten innewohnende suggestive Eindringlichkeit zum Ausdruck gebracht werden soll, stark von eingelagerten Pausen und Dehnungen geprägt. Die Vortragsanweisung lautet hier „sehr innig.“ Nach den Worten „und sie sprach“, auf denen eine gedehnte Tonrepetition mit nachfolgendem Terzsprung mit in a-Moll gebetteter Dehnung liegt, tritt erst einmal eine lange, nämlich fast drei Takte einnehmende Pause in die Melodik, in der das Klavier eine wellenartige, in der tonalen Ebene ansteigende Achtelfolge erklingen lässt, die am Ende in einen arpeggierten Akkord mündet.

    Dann setzt die melodische Linie auf den Worten „Du glaubst es kaum“ ein, dies in Gestalt eines in h-Moll harmonisierten Legato-Sekundanstiegs auf „glaubst“ und eines Terzfalls mit nachfolgender Dehnung auf „es kaum“. Und erst nach einer Viertelpause setzt die melodische Linie ihre Bewegung fort, indem sie nun bei den Worten „was ich leide“ einen wortgetreuen Terzanstieg vollzieht, der auf „leide“ einen extrem langen, sich über drei Takte erstreckenden Quartfall beschreibt, bei dem die Dynamik sich ins Forte steigert und die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung vom a-Moll nach F-Dur vollzieht.

    Das Klavier begleitet diese Bewegungen der melodischen Linie zunächst mit seiner Figur aus am Ende in einen Achtel-Oktavfall übergehenden arpeggierten Akkorden im Diskant und einer im Ambitus gleichsam reduzierten Version der Achtel-Sprungfigur im Bass. Bei dem so stark gedehnten, fast drei Takte einnehmenden melodischen Quartfall auf dem Wort „leide“ werden aber aus den arpeggierten Akkorden mit einem Mal normale viertstimmige.
    Wieder einmal ein Beispiel für die Subtilität von Zemlinskys Liedkomposition. Der affektive Gehalt dieses Wortes ließ ihm ganz offensichtlich Arpeggien unangebracht erscheinen.

    Nach einer neuerlichen Viertelpause erklingen dann die Worte „du süßer Mann“ in Gestalt eines in h-Moll gebetteten, das Wort „süßer“ mit einem starken Akzent versehenden dreischrittigen Legato-Sekundanstiegs, dem zu „Mann“ hin ein Terzfall mit langer Dehnung nachfolgt. In der anschließenden Pause, die drei Takte in Anspruch nimmt, von denen der letzte sogar mit Fermaten versehen ist, erklingt dann noch einmal der Refrain in der immer gleichen, Autosuggestion verkörpernden liedmusikalischen Gestalt. Gedehnte Tonrepetition mit anschließender Dehnung über einen Sekundschritt, das gleiche noch einmal mit einer Dehnung über einen Sekundfall, ein langes, drei Takte einnehmende Sich-Absenken der melodischen Linie in Sekundschritten in untere tonale Lage, und dies unter permanenter Beibehaltung des deklamatorischen Gestus der gedehnten Tonrepetition.

    Am Ende dann ein in eine lange Dehnung mit Fermate übergehender Sekundfall auf dem Wort „Traum“, bei dem die Harmonik, die zuvor bei dem zweimaligen „schlaf nur ein“ eine Rückung von e-Moll nach F-Dur und dann nach B-Dur vollzog und bei „schlaf“ gar eine nach A-Dur, nun endlich zur Ruhe in ihrer Tonika a-Moll zu finden vermag.
    Ein Nachspiel ist unangebracht. In zwei Takten nur dürfen im Bass Achtel in große Tiefe absinken, auf dass dann der achtstimmig-fermatierte Schlussakkord erklingen kann.

  • „Hütet euch!“, op.5, H.1, Nr.2

    Ein Stündlein sind sie beisammen gewest,
    Ein Stündlein läuft so geschwind,
    Und saßen sich Herz an Herzen fest.
    Denn die Liebe, die kommt wie der Wind.

    Du junger Gesell, nun hüte dich fein,
    Nun hüte dich, schönes Kind,
    Und verriegele gut deines Herzens Schrein,
    Denn die Liebe, die geht wie der Wind!

    (Paul Heyse)

    Eine Mahnung und Warnung vor der Vergänglichkeit von Liebe, in Verse von vier- und dreifüßigen Jamben mit Kreuzreim gefasst, - zu diesem Gedicht Heyses gibt es interpretatorisch weiter nichts zu sagen. Und Überlegungen zu den Gründen anzustellen, weshalb Zemlinsky es zur Vertonung herangezogen hat, erübrigen sich für mich infolgedessen auch.

    Der große Zemlinsky-Kenner Antony Beaumont, von dem 2005 die maßgebliche, nämlich über 700 Seiten umfassende Biographie über diesen erschien und der sich als - verdienstvoller - Herausgeber seiner Kompositionen betätigt hat, meint, dass die „in op.2 „dargestellten Erfahrungen“ wahrscheinlich „ein persönliches Trauma reflektieren“, und auch beim Opus 5 geht er, was die Wahl der zugrundeliegenden lyrischen Texte und damit den thematischen Gehalt der Lieder anbelangt, von einer persönlichen Motivation aus, sieht gar eine sie verbindende Grund-Thematik, wie sich aus seiner Feststellung ergibt:
    „Heft I spricht von Illusionen und falschen Träumen, von der Flüchtigkeit der Liebe, doch Heft II folgt der aufsteigenden Linie neuer Leidenschaft, die in einer Szene turbulenter, sommerlicher Liebesvereinigung gipfelt.“ (S.171)

    Mag ja sein. Aber ein solches, im Grunde sich ja doch in der Verkündung von Allerweltsweisheiten erschöpfendes Gedicht, vermag, weil es keinerlei lyrisch-evokatives Potential aufweist, nicht zu großer zu Liedmusik inspirieren, allenfalls zu gefällig schöner. Und genau das hat sich hier auch ereignet. Wie bei der vorangehenden Heyse-Vertonung ist auch in diesem Fall wieder eine Liedmusik entstanden, die sich in der periodisch angelegten, in der Wiederholung von Figuren sich entfaltenden und in einfacher, in schlichten Rückungen rund um die Grundtonart Des-Dur harmonisierten Melodik an das mit dem Volkslied liebäugelnde Strophenlied-Modell anlehnt.

    Bezeichnend dafür ist, dass das Lied ohne Vorspiel einsetzt, kein wirkliches Nachspiel aufweist und alle Melodiezeilen mit einer mehrfachen deklamatorischen Tonrepetition anfänglich auf der tonalen Ebene eines „F“ in tiefer Lage und danach nur noch auf der eines „As“ in mittlerer einsetzen.
    Der Klaviersatz allerdings ist hingegen komplex und vielgestaltig, und er weist dieses Lied als das Werk eines der Moderne angehörigen und sich deren geheime Leidenschaft für das Volkslied hingebenden Komponisten aus.


  • „Hütet euch!“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „In mässigem Zeitmass“ soll die Liedmusik vorgetragen werden, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und als Grundtonart ist wie gesagt Des-Dur vorgegeben. Die beiden Strophen setzen sich aus zwei, die Worte von jeweils zwei Versen beinhaltenden Melodiezeilen zusammen, die in einer Dehnung enden und durch eine Viertelpause voneinander abgehoben sind. Da die zweite Zeile in ähnlichen deklamatorischen Schritten wie die erste einsetzt, mutet sie wie eine Fortsetzung der Melodik der ersten in der Absicht an, diese in ihren deklamatorischen Schritten einem Ende im Sinne einer Kadenz zuzuführen.

    Die Liedmusik ist also, auch weil melodische Figuren wiederkehren, stark vom Geist der Periodik geprägt. Ganz diesem entsprechend liegt auf „wie der Wind“, den Schlussworten beider Strophen also, die strukturell gleiche melodische Figur: Ein dreischrittiger, am Ende in eine Dehnung in hoher Lage erfolgender Anstieg der melodischen Linie, wobei sich dieser allerdings im zweiten Fall in der Größe der Intervalle, in der Harmonisierung und damit auch in der tonalen Ebene der Schlussdehnung unterscheidet. In diesen Faktoren, der Modifikation der melodischen Figuren, der Modulation der Harmonik und der Variation des Klaviersatzes auf der Grundlage einer sich vordergründig in Einfachheit und Schlichtheit präsentierenden Liedmusik, liegt die Stärke dieser Komposition.

    Auf den Worten „Ein Stündlein sind sie beisammen gewest“ fängt die melodische Linie den konstatierenden, die situativen Gegebenheiten einleitend benennenden Gestus der lyrischen Sprache ein, indem sie in ihrer Entfaltung in einem Auf und Ab auf unterer tonaler Ebene im Ambitus einer Quarte verbleibt. Auf einem „F“ in unterer Mittellage setzt sie mit einer deklamatorischen Tonrepetition ein, steigt zwar nach einem zweimaligen Sekundfall mit einem Terzschritt bei den Worten „sie beisammen“ bis zu einem „As“ in mittlerer Lage auf, das aber nur, um gleich darauf in denselben Schritten wieder auf die Ausgangsebene zurückzukehren, davor eine Sekunde darunter sogar noch einmal eine Repetition zu vollziehen.
    All das vollzieht das Klavier in Gestalt von in den Intervallen sich weitenden und wieder verengenden bitonalen Achtel-Akkorden im Diskant mit, und die Harmonik beschreibt bei dem melodischen Sekundanstieg auf dem von Heyse altertümelnd - und auf poetisch fragwürdige Weise -eingesetzte Wort „gewest“ eine Rückung von der Dominante As- zur Tonika Des-Dur. Das ist kompositorisch gekonnt gemachte Einleitungs- und Auftaktmelodik.

    Bei den Worten des zweiten Verses „Ein Stündlein läuft so geschwind“ setzt sie sich in diesem Geist fort, reflektiert dabei aber auch die lyrische Aussage. Heyse kommt darin ja schon zu seinem zentralen Thema „Vergänglichkeit“, und so behält die melodische Linie zwar ihren deklamatorischen Grund-Gestus bei, geht aber nun bei dem diesbezüglich hoch relevanten Wort „Stündlein“ zu einem Quartsprung in hohe Lage über, um sich danach einem markanteren, weil über Terzen in tiefe Lage erstreckenden Fall zu überlassen, der am Ende, verbunden mit einer harmonischen Rückung von der Tonika zur Dominante, in einen Wiederanstieg wieder über Terzen mit nachfolgender Dehnung mündet. Auch hier folgt das Klavier all diesen melodischen Bewegungen und akzentuiert den Fall in Terzen auf den Worten „Stündlein läuft so“ sogar mit einem Sekundfall von Achtel-Terzen im Bass.

    Die zweite, die Verse drei und vier der ersten Strophe beinhaltende Melodiezeile setzt wieder, wie die erste, jetzt aber auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene, mit einer deklamatorischen Tonrepetition ein, nun sogar einer fünfschrittigen auf den Worten „Und saßen sich Herz“, bevor die melodische Linie bei den nachfolgenden Worten „ an Herzen fest“ in ähnlicher Weise wieder über einen Terzfall in eine Anstiegsbewegung übergeht. Am Ende aber verharrt sie, und das ist nun neu, in einer neuerlichen, durch anfängliche Dehnung rhythmisierten Tonrepetition auf der tonalen Ausgangsebene und verleiht dem Wort „Herzen“ eine leichte Akzentuierung. Leicht und mit einem Anflug von Lieblichkeit mutet die melodische Linie hier an, weil sie anders als in der ersten Zeile nun piano vorgetragen ist und in Moll-Harmonik (des-Moll) gebettet.

    Der sie begleitende Klaviersatz ist nun filigraner angelegt, besteht aus jeden deklamatorischen Schritt begleitenden Achteln im Diskant, die von einem durchgehaltenen „C“ getragen werden. Am Ende aber, bei jener rhythmisierten Repetition auf „Herzen fest“, ereignet sich unter jenem durchgehaltenen „C“ eine melismatische Achtel-Fallbewegung, die danach in einen Anstieg übergeht, wobei sich die Achtel zu bitonalen Akkorden erweitern und damit den Ausbruch in die Expressivität einleiten, der sich auf den Worten des letzten Verses ereignet.

  • „Hütet euch!“ (II)

    Bei den die lyrische Aussage gleichsam auf den Punkt bringenden Worten „Denn die Liebe, die kommt wie der Wind“ ereignet sich eine melodische Bewegung, die wie eine Potenzierung jener anmutet, die auf dem vom Reimschema her parallelen zweiten Vers „Ein Stündlein läuft so geschwind“ liegt. Die Intervalle, die die melodische Linie nun in ihren Sprüngen in Anspruch nimmt, und damit also auch der Ambitus, in dem sie sich entfaltet, sind deutlich größer, und auch die Dynamik, in der sich das ereignet, ist eine größere. Nun ist es ein Forte, in dem sich nach einer neuerlichen Tonrepetition der Quartsprung zu einem hohen „Fes“ bei „die Liebe“ ereignet, der danach sofort wieder in einen Rückfall in Gestalt der sich wiederholenden Tonrepetition übergeht, auf dass anschließend, nach einem zweimaligen Terzfall, die melodische Linie nach einem ebenfalls zweischrittigen, aber verminderten Terzanstieg auf den Worten „wie der Wind“ in Gestalt einer Dehnung am Ende zu einem Ruhepunkt in ihrer Entfaltung kommt.

    Das aber ist ein harmonisch offener, denn das Fes-Dur, in das die melodische Linie bislang gebettet war, geht nun in ein dominantisch auftretendes Ces-Dur über, und das Klavier, das deren Bewegungen im Diskant mit bitonalen Achtelfiguren mitvollzog und darin mit gegenläufigen Oktaven im Bass begleitet wurde - wieder ein Beispiel für die Komplexität des Klaviersatzes - , geht nun während der melodischen Schlussdehnung auf einem hohen „Ces“ seinerseits in den Gestus des Verharrens über, in Gestalt eines Auf und Abs in Terzschritten auf unterer tonaler Ebene. Auch das ist Ausdruck von Offenheit und Erwartung.

    Und was da erwartet wird, ist das, was die Liedmusik der zweiten Strophe zu sagen hat. Zemlinsky hat also beide Strophen melodisch und harmonisch miteinander verkoppelt, und das auf strukturelle, kompositorisch artifizielle Art und Weise. Die Melodik auf den Worten „Du junger Gesell, nun hüte dich fein“ stellt in ihren deklamatorischen Schritten eine nur leicht variierte, durch die sprachliche Struktur bedingte Wiederkehr derjenigen dar, die auf dem ersten Vers der ersten Strophe liegt. Die soll „durchaus fein“ und pianissimo vorgetragen werden.

    Die liedmusikalische Variation ereignet sich in der Harmonik und im Klaviersatz. Dieser besteht nun im Unterschied zur ersten Strophe aus lebhafter wirkenden quartolischen Figuren aus bitonalen und Einzelachteln im Diskant, und harmonisiert ist die melodische Linie nun in Fes-Dur mit Rückung nach Ces-Dur. Obgleich sie auf dem zweiten Vers „Nun hüte dich, schönes Kind“ mit ihrem Einsatz über den gleichen Quartsprung am Anfang die gleiche Grundstruktur wie die entsprechende der ersten Strophe hat, Zemlinsky also auch hier das Wiederholungsprinzip des Strophenlied-Konzepts wahrt, weist sie doch eine stärkere Variation auf. Sie rührt von dem Bemühen her, den semantischen Gehalt der Worte „schönes Kind“ zu erfassen. Die Aufwärtsbewegung der melodischen Linie nach dem anfänglichen Fall erfolgt nun über eine leicht melismatische triolische Sprungfigur, endet aber wie in der ersten Strophe mit dem in eine Dehnung auf der Ebene eines „As“ mittlerer Lage mündenden Terzsprung.

    Neu ist die Struktur der melodischen Linie auf den Worten des dritten Verses. Sie setzt zwar mit der in diesem Lied gleichsam obligatorischen Tonrepetition ein, dieses Mal prägt diese aber auch ihre weitere Entfaltung. Denn bei den Worten „verriegele gut deines“ beschreibt die in Des-Dur harmonisierte melodische Linie ein Auf und Ab in Sprungbewegungen, deren Fall jeweils in eine zweimalige Tonrepetition mündet, was der ja als Mahnung auftretenden lyrischen Aussage eine markante Nachdrücklichkeit verleiht. Und bei den Worten „Herzens Schrein“ greift Zemlinsky wie bei „schönes Kind“ wieder zur melodischen Melismatik, dieses Mal aber in noch deutlich ausgeprägterer Weise. Auf diesen Worten beschreibt de melodische Linie eine nach unten gerichtete, auf einem hohen „Des“ ansetzende und zu ihm wieder zurückkehrende und in Rückung von As-nach Des-Dur harmonisierte Bogenbewegung, die das Klavier mit ansteigenden Achtelakkord-Sprungfiguren im Diskant begleitet.

    Bei den refrainhaft auftretenden, das Wort „kommt“ in etwas billiger Weise durch „geht“ ersetzenden Schlussworten macht Zemlinsky das, was hier kompositorisch geboten ist. Die melodische Linie wiederholt zwar, den lyrischen Refrain-Geist berücksichtigend, ihre Bewegungen und wird darin von dem identischen, aus Achtel-Fallfiguren im Diskant bestehenden Klaviersatz begleitet, sie ist aber nun, den Quintessenz-Charakter der lyrischen Aussage aufgreifend, nicht in Fes-Dur, wie beim ersten Mal, harmonisiert, sondern in der Tonika Des-Dur mit Zwischenrückung nach b-Moll. Und sie bricht nicht mehr ins Forte aus, sondern verbleibt im Piano. Aus dem gleichen Grund lässt Zemlinsky auf den Schlussworten „wie der Wind“ die melodische Linie ihre in einer Dehnung endende Aufstiegsbewegung in größeren, und sie auf diese Weise in höhere Lage führenden Intervallen vollziehen: Nicht in zwei Terzen wie dort, sondern, zwar wieder auf dem tiefen „F“ ansetzend, nun aber über eine Quarte und eine Terz hinauf zur Dehnung auf der tonalen Ebene eines hohen „Des“ bei dem Wort „Wind“.

    Diese Schlussdehnung wird vom Klavier mit einer aus einem mit der Anweisung „rit. dolce“ versehenen Achtel-Fall in einen Aufstieg mittels einer bitonalen Achtelfigur begleitet. Und das war es denn auch an Nachspiel, außer dem arpeggierten und piano erklingenden Des-Dur- Schlussakkord. Eine aus im strophischen Volkslied-Geist hervorgehende und darin sich entfaltende Liedmusik bedarf keines, sie gleichsam einleiten und kommentieren wollenden Vor- und Nachspiels. Sie genügt sich selbst in ihrer wesenhaft schlichten und schönen Klanglichkeit.

  • „O Blätter, dürre Blätter“, op.5, H.1, Nr.3

    O Blätter, dürre Blätter!
    Wie trauert ihr so sehr!
    Als ihr noch gabet grünen Schein,
    Da war mein lieber Schatz noch mein,
    Den hab' ich nimmermehr.

    O Blätter, dürre Blätter!
    Ihr habt ihn oft gesehn,
    Wann er mir Treu versprochen hat.
    Ach! kann die Liebe wie ein Blatt
    In einem Jahr vergehn?

    O Blätter, dürre Blätter!
    Es war ein falscher Knab';
    Euch klag' ich es, ihr schweiget still,
    Weil ich sonst niemand sagen will,
    Wie lieb' ich ihn noch hab'!

    (Ludwig Pfau)

    Verfasser dieses Gedichts ist der 1821 in Heilbronn geborene Schriftsteller, Publizist und Herausgeber der Satirezeitschrift „Der Eulenspiegel“ Karl Ludwig Pfau, der wegen Beteiligung an der Märzrevolution 1848 nach Frankreich emigrieren musste. Er starb 1894 in Stuttgart.

    In drei Strophen wird in Gestalt von in ein umarmendes Reimschema gebetteten Versen aus drei- und vierfüßigen Jamben dasselbe Thema behandelt wie in dem Heyse-Text, der dem vorangehenden Lied dieses Opus 5 zugrunde liegt: Vergänglichkeit der Liebe. Zwar geschieht das hier auf lyrisch elaboriertere, weil die affektive Dimension der Verlusterfahrung des geliebten Du auf differenziertere und über den appellativ angelegten Einleitungsvers der Strophen in die allgemeine Erfahrung von Herbst eingebundene Art und Weise, aber die lyrische Sprache ist - ähnlich wie dort - in der Diktion einfach gehalten, suggerierend, dass sich hier ein Mensch aus dem Volke in seinen elementaren existenziellen Grunderfahrungen artikuliert.
    Bei Ludwig Pfau ist es bemerkenswerterweise ein weibliches lyrisches Ich, und er hat sich wohl deshalb dafür entschieden, weil diese Erfahrung, historisch-lebensweltlich betrachtet, eine vorwiegend von der Frau gemachte ist. Ein wenig vernimmt man in dieser Lyrik den politisch engagierten und kritischen Schriftsteller.

    Aber was auch noch bemerkenswert ist:
    Dieses Hintereinander von Liedern gleicher Thematik und gleicher lyrischer Sprachlichkeit macht die Vermutung des Biographen Antony Beaumont, dass sich Zemlinsky in den Opera zwei und fünf beim Zugriff auf Lyrik zum Zweck der Vertonung von den eigenen, ihn beschäftigenden existenziellen Fragen und Problemen leiten ließ, durchaus plausibel.
    Und ich würde, darin über ihn hinausgehend, hinzufügen:

    Das gilt generell für all seine Liedkompositionen, und ebenso dürfte allgemein gelten, dass der Aspekt der poetischen Qualität der lyrischen Texte für ihn von sekundärer Bedeutung gewesen sein musste.

    Welche Auswirkungen das auf die liedmusikalische Qualität seiner Kompositionen hat, dieser Frage wird hier nachgegangen.


  • „O Blätter, dürre Blätter“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Formal betrachtet handelt es sich bei dieser Komposition um ein variiertes Strophenlied. Die Variation ereignet sich aber in erster Linie im Klaviersatz, im Bereich der Melodik und ihrer Harmonisierung herrscht weitgehende Identität, nur der hohe affektive Gehalt des zweiten Verspaares der zweiten Strophe, der mit einem „Ach“ eingeleitete Klageruf des lyrischen Ichs also, nötigte Zemlinsky, von dem Wiederholungs-Prinzip des Strophenlied-Konzepts abzuweichen. Bezeichnenderweise geschieht das aber erst im allerletzten Moment, auf den Worten des letzten Verses nämlich. Er wollte ganz offensichtlich ein Strophenlied komponieren, zugleich aber den Anforderungen einer musikalischen Interpretation des lyrischen Textes in den drei Strophen gerecht werden, und so nutzte er dafür die Möglichkeiten, die ihm der Klaviersatz bot. Dieser ist nämlich auch hier, wie das ebenfalls in den anderen Strophenliedern der Opera 2 und 5 der Fall ist, im Vergleich zur strukturellen Einfachheit der Melodik, relativ komplex angelegt.

    Der Geist des Volksliedes und der des hochentwickelten spätromantischen Kunstliedes greifen bei Zemlinsky in der frühen Phase seines liedkompositorischen Schaffens auf eigenartige Weise ineinander über und prägen auf diese Weise die Liedmusik. Gebunden sich entfaltende, weitgreifend phrasierte und auf Gesanglichkeit angelegte Melodik scheint für ihn damals ein elementares und unverrückbares Gebot gewesen zu sein.
    Vielleicht, weil er seinem großen Vorbild Brahms nacheiferte?
    Zugleich aber gehörte er lebenszeitlich der Moderne an und konnte deshalb nicht anders, als mit dem lyrischen Text kompositorisch interpretierend umzugehen. Das alles erklärt aber noch nicht seine Leidenschaft für das Strophenlied-Konzept.
    Steht hinter dieser formal-liedkompositorischen Regression möglicherweise sein Glaube und seine Überzeugung, dass dieses Konzept dem Geist der musikalischen Moderne, wie ihn die Neue Wiener Schule vertrat, etwas entgegenzusetzen habe, was in ihr verloren zu gehen drohte?

    Fragen über Fragen, bei diesem Alexander Zemlinsky.
    Die Zielsetzung dieses Threads wirft sie auf, die Grundfrage seines Beitrags zur Geschichte des Kunstlieds also. Vielleicht hilft die Musik dieses Liedes in der Suche nach einer Antwort ja etwas weiter. Also blicken wir hinein.
    Sie soll „Ziemlich langsam“ vorgetragen werden. Ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie steht in b-Moll als Grundtonart. Ein Vorspiel gibt es nicht, und auch kein wirkliches Nachspiel, dem Strophenlied-Geist geschuldet. Mit einem auftaktigen Achtel-Terzsprung setzt die melodische Linie ohne Klavierbegleitung auf dem Ausruf „O“ ein, und das wird sie auch in der zweiten Strophe tun. Nur in der dritten erfolgt dieser gleiche Einsatz auf der Grundlage der Fallbewegung von auf einem gehaltenen Akkord hervorgehenden Vierteln, mit denen das auf die zweite Strophe folgende dreitaktige Zwischenspiel endet.

    Die Melodik auf den die Strophen suggestiv-refrainhaft einleitenden Worten „O Blätter, dürre Blätter!“ erklingt, darin den poetischen Intentionen des Dichters entsprechend, drei Mal unverändert, und das auch in ihrer Harmonisierung. Aber der Klaviersatz ist nur in der zweiten Strophe der gleiche, in der dritten weist er eine ganz und gar neue Gestalt auf. Und das ist ja auch nachfolgend in der Begleitung der weiterhin identisch sich wiederholenden melodischen Linie der Fall. Das lyrische Ich verfällt hier in die affektiv hochgradig aufgeladene Äußerung „Es war ein falscher Knab´“, und die Liedmusik hat das zu reflektieren, wenn nicht in der Melodik, so dann doch wenigstens im Klaviersatz.

    Nach dem auftaktigen Terzsprung geht die melodische Linie bei „O Blätter“ mit einem weiteren Terzschritt zu einer in eine Dehnung mündende Tonrepetition über. Diesen deklamatorischen Gestus behält sie, dem lyrischen Sachverhalt der variierten Wiederholung entsprechend, bei „dürre Blätter“ bei, vollzieht aber, wie das lyrische Bild das will, nach dem nun in mittlerer Lage ansetzenden auftaktigen Achtel-Sekundsprung einen Rückfall in Gestalt einer Wiederholung der Repetition auf der gleichen tonalen Ebene wie vorangehend. Aber nun ist sie in Moll-Harmonik (b-Moll) gebettet.
    Der dieser an sich einfachen melodischen Bewegung zugeordnete Klaviersatz ist durchaus komplex. Er besteht in Diskant und Bass aus synchronen, aber nicht parallelen Bewegungen von Viertel-Terzen, die in lang gehaltene bitonale Akkorde eingelagert sind. Und nachfolgend, also bei den Worten „wie trauert ihr so sehr“, wird daraus eine in Bass und Diskant ansteigend angelegte Folge von Achtel-Sprungfiguren aus einer Terz und einem Einzelton.

    Diese Komplexität behält der Klaviersatz bis zum Ende bei. Und es ist ja eine gleichsam doppelte, eine an sich strukturelle und eine der permanenten Wandlung, in der es allerdings auch die Wiederholung von Figuren gibt. Die Folge von Achtel-Sprungfiguren hat offensichtlich die Aufgabe, die auf Expressivität angelegte Melodik auf den Worten „wie trauert ihr so sehr“ mit der gebotenen Akzentuierung zu versehen. Die melodische Linie setzt hier wieder, den deklamatorischen Gestus beibehaltend, mit einem auftaktigen Achtel-Sekundsprung ein, bei „trauert“ aber vollzieht sie nach einem Sekundanstieg einen unerwarteten und mit einem Crescendo versehenen Sextsprung mit nachfolgender Tonrepetition in hoher Lage, geht in einen zweischrittigen Sekundfall über und endet über einen Sekundschritt aufwärts in einer langen Dehnung auf „sehr“.
    Das Klavier setzt, und das ebenfalls im Forte, seine nun in hohe Lage reichenden Achtel-Sprungfiguren fort und lässt schließlich in der halbtaktig-fermatierten Pause für die Singstimme einen ebenfalls mit einer Fermate versehenen siebenstimmigen b-Moll-Akkord erklingen, - in jenem Moll, in das die melodische Linie auf diesen Worten, ganz dem affektiven Gehalt der lyrischen Aussage entsprechend, gebettet ist.

    Das alles wiederholt sich noch einmal auf in Melodik und Klaviersatz identische Weise bei den die zweite Strophe einleitenden Worten „O Blätter, dürre Blätter! / Ihr habt ihn oft gesehn“, in der dritten Strophe, wie bereits erwähnt, im Klaviersatz jedoch nicht mehr. Aber soweit es irgend möglich ist, behält Zemlinsky das Prinzip der Wiederholung bei, und vermutlich deshalb, so könnte man vermuten, um der Haltung des lyrischen Ichs in all seinen über drei Strophen sich erstreckenden Aussagen die aus seiner Sicht erforderliche Dichte und Geschlossenheit zu verleihen.

    Und so liegt denn auf den Worten „Als ihr noch gabet grünen Schein“ und „Da war mein lieber Schatz noch mein“, jenen des dritten und vierten Verses der ersten Strophe und auch den entsprechenden der beiden folgenden, die gleiche melodische Figur: Eine deklamatorische Tonrepetition in mittlerer Lage, die mit einem Quartsprung zu einem Fall bis hin zu einem „Des“ in tiefe Lage übergeht und schließlich mit einem Anstieg in einer Dehnung auf einem „As“ in mittlerer Lage endet. Nur die Intervalle der deklamatorischen Schritte variieren dabei und der beiden Zeilen zugehörige Klaviersatz.

  • „O Blätter, dürre Blätter“ (II)

    Den hohen affektiven Gehalt, der der Aussage des letzten Verses innewohnt, greift die melodische Linie mit einer Steigerung ihrer Emphase auf. „Leidenschaftlich“ und „forte“ soll sie vorgetragen werden. Nach ihrem wieder auftaktigen Einsatz auf „den“, der nun aus einem Achtel-Sekundfall besteht, geht sie, in b-Moll harmonisiert, zu dem Wort „nimmermehr“ in einen steilen Anstieg über eine Quarte und eine Terz über und beschreibt auf ihm anschließend einen in hoher Lage ansetzenden zweischrittigen Sekundfall, der in eine lange, weil mit einer Fermate versehene Dehnung auf dem der Endsilbe „-mehr“ mündet. Die Harmonik, die vom vorangehenden b-Moll erst in ein F-Dur übergeht, rückt hier nach B-Dur, und in dieser Tonart begleitet das Klavier die lange melodische Dehnung in Gestalt eines ebenfalls fermatierten siebenstimmigen Akkords.

    Aber Zemlinsky will sich damit nicht begnügen, was diese Emphase anbelangt. Er lässt das Wort „nimmermehr“ noch einmal deklamieren, nun aber auf einer melodischen Linie, die, auf einem m tiefen „F“ ansetzend und mit der Vortragsanweisung „p rit.“ versehen, über einen Sekund- und einen Quartschritt in sehr tiefe Lage absteigt, um dort wieder in einer Dehnung zu enden. Das Klavier folgt dieser in F-Dur mit Rückung nach B-Dur harmonisierten Bewegung mit Vierteln im Diskant, die bei der Schlussdehnung in einer lang gehaltenen und sich wiederholenden sechsstimmigen B-Dur-Akkord übergehen. Die Wiederholung des Wortes „nimmermehr“ in dieser melodischen Gestalt, Harmonisierung und Begleitung durch das Klavier will den tiefen und resignativen Schmerz des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringen. Die zwei weiteren, nun aber ins b-Moll gerückten Akkorden dieser Art, wollen eine Überleitung zum Einsatz der Melodik auf den Worten der zweiten Strophe bewirken.

    Das den lyrischen Text beendende Bekenntnis des lyrischen Ichs „Wie lieb' ich ihn noch hab'!“ erklingt in der gleichen und vom gleichen Klaviersatz begleiteten Melodik, allerdings nun ohne den Sturz in die Tiefe, wie er sich bei der Wiederholung des Wortes „nimmermehr“ ereignet. Und das ist ja auch sinnvoll, liegt diesen Worten doch die gleiche Grundhaltung des lyrischen Ichs zugrunde. Anders ist das bei dem zweiten Verspaar der zweiten Strophe. Auf die Worte „Ach! kann die Liebe wie ein Blatt“ kann Zemlinsky, seinem Wiederholungskonzept folgend, noch die gleiche Melodik wie in den beiden anderen Strophen legen. Bei den Worten „In einem Jahr vergehn?“ geht das nicht mehr. Emphatischer Aufschwung der melodischen Linie wäre hier unangebracht. Die für einen Liedkomponisten der Moderne verpflichtend gebotene Reflexion der Semantik des lyrischen Textes zwingt ihn, von seiner Verliebtheit in das wesenhaft repetitive Strophenlied-Modell abzulassen und an dieser Stelle zu einer neuen Melodik zu greifen.

    Kein durch das affektive Potential der Liebe bedingter deklamatorischer Aufschwung-Gestus mehr, sondern ein geradezu depressiv anmutendes Verharren der melodischen Linie auf mittlerer tonaler Ebene. Auf „Blatt“ liegt nun eine Dehnung auf der Ebene eines „As“ in mittlerer Lage, danach zwei weitere deklamatorische Tonrepetitionen daselbst auf „in einem“, anschließend eine neuerliche Dehnung auf „Jahr“ eine Sekunde tiefer, und schließlich die zeilenübliche lange Schlussdehnung dem Wort „vergehn“, die, weil sie mit einem Quartsprung eingeleitet wird, sich deshalb auf der Ebene eines „B“ in oberer Mittellage ereignet, und das Klavier dazu einen Achtel-Terzanstieg im Diskant und eine akkordische Rückung von Es-Dur nach B-Dur erklingen lässt, die diesem Wort eine starke Akzentuierung verleiht.

  • „Unter blühenden Bäumen“, op.5, H.2, Nr.1

    Unter blühenden Bäumen
    Hab' bei schweigender Nacht
    Ich in seligen Träumen
    Dein, du Holde, gedacht.

    Duftend streute die Linde
    Blüten nieder zu mir;
    Schmeichelnd kosten die Winde
    Wie ein Grüßen von dir.

    Und ein himmlisches Singen
    Schien vom Sternengezelt
    Leise hernieder zu klingen
    Durch die schlafende Welt.

    (Otto Franz Gensichen)

    Diese Verse stammen von dem 1847 geborenen und 1933 in Berlin verstorbenen Schriftsteller und Publizisten Otto Franz Gensichen, der unter dem Pseudonym Otto Franz publizierte. Was die Frage anbelangt, weshalb Zemlinsky zu derart letztlich ja doch unbedeutender Lyrik zum Zwecke der Vertonung gegriffen haben mag, so kann es eigentlich nur ihre blühende Metaphorik gewesen sein, die ihn anzog. „Blühende Bäume“, selige Träume“, „duftend“ Blüten streuende „Linde“, „schmeichelnd“ kosende „Winde“, „himmlisches“, leise vom „Sternengezelt“ hernieder klingendes „Singen“, - das ist eigentlich zu viel des Guten, erfüllt das klassische Kriterium von literarischem Kitsch: Die Kumulation von lieblich-schönen lyrischen Bildern.

    Wenn man es kritisch sieht, und das muss ich von der diesem Thread zugrundliegenden Fragestellung her, so vermag eine solche wesenshaft kitschige Lyrik einen Komponisten nur dann zur Vertonung anzuregen, wenn er auf der Suche nach Texten ist, die ihn zur Kreation klanglich schöner, gebunden sich entfaltender und entsprechend harmonisierter Melodik inspiriert, nicht aber auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema „Liebe“ in all seinen Dimensionen aus ist. Das scheint bei Zemlinsky in dieser frühen Phase seiner Liedkomposition der Fall gewesen zu sein. Vielsagend ist deshalb die Bemerkung des ihm ja durchaus wohlgesinnten und ihn schätzenden Biographen Beaumont, das Opus 5 betreffend:
    „Diese Lieder verbindet weder eine fortlaufende Handlung, noch stehen sie auf demselben hohen Inspirationsniveau wie op.2.“

    Wäre Zemlinsky bei dieser Motivation im Zugriff auf den lyrischen Text und der dahinterstehenden kompositorischen Intention geblieben, so wäre durchaus verständlich, dass seine Lieder der Vergessenheit anheimgefallen sind. So kam es aber nicht. Schon sein nachfolgendes Opus 7 wird zeigen, dass sein liedkompositorisch-schöpferisches Potential weitaus größer ist als das, das einem in den Opera zwei und fünf begegnet.


  • „Unter blühenden Bäumen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Mässig, hinträumend“, so lautet die Vortragsanweisung für diese Liedmusik, der ein Zweivierteltakt zugrunde liegt. Sie steht in D-Dur als Grundtonart, und obgleich der lyrische Text in seinen frei Strophen durchkomponiert ist, hat Zemlinsky, wohl in seiner Verliebtheit in dieses Konzept zu dieser Zeit, eine Anmutung von Strophenlied in die Liedmusik eingebracht, indem er die Worte der ersten Strophe am Ende in unveränderter Melodik und Harmonik noch einmal erklingen lässt, dies allerdings bei modifiziertem Klaviersatz. Und man kann ihn in dieser Entscheidung ja auch durchaus verstehen. Diese Worte entwerfen ein überaus liebliches lyrisches Bild, in dem gleichsam die Ausgangssituation aufscheint, in der die weiteren Aussagen des lyrischen Ichs getätigt werden. Überdies ist die sie aufgreifende Melodik von großer klanglicher Lieblichkeit und Eingängigkeit.

    Sie geht einem regelrecht ins Ohr. Und im Blick auf das Notenbild erschließt sich auch sofort der Grund dafür: Es ist der unter dem Prinzip der Periodik erfolgende Einsatz einer strukturell wesenhaft einfachen, und eben deshalb eingängigen melodischen Grundfigur. Sie erklingt auf den Worten des ersten Verses: Eine deklamatorische Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in unterer Lage bei „unter“, dann ein eine Terz höher ansetzender Quintfall mit nachfolgendem Sekundanstieg auf dem Wort „blühenden“, und am Ende eine Wiederholung der Tonrepetition auf der gleichen tonalen Ebene wie am Anfang bei „Bäumen“. Harmonisiert ist das in der Tonika D-Dur, und der zugehörige Klaviersatz fungiert dabei ausschließlich als klangliches Bett, denn er besteht im Diskant aus zwei, nach einer Achtelpause einsetzenden Folge von je zwei dreistimmigen Achtelakkorden pro Takt und vorgelagerten, weil am Taktanfang einsetzenden und eine Abwärtsbewegung beschreibenden Oktaven im Bass.

    Diese melodische Bewegung wiederholt sich auf den Worten „Hab' bei schweigender Nacht“, beim zweiten Vers also, unverändert noch einmal, nun allerdings auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene und dementsprechend in der Subdominante G-Dur harmonisiert, und weil nun die periodische Entfaltung der Melodik an ihr Ende gelangt, klingt sie auf ihrer tonalen Ausgangsebene bei dem Wort „Nacht“ nun nicht in einer Tonrepetition, sondern einer Dehnung aus. Der Klaviersatz bleibt aber durchgängig der gleiche.

    Dem zweiten Verspaar der ersten Strophe liegt wiederum eine in ihrer Grundstruktur sich wiederholende Melodik zugrunde. Sie weist darin allerdings, und dies deshalb, weil sie auf Steigerung der Expressivität angelegt ist, stärkere Variationen auf. Dies besonders deshalb, weil Zemlinsky hier, aus eben diesem Grund, zum Mittel der Wiederholung greift. Er lässt die Worte „dein“ und „du Holde“ noch einmal deklamieren. Bei den Worten „Ich in seligen Träumen“ beschreibt die melodische Linie, weiterhin in G-Dur harmonisiert, nach einem anfänglichen Aufstieg in hohe Lage über eine Terz und eine Quarte bei dem Wort „seligen“ einen ausdrucksstarken und nun in e-Moll gebetteten Fall über das große Intervall einer Sexte mit nachfolgendem Sekundanstieg, um anschließend bei „Träumen“ in Fortsetzung ihres Sekundanstiegs wieder zu ihrem Gestus der Tonrepetition überzugehen.

    Die Dehnung auf dem aus dem letzten Vers genommenen und ans Ende dieser Melodiezeile gesetzten Wort „dein“ ist mit einem Crescendo versehen, und Zemlinsky nutzt dieses Wort, indem er es auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene noch einmal deklamieren lässt, nun aber nicht in e-Moll, sondern in h-Moll gebettet, als Auftakt für die Steigerung der Expressivität in der Melodik auf den Worten des letzten Verses. Zu diesem Zweck wird auch die Wiederholung der Worte „du Holde“ eingesetzt. Die melodische Linie beschreibt auf ihnen beim ersten Mal, und dies forte, einen sie in hohe Lage führenden Quintsprung, der, versehen mit der Vortragsanweisung „warm“, in einen Sekundfall übergeht. Bei der Wiederholung wird daraus dann, nun in D-Dur harmonisiert, ein in tieferer Lage ansetzender Terzsprung, dem eine sehr lange, den Takt überschreitende Dehnung auf dem Vokal „o“ nachfolgt, die am Ende in einen zweischrittigen Sekundfall mündet. Dem folgt eine aus einem Sekundschritt hervorgehende Schlussdehnung auf dem Wort gedacht. Sie ist allerdings als offene angelegt, denn die Harmonik vollzieht hier eine Rückung zur Subdominante G-Dur, und ein kleines, sich über drei Takte erstreckendes Zwischenspiel erklingt, das zur zweiten Strophe überleitet.

    Hier lässt die Liedmusik auf deutliche Weise erkennen, dass sie nicht nur auf melodische Schönheit angelegt ist, sondern auch darauf, die lyrische Aussage zu reflektieren. Denn nun entfaltet sich die melodische Linie bei den Worten „Duftend streute die Linde“ auf gleichsam kurzschrittige Weise im Intervall von Sekunden in unterer Lage, und dies pianissimo und nun in Moll-Harmonik (fis-Moll) gebettet. Begleitet wird sie jetzt anders als in der ersten Strophe mit triolischen Achtelakkord-Figuren im Diskant, die auf einen vorgelagerten bitonalen Akkord im Bass folgen. Bei den Worten des zweiten Verses bringt sie den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes von den zum lyrischen Ich „niedergestreuten Blüten“ dadurch zum Ausdruck, dass sie mit einem Quintsprung zu einem sich über den ganzen Takt erstreckenden und am Ende triolischen Sekundfall übergeht, der sich am Ende in einem Terzschritt wieder zu einer Dehnung auf „mir“ erhebt.

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  • „Unter blühenden Bäumen“ (II)

    Die Melodik auf dem zweiten Verspaar der zweiten Strophe mutet in ihrer Grundstruktur, darin die periodische Anlage erkennen lassend, wie eine Wiederkehr derjenigen auf dem ersten Paar an, dieses Mal aber auf tonal höherer Ebene und im Tongeschlecht Dur (A-Dur) harmonisiert. Wieder die anfängliche Entfaltung in Sekundschritten, wieder die, nun allerdings nur dreischrittige Fallbewegung auf „Winde“, dann aber neu, weil in Kadenz-Absicht, ein weit gespannter, den ganzen Takt einnehmender, „poco riten.“ vorzutragender Bogen in Sekundschritten auf oberer tonaler Ebene bei den Worten „Wie ein Grüßen von dir“, den das Klavier, wieder den affektiven Gehalt reflektierend, mit einem aus dem A-Dur ausbrechenden arpeggierten G7-Akkord im Bass begleitet. Und wieder endet die Melodik dieser Strophe, wie auch die der ersten, bei den Worten „von dir“ in einer aus einem Sekundschritt hervorgehenden Dehnung.

    Nach einem neuerlichen, dieses Mal aber nur zwei Takte in Anspruch nehmenden Zwischenspiel setzt die Liedmusik der dritten Strophe ein. Sie mutet von der Struktur ihrer Melodik und dem sie begleiteten Klaviersatz an wie das Erreichen des Höhepunkts im langsamen Prozess der Steigerung ihrer Expressivität. Nun sind es deutlich größere Intervalle, die die Melodik in ihrer Entfaltung in Anspruch nimmt, und es sind häufigere Dehnungen, die sie dabei beschreibt. Und der Klaviersatz ist vielgestaltiger und komplexer. Aber die Liedmusik verbleibt dabei bis zum Strophenende im Pianissimo, für den Klaviersatz gilt sogar die Anweisung „ppp“, und darin reflektiert sie den Gehalt des lyrischen Bildes, der von dem Wort „leise“ geprägt ist, das Zemlinsky eben deshalb sogar wiederholen lässt. Aus dem vorgegebenen „leise hernieder“ macht er „leise, leis´ hernieder und legt auf „leise“ zunächst einen mit der Vortragsanweisung „riten.“ versehenen Sekundfall in hoher Lage, der in G-Dur harmonisiert ist und vom Klavier in Gestalt eines Legato-Falls bitonalen Akkorden mitvollzogen wird. Dieser melodische Sekundfall setzt sich dann bei der apostrophierten Fassung des Wortes fort, nun in Gestalt einer Dehnung auf um eine Sekunde abgesenkter tonaler Ebene, wobei die Harmonik nun eine Rückung nach A-Dur vollzieht und das Klavier eine ansteigende Dreierfolge von bitonalen Akkorden erklingen lässt.

    Diese für die Aussage des lyrischen Bildes so konstitutive Wortfolge „leise, leis´ hernieder“ erfährt, auch weil die melodische Linie nach dem zweifachen, in eine Dehnung mündenden Sekundfall auf „hernieder“ ein syllabisch exaktes Auf und Ab über eine Terz und eine Sekunde beschreibt, eine höchst eindrückliche, weil sie in ihrem semantisch-affektiven Gehalt nicht nur erfassende, sondern, weil die melodische Linie in ein leichtes Wiegen übergeht, sogar steigernde Umsetzung in Liedmusik. Im Grunde gilt das ja für den ganzen deklamatorischen Gestus der dritten Strophe, dieser erreicht aber an dieser Stelle darin seine Kulmination, und das macht sinnfällig, dass in diesem Lied Steigerung der Musik in Expressivität eine in Innigkeit ist. Alles, die Struktur und Harmonisierung der melodischen Linie, der Klaviersatz und die Dynamik ihrer Entfaltung sind daraufhin angelegt.

    Bei den Worten „Und ein himmlisches Singen“ beschreibt die melodische Linie pianissimo einen zweischrittig ruhigen Aufstieg in hohe Lage über eine ganze Oktave, der danach erst in einen wiederum zweischrittigen Sekundfall übergeht, das aber nur, um über einen Terzschritt hin zu dieser gleichen hohen Lage bei dem Wort „Singen“ einen ausdrucksstark lang gedehnten, weil den Takt übergreifenden Fall über das Intervall einer Sexte zu vollziehen. Die Harmonik, die zunächst in einem von der Tonika weitab liegenden Fis-Dur einsetzte, findet hier zur Ruhe in dieser zurück. Das Klavier begleitet diese ganze melodische Bewegung im Diskant mit einem wellenartig angelegten und partiell triolischen Auf und Ab von bitonalen Akkorden von unterschiedlichen Intervallen, die während der großen Schlussdehnung dieser Melodiezeile einen Fall mit ausdrucksstarkem Wiederanstieg in Gestalt einer Terz am Ende beschreiben.

    Auf den Worten „Schien vom Sternengezelt“ entfaltet sich die melodische Linie, dabei weiterhin vom Klavier mit dieser Figur aus bitonalen Akkorden begleitet, auf mittlerer tonaler Ebene, wobei das Wort „Sternengezelt“ eine Akzentuierung dadurch erfährt, dass sie hier eine gedehnte, taktübergreifende Dehnung auf der Ebene eines „D“ in oberer Mittellage vollzieht, die am Ende in eine Kombination aus vermindertem Quartfall und Wiederanstieg in eine Dehnung über einen Sekundschritt übergeht. Diese Melodik mutet an, als sie sie, wie auch ihre Harmonisierung in Gestalt einer Rückung von der Tonika D-Dur zur Subdominante G-Dur nahelegt, als Auftakt zur bereits beschriebenen Kulmination auf den Worten „leise, leis´ hernieder“ angelegt.

  • „Unter blühenden Bäumen“ (III)

    Zur die dritte Strophe beschließenden Melodiezeile bezieht Zemlinsky die Schlussworte „zu klingen“ des dritten Verse in jene des vierten ein. In auftaktigem Fall über eine Sekunde ereignet sich bei „zu klingen“ ein lang gedehnter, volle zwei Takte einnehmender melodischer Sekundfall, der diesem Wort einen starken Akzent verleiht. Er ist in dem als Dominante fungierenden A-Dur harmonisiert und wird vom Klavier weiter mit der schon zuvor bei „leise, leis´ hernieder“ im Diskant eingesetzten Anstiegs-Dreierfigur aus einer Sexte und zwei Terzen begleitet. Mit der Anweisung „morendo“ versehen beschreibt die melodische Linie anschließend bei den Worten „durch die schlafende“ ruhigen Sekundschritten eine Bogenbewegung in hoher Lage, deren triolischer Fall am Ende über eine Terz erfolgt. Er wird vom Klavier mit einem arpeggierten E-Dur-Akkord begleitet, der die Lieblichkeit der den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes reflektierenden Melodik verstärkt. Auf dem letzten Wort „Welt“ liegt schließlich eine aus einem Sekundschritt hervorgehende lange Dehnung auf der Ebene eine „Cis“ in oberer Mittellage.

    Sie ist weiterhin in das die melodische Linie auf den letzten beiden Versen klanglich prägende und Dominanten-Geist in sie bringende A-Dur gebettet, und die Liedmusik will damit bedeuten, dass sie offen bleiben will für eine Fortsetzung. Und die folgt auch, und sie entpuppt sich als Wiederkehr der ersten Strophe. Die Melodik kehrt wieder, und dies ohne jegliche Variation. Variiert wird aber der Klaviersatz, denn er besteht nun, anders als in der ersten Strophe fast bis zum Ende aus je zwei Sechzehntel-Sprungfiguren aus Terz und Einzelton, die von Oktaven im Bass gleichsam getragen werden. Das ergibt ein beschwingteres Klangbild, und reflektiert wohl, so kann man es verstehen, die innerseelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs nach den vorangehend lyrisch beschriebenen nächtlichen Erfahrungen.

    Und dass Zemlinsky das so verstanden wissen will, zeigen die Vortragsanweisungen, mit denen er die identisch wiederkehrende melodische Linie auf den Worten „du Holde, du Holde gedacht“ nun versehen hat: „breit, mit grossem Ausdruck“ lauten sie. Und das zeigt auch der ihr zugeordnete und deutlich von dem der ersten Strophe abweichende Klaviersatz. Nun entfalten die Figuren ihren Sprung-Geist, indem sie sich zu Legato-Triolen ausweiten, einen Anstieg beschreiben und in einen Legato-Fall von dreistimmigen D-Dur-Akkorden übergehen. Auf der Ebene, die sie damit erreichen, verbleiben sie dann auch, allerdings dabei zu G-Dur übergehend, bis hin zum kurzen, nur zwei Takte in Anspruch nehmenden und in einem sechsstimmigen G-Dur-Akkord endenden Schlussakkord.

  • „Nach dem Gewitter“, op.5, H.2, Nr.3

    Die blaue Nacht geht leuchtend übern See;
    Im Mondschein strahlt der weiße Bergesschnee.
    Durch ferne Wolken flammt ein fahles Licht,
    Wie vor Gewittern, doch sie zünden nicht.

    Die Hand in meiner Hand scheucht alle Pein,
    Oh, dieses tiefe, tiefe Seligsein!
    Nun wurde mir das goldene Verstehn:
    Ich darf dem Glück in beide Augen sehn.

    (Franz Evers)

    Dieses Gedicht stammt von dem 1871 in Winsen an der Luhe geborenen und 1947 in Niemberg verstorbenen Herausgeber der Monatsschrift „Litterarische Blätter“ Franz Evers, der sich auch als Lyriker und Verfasser von Prosatexten betätigt hat. Er ist, wie so unzählig viele kleine Poeten, völliger Vergessenheit anheimgefallen. Dabei sind diese Verse so schlecht ja gar nicht. Gewiss, das in der ersten Strophe lyrisch skizzierte Nachtbild ergeht sich zwar in abgegriffener Metaphorik, aber im letzten Vers tritt mit der Konjunktion „doch“ mit einem Mal ein prosaischer Geist in diese. Und auch der erste Vers der zweiten Strophe atmet ein wenig davon, wie sich diese überhaupt durch die Einbettung der lyrischen Phase in ihrer Mitte durch die beiden lyrisch-sprachlich nüchtern gehaltenen Rahmenverse qualitativ von der ersten abhebt.
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    Aber Zemlinsky ist hier wieder auf eines der ihn damals offensichtlich personal stark beschäftigenden und in den Liedopera zwei und fünf großen Raum einnehmenden Themen gestoßen: Die Liebe in all ihren existenziellen Dimensionen. Und er macht, wie in allen anderen Fällen, klanglich höchst gefällige, aber zugleich auch kompositorisch durchaus kunstvoll angelegte Liedmusik daraus.


  • „Nach dem Gewitter“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, „langsam“ soll sie vorgetragen werden, und sie ist voll und ganz durchkomponiert, weist also keinerlei immanente Strophenliedstrukturen auf. Mit einem zweitaktigen Vorspiel setzt sie ein. Die Figuren im Diskant des ersten Taktes, ein aus einem bitonalen Akkord hervorgehender Legato-Fall von Vierteln und Achteln erst über ein kleines, dann über ein großes Intervall, stellen neben Akkordfolgen in verschiedenen Varianten ein prägendes Element des Klaviersatzes dar. Sie muten, im Vorspiel gleichsam programmatisch erklingend, in ihrer harmonischen Rückung von der Tonika D-Dur über ein e-Moll zur Subdominante G-Dur wie die klangliche Verkörperung des zarten und innigen Geistes an, den diese Liedmusik verkörpert.

    Im zweiten Takt gehen sie, verbunden mit einer Rückung in die harmonische Dominante, in ein Auf und An von partiell bitonalen Achteln über, und damit wird zum auftaktigen Einsatz der melodischen Linie eingeleitet. Die Melodik weist zwar in beiden Strophen eine den lyrischen Versen entsprechende Zeilengliederung auf, das ist aber nicht ausnahmslos der Fall, und das zeigt, wie das ja schon die Entscheidung für die Durchkomposition erkennen lässt, wie ernst es Zemlinsky hier mit der liedmusikalischen Reflexion der Semantik und der Metaphorik des lyrischen Textes ist. Man kann dieses Lied eben deshalb als einen bedeutsamen Schritt hin zu dem liedkompositorischen Niveau hören und auffassen, das er in den nachfolgenden Lied-Opera erreichen wird. Schon in der ersten Strophe wird das daran erfassbar, wie er in den Melodiezeilen den startisch-repetitiven deklamatorischen Gestus mit einem durch Sprung- und Fallfiguren stärker bewegten kombiniert und am Ende die Bindung an die prosodischen Gegebenheiten löst, indem er aus den Worten „doch sie zünden nicht“ eine eigene, durch eine Viertelpause abgesetzte eigene Melodiezeile macht.

    Auf den Worten „Die blaue Nacht geht leuchtend übern See“ setzt die melodische Linie nach dem auftaktigen Einsatz mit einem Sekundsprung in deklamatorisch repetitivem Gestus ein. Sie verharrt, in D-Dur harmonisiert und versehen mit der Anweisung „p innig und durchaus leise“ bis zu dem Wort „geht“ auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in unterer Lage, dies allerdings in Gestalt einer akzentuierenden Dehnung auf „blaue“. Erst das Wort „leuchtend“ nötigt sie zu einem Terzsprung in mittlere Lage. Sie kehrt danach allerdings nach einer in der Dominante A-Dur harmonisierten Fallbewegung in Sekundschritten über einen verminderten Sekundanstieg wieder zu jener Fis-Ebene zurück, dies in Gestalt einer nun wieder in der Tonika D-Dur harmonisierten Dehnung auf dem Wort „See“. Das Klavier begleitet sie darin mit einer Modifikation der Figuren im Diskant, die im Vorspiel erstmals erklangen.

    Das ist auch bei der zweiten, die Worte des zweiten Verses beinhaltenden Melodiezeile der Fall, aber diese Figuren erfahren nun erneut eine Variation in Gestalt einer Dreistimmigkeit der Anfangsakkorde und akzentuieren auf diese Weise die Aussage der melodischen Linie. Bei der Melodik auf den beiden letzten Versen der ersten Strophe kehren die Figuren des Vorspiels anfänglich zwar in identischer Gestalt wieder, erfahren aber am Ende eine so tiefgreifende Variation, dass es aussieht als würden sie sich in Legato-Fallbewegungen von Vierteln und Achteln auflösen. Der die melodische Linie begleitende Klaviersatz weist also eine große Komplexität auf, und dies deshalb, weil Zemlinsky ihm eine eigenständige Funktion im Sinne nicht nur der Akzentuierung der Melodik, sondern sogar der Reflexion der Aussage des lyrischen Textes zuweist.
    Das ist moderne Liedkomposition.

    Bei den Worten „Im Mondschein strahlt der weiße Bergesschnee“ löst sich die melodische Linie von ihrem repetitiven deklamatorischen Gestus. Sie will den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes reflektieren und geht deshalb nach einem anfänglichen bogenförmigen Auf und Ab bei „der weiße“ in einen zweischrittigen Terzanstieg über, um bei dem Wort „Bergesschnee“ mit einem weiteren Terzschritt in Gestalt eines in eine Dehnung mündenden Auf und Abs aufzugipfeln. Die Harmonik, die zuvor den melodischen Anstieg in die Subdominante G-Dur bettete, vollzieht hier nun einen Fall von der Dominante A-Dur zurück zur Tonika D-Dur, und dass das Klavier diese mit einem Crescendo versehene melodische Bewegung dadurch akzentuiert, dass es ihr mit seinen Fallfiguren im Diskant folgt, wurde ja bereits beschrieben.

  • „Nach dem Gewitter“ (II)

    Die Worte des zweiten Verspaares sind zwar wiederum in zwei Melodiezeilen umgesetzt, aber nicht dergestalt, wie man das erwarten würde. Zemlinsky hebt, und das in feinem Verständnis für die sprachliche Gestalt der lyrischen Aussage, die Worte „doch sie zünden nicht“ von den im letzten Vers vorangehenden durch eine Viertelpause für die melodische Linie ab und gibt ihr eine sich vom vorangehenden deklamatorischen Gestus markant abhebende Gestalt. Zunächst kehrt sie bei den Worten „Durch ferne Wolken flammt ein fahles Licht“ zu ihrem stark repetitiv geprägten deklamatorischen Gestus zurück. Aus den anfänglich zweimaligen werden dreimalige Repetitionen, und sie ereignen sich auf einer um einer Sekunde angehobenen tonalen Ebene, um schließlich bei „wie bei Gewittern“ nach einer weiteren tonalen Anhebung um eine Sekunde eine viermalige, zunächst triolische Repetition in Gestalt eines „H“ in mittlerer Lage zu beschreiben. Die Harmonik vollzieht hier, die Steigerung der melodischen Expressivität unterstützend, eine starke Rückung von D-Dur über E-Dur zur Dominantsept-Version der Tonart „H“. Und das Klavier begleitet wie gesagt mit der Vorspiel-Version seiner Fallfigur.

    Die Worte „doch sie zünden nicht“ erfahren, darin die adversative Konjunktion reflektierend, durch die sie wiedergebende melodische Linie, deren Harmonisierung und den Klaviersatz eine deutliche musikalische Hervorhebung, wozu die vorangehende Viertelpause einen wesentlichen Beitrag liefert. Mit einem verminderten und in g-Moll gebetteten Quartsprung hoch zur tonalen Ebene eines „E“ setzt die melodische Linie auf „doch sie“ ein, geht bei „zünden“ nach einem Sekundschritt abwärts in einen ausdrucksstarken, weil über eine Sexte erfolgenden und zudem gedehnten Fall hinab zur Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage über, um dort mittels einer Tonrepetition in einer Dehnung auf dem Wort „nicht“ zu enden. Das Klavier begleitet hier mit einer zweimaligen Folge von legato über große Intervalle in die Tiefe fallenden Vierteln und Achteln, die nur noch entfernt an die Grundfigur des Vorspiels erinnern. Die Harmonik beschreibt eine Rückung von der Tonika D-Dur zur Dominante A-Dur.

    Im kurzen, nicht ganz zwei Takte einnehmenden Zwischenspiel setzt das Klavier den Fall-Gestus, zu dem seine Begleitung der melodischen Linie auf den letzten Worten der ersten Strophe übergegangen ist, weiter fort, und dies „ausdrucksvoll“, einhergehend mit einer harmonischen Rückung von der Dominante zur Tonika. In dieser setzt nun auch die melodische Linie auf den Worten der zweiten Strophe ein. Hier geht der lyrische Text, nach dem rein deskriptiven Gestus der ersten Strophe, zu jenem der Selbstaussprache des lyrischen Ichs über. Und da dies in Gestalt von Bildern mit hohem affektivem Gehalt geschieht und mit aus tiefer Seele kommenden Geständnissen verbunden ist, entfaltet die melodische Linie eine mehr und mehr sich steigernde Expressivität.

    Nun setzt sie, anders als am Liedanfang, nicht piano, sondern mezzoforte ein, darin allerdings vom Klavier pianissimo in Gestalt von Akkordfolgen im Diskant und fallenden Vierteln im Bass begleitet. Auf den Worten „Die Hand in meiner Hand scheucht alle Pein“ verbleibt sie zunächst in viermaliger, auf „Hand“ allerdings gedehnter, deklamatorischer Repetition auf der der tonalen Ebene eines tiefen „Fis“, wodurch die Aussage eine starke Nachdrücklichkeit gewinnt. Beim zweiten „Hand“ setzt sie mit einem Terzsprung zu einem ruhigen, weil in Schritten im Wert von Vierteln erfolgenden dreischrittigen Sekundfall an, der am Ende ein verminderter ist und bei dem Wort „Pein“ in eine lange Dehnung auf der Ausgangsebene „Fis“ übergeht. Die Harmonik beschreibt beim melodischen Fall, den affektiven Gehalt dieser Aussage des lyrischen Ichs reflektierend, eine komplexe Rückung von G-Dur und g-Moll, fis-Moll und Cis7, und die Dehnung auf „Pein“ ist dann bemerkenswerterweise nicht mit der Rückung zur Tonika verbunden, sondern in Fis-Dur gebettet.

    Hier deutet sich in ein höherer Grad an Subtilität in Zemlinskys Liedkomposition an, ein Weg, den er in seinen nachfolgenden Liedopera weiterverfolgen und, wie schon das nächste zur Besprechung anstehende Lied „Entbietung“ auf beeindruckende Weise zeigt, zu einem wesentlichen kompositorischen Ausdrucksmittel entwickeln wird. Das stellt, zusammen mit einer aus der intensivierten Reflexion der Semantik des lyrischen Textes hervorgehenden Steigerung der Binnendifferenziertheit der Melodik, den entscheidenden Schritt weg vom Vorbild Brahms, wie es noch die ersten beiden Lied-Opera maßgeblich prägte, hin zu einer eigenen, zeitgemäß modernen Liedsprache dar.

  • „Nach dem Gewitter“ (III)

    „Nach und nach immer wärmer“ lautet die Vortragsanweisung am Anfang der zweiten Strophe, bei der Melodik auf den Worten des zweiten Verses geht sie über in „mit grossem Ausdruck“. Und das ist ja auch angebracht, angesichts des emphatischen Ausruf des lyrischen Ichs: „O dieses tiefe, tiefe Seligsein!“. Die melodische Linie greift diese Emphase auf, indem sie, nun in H-Dur gebettet, einen anfänglichen, in oberer Mittellage ansetzenden Sekundanstieg vollzieht, dann aber zu einem ausdrucksstarken, weil das Mittel der Wiederholung nutzenden Gestus der Entfaltung übergeht. Auf dem ersten Wort „tiefe“ liegt ein auf der Ebene eines hohen „Fis“ ansetzender melodischer Sekundfall, den das Klavier im Diskant mit einer Variante seiner Grundfigur, im Bass aber mit einem arpeggierten G-Dur-Akkord begleitet. Beim zweiten „tiefe“ erfolgt dieser melodische Sekundfall auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene, und er ist nun in e-Moll-Harmonik gebettet und wird vom Klavier im Bass mit einer in großen Intervallen aufsteigenden Folge von Achteln begleitet.

    Bei „Seligsein“ schließlich setzt die melodische Linie in einem neuerlichen Sekundfall auf der Ebene an, auf der der zweite endete, und führt ihn weiter fort, um ihn in einer langen Dehnung auf dem Wort-Kompositum „-sein“ enden zu lassen. Das Klavier lässt in der eintaktigen Pause für die Singstimme diese melodische Fallbewegung in Gestalt von Terzen noch einmal erklingen. Mit Terzen folgt es im Diskant auch der Bewegung der melodischen Linie auf den Worten „Nun wurde mir das goldene Verstehn“, und diese, sie ist mit der Vortragsanweisung „bewegt im Ausdruck“ versehen, weist in ihrer Anmutung von zarter Innigkeit eine große Eindrücklichkeit auf, dies vor allem in dem ruhigen, partiell in kleinen Sekundschritten erfolgenden und am Ende in eine lange Dehnung mündenden Fall auf den Worten „goldene Verstehn“, den das Klavier mit nun dreistimmigen, aber weiter terzbetonten Akkorden im Diskant mitvollzieht. Die Tonart D-Dur fungiert dabei nun als Dominante, die bei der Schlussdehnung dieser erneut von einer Pause gefolgten Dehnung auf der Silbe „-stehn“ eine Rückung nach G-Gur vollzieht.

    Die letzte, die Worte „Ich darf dem Glück in beide Augen sehn“ beinhaltende Melodiezeile mutet in dem Umschlag von zarter introvertierter Innigkeit in eher nach außen sich richtenden Jubel, der ihr innewohnt. wie Höhepunkt und Abschluss zugleich an. Auch wenn die Dynamik hier vom Piano ins Forte übergeht, so ist dieser Jubel doch kein vordergründig lauter. Die Anmutung von warmer Innigkeit, die, in ein als Doppeldominante fungierendes E-Dur gebettet, mit einem verminderten Sekundfall einsetzenden Sekundanstieg der melodischen Linie auf „ich darf dem Glück in…“ ausgeht, setzt sich in der Expressivität der Melodik auf den Worten „beide Augen sehn“ fort, wird nur durch den Ausdruck glückhafter Beseligung bereichert.

    Die melodische Linie vollzieht hier im Forte einen auf der tonalen Ebene eines hohen „G“ einsetzenden und vom Klavier mit einem arpeggierten G-Dur-Akkord begleiteten Sekundfall, geht dann in eine Tonrepetition über, um schließlich in zwei abwärts gerichteten Sekundschritten bei „sehn“ in einer langen Dehnung auf dem Grundton in oberer Mittellage zu enden. Das Klavier folgt auch hier dieser melodischen Bewegung mit dreistimmigen Akkorden im Diskant, und die Harmonik beschreibt die klassische Schlusskadenz-Rückung von der Dominante zur Tonika D-Dur.

    Das Nachspiel hat auch hier, wie das ja in allen Fällen der ersten beiden Lied-Opera Zemlinskys der Fall ist, nicht viel zu sagen, erschöpft sich vielmehr in der fallend angelegten Folge einer auf die Grundstruktur reduzierten Figur des Vorspiels in der Funktion eines in einen fermatiert-vierstimmigen D-Dur-Akkord mündenden Ausklingens der Liedmusik.

  • „Da waren zwei Kinder“, op. 7, Nr.1

    Da waren zwei Kinder, jung und gut,
    aber ihr Blut
    floß gar zu schnelle.
    Sie lachten sich zu,
    da warf ihre Ruh'
    die erste harmlose Welle.

    Doch jeden Tag warf sie eine mehr,
    bis gar wild hin und her
    Wogen wallten.
    Da ging es zum Sterben,
    g´radaus ins Verderben.
    Sie konnten ihr Herz nicht halten.

    (Christian Morgenstern)

    Zemlinskys Opus sieben, das den Titel „Irmelin Rose und andere Gesänge“ trägt, entstand in den Jahren 1898/99 und umfasst insgesamt fünf Lieder. Dieses, auf einen lyrischen Text von Christian Morgenstern, stellt zwar die Nummer eins darin dar, wurde aber nach dem anschließend zu besprechenden Lied „Entbietung“ komponiert, dem chronologisch die Nummer eins gebührt. Damals, nach dem Tod des von ihm hochgeschätzten und als liedkompositorisches Leitbild betrachteten und genutzten Johannes Brahms, befand sich Zemlinsky in einer Phase des Experimentierens im kompositorischen Umgang mit der Harmonik. Er begann abzurücken vom Prinzip der modulatorischen Verbindung der Tonarten untereinander und erprobte, um das jeweilige klangliche Potential einer Tonart stärker zur Geltung zu bringen, gleichsam das unvermittelte Nebeneinander-Setzen der Tonarten.

    Vielleicht war das der Grund, weshalb Theodor W. Adorno dieses Lied mit den Worten kommentierte:
    Es sei ein „schüchternes Modell jener Spättonalität, in der gleichsam alle zwölf Halbtöne gleichberechtigt geworden sind, ohne daß doch chromatisch vom einen zum andern geglitten würde - Vorform jenes harmonischen Bewußtseins, das dann in der Idee der Komposition mit zwölf Tönen terminierte.“

    Aber mir scheint, und zu diesem Urteil komme ich auf der Grundlage meiner eigenen Analyse der Harmonik dieses Liedes, dass bei Adorno in diesem Fall der Wunsch Vater des Gedankens geworden ist, - der Wunsch, in Zemlinsky einen auf dem Weg dahin befindlichen Angehörigen der von ihm so hoch geschätzten Neuen Wiener Schule zu sehen.
    Dieses Operieren mit gleichberechtigten Halbtönen ist für mich in dieser Liedmusik nicht festzustellen, und so sieht das auch der Biograph Beaumont, wenn er feststellt:
    „Doch sein seine (also Zemlinskys) Stimmführungstechniken - pace Adorno - noch weitgehend traditionell. Scheinbar paradoxe Akkordsequenzen lassen sich als logisches Ergebnis stufenweiser Bewegung oder als enharmonische Mehrdeutigkeit erklären.“

    Vermutlich – nur so kann ich mir sein Fehlurteil erklären - hatte Adorno damals, im Jahr 1959, die Noten noch nicht zur Verfügung.
    Gleichwohl ist ihm voll und ganz zuzustimmen, wenn er das Lied „Da waren zwei Kinder“ als „wahres Meisterstück, weit hinausweisend über den Jugendstilbezirk, aus dem es stammt“ einschätzt. Wie im Falle Gustav Mahlers kommt ihm auch bei Zemlinsky das Verdienst zu, einen hoch bedeutenden Beitrag zur Rehabilitation dieser beiden Komponisten erbracht zu haben.

    Aber nun zu diesem Lied. Zugrunde liegt ihm ein Gedicht von Morgenstern, das, obwohl es nicht in der „Galgenlieder“- oder „Palmström“-Manier verfasst ist, gleichwohl dessen poetischen Geist atmet: Im sprachlichen Gestus des trockenen, sich jeglicher Metaphorik verweigernden Konstatierens, in dem das Schicksal zweier, in der unbesorgten Entfaltung ihres Lebens gleichsam über die Stränge schlagenden Kinder dargestellt ist. Die letzten drei Verse lösen, von Morgenstern so gewollt, Betroffenheit und untergründiges Erschrecken aus.

    Wie stark ausgeprägt Zemlinskys Sensibilität für lyrische Sprache ist, wird daraus ersichtlich, dass er sich der dem lyrischen Text innewohnenden Lakonie nicht verweigert, die ja doch ein Umfang kleines, kurzes Lied reklamiert. Er widersteht der Versuchung, hier mit dem kompositorischen Mittel der Textwiederholung zu arbeiten und wählt eine Liedsprache, die in ihrem deklamatorischen Gestus der lyrisch-sprachlichen voll adäquat ist.


  • „Da waren zwei Kinder“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und sie soll - das scheint der Standard bei Zemlilnsky zu sein - „mässig bewegt“ vorgetragen werden. Ein „B“ weist der Notentext als tonartliche Vorgabe auf, aber es wurde ja schon darauf hingewiesen, dass dies angesichts der harmonischen Experimentierfreude des Komponisten zu dieser Zeit nicht viel zu bedeuten haben kann.
    Und in der Tat: Bei meiner, sich in 51 Notizen unter dem Notentext niederschlagenden - und wie beim nachfolgenden Lied mühseligen - Wanderschaft durch die Lied-Harmonik ist mir nur zwei Mal die Tonart „F“ begegnet. Und dies nur einmal in wirklich ausgeprägter Form in Gestalt eines Akkordes nach dem ausdrucksstarken melodischen Fall auf den Worten „Wogen wallten“. Aber selbst diesen geht auf der Stelle in einen Akkord in verminderter As-Harmonik über. Die Harmonik schlägt in dieser Liedmusik - und das gilt mehr oder weniger stark ausgeprägt für alle Lieder dieses Opus 7 - wahrlich Purzelbäume. Ihnen zu folgen, ist für einen musikwissenschaftlichen Laien kein Spaß, und unter den Noten des nachfolgenden Liedes findet sich deshalb bei mir in dicker fetter Schrift die Notiz: „eine Tortur“.

    Ein auftaktig einsetzendes, sich über zwei Takte erstreckendes Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. Es besteht im Diskant aus einem Legato-Fall von bitonalen, im Intervall von der Terz über die Sexte erweiternden und sich dann zur Quarte verengenden bitonalen Akkorden, bei denen die Harmonik eine Rückung von Es-Dur über B-Dur in die Dissonanz vollzieht und ist wohl, in seiner auf die nachfolgende Liedmusik verweisenden Einleitungsfunktion als Ausdruck von wehmütiger Schmerzlichkeit aufzufassen und zu verstehen. Auf den Worten „Da waren zwei Kinder, jung und gut“ ist die ebenfalls auftaktig einsetzende melodische Linie noch durchgehend im Tongeschlecht Dur harmonisiert, in Gestalt einer starken Rückung von B- nach G-Dur allerdings. In der Art und Weise ihrer Entfaltung weist sie die typische Anmutung einer Einleitung auf, - darin ja auch die sprachliche Gestalt und den semantischen Gehalt des ersten Verses aufgreifend. Zunächst verbleibt sie, nach dem auf einem tiefen Cis ansetzenden verminderten Auftaktsprung in einem repetitiven Auf und Ab in tiefer Lage, geht dann aber bei „jung und gut, nun in G-Dur harmonisiert, zu einem in eine Dehnung auf mittlerer tonaler Ebene mündenden Anstieg in zwei Terzschritten über.

    Das „aber“, mit dem die zweite, den zweiten und dritten Vers beinhaltende Melodiezeile eingeleitet wird, erfährt eine Hervorhebung dadurch, dass auf ihm eine triolische Tonrepetition liegt, der zu dem Wort „Blut“ ein Terzschritt nachfolgt, der in eine kleine Dehnung übergeht. Die Harmonik hat sich von dem anfängliche Dur abgewendet, und das gis-Moll, in das die Melodik auf diesen drei Worten gebettet ist, lässt zusammen mit dieser Tonrepetition auf „aber“ ahnen, dass mit dem „Blut“ ein Unheil einhergehen wird. Die enge Anbindung der melodischen Linie an das lyrische Wort, das sich hier zeigt, setzt sich im weiteren Verlauf der Liedmusik fort und bedingt wesentlich deren Eindrücklichkeit. So liegt auf dem Wort „gar“ eine aus einer Repetition hervorgehende und in b-Moll gebettete Dehnung und das Wort „schnelle“, erfährt eine melodische Konkretisierung durch eine Tonrepetition in Gestalt von zwei deklamatorischen Achtelschritten, wobei die Harmonik hierbei eine Rückung von der Tonart „G7“ nach B-Dur vollzieht.

    Die Aussage des vierten Verses ist von zentraler Bedeutung für die Lebensweise der Kinder, und Zemlinsky berücksichtigt diesen für die poetische Gesamtaussage so relevanten Sachverhalt dadurch, dass er den Worten „sie lachten sich zu“ eine eigene, von Achtelpausen eingehegte kleine Melodiezeile widmet, bei der er wieder die deklamatorische Triole zum Einsatz bringt. Auf den Worten „lachten sich“ liegt ein triolischer Sekundfall, der bei „zu“ in einen ausdrucksstarken Sturz über eine Quinte in tiefe Lage übergeht. Das B-Dur, in dem diese melodische Figur harmonisiert ist, vollzieht in der Achtelpause eine Rückung nach As-Dur und steigert auf diese Weise nachträglich die Bedeutsamkeit der melodischen Aussage. Das Klavier begleitet das in der Weise, wie es das zuvor schon tat und bis zum fünften Vers fortsetzen wird: Mit im Intervall wechselnden bitonalen Viertelakkorden im Diskant und Oktaven und Quinten im Wert von halben Noten im Bass.

    Die auf das Einzelwort verdichtete und dabei, wie man am häufigen Einsatz der gleichsam die Konfrontation verkörpernden sprachlichen Partikel „aber“, „da“ und „doch“ erkennen kann, auf den Bruch ausgerichtete lyrische Aussage Morgensterns greift Zemlinsky liedkompositorisch meisterhaft auf. Und dies nicht nur bei den so vielsagenden Schlussworten der ersten Strophe: „da warf ihre Ruh' / die erste harmlose Welle“. Das geschieht durchgängig und macht dieses Lied, neben der Adorno so in Bann schlagenden Harmonik, zu einer so beeindruckenden und gewichtigen Komposition.

    Hier zieht sich die melodische Linie, für die die Vortragsanweisung „weich“ auf den Worten „sie lachten sich zu“ weiter gilt, ins Pianissimo zurück und beschreibt in sich ausweitenden deklamatorischen Tonrepetitionen einen über das Intervall von Terzen erfolgenden Anstieg zur tonalen Ebene eines „C“ in oberer Mittellage, verharrt dort bei den Worten „erste harmlose“ in einer dreimaligen Tonrepetition, um schließlich in einen zweischrittigen Sekundfall überzugehen und auf dem Wort „Welle“ in einer Repetition auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage auszuklingen. Sie stellt, was die tonale Ebene betrifft, eine Wiederkehr der Repetition auf dem Wort „schnelle“ dar, nun aber, und das zeigt die Feinsinnigkeit von Zemlinskys Melodik, nicht in deklamatorischen Achteln wie dort, sondern solchen im Wert von Vierteln.

  • „Da waren zwei Kinder“ (II)

    „Leidenschaftlicher“ soll die melodische Linie auf den Worten der ersten drei Verse der zweiten Strophe vorgetragen werden. Anders als in der ersten Strophe sind sie, den syntaktischen Gegebenheiten entsprechend, zu einer Melodiezeile zusammenfasst. Das zugrundeliegende, wilde innere Bewegtheit beinhaltende lyrische Bild erfordert eine dessen Semantik reflektierende melodische Linie. Deren Entfaltung ist nun nicht mehr von relativ ruhigen, weil häufig im Wert von Vierteln erfolgenden und im repetitiven Gestus erfolgenden Bewegungen geprägt, vielmehr dominiert das Achtel und die nun stärker sprunghafte Entfaltung beansprucht einen deutlich größeren Ambitus, bis hin zu dem hochexpressiven Sturz über das große Intervall einer Oktave bei den Worten „Wogen wallten“ am Ende. Und auch die Harmonik muss sich dieser unruhigen Lebhaftigkeit der Melodik anpassen. Ihre ohnehin von Anfang schon Neigung zu ausgeprägter Modulation und Rückung erfährt in dieser Melodiezeile eine markante Steigerung.

    Auf den Worten „doch jeden Tag“ verbleibt die melodische Linie, einen Augenblick lang noch ihren alten Gestus beibehaltend, im Intervall einer Terz auf der eingenommenen hohen tonalen Ebene und überlässt sich bei „Tag“ dort einer Dehnung. Harmonisiert ist sie hier in d-Moll mit Zwischenrückung zur Dur-Dominante, und das Klavier begleitet nun in Diskant und Bass mit Oktaven und dreistimmigen Akkorden, die im Bass häufiger den Wert von halben Noten annehmen. Die Worte „warf sie eine mehr, bis gar wild hin und her“ greift die melodische Linie in einer Art erregter sprunghafter Kurzschrittigkeit auf, wobei sie ihre in der ersten Strophe gepflegte Neigung zu Repetition zwar beizubehalten versucht, das aber nicht mehr kann.
    Nur noch zweischrittige Achtelrepetitionen sind möglich, sie unterliegen aber dem Zwang zum Fall, wie er sich bei dem Wort „eine“ auf semantisch schwer erklärliche Weise in Gestalt eines verminderten Quartfalls auf dessen zweiter Silbe ereignet. Er stellt wohl eine expressive Fortsetzung der Fall-Tendenz dar, die mit dem Wort „sie“ mit einem verminderten Sekundfall eingeleitet wird.

    Der Geist des Fallens, wie er dieser Melodiezeile auf den ersten drei Versen innewohnt und zwingt die melodische Linie, sich in der beschränkten Wahrung ihres repetitiven Gestus´ in der tonalen Ebene von einem hohen „D“ zu einem „A“ in mittlerer Lage abzusenken. Hierbei beschreibt die Harmonik die im Quintenzirkel weit ausgreifenden und dabei das Tongeschlecht permanent wechselnden Rückungen von d-Moll über A-Dur nach D-Dur und verminderter Fis-Tonalität bei dem verminderten melodischen Sekundsprung auf dem Wort „wild“, und von dort auf gänzlich unerwarteter Weise zu einem C-Dur. Das geschieht bei dem, was die melodische Linie am Ende dieser Zeile auf ebenso unerwartete Weise tut: Nach der deklamatorischen Repetition auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage bei den Worten „hin und“ beschreibt sie mit einem Mal, als wollte sie sich gegen den die melodische Line beherrschenden Geist des Fallens auflehnen, auf „her“ einen Ausdrucksstarken Quintsprung und geht auf der Ebene eines hohen „E“ in eine lange Dehnung über, die das Klavier mit einem sechsstimmigen und forte ausgebrachten C-Dur begleitet und akzentuiert.

    Wie ist das zu verstehen?
    Ein in eine Dehnung mündender, auf der eigentlich sprachlich zusammengehörigen Wortgruppe „hin und her“ sich ereignender und mit einer erstaunlichen harmonischen Rückung einhergehender und wie ein Aufbegehren anmutender melodischer Quintsprung?
    Ich denke, die Antwort findet man in dem, was sich melodisch nachfolgend ereignet. Es ist der bereits beschriebene Sturz der melodischen Linie auf den Worten „Wogen wallten“. Er setzt auf der tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage an und erfolgt erst über eine Quarte, dann über zwei Terzen bis hinab zu einem tiefen „Es“ und ist in es-Moll-Harmonik gebettet. Da die vier deklamatorischen Schritte allesamt solche im Wert eines Achtels sind, geht von ihm nach der vorangehenden Dehnung die Anmutung eines plötzlichen raschen Ereignisses aus. Das eben ist die Funktion dieser in C-Dur harmonisierten Forte-Dehnung auf dem Wort „her“, die, da sie die lyrisch-sprachliche Syntax unterbricht, eigentlich unangebracht ist.

    Nach einer obwohl nur eintaktigen, aber wegen der Fermate auf dem darin erklingenden verminderten As-Akkord länger währenden Pause setzt die melodische Linie auf den drei letzten Versen ein. Diese sind in ihrer sprachlich konstatierenden Lakonie von solchem Aussage-Gewicht, dass Zemlinsky auf sie je eine eigene, von relativ langen Pausen eingehegte Melodiezeile gelegt hat. Für die ersten beiden Zeilen gilt die Vortragsanweisung „leise, mit tiefer Empfindung“, die den letzten Vers beinhaltende soll „ungemein zart und innig“ vorgetragen werden. Die melodische Linie ist hier, eben diese Konstatierungs-Lakonie des lyrischen Textes reflektierend, zu ihrem deklamatorischen Anfangs-Gestus zurückgekehrt: Mehrschrittige, partiell rhythmisierte und im Pianissimo erklingende Tonrepetitionen auf wechselnden, aber im Intervall nicht weit auseinanderliegenden tonalen Ebenen.

  • „Da waren zwei Kinder“ (III)

    Eine höchst eindrückliche Anmutung von schicksalsergebener Resignation geht hier von der Liedmusik aus, bedingt durch eben diese Struktur der melodischen Linie, aber auch ihrer fast durchgehenden Einbettung in verminderte Harmonik, die sich in lang gehaltenen, Bass und Diskant übergreifenden Akkorden niederschlägt. Die ersten beiden Melodiezeilen bilden, obgleich zwischen ihnen eine Pause im Wert eines halbenTaktes liegt, eine Einheit, weil sich die Absenkung der tonalen Ebene der Repetitionen, die auf den Worten „da ging es zum Sterben“ einsetzt, auf den Worten „g´radaus ins Verderben“ fortsetzt. Es ist eine kontinuierliche und, ganz der Fatalität der lyrischen Aussage entsprechend, nicht über eine große, sondern eine verminderte Sekunde erfolgende.

    Sie gewinnt an Aussagekraft dadurch, dass die melodische Linie darin nicht ausschließlich deklamatorische Repetitionen beschreibt, sondern, mit einem verminderten Sekundsprung einsetzend, auch danach, vor dem nächsten repetitiven Fall zweimal einen Terzsprung vollzieht, der dem nachfolgenden Fall, weil er sich nun über eine Quarte erstreckt, umso stärkeren Ausdruck verleiht. Bei Wort „Verderben“ am Ende ist es ein verminderter, der zu einer Tonrepetition auf der Ebene eines tiefen „D“ führt, die das Klavier mit einem lang gehaltenen, weil mit einer Fermate versehenen und eminent dissonanten sechsstimmigen Akkord begleitet.

    Auch die nachfolgende Viertelpause für die melodische Linie der Singstimme ist eine lange. Nicht nur dass sie auch eine Fermate trägt, Zemlinsky hat ausdrücklich noch ein „longa“ darüber gesetzt. Die Worte „Sie konnten ihr Herz nicht halten“ treten ja, weil sie lyrisch-sprachlich ein syntaktisch eigenständiges Satzgebilde darstellen, als lakonischer Kommentar zur vorangehenden lyrischen Aussage auf. Die vorangehend lange Pause will diesen Sachverhalt zum Ausdruck bringen. Und die Melodik auf diesen Worten tut das auch, - in ihrer spezifischen Struktur, ihrer Harmonisierung und mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz.

    Mit einem Pianissimo-Quintsprung setzt sie ein, von genau der tonalen Ebene eines tiefen „D“ aus, auf der auch die melodische Linie der vorangehenden Zeile bei „Verderben“ ausklingt. Anschließend verharrt sie wie gebannt auf der Ebene eines „A“ in mittlerer Lage, wobei die Worte „konnten“ und „Herz“ eine Akzentuierung durch eine kleine Dehnung erfahren. Und bei dem Wort „halten“ ist dieser Akzent noch deutlich stärker. Dem verminderten Quartfall, den die melodische Linie hier beschreibt, wohnt die Anmutung von Endgültigkeit inne, weil er aus einem vorangehenden Sekundanstieg heraus erfolgt und die Harmonik der fallend angelegten Figur aus bitonalen Akkorden im Diskant eine nach all den zuvor erklingenden dissonanten und Moll-Akkorden überraschende Rückung von D-Dur nach A-Dur vollzieht. Und diese erfährt sogar noch eine Bekräftigung durch die beiden Schlussakkorde: Ein D-Dur-Akkord geht legato in eine Oktave in A. über.

    Der in seinem Gestus sprachlich-trocken auftretende, zugleich aber in seinem affektiven Gehalt tief berührende letzte Vers - typischer Morgenstern - findet in Zemlinskys Liedmusik bis in kleinste Detail, hier also im Schluss, adäquaten Ausdruck.

    Recht hatte Adorno mit seinem Urteil über dieses Lied Zemlinskys: Es ist in der Tat "ein wahres Meisterstück".

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