Da der Juni für mich extrem anstrengend war kam ich erst heute dazu eine Rezension des neuen Wiener Giovannis zu schreiben -
Don Giovanni
Wiener Staatsoper, 6.6.2022
So sehr ich den Kosky-Lohengrin seinerzeit ablehnte, so sehr gefällt mir die Produktion des neuen Don Giovanni. Barrie Kosky hat das Bühnenbild auf das Wesentlichste reduziert (ja, die „Mondlandschaft“ ist sicherlich nicht nach dem Geschmack des doch sehr konservativen Wiener Publikums) und die jungen Sänger bewegen sich – nun, wie sich junge Leute des 21. Jahrhunderts bewegen. Die Kostüme sind äußerst geschmackvoll.
Dass das Libretto nicht 1:1 umgesetzt wird – ja, das könnte man bemängeln, allerdings wird die Geschichte wunderbar umgesetzt – und wie so oft kommt es auf die Details an. Mir gefiel schon die Fernseh-Übertragung sehr gut, das Live-Erlebnis hat meine Eindrücke bestätigt.
Für mich am besten gezeichnet war die Figur der Donna Elvira. Ihre spontane Reaktion beim Wiedersehen mit Giovanni – sie „bespringt“ ihn quasi, ist zu 100% nachvollziehbar. Sie ist eine Romantikerin und liebt ihn, trotzdem er sie schmählich verließ, noch immer. Wäre so eine Reaktion zur Zeit des Entstehens der Oper möglich gewesen? Natürlich nicht, da die damaligen Sitten es verboten innere Gefühle nach außen zu tragen. Heutzutage ist das aber erlaubt und möglich. Die für mich stärkste Geste war allerdings im 2.Akt zu sehen, nachdem Elvira gewahr wird, dass sie Leporello für Don Giovanni gehalten hatte und mit ihm eine (oder mehrere) Stunde(n) im Dunkeln verbracht hatte. Wem ist aufgefallen, dass sie sich schockiert mit beiden Händen ihren Schambereich bedeckt? Wem ist aufgefallen, dass ihr Kleid gerade über dem Schambereich einen roten Fleck hat? Alleine diese (für den aufmerksamen Besucher beiläufige) Geste erzählt doch eine ganze Geschichte…
Nein, ich widerspreche all den negativen Kritiken – diese Inszenierung ist großartig und ich freue mich schon auf die Neuinterpretation der beiden anderen Da Ponte-Stücke!
Musikalisch war wenig auszusetzen. Phillipe Jordan versuchte einen Mittelweg zwischen der Leseart eines Harnoncourt und Muti – was zum Großteil auch gelang. Ich bevorzuge die eckigere Art der Interpretation, aber das ist Geschmackssache.
Kyle Ketelsen überzeugte in seinem Schauspiel als die Titelfigur – er hat nur einen einzigen „Feind“ – nämlich sich selbst. Er hat keinerlei Gewissensbisse seine Umgebung zu manipulieren (und sein de facto Alter Ego Leporello zu drangsalieren). Rein optisch kann man nachvollziehen, dass alleine in Spanien mille tre Frauen auf ihn reinfielen. Ketelsen ist austrainiert, zeigte seinen Waschbrettbauch (viele andere Interpreten des Giovanni bestechen mit einem Waschbärbauch…). Gab es schon prägnantere Stimmen? Ja, allerdings sollte man das Gesamtpaket betrachten – und das war sehr gut.
Zu dem selben Ergebnis muss man kommen wenn man über den Leporello des Abends, Phillipe Sly, urteilt. Wie es im 21.Jahrhundert üblich ist, verlangt die Regie von Sängern mehr als nur Rampensingen – und Sly erfüllte diese Anforderungen sehr, sehr gut. Ich las,dass sich einige Rezensenten darüber mokierten, dass er bei der Registerarie kein Buch in der Hand hatte. Geschenkt – Leporello hat alles memoriert – und sein präziser Umgang mit den Steinen war exzellent! Ist jemanden aufgefallen, dass er – je nach der Beschreibung der Frauen – mit verschieden großen Steinen hantierte? Und dass er, als er über die ganz jungen Mädchen sprach einen sehr großen Stein aufhob? Und dass darauf Donna Elvira den selben Stein aufzuheben versuchte? Es sind wieder diese Kleinigkeiten, die meine Begeisterung für diese Produktion rechtfertigen.
Eine positive Überraschung war für mich Stanislas de Barbeyrac. Er hat eine Stimme, die man normalerweise bei den Sängern des Don Ottavio nicht gewohnt ist. Man findet schon ein paar heldische Anklänge – die perfekt zur Zeichnung der Figur passten. Viel aggressiver als gewohnt kann man sich den Ottavio doch einigermaßen als Gegenspieler von Giovanni vorstellen. Zu oft bekommt man Ottavios vorgesetzt, deren Stimme allzu lyrisch ist – und dann die Figur (auch abhängig von der Inszenierung) wie ein „Schwammerl“ aussehen lassen. Was dann die Frage aufwirft warum Donna Anna auf so einen Mann steht…
Etwas enttäuscht war ich von Ain Anger, den ich stimmgewaltiger in Erinnerung habe bzw. ich mir von ihm eine bessere Entwicklung erwartete. Ich sehe ihn (noch) nicht als ideale Besetzung des Komturs.
Die Donna Elvira ist für mich in vielerlei Hinsicht die wichtigste Frauenrolle des Stückes – und sie wird manchmal als Stalkerin inszeniert, manchmal als (relativ) minderbemittelte Adelige. Ich sah an diesem Abend eine junge Frau, sitzen gelassen, immer wieder getäuscht. Eine, die mit all ihrer Kraft zu verhindern versucht, dass andere Frauen ein ähnliches Schicksal wie sie erleiden. Sie liebe Giovanni trotz allem aufrichtig. Kosky hat sich meiner Meinung mit dieser Figur wirklich sehr auseinandergesetzt. Ich bin kein Stimmenexperte, aber ich denke, dass diese Rolle extrem schwer zu singen ist. So war auch Kate Lindsey stimmlich nicht 100%ig überzeugend (was sie in eine Reihe mit anderen Sängerinnen bringt – in den letzten 25 Jahren war ich nur von Soile Isokoski vollkommen überzeugt).
Einen zwiespältigen Eindruck hinterließ bei mir auch Hanna-Elisabeth Müller. Schauspielerisch exzellent kamen einige ihrer Töne doch etwas scharf hinüber..
Das Bauern-Paar wurde von jungen Ensemblemitgliedern verkörpert und wieder einmal bewies Patricia Nolz (aus dem Opernstudio) welch großes Talent sich in ihr verbirgt. Sie war gesanglich die beeindruckendste der Damenrunde. Wiederum ein „Hoch“ auf Kosky – was er in die Zerlina „steckte“ war phänomenal. Jede einzelne Geste und Bewegung erzählt eine kleine Geschichte. Man konnte genau erkennen, was sich da in ihr abspielte…
Dass es Martin Häßler als Masetto neben ihr schwer hatte war dementsprechend nachvollziehbar. Doch er zog sich wirklich gut aus der Affäre.
Zusammengefasst ist diese Produktion eine der besten, die ich den vergangenen Jahren gesehen habe. Ich möge zwar mit meiner Meinung alleine auf weiter Flur stehen – aber über Geschmack kann man ja bekanntlich nicht streiten!