Sinn oder Unsinn - Regietheater

  • Für mich muss der Grund klar bleiben, warum man ein "altes Stück" überhaupt noch für aufführungswert erachtet.

    Ich finde im Grunde schon die Formulierung "Ein altes Stück aufführen" falsch, weil im Theater bei einem "alten Stück" nicht das Werk eines toten Dichters bzw. Komponisten stattfindet sondern ein gegenwärtiges Theaterkunstwerk, das - unter anderem - ein solches Werk verwendet. Der Faust ist eine dramatische Dichtung, die Meistersinger sind eine Partitur mit eingebundener Dichtung, beide sind als solche abgeschlossen und fertig, aber beide sind kein Theater. Man kann sie z.B. auch nur lesen (beim Faust dürfte das sogar die mit Abstand häufigste Form der Rezeption sein), und wenn sie in im Theater verwendet werden, sind sie danach immer noch genauso da (deshalb hinkt natürlich auch der Vergleich mit den umgebauten Pyramiden oder den übermalten Tizians).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich will nicht das Alte Testament umschreiben, ich will nicht die Pyramiden umbauen, ich will keine Tizians ummalen, ich will keinen gekürzten und bearbeiteten Fontane (so wie es seinem letzten Buch, Mathilde Möhring anfangs erging), ich will keine polyphonen Messen mit Saxofon und Schlagzeug, ich will keinen Boris Godunow, in dem Boris als Putin dargestellt wird, ich will keinen Hamlet, der von einer Frau dargestellt wird, ich will Figaros Hochzeit erstmal schön "klassisch".


    Das hört sich auf den ersten Blick wie etwas an, was einfach verstehbar ist. Ich kann mich aber erinnern, dass nicht einmal die Bibel eine so eindeutige Quellenlage hat. Ein Schulfreund von mir hatte sich mal mit Exegese beschäftigt. Da wird auch "wild" übersetzt. Ich habe eine Buber Ausgabe des Alten Testamentes, ein kleines Kunstwerk, aber was ist denn nun richtig? Gehst Du in Rom über das Forum Romanum und willst den Hauch des antiken Roms in Dich aufnehmen, wirst Du den Eindruck mittelalterlicher Zerstörung und den neuzeitlicher durch den Tourismus kaum ausblenden können. Alles scheint doch der geschichtlichen Entwicklung zu unterliegen.


    Eine Aufführung eines Werkes, so wie sie vielleicht vor 200 Jahren gedacht war, ist IMO in mehrfacher Hinsicht eine Illusion.


    1. Muss man über ausreichend (sich nicht widersprechender) Quellen verfügen, um überhaupt einen umfänglichen Sachstand herzustellen

    2. Wird man an einer Interpretation des Dargestellten und Geschriebenen nicht vorbeikommen, weil

    a.) die Mittel heute andere sind (oder wollen wir eventuell auf elektrischen Strom verzichten)

    b.) der Kontext heute ein anderer ist.


    So einfach, wie das oben geschrieben ist, wird es also nicht werden. Jede heutige Aufführung eines vergangen Werkes bedarf also einer gedanklichen Überarbeitung und Einordnung in die Jetztzeit. Ich sehe erstmal keinen Zwang, dass daraus nun eine RT-Inszenierung folgen muss, aber der Verweis auf vermeintliche Autoritäten und deren Geschmack oder auch der jeweilige eigene, erscheint mir nicht ausreichend zu sein, um irgendwas zu begründen. Ich sehe also auch bisher keinen Zwang, RT-Inszenierungen grundsätzlich zu verdammen.

  • Dein letzter Satz entspricht genau meinen Intentionen.

    Die Sache mit der Bibel ist einfach. gerade wenn man über das naive Verständnis hinauswill und die Quellen studiert und die Archäologie hinzuzieht. Dann erst wird eine spannende Sache daraus.

    Ein Beispiel.

    IM AT wird von der Flucht von Ägypten durch die Wüste Sinai berichtet. Es sind 500.000 Menschen. Die Wüste Sinai ist keine Sandwüste, sondern eine Steinwüste (habe ich selbst gesehen). Bei den vorgeschriebenen Opferzeremonien, vor allem von Rindern, werden große Herden gebraucht. Wie aber sollten diese Herden durch Steinwüsten ziehen, in denen es keinen (ABSOLUT KEINEN) Halm Gras gab. Gerade durch die kritische Erforschung wird das AT ja interessant.

    Ich empfehle dir, in meinem "Schreibtisch" die Bibelthemen dir mal anzuschauen, das ist spannend, vor allem, wenn man herauskriegen will, was da jeweils wirklich passiert ist. Was bedeutet es z.B., wenn es von David und Salomo weder ausgegrabene Bauten oder Texte gibt; haben die überhaupt gelebt?

    Auch Widersprüche in der Bibel sind spannend. Nach Lev. 11,6 (3. Buch Mose) war der Hase ein Wiederkäuer, was er nun durchaus nicht ist. So schlecht konnte doch der Schöpfer in Biologie nicht sein. Gleich in den ersten Kapiteln der Bibel (Genesis) gibt es vier Menschen, Adam, Eva, Kain, Abel. Nach dem Mord an Abel sind es nur noch drei. Dann steht im 4. Kapitel, dass Kain eine Frau hat, die Kinder bekommt. Wo kommt die her? Eva kann es nicht sein (Blutschande) und andre waren nicht da. Gott gibt Kain ein Mal, das ihn vor der Gewalt der anderen schützen soll. Wo kommen diese anderen eigentlich plötzlich her?

    Oft (dutzende Stellen) wird im AT berichtet, dass geopfert wird (vorzugsweise Rinder), deren Geruch Gott in die Nase steigt und ihn milde stimmt.

    In der Unterstufe im Gymnasium hatten wir immer viel Spaß mit der Geschichte von der Arche Noah.

    Hier die Fragen der Kinder (und meine): Gab es da Dinosaurier? Die hätten die Arche doch zum Einsturz gebracht.

    Jetzt weiß ich, warum es keine Einhörner gibt, die haben die Arche nicht geschafft.

    Wie hat der Eisbär die Nachricht bekommen, dass er sich vom Nordpol zum Ararat aufmachen muss? Wie ist er dahingekommen? Wie ist er wieder zurückgekommen? Waren die Räuber und Greifvögel nicht begeistert, die Nahrung so mundgerecht serviert zu bekommen? Die Fische - die müssen gejubelt haben: erweitertes Feld und keine Fressfeinde.

    Auch düstere Kapitel gibt es, die ich hier nicht zitieren will, der Völkermord im 4. Buch Mose. Der hat wahrscheinlich gar nicht stattgefunden, aber die Vorstellung, dass man ihn sich ausmalte, ist beängstigend genug.

    Die Israeliten hatten Sklaven. Nach sechs Jahren waren sie frei, aber Frauen und Kinder konnten sie nicht mitnehmen. Wenn sie auf die Freiheit verzichteten, wurden sie an den Türpfosten gestellt und dort kurzfristig festgenagelt.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Statt Bibel zurück zur Oper


    Die Regisseurin Tatjana Gürbaca äußerte sich in einem Gespräch mit dem Dramaturgen Claus Spahn im Opernhaus-Magazin 97 über die (männliche) Aufführungstradition von Opern auf die Frage: "Sollten wir in der Oper mehr Mut haben, die Werke zu überschreiben, neu zu montieren oder mit anderen zu verschränken, um dem Problem des Veralteten zu entgehen?" wie folgt:

    "Am Ende rechtfertigt der gelungene Theaterabend alles. Der muss es erweisen. Wenn er spannend konzipiert ist und mich packt und berührt, ist alles erlaubt. Aber in der Oper ist es viel schwieriger als im Schauspiel, in das Material einzugreifen. Da braucht es kompositorische Expertise und starke Begründungen dafür, den musikalischen Text zu verändern. Ich finde, es muss im Opernrepertoire von heute alles geben - alte Stücke, neue Stücke und die Möglichkeit, mit alten Stücken anders umzugehen. "


    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Ich war gestern in Barrie Koskys neuer Turandot-Produktion in Amsterdam. Die Inszenierung hat mich auf so vielen Ebenen begeistert, dass ich gar nicht wüsste, wo ich anfangen sollte zu schwärmen. Regietheater vom Feinsten, das die Titel-Frage eindeutig mit "Sinn" und drei Ausrufezeichen beantwortet.


    Hier einige Rezensionen:


    https://www.faz.net/aktuell/fe…n-amsterdam-18509564.html

    https://www.tagesspiegel.de/ku…iert-puccini-8965753.html

    https://www.deutschlandfunkkul…dot-in-amsterdam-100.html

    https://van-magazine.com/mag/kosky-turandot-amsterdam-2022/


    Nur Manuel Brug hat es nicht gefallen:

    https://www.welt.de/kultur/art…ng-keine-Spur-Leider.html

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich werde das auf jeden Fall lesen, obwohl ich kein Kosky-Fan bin. Aber wenn unser Methusalem, der im Hebräischen Methuschelach heißt, das schreibt... Das war übrigens nicht abwertend gemeint, lieber Bertarido, und du hast es ja auch ja auch gut gekontert.

    Mitglieder aus meinem Vokalensemble haben mir erzählt, dass es ab und an in Amsterdam eine Oper am Nachmittag gibt, die gedacht ist für Fans aus dem Ruhrgebiet. Morgens reist man mit dem ICE an, dann die Oper, abends mit dem ICE zurück. Die Fahrzeit ist etwa 2 Stunden. Da ich außerdem eine Bahncard50 erster Klasse habe, lohnt sich das (ist übrigens mein einziger Luxus, der sich schon dadurch finanziert, dass ich keinen SUV fahre).

    Ich habe vor ein paar Wochen mal die holländischen Programme im Internet nachgesehen, mir ist aber nicht klar, welches Opernhaus welches ist. Nationale Opera? Stopera? Da könnte ich Nachhilfe gebrauchen!

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  • Statt Bibel zurück zur Oper


    Die Regisseurin Tatjana Gürbaca äußerte sich in einem Gespräch mit dem Dramaturgen Claus Spahn im Opernhaus-Magazin 97 über die (männliche) Aufführungstradition von Opern auf die Frage: "Sollten wir in der Oper mehr Mut haben, die Werke zu überschreiben, neu zu montieren oder mit anderen zu verschränken, um dem Problem des Veralteten zu entgehen?" wie folgt:

    "Am Ende rechtfertigt der gelungene Theaterabend alles. Der muss es erweisen. Wenn er spannend konzipiert ist und mich packt und berührt, ist alles erlaubt. Aber in der Oper ist es viel schwieriger als im Schauspiel, in das Material einzugreifen. Da braucht es kompositorische Expertise und starke Begründungen dafür, den musikalischen Text zu verändern. Ich finde, es muss im Opernrepertoire von heute alles geben - alte Stücke, neue Stücke und die Möglichkeit, mit alten Stücken anders umzugehen. "


    Bibel: ich habe nur geantwortet. Außerdem ist die Bibel ja ein gigantischer Opernstoff, wie Gürbacas Salomé in Düsseldorf beweist. Was sie oben schreibt, ist absolut vernünftig. Bei ihrer Salomé in Düsseldorf hat die Musik von Strauss und der Gesang von Morenike Fadayomi das Publikum gepackt. Die Regie war unfreiwillig komisch, weil am Schluss alle tot waren, bei einigen aber das Kunstblut schon zu rinnen begann, bevor das Messer den Hals erreichte. Das ganze Stück spielte in einer engen Hochhauswohnung, wobei sich die Darsteller ständig auf den Füßen rumstanden.

    Dennoch würde ich mir nach den obigen Äußerungen von Gürbaca durchaus eine neue Inszenierung von ihr ansehen.

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  • Ich habe im Internet einen Film zur Zauberföte eintdeckt. Bisher habe ich nur den Anfang gesehen und war eigentlich recht angetan davon. Ob ich mir das jetzt lieber ansehe, als eine "klassische" Aufführung, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall scheint der Film ja eine Menge Freunde zu haben, wenn man die Klickraten und Kommentare anschaut. Rahmenhandlung ist der Grabenkampf im ersten Weltkrieg (eigentlich auch nicht so richtig Jetztzeit) und Regisseur ist Kenneth Brannagh.


    Vielleicht kennt ein Tamino ja den Film und kann etwas zu sagen.


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  • Ich finde im Grunde schon die Formulierung "Ein altes Stück aufführen" falsch, weil im Theater bei einem "alten Stück" nicht das Werk eines toten Dichters bzw. Komponisten stattfindet sondern ein gegenwärtiges Theaterkunstwerk, das - unter anderem - ein solches Werk verwendet. Der Faust ist eine dramatische Dichtung, die Meistersinger sind eine Partitur mit eingebundener Dichtung, beide sind als solche abgeschlossen und fertig, aber beide sind kein Theater. Man kann sie z.B. auch nur lesen (beim Faust dürfte das sogar die mit Abstand häufigste Form der Rezeption sein), und wenn sie in im Theater verwendet werden, sind sie danach immer noch genauso da (deshalb hinkt natürlich auch der Vergleich mit den umgebauten Pyramiden oder den übermalten Tizians).

    Lieber Christian,


    das klingt mir jetzt ein bisschen zu sehr nach Theater machen als eine Art bricolage, eine Baukasten-Bastelei. :D Der Haken dabei ist, dass Theater und auch die Vorlagen dafür (Textbuch, Partitur) für ein ganz bestimmtes Publikum geschrieben wurden. Eine Textvorlage für ein Theaterstück ist nicht nur einfach ein Text, sondern eine Vorlage für das Spielen auf dem Theater. Das gehört zur Intention des Textes. Das betrifft allein schon die Auswahl der Sujets. Schon Ende des 18. Jhd. waren die mythologischen Stoffe des Barocktheaters dem Publikum - dem aufstrebenden Bürgertum - nicht mehr vermittelbar. Die berühmten Sturm und Drang-Helden wurden damals populär, heute wirken sie manchmal eher peinlich. Ein schönes Beispiel für die Problematik ist Griselda von Alessandro Scarlatti - worauf gerade Fiesco hingewiesen hat:


    HIP-Aufnahmen alter Musik


    Die Handlung ist aber - angesichts MeToo, Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer - heutzutage so Niemandem mehr zuzumuten. (Wenn die Oper gespielt würde für mich erreichbar, würde ich sie mir selbstverständlich unbedingt ansehen! ;) ) Das zeitgenössische Publikum hat daran seinen Spaß gehabt - und in dieser Zeit war sie auch durchaus subversiv. Heute dagegen sind fundamentale Missverständnisse vorprogrammiert - die beginnen schon bei der Lektüre des Textbuches. Daran merkt man eben, dass dieses wirklich ein "altes" Stück ist:


    >>>>>Gualtiero, König von Sizilien, heiratet die Hirtin Griselda, unterwirft sie jedoch einer Reihe grausamer Prüfungen, um ihre Tugend zu sichern: Er lässt sie glauben, er habe den Tod seiner Tochter befohlen, er befiehlt ihr ebenfalls, der von ihm gewählten neuen Frau zu dienen, nimmt ihr auch ihren Sohn weg und will sie zur Heirat mit einem anderen zwingen......doch Griselda nimmt aus Liebe und Hingabe zu ihrem Mann alles in Kauf und so findet sich nun schließlich mit der Wiedervereinigung der Eheleute alles zu einen glücklichen Abschluss!<<<<


    Einen schönen Sonntag wünschend

    Holger

  • Film zur Zauberflöte [...] Rahmenhandlung ist der Grabenkampf im ersten Weltkrieg (eigentlich auch nicht so richtig Jetztzeit) und Regisseur ist Kenneth Brannagh.

    So sehr ich Sir Kenneth schätze (vielleicht der würdigste Olivier-Nachfolger), aber das halte ich nun für ein groteskes Missverständnis, ausgerechnet die "Zauberflöte" in den Schrecken des Ersten Weltkrieges anzusiedeln. :huh:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich finde im Grunde schon die Formulierung "Ein altes Stück aufführen" falsch, weil im Theater bei einem "alten Stück" nicht das Werk eines toten Dichters bzw. Komponisten stattfindet sondern ein gegenwärtiges Theaterkunstwerk, das - unter anderem - ein solches Werk verwendet.

    Ich neige immer stärker dazu, diese Auffassung zu teilen.



    So sehr ich Sir Kenneth schätze (vielleicht der würdigste Olivier-Nachfolger), aber das halte ich nun für ein groteskes Missverständnis, ausgerechnet die "Zauberflöte" in den Schrecken des Ersten Weltkrieges anzusiedeln. :huh:


    Da die Zauberflöte eine der wenigen Opern ist, die ich auch sehr gut kenne, habe ich mir dieselbe Frage gestellt. Warum nun gerade in die Grabenkämpfe des ersten Weltkrieges. Beantworten kann ich es leider nicht, muss aber zugeben, dass sich einiges sinnvoll fügt .... (soweit ich gesehen habe) Ich lobe mir meine gemütliche Inszenierung mit Böhm, Dieskau und Wunderlich, aber ich stelle fest, dass dieser Film auf der Grundlage der Musik Mozarts und des nicht übermäßig intelligenten Librettos von Schikaneder (in stark abgewandelter Form) in 9 Monaten fast 25000 Aufrufe erhalten hat. Er scheint doch einige zu interessieren. Das alleine finde ich eine Überlegung wert.


    Ich würde diesen Film als etwas eigenständiges ansehen wollen und überhaupt nicht mit der alten Inszenierung (die ich übrigens auch nur von Platte her kenne) vergleichen wollen ... Beides sind eigenständige sich nicht gegeneinander ausschließende Erlebnisse.

  • das klingt mir jetzt ein bisschen zu sehr nach Theater machen als eine Art bricolage, eine Baukasten-Bastelei. :D Der Haken dabei ist, dass Theater und auch die Vorlagen dafür (Textbuch, Partitur) für ein ganz bestimmtes Publikum geschrieben wurden. Eine Textvorlage für ein Theaterstück ist nicht nur einfach ein Text, sondern eine Vorlage für das Spielen auf dem Theater. Das gehört zur Intention des Textes. Das betrifft allein schon die Auswahl der Sujets. Schon Ende des 18. Jhd. waren die mythologischen Stoffe des Barocktheaters dem Publikum - dem aufstrebenden Bürgertum - nicht mehr vermittelbar. Die berühmten Sturm und Drang-Helden wurden damals populär, heute wirken sie manchmal eher peinlich.

    Ich bezweifle ja nicht, dass es alte Stücke sondern dass es altes Theater gibt. Weder kann Theater nur unter Verwendung einer dramatischen Dichtung stattfinden, noch geht es in dem Fall, dass es sie verwendet, darin auf. Die Dichtung (oder Komposition) ist in dem Fall ein Bestandteil des Theaterkunstwerks, zu dem sich notwendigerweise zahlreiche andere Bestandteile hinzugesellen. Sie ist deshalb auch keine "Vorlage" für ein solches Kunstwerk.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich bezweifle ja nicht, dass es alte Stücke sondern dass es altes Theater gibt.

    ... ich hatte glaube ich von "alten Theaterstücken" gesprochen... ;) :D


    Die Dichtung (oder Komposition) ist in dem Fall ein Bestandteil des Theaterkunstwerks, zu dem sich notwendigerweise zahlreiche andere Bestandteile hinzugesellen. Sie ist deshalb auch keine "Vorlage" für ein solches Kunstwerk.

    Da muss ich nun aber Einspruch erheben und zugeben, dass in diesem Punkt die Kritik der RT-Gegner berechtigt ist. Wenn der Text nur ein beliebiger Baustein unter anderen ist, aus dem man dann ein "Gesamtkunstwerk" Theateraufführung macht, dann gibt es kein Kriterium mehr, zwischen einer Aufführung, die mit der Textvorlage noch etwas zu tun hat und einer, die nur reichlich wenig damit zu tun hat und die Ausgeburt der Fantasie eines Regisseurs ist, zu unterscheiden. Nein, gegen diese "Bastelmentalität" lege ich als Ästhetiker mein Veto ein: Die Dichtung ist immer mehr als nur irgendein "Bestandteil" einer Theateraufführung unter vielen anderen, sondern bei weiterem der Wichtigste. Wenn man das nicht akzeptiert, bestreitet man jeglichen normativen Anspruch. Und das geht nicht. Dann bewegt man sich in eklatantem Widerspruch mit 2000 Jahren Dramentheorie. Seit Aristoteles gilt (und dem haben weder Lessing, Schiller, Wagner oder Bert Brecht widersprochen), dass der Sinn und Zweck einer Aufführung auf der Theaterbühne die Darstellung einer Handlung ist. Und die Festlegung der Handlung - und das ist ein normativer Sinn - geschieht in der Textvorlage. Die ist nunmal verbindlich, wenn man ein Stück aufführen will, das noch irgend etwas mit dieser Vorlage zu tun haben soll. Beispiel: Patrice Chereau zeigt Wotan als Kapitalisten. Das kann und darf er, weil es - mit Friedrich Schiller - auf dem Theater um Möglichkeiten geht. Wotan kann eben ein Kapitalist sein und umgekehrt der Kapitalist Wotan verkörpern - das ist möglich und nicht unmöglich. Wenn nun ein Regisseur auf die Idee kommt, Wotan als Angela Merkel zu zeigen, dann sollte er in der Lage sein plausibel zu machen, dass Angela Merkel wirklich ein Wotan sein kann und Wotan in Wagners Textvorlage Angela Merkel. Wenn nicht, hat diese Aktualisierung und Konkretisierung ihren dramaturgischen Sinn komplett verfehlt. ^^


    Schöne Grüße

    Holger

  • ich hatte glaube ich von "alten Theaterstücken" gesprochen...

    Ja, und ich hatte von dem gesprochen, was auf der Theaterbühne stattfindet. Das sind keine Stücke, sondern es ist Theater. Das Problem entsteht doch gerade dann, wenn man so tut, als wäre das kein bzw. kein großer Unterschied.


    Da muss ich nun aber Einspruch erheben und zugeben, dass in diesem Punkt die Kritik der RT-Gegner berechtigt ist. Wenn der Text nur ein beliebiger Baustein unter anderen ist, aus dem man dann ein "Gesamtkunstwerk" Theateraufführung macht, dann gibt es kein Kriterium mehr, zwischen einer Aufführung, die mit der Textvorlage noch etwas zu tun hat und einer, die nur reichlich wenig damit zu tun hat und die Ausgeburt der Fantasie eines Regisseurs ist, zu unterscheiden. Nein, gegen diese "Bastelmentalität" lege ich als Ästhetiker mein Veto ein: Die Dichtung ist immer mehr als nur irgendein "Bestandteil" einer Theateraufführung unter vielen anderen, sondern bei weiterem der Wichtigste. Wenn man das nicht akzeptiert, bestreitet man jeglichen normativen Anspruch. Und das geht nicht. Dann bewegt man sich in eklatantem Widerspruch mit 2000 Jahren Dramentheorie. Seit Aristoteles gilt (und dem haben weder Lessing, Schiller, Wagner oder Bert Brecht widersprochen), dass der Sinn und Zweck einer Aufführung auf der Theaterbühne die Darstellung einer Handlung ist. Und die Festlegung der Handlung - und das ist ein normativer Sinn - geschieht in der Textvorlage. Die ist nunmal verbindlich, wenn man ein Stück aufführen will, das noch irgend etwas mit dieser Vorlage zu tun haben soll. Beispiel: Patrice Chereau zeigt Wotan als Kapitalisten. Das kann und darf er, weil es - mit Friedrich Schiller - auf dem Theater um Möglichkeiten geht. Wotan kann eben ein Kapitalist sein und umgekehrt der Kapitalist Wotan verkörpern - das ist möglich und nicht unmöglich. Wenn nun ein Regisseur auf die Idee kommt, Wotan als Angela Merkel zu zeigen, dann sollte er in der Lage sein plausibel zu machen, dass Angela Merkel wirklich ein Wotan sein kann und Wotan bei Wagner Angela Merkel. Wenn nicht, hat diese Aktualisierung und Konkretisierung ihren dramaturgischen Sinn komplett verfehlt.

    Eine Rangfolge der Bestandteile habe ich nicht vorgenommen, und das stünde mir auch nicht zu. Entscheidend ist, dass das Stück auf der Bühne in einen Gesamtzusammenhang eingebettet ist, dem nicht automatisch alle anderen Bestandteile dienen müssen. Du kannst das fordern, aber es ist nicht "verbindlich". Logischerweise hat ein Theaterkunstwerk, das ein Stück verwendet bzw. in sich aufnimmt, auch "irgendetwas mit diesem Stück zu tun", aber es ist nicht die Realisierung einer "Vorlage", sondern es ist ein Kunstwerk eigener Art. Die "Handlung" ist im Theater das, was die handelnden Personen auf der Bühne tun, und das kann die "Textvorlage" gar nicht "festlegen", höchstens in Bruchstücken andeuten, zwischen denen riesige Lücken klaffen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Du kannst das fordern, aber es ist nicht "verbindlich". Logischerweise hat ein Theaterkunstwerk, das ein Stück verwendet bzw. in sich aufnimmt, auch "irgendetwas mit diesem Stück zu tun", aber es ist nicht die Realisierung einer "Vorlage", sondern es ist ein Kunstwerk eigener Art. Die "Handlung" ist im Theater das, was die handelnden Personen auf der Bühne tun, und das kann die "Textvorlage" gar nicht "festlegen", höchstens in Bruchstücken andeuten, zwischen denen riesige Lücken klaffen.

    Genau das mit den "Bruchstücken" stimmt eben nicht! Aristoteles´ Poetik ist zwar keine Werkästhetik und auch keine Rezeptionsästhetik, sondern eigentlich eine Produktionsästhetik. Sie stellt eine (Gattungs-)Norm auf, was der Dichter eines Dramas zu beachten hat, wenn er so ein Stück schreibt. Zentral bei Aristoteles ist, dass beim Drama die Handlung ein "Mythos" ist, die epische "Vielstofflichkeit" (wie bei Homer Ilias, Odyssee) ist im Drama nicht erlaubt. "Mythos" heißt nach Aristoteles dramaturgisch: eine einfache und überschaubare Handlung. Wenn sich nun die Dramendichter an diese normative Vorgabe gehalten haben, was bei der "geschlossenen Form" (im Sinne von Volker Klotz) eben der Fall ist, dann ist das letztlich verbindlich auch für einen Regisseur. Es gibt eine einheitliche Handlung in einem Drama und die Handlungsidee, welche diese Einheitlichkeit begründet. Wenn die nicht mehr erkennbar ist, dann ist das nicht mehr eine Afführung genau dieses Stücks - sondern irgend etwas anderes. :) ^^


    Schöne Grüße

    Holger

  • Es gibt eine einheitliche Handlung in einem Drama und die Handlungsidee, welche diese Einheitlichkeit begründet. Wenn die nicht mehr erkennbar ist, dann ist das nicht mehr eine Afführung genau dieses Stücks - sondern irgend etwas anderes. :) ^^

    Ich bezweifle ja gerade, dass das, was auf einer Theaterbühne stattfindet, die "Aufführung eines alten Stückes" ist. Dem kannst Du nicht damit widersprechen, dass ja ansonsten keine "Aufführung genau dieses Stücks" mehr zustande kommt. Wäre ein Theaterkunstwerk untrennbar mit der "Aufführung eines Stückes" verbunden, dann könnte es ohne Stück kein Theater geben, was offensichtlich falsch ist. Und wenn "etwas anderes" auf der Bühne stattfindet: Was ist denn damit über das Theaterkunstwerk gesagt?

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich bezweifle ja gerade, dass das, was auf einer Theaterbühne stattfindet, die "Aufführung eines alten Stückes" ist. Dem kannst Du nicht damit widersprechen, dass ja ansonsten keine "Aufführung genau dieses Stücks" mehr zustande kommt. Wäre ein Theaterkunstwerk untrennbar mit der "Aufführung eines Stückes" verbunden, dann könnte es ohne Stück kein Theater geben, was offensichtlich falsch ist. Und wenn "etwas anderes" auf der Bühne stattfindet: Was ist denn damit über das Theaterkunstwerk gesagt?

    Und dann kommen die RT-Gegner und sagen: Das Stück darf nicht als "Zauberflöte" von W.A. Mozart angekündigt werden, sondern als "Zauberflöte" von Regisseur XY - unter Verwendung einiger Ideen von Mozart. Wie willst Du ihn mit Deinen Prämissen da widersprechen? Haben sie so nicht einfach Recht? ^^


    Schöne Grüße

    Holger

  • Die Zauberflöte.....


    als Film von Kenneth Brannagh ist schon sehr gelungen. Die Möglichkeiten die ein Film hat werden genutzt, aber ansonsten sehe ich das eher als klassisch inszeniert. Der erste Weltkrieg stört mich nicht und Rene Pape gibt einen würdigen Sarastro. Ist eben Kino.


    Apropos Kino, da läuft gerade eine "Fantasy" Zauberflöte - ich denke das brauche ich nicht...



    Kalli

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  • Und dann kommen die RT-Gegner und sagen: Das Stück darf nicht als "Zauberflöte" von W.A. Mozart angekündigt werden, sondern als "Zauberflöte" von Regisseur XY - unter Verwendung einiger Ideen von Mozart. Wie willst Du ihn mit Deinen Prämissen da widersprechen? Haben sie so nicht einfach Recht?

    Das, was im Theater unter der Überschrift "Die Zauberflöte" stattfindet, ist natürlich nur zu einem Teil von Mozart, egal wer wie inszeniert. Insofern finde ich dieses "Argument" der "Regietheater"-Gegner nicht ernst zu nehmen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Das, was im Theater unter der Überschrift "Die Zauberflöte" stattfindet, ist natürlich nur zu einem Teil von Mozart, egal wer wie inszeniert. Insofern finde ich dieses "Argument" der "Regietheater"-Gegner nicht ernst zu nehmen.

    Damit weichst Du aber der entscheidenden Frage aus. Bei Instrumentalmusik unterscheidet man ja auch zwischen einer Transkription oder Paraphrase. Wie weit darf eine Barbeitung gehen, damit ein Werk noch als Werk von Mozart anzusehen ist? Aktuell gibt es ein Musical, das so angekündigt wird: "Zauberflöte - Musical nach W.A. Mozart". Da weiß jeder, dass es sich nicht um die Zauberflöte von Mozart handelt - also nicht das "Original":


    https://www.adticket.de/Die-Za…al-nach-W.-A.-Mozart.html


    Wo ist also die Grenze zu setzen zwischen einer Bearbeitung, die auf ein Werk nur noch von Ferne Bezug nimmt und einer Bearbeitung, die als zum Werk selbst gehörige Möglichkeit zu betrachten ist? Diese Frage musst Du schon beantworten können - sonst haben die RT-Gegner gewonnen! :D


    Schöne Grüße

    Holger

  • Wo ist also die Grenze zu setzen zwischen einer Barbeitung, die auf ein Werk nur noch von Ferne Bezug nimmt und einer Bearbeitung, die als zum Werk selbst gehörige Möglichkeit zu betrachten ist?


    Auch wenn die Frage nicht an mich gerichtet war: der Unterschied zwischen einer Bearbeitung und Nicht-Bearbeitung ist m. E. eine Frage der Konvention.


    So sehen wir beispielsweise eine Aufführung von Bach oder Scarlatti auf dem modernen Konzertflügel üblicherweise nicht als Bearbeitung an. Man könnte diese Sichtweise theoretisch ändern, wenn man sich auf eine andere Sichtweise einigen könnte.


    Im Falle des Theaters beruht ein eher freier Umgang mit dem Material letztlich auf einer jahrhundertealten Tradition, ohne dass man jedesmal "Bearbeitung" dazugeschrieben hätte. Auch das könnte man per Übereinkunft vermutlich ändern, aber dann müsste man sich auf eine neue Norm einigen. Damit es nicht beliebig wird, könnte diese neue Norm wohl nur eine absolute und unerbittliche Texttreue sein. Das hätte dann den Nachteil, dass auch die Inszenierungen von Wieland Wagner, Ponnelle oder vermutlich sogar das meiste von Otto Schenk im Rückblick als "Bearbeitung" gelten müssten.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Wo ist also die Grenze zu setzen zwischen einer Bearbeitung, die auf ein Werk nur noch von Ferne Bezug nimmt und einer Bearbeitung, die als zum Werk selbst gehörige Möglichkeit zu betrachten ist? Diese Frage musst Du schon beantworten können - sonst haben die RT-Gegner gewonnen! :D

    Nein, die Frage, wie man ein Kunstwerk nennt, ist von denen zu beantworten, die es erschaffen. Da ich kein Theater mache, muss ich diese Frage also auch nicht beantworten. Übrigens sind auch bei Instrumentalmusik die Grenzen zwischen Transkription und Paraphrase keineswegs immer eindeutig zu ziehen: Was sind z.B. Franz Liszts Arrangements der Schubert-Lieder für Klavier solo? Im 19. Jahrhundert bezeichnete der Begriff "Paraphrase" einerseits virtuose Bearbeitungen von Opern-Melodien für Klavier, Flöte, Geige usw., andererseits wurde er aber auch als Oberbegriff für Transcription, Réminiscence, Rondeau, Introduction, Improvisation, Caprice, Fantaisie usw. verwendet. Erst 1909 kritisierte Hugo Riemann die Verwendung des Begriffs für "einfache, nicht verzierte Arrangements für andere Besetzungen (Transkriptionen)".

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    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Auch wenn die Frage nicht an mich gerichtet war: der Unterschied zwischen einer Bearbeitung und Nicht-Bearbeitung ist m. E. eine Frage der Konvention.

    Eine Konvention ist auch, wenn ich einen Raum betrete und "Guten Morgen" sage. Die Frage ist letztlich, ob das eine sinnvolle oder nicht sinnvolle Tradition ist. Die Frage nach dem Sinn sollte man also beantworten. :)

    So sehen wir beispielsweise eine Aufführung von Bach oder Scarlatti auf dem modernen Konzertflügel üblicherweise nicht als Bearbeitung an. Man könnte diese Sichtweise theoretisch ändern, wenn man sich auf eine andere Sichtweise einigen könnte.

    Der Fall ist aber ein bisschen anders gelagert, finde ich. Weil man den Notentext nicht verändert. ;)

    Im Falle des Theaters beruht ein eher freier Umgang mit dem Material letztlich auf einer jahrhundertealten Tradition, ohne dass man jedesmal "Bearbeitung" dazugeschrieben hätte.

    Da haben wir sie wieder, die Konvention. Das Argument bringe ich ja auch. Nur: Auch hier stellt sich die Sinnfrage. Maßstäbe können sich ändern. Die Freiheiten, die sich das 19. Jhd. herausgenommen hat, können wir uns so nicht mehr erlauben. Zumal es ja auch die Opernkritik gibt. Schon Rousseau beklagt sich im 18. Jhd. gegen die wie er findet Unsitte in Paris, Balletteinlagen zur Unterhaltung des Publikums in die Opern einzubauen.

    Auch das könnte man per Übereinkunft vermutlich ändern, aber dann müsste man sich auf eine neue Norm einigen. Damit es nicht beliebig wird, könnte diese neue Norm wohl nur eine absolute und unerbittliche Texttreue sein. Das hätte dann den Nachteil, dass auch die Inszenierungen von Wieland Wagner, Ponnelle oder vermutlich sogar das meiste von Otto Schenk im Rückblick als "Bearbeitung" gelten müsste.

    Für "unerbittliche Texttreue" würde ich auch nicht plädieren, aber dafür, dass man sich selber Maßstäbe setzt, die auch nachvollziehbar sind.

    Nein, die Frage, wie man ein Kunstwerk nennt, ist von denen zu beantworten, die es erschaffen. Da ich kein Theater mache, muss ich diese Frage also auch nicht beantworten. Übrigens sind auch bei Instrumentalmusik die Grenzen zwischen Transkription und Paraphrase keineswegs immer eindeutig zu ziehen: Was sind z.B. Franz Liszts Arrangements der Schubert-Lieder für Klavier solo? Im 19. Jahrhundert bezeichnete der Begriff "Paraphrase" einerseits virtuose Bearbeitungen von Opern-Melodien für Klavier, Flöte, Geige usw., andererseits wurde er aber auch als Oberbegriff für Transcription, Réminiscence, Rondeau, Introduction, Improvisation, Caprice, Fantaisie usw. verwendet. Erst 1909 kritisierte Hugo Riemann die Verwendung des Begriffs für "einfache, nicht verzierte Arrangements für andere Besetzungen (Transkriptionen)".

    Ja, im 19. Jhd. war die Grenze von Barbeitung und Interpretation fließend. Aber auch Liszt kannte Maßstäbe. Chopins Polonaise-Fantasie irritierte ihn (ausgerechnet ihn, der ein so innvovativer Komponist war!), weil sie nicht der Gattungsnorm entsprach. Auf Gattungsnormen hat man im 19. Jhd. noch viel Wert gelegt. Das ändert sich dann im 20. Jhd. Auch hier finde ich, ist die Geschichte und der mit ihr gegebene Wandel der Maßstäbe doch zu beachten. Das Bemühen um Werkgerechtigkeit lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Maurizio Pollini erzählt im Film, was für ein geradezu umstürzlerisches Erlebnis für ihn die "werktreuen" Verdi-Aufführungen von Toscanini waren. Natürlich sollten wir immer die ganze Aufführungstradition reflektieren. Aber daraus kann nur folgen, dass wir uns selber bemühen müssen, Maßstäbe zu finden und zu setzen. Einfach irgendwie herumwurschteln und herumbasteln geht nicht... ^^


    Schöne Grüße

    Holger

  • Für "unerbittliche Texttreue" würde ich auch nicht plädieren, aber dafür, dass man sich selber Maßstäbe setzt, die auch nachvollziehbar sind.


    Ist dies nicht letztlich das, was ChKöhn schrieb? Der sinnvollste Setzer der Maßstäbe dürfte nämlich derjenige sein, der das künstlerische Erzeugnis macht, da er/sie auch dafür verantwortlich zeichnet. Also muss letztlich ein Regisseur wissen, ob er/sie eine Produktion "Tristan und Isolde" oder "Musiktheater inspiriert von 'Tristan und 'Isolde'" nennen möchte. Wenn er/sie extrem frei mit dem Material umgeht und dadurch Divergenzen zwischen Erwartungen des Publikums und dem Gezeigten auf der Bühne hervorruft, ist das ja auch sein/ihr Problem. Nur: woran soll man sich bei der Nomenklatur für eine solche Musiktheater-Veranstaltung orientieren? Ich wüsste keinen besseren ersten Maßstab zur Orientierung als die Konvention. Ob diese Konvention logisch begründbar ist oder nicht, ist eher eine akademische Frage, aber ein Theatermacher muss als Praktiker entscheiden, was auf den Programmzettel kommt.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich lese diesen Diskurs interessiert mit, fände es aber schön wenn auf sinnfreies " gendern " verzichtet werden könnte ! Das nervt beim Lesen ungemein! Danke !

  • Ich lese diesen Diskurs interessiert mit, fände es aber schön wenn auf sinnfreies " gendern " verzichtet werden könnte ! Das nervt beim Lesen ungemein! Danke !

    Ich lese diesen Diskurs auch mit Interesse.


    Ich fände es aber gut, wenn jeder seinen eigenen Stil schreiben dürfte, ohne irgendeinem Dogma gehorchen zu müssen.

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