Sinn oder Unsinn - Regietheater

  • Wieso? Er ist gemeinfrei, d.h. man kann zumindest de jure niemanden verpflichten, dass der Text in einer bestimmten Weise genutzt wird.


    Ich würde es anders formulieren: der Text schafft keine Verbindlichkeiten, aber eine gewisse Fallhöhe. Egal, was jemand theatralisch daraus macht - es hätte zumindest die theoretische Möglichkeit bestanden, den Text möglichst buchstabengetreu "auszukostümieren". Wenn man mit der Aufführung hinter diese Option zurückfällt, kann das m. E. ein plausibler Grund sein, die für die Aufführung getroffenen Entscheidungen infrage zu stellen.

    Da zäumst Du das Pferd aber vom Schweanz auf. ^^ Veränderungen der Textvorlagen geschahen in der Vergangenheit ja aus gewissen Notlagen heraus, waren also nie ganz freiwillig, sondern erzwungen - das konnten missliche Aufführungsbedingungen sein, die Zahl der zur Verfügung stehenden Schauspieler, Musiker, das konnten bei Tonaufzeichnungen Begrenzungen sein, es konnten auch Konzessionen an den Publikumsgeschmack sein, die widerwillig geschahen. Wenn alle diese Zwänge nicht mehr bestehen, kann ich erst einmal ein Stück vollständig so aufführen, wie es geschrieben steht. Dann liegt die Begründungslast bei dem, der trotzdem, obwohl er es nicht nötig hat, meint, er müsse da Veränderungen vornehmen.

    Wer ist "man"? Und verlangen kann "man" natürlich viel, aber das bedeutet nicht, dass man einen Anspruch darauf hat, das Verlangte auch zu erhalten.

    Dann habe ich aber auch die Freiheit, das im Stile der RT-Gegner als Vergewaltigung oder "Verunstaltung" eines Werkes zu bezeichnen. Zurückhaltung kann man von mir da ebernsowenig verlangen. :D So kommt man argumentativ also nicht weiter.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Veränderungen der Textvorlagen geschahen in der Vergangenheit ja aus gewissen Notlagen heraus, waren also nie ganz freiwillig, sondern erzwungen


    Keineswegs. Teilweise wurde sowas gemacht, weil man es einfach machen wollte. Im 18. Jahrhundert war es z. B. vollkommen üblich, Arien aus anderen Opern in Opernaufführungen einzubauen, weil Sänger sie besonders gut beherrschten oder sie besonders effektvoll waren - egal, ob das inhaltlich Sinn gemacht hat oder nicht. Ich würde das nicht als "Notlage" bezeichnen - es war schlicht ein freierer Umgang mit dem Material. Hat nicht sogar der (ansonsten stark Wagner-geprägte) Mahler so etwas noch ca. um die Jahrhundertwende mit der Melba gemacht? Worin bestand denn damals seine "Notlage"? Hat man ihn etwa erpresst? ;)


    Dann habe ich aber auch die Freiheit, das im Stile der RT-Gegner als Vergewaltigung oder "Verunstaltung" eines Werkes zu bezeichnen.


    Du kannst eine Aufführung bezeichnen, wie Du sie bezeichnen möchtest, aber wenn Du sie als "Verunstaltung" bezeichnest, bloß weil sie nicht Deinen Erwartungen oder Begierden entsprochen hat, sagt das wenig über die Qualität der Aufführung aus.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ergänzend zu dem, was Symbol geschrieben hat: Deine Prämisse ist, ein Regisseur wolle "das eigentliche Stück aufführen". Woher nimmst Du diese Information? Vielleicht will er einfach nur unter Verwendung des Stückes ein möglichst gelungenes Theaterkunstwerk schaffen? Da also Deine Prämisse nicht haltbar ist, gilt das auch für Deine Schlussfolgerung, dass sich aus ihr "Verbindlichkeiten" ergeben. Diese ergeben sich aus Deinen persönlichen Erwartungen an eine angeblich "werkgerechte" Aufführung, aber nicht aus dem Stück.

    Wenn Peter Konwitschny über seine Inszenierungen spricht, betont er ausdrücklich, dass er "werkgerecht" oder "werktreu" sein will. Er studiert die Textvorlagen und all das, was damit zusammenhängt, auch bis ins kleinste Detail. Es ist unsere Zeit, welche dieses Kriterium aufgestellt hat. Das hat sich durchgesetzt. Das ist also nicht nur meine "persönliche Erwartung". Wer davon abrückt, steht damit im Widerspruch zu einem Konsens.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Wenn Peter Konwitschny über seine Inszenierungen spricht, betont er ausdrücklich, dass er "werkgerecht" oder "werktreu" sein will. Er studiert die Textvorlagen und all das, was damit zusammenhängt, auch bis ins kleinste Detail. Es ist unsere Zeit, welche dieses Kriterium aufgestellt hat. Das hat sich durchgesetzt. Das ist also nicht nur meine "persönliche Erwartung". Wer davon abrückt, steht damit im Widerspruch zu einem Konsens.


    Keineswegs - Du kannst nämlich keinen "Konsens" durch das Zitieren eines Einzelfalls belegen (der Einzelfall wird immer mit sich im Konsens sein). Aus der Haltung von Peter Konwitschny kann man nicht ableiten, dass alle heutigen Regisseure von Rang ähnlich denken wie er.


    Dass es sich empfiehlt, etwas sehr minutiös zu studieren, das man für eine Aufführung verwenden möchte, finde ich sehr plausibel. Das muss aber nichts mit "werkgerecht" oder "werktreu" zu tun haben. Alfred Brendel z. B. hat derartige Begriffe stets abgelehnt, war aber trotzdem ein gnadenloser Pedant im Studium des Notenmaterials (was ihn nicht an einem freien Umgang mit selbigem gehindert hat, siehe DV 960).


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Apropos Text......ich empfehle dies!



    "Den "Ring des Nibelungen zu lesen ist eine logopädische
    Zirkusnummer; die Alliterationen und Stabreime einigermaßen
    in den Griff zu bekommen nicht minder. Wagner, der
    Überlieferung nach ein begnadeter Vortragskünstler und
    verhinderter Schauspieler, hat es gern und relativ häufig
    getan. Ich selber habe es nun auch versucht. Sechzehn
    Stunden Musik sind in sechs Stunden Sprache
    zurückverwandelt worden. Ein unlauteres Verfahren?
    Ein lehrreiches jedenfalls." (Sven-Eric Bechtolf)
    Kaum ein Regisseur bereitet sich so gründlich auf eine der freilich größten Aufgaben seiner Zunft vor. Und kaum ein Schauspieler hat nicht nur so viele präzis umrissene Charaktere im Kopf, sondern kann diese auch mit rein sprachlichen Mitteln zum Leben erwecken: Multitalent Sven-Eric Bechtolf geht der gewaltigen Dichtung auch vor dem Mikrophon mit darstellerischer Verve, Akribie sowie der nötigen Prise Humor auf den Grund. Wagners Text, in Opernaufführungen oft schwer verständliche Nebensache, wird vor den Vorhang gebeten: Uralter Mythos und moderne Psychologie vereinen sich da zu zeitloser Gültigkeit. Mag auch die Rede von Göttern und Helden sein: der „Ring des Nibelungen“, das beweist Bechtolf in dieser fulminant gemeisterten Tour de Force, ist ein Menschheitsdrama ersten Ranges.


    Ich pers. kann nur sagen, mir hat das unglaublich gut gefallen und hat mir auch geholfen die Texte besser zu versten.


    LG Fiesco


    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Keineswegs - Du kannst nämlich keinen "Konsens" durch das Zitieren eines Einzelfalls belegen (der Einzelfall wird immer mit sich im Konsens sein). Aus der Haltung von Peter Konwitschny kann man nicht ableiten, dass alle heutigen Regisseure von Rang ähnlich denken wie er.


    Dass es sich empfiehlt, etwas sehr minutiös zu studieren, das man für eine Aufführung verwenden möchte, finde ich sehr plausibel. Das muss aber nichts mit "werkgerecht" oder "werktreu" zu tun haben. Alfred Brendel z. B. hat derartige Begriffe stets abgelehnt, war aber trotzdem ein gnadenloser Pedant im Studium des Notenmaterials (was ihn nicht an einem freien Umgang mit selbigem gehindert hat, siehe DV 960).


    LG :hello:

    Bezeichnend ist doch: Brendel hat einen regelrechten Sturm der Entrüstung ausgelöst mit seinen Betrachtungen, so dass er sich genötigt sah, eine Klarstellung zu schreiben. :) Die lobende Erwähnung einer werktreuen Aufführung taucht zuerst nachweisbar auf in einer Kritik eines Furtwängler-Konzerts in den 1920iger Jahren. Seither ist Werktreue immer ein lobendes Kriterium. Nur bei Theaterleuten ist der Begriff umstritten. Aber wenn sich selbst ein Konwitschny darauf beruft, zeigt das doch, was der Zeitgeist ist. Umgekehrt müsstest Du Beispiele anführen für eine negative Konnotation. :D


    Schöne Grüße

    Holger

  • Bezeichnend ist doch: Brendel hat einen regelrechten Sturm der Entrüstung ausgelöst mit seinen Betrachtungen, so dass er sich genötigt sah, eine Klarstellung zu schreiben. :) Die lobende Erwähnung einer werktreuen Aufführung taucht zuerst nachweisbar auf in einer Kritik eines Furtwängler-Konzerts in den 1920iger Jahren. Seither ist Werktreue immer ein lobendes Kriterium. Nur bei Theaterleuten ist der Begriff umstritten. Aber wenn sich selbst ein Konwitschny darauf beruft, zeigt das doch, was der Zeitgeist ist. Umgekehrt müsstest Du Beispiele anführen für eine negative Konnotation.


    Wir haben einen ausübenden professionellen Künstler in diesem Thread, der den Begriff ablehnt. Brendel habe ich bereits erwähnt, Klarstellung hin oder her.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Diese Nennung ehrt mich zwar sehr, aber als oller Protestant fühle ich mich Luther irgendwie etwas näher als den Kirchenvätern. ;)




    LG :hello:

    Lieber Symbol, es handelt sich hier nicht um reale Theologie, sondern um Regietheater-Theologie. Du musst wissen, dass mein Dr. nicht echt ist und auch Pingel nicht. Ich bin fertig ausgebildeter Theologe, also Lutheraner wie du. Allerdings war mir der Kirchendienst nicht geheuer, so bin ich Lehrer geworden, aber zum Glück angesichts der Misere dort schon pensioniert.

    Der Titel "Kirchenvater" ist satirisch gemeint, aber auch ehrenvoll. Den Hintergrund dazu findest du in meinem Satirethread "Dr. Pingel´s satyrisch musikalische Brosamen" als #254 (das fiktive "filioque" im Regietheater).

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Hier haben wir das klassische Konzil, in dem stark gestritten wird. Man kann das nachhören (Nachlesen reicht nicht, da würde ich Holger unbedingt zustimen) im zweiten Akt von Pfitzners "Palestrina!" Die beiden unterschiedlichen Haltungen zum Theater (Literaturvorlage oder Darstellung inkl. gesprochenem Text) sind klassische Konfessionen wie zur Zeit des "filioque" oder des "Augsburger Reichstags" (1555) mit seiner endgültigen Trennung von evangelisch und katholisch. Welcher unserer "Kirchenväter" hier nun wer ist (Papst oder Luther), steht noch dahin.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Ich bin fertig ausgebildeter Theologe, also Lutheraner wie du.


    Auch das ehrt mich, aber zum ausgebildeten Theologen hat es bei mir nicht gereicht. :)


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

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  • Nur als Leser, nicht als aktiver Teilnehmer an diesem Diskurs:

    Du kannst eine Aufführung bezeichnen, wie Du sie bezeichnen möchtest, aber wenn Du sie als "Verunstaltung" bezeichnest, bloß weil sie nicht Deinen Erwartungen oder Begierden entsprochen hat, sagt das wenig über die Qualität der Aufführung aus.


    LG :hello:

    Und woher kommen die Kriterien, die "die Qualität der Aufführung" ausmachen, - wenn nicht aus dem literarischen oder musikalischen Werk, das ihr zugrunde liegt?

    Das argumentative Operieren mit Begriffen wie "deine Erwartungen" und gar "Begierden" macht "Qualität" zu einer rein subjektiven Angelegenheit.

    Ich vermag der Argumentation von Dr. Kaletha voll und ganz zu folgen. Sie weist eine klare und sachlich fundierte innere Logik auf.

    Der hiesige Diskurs krank daran, dass ChKöhn den Begriff "Theater" verabsolutiert, ihn nicht in seiner Relation zum zugrundliegenden künstlerischen literarischen oder musikalischen Text sehen will und Symbol ihm darin folgen zu wollen scheint.

    "Theater" ist für ihn ein autonomes Geschehen auf der Bühne, das in Gestalt einer Inszenierung durch einen Regisseur zustande kommt. Dazu braucht es nicht unbedingt eines Zulieferers in Form eines solchen Textes von außerhalb. Er übersieht dabei aber, dass auch dann der theatralischen Inszenierung ein Text zugrunde liegt, - nur dass der sich nun im Kopf des Regisseurs befindet.

    Das autonome theatralische Bühnengeschehen gibt es nicht, es ist immer und in allen Fällen ein relationales und bezieht daraus die Kriterien seiner Qualität.

  • Wenn Peter Konwitschny über seine Inszenierungen spricht, betont er ausdrücklich, dass er "werkgerecht" oder "werktreu" sein will. Er studiert die Textvorlagen und all das, was damit zusammenhängt, auch bis ins kleinste Detail. Es ist unsere Zeit, welche dieses Kriterium aufgestellt hat. Das hat sich durchgesetzt. Das ist also nicht nur meine "persönliche Erwartung". Wer davon abrückt, steht damit im Widerspruch zu einem Konsens.

    Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis: Selbstverständlich wird ein Künstler - wenn er gut ist - ein verwendetes fremdes Werk bis ins kleinste Detail studieren. Aber nicht, um irgendeine ominöse Treueverpflichtung zu erfüllen, sondern um das Material, mit dem er arbeiten will, in allen seinen Eigenschaften, Vorzügen, Grenzen und Möglichkeiten kennenzulernen. Das ist also gerade die Voraussetzung zu der Freiheit, aus diesem Material etwas Neues, Eigenes zu schaffen. Ich spreche also nicht von Beliebigkeit sondern von Freiheit. Gerade Peter Konwitschny ist (bzw. war; seit einiger Zeit tritt er vielleicht ein bisschen auf der Stelle) dafür ein herausragendes Beispiel. Und als Beweis für einen angeblichen "Konsens" taugen seine Aussagen schon gar nicht, höchstens für den Konsens, sorgfältig zu arbeiten.


    Und woher kommen die Kriterien, die "die Qualität der Aufführung" ausmachen

    Natürlich aus der Aufführung selbst, woraus denn sonst?


    Der hiesige Diskurs krank daran, dass ChKöhn den Begriff "Theater" verabsolutiert, ihn nicht in seiner Relation zum zugrundliegenden künstlerischen literarischen oder musikalischen Text sehen will

    Wie gesagt ist Theater nicht auf einen solchen "zugrundeliegenden künstlerischen literarischen oder musikalischen Text" angewiesen. Mit Deinem Einwand, dieser Text könne ja auch "im Kopf des Regisseurs" vorhanden sein, bestätigst Du gerade, was ich sage: dass sich aus dem Text, wenn er verwendet wird, keine Verbindlichkeit ableiten lässt, das in einer vorherbestimmten Weise zu tun.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Das autonome theatralische Bühnengeschehen gibt es nicht, es ist immer und in allen Fällen ein relationales und bezieht daraus die Kriterien seiner Qualität.


    Das ist sachlich schlicht falsch. Es gibt selbstverständlich auch so etwas wie improvisiertes Theater ohne Textgrundlage.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Wir haben einen ausübenden professionellen Künstler in diesem Thread, der den Begriff ablehnt.

    Ich versuche schon lange und vergeblich zu ergründen, was man unter "Werkgerechtigkeit" eigentlich versteht, aber das hier hat mich heute völlig verwirrt:

    Eine werkgerechte Aufführung kann sehr routiniert und langweilig sein...

    Der Duden definiert den Begriff als "dem Wesen eines Kunstwerks entsprechend, ihm gerecht werdend". Diese Definition ist natürlich sehr problematisch, weil sie gleich mehrere Begriffe verwendet ("Wesen", "gerecht"), die genauso unscharf sind wie der zu definierende, aber immerhin geht doch daraus hervor, dass eine langweilige Aufführung nur dann "werkgerecht" sein kann, wenn es dem "Wesen" des Werkes entspräche, langweilig zu sein. Das...

    Bemühen um Werkgerechtigkeit

    ... wäre also bei einem langweiligen Stück das Bemühen, es auch möglichst langweilig zu spielen bzw. zu inszenieren. Auch so ein Ziel ist selbstverständlich legitim, aber welchen Sinn sollte das haben? Ich war eigentlich immer der Meinung, dass es in der Kunst - und besonders im Theater - keine größere Sünde gibt als Langeweile (ich habe das vor ein paar Jahren mal in Bayreuth erfahren, als ich bei Katharina Wagners "Tristan" peinlicherweise ganz kurz weggenickt bin...).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • ChKöhn:

    Zitat

    Ich versuche schon lange und vergeblich zu ergründen, was man unter "Werkgerechtigkeit" eigentlich versteht,...

    Wir versuchen für "Sachverhalte/Begrifflichkeiten/Ideen" Worte in unserer Sprache zu finden.


    Was der Einzelne dann darunter versteht, kann für den anderen irreführend sein und führt zwangsläufig zu Mißverständnissen im Dialog.


    Kein Wunder, daß der große Universalgelehrte Leibnitz deshalb die Auffassung vertrat, die Sprache müsse durch das Binärsystem ersetzt werden.


    Für Otto Klemperer war Werktreue/Werkgerechtigkeit nicht die penible Einhaltung der Partitur, es gilt ein tieferes Verständnis für die Komposition zu erreichen und das dann umzusetzen.


    Er erklärte das am Beispiel von Beethoven, der bei den Bläsern nur die damaligen Holzinstrumente kannte, was bei den modernen Blasinstrumenten tonal zu Unverträglichkeiten führen würde.


    Werktreue schließt deshalb Anpassung an die Gegebenheiten nicht aus, allerdings war Klemperer z.B. gegen alles, was diesbezüglich mit überzogener Zurschaustellung und Pomp einhergeht.


    Die von Besuchern empfundene Störung vieler Regietheater-Inszenierungen auf das Gesamtwerk sollte daher nicht über den Begriff der Werktreue/-gerechtigkeit diskutiert werden, die Problematik liegt woanders.



    t

  • Wir haben einen ausübenden professionellen Künstler in diesem Thread, der den Begriff ablehnt. Brendel habe ich bereits erwähnt, Klarstellung hin oder her.

    Maurizio Pollini ist auch ein professioneller Künstler. ;) Er lobt emphatisch Arturo Toscanini als musikgeschichtlichen Pionier und für ihn als jungen Künstler prägende Erfahrung, dass ihm die Welt "werktreue" Aufführungen italienischer Opern verdankt. Und Alfred Brendel muss man schon genau lesen und richtig verstehen. Brendel ist ein Mensch mit viel Humor. Er weiß natürlich, dass man ihn zu den "werktreuen" Interpreten zählt als Musterbeispiel sozusagen. Das war also eine gezielte Provokation - da wollte er dem etwas steifen Wiener Akademismus eins auswischen. ^^ Inhaltlich hat Brendel an keiner Stelle dem widersprochen, dass eine Interpretation werkgerecht sein soll. Er stört sich an der "Treue" im Sinne von Buchstabentreue und führt dann zu Mozart aus, dass der ein Schnellschreiber war und oft sehr schlampig in der Notentextnotierung, die offensichtliche Fehler enthält, die er nicht korrigiert hat. Da müsse er als Interpret Mozart also "Hilfestellung" leisten, indem er nicht einfach spielt, was in den Noten geschrieben steht, sondern die Fehler korrigiert.


    Grundsätzlich ist "Werktreue" oder "Werkgerechtigkeit" ein positiv konnotierter Begriff. Daran ändert auch nichts, dass es ein kleines Häuflein von RT-Regisseuren und RT-Sympathisanten gibt, die mit dieser Forderung nicht viel anfangen können. Damit, dass Regietheater einen so heftigen Protest auslöst, wird doch die positive Konnotation und allgemeine Akzeptanz des Kriteriums "Werktreue" gerade belegt. Sonst hätte schlicht so gut wie Niemand etwas daran auszusetzen, dass Regisseure an Werken herumbasteln so wie es ihnen beliebt.

    Und woher kommen die Kriterien, die "die Qualität der Aufführung" ausmachen, - wenn nicht aus dem literarischen oder musikalischen Werk, das ihr zugrunde liegt?

    Sehr richtig und berechtigt, die Frage! Darauf die für mich völlig unbefriedigende Antwort:

    Natürlich aus der Aufführung selbst, woraus denn sonst?

    Das ist einfach nur flapsig gesagt und völlig unverständlich. ^^ Ich hatte das Beispiel der Aufführung von Madame Butterfly in Münster gebracht, über die wir mit Opernfreunden diskutiert haben. Da wurde die Ansicht vertreten - von einem Liebhaber von RT wohlgemerkt (!!!) - dass dieses Regiekonzept misslungen sei, weil die Veränderungen, die der Regisseur gegenüber der Textvorlage vorgenommen hat (Veränderung von Ort und Zeit der Handlung, der Figuren, von Teilen der Handlung) zu gravierenden Unstimmigkeiten führen. Dieses Urteil bzw. die offenbar bestehende Möglichkeit, eine solche Kritik an einer Inszenierung überhaupt üben zu können, ist die Bestätigung von Helmut Hofmann. Man kann diese konkrete Aufführung nur in einer solchen Weise kritisieren, wenn man die Aufführung zu dem ins Verhältnis setzt, was - von der Aufführung unabhängig - das "literarische und musikalische Werk" ist. Deine Antwort ist da nur Wischi-Waschi und ausweichend. :D


    Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis: Selbstverständlich wird ein Künstler - wenn er gut ist - ein verwendetes fremdes Werk bis ins kleinste Detail studieren. Aber nicht, um irgendeine ominöse Treueverpflichtung zu erfüllen, sondern um das Material, mit dem er arbeiten will, in allen seinen Eigenschaften, Vorzügen, Grenzen und Möglichkeiten kennenzulernen. Das ist also gerade die Voraussetzung zu der Freiheit, aus diesem Material etwas Neues, Eigenes zu schaffen. Ich spreche also nicht von Beliebigkeit sondern von Freiheit.


    Ich finde Deine Animositäten dem Wort "Treue" gegenüber (das ich wie schon gesagt auch nicht mag, ich spreche lieber von "Werkgerechtigkeit") nun nicht besonders zielführend, um das eigentliche Sachproblem zu klären. Erst einmal muss ich als studierter Literaturwissenschaftler und Germanist sagen, dass ich nicht einverstanden bin mit der etwas hemdsärmeligen Art, wie Du über Texte redest. Ein Text, der keine bloß lose Ansammlung von Aphorismen darstellt, ist auch kein "Material", mit dem man irgendwie herumhantiert. Ein Text, der ein "Werk" darstellt, ist vielmehr ein geschlossener Sinnzusammenhang und will und muss in der Textanalyse auch als solcher betrachtet werden. Das verlangt jeder Dozent von seinen Studenten - sonst fallen sie schlicht durch die Prüfung. ^^ Durch Textanalyse stellt sich heraus - gemäß der Definition eines vollendeten Werks, von dem man keine Teile wegnehmen oder hinzufügen kann, ohne es als Ganzes zu zerstören - was die konstitutiven Bestandteile dieses Textes sind, welche für das Verständnis des Sinnzusammenhangs unbedingt erfoderlich sind, so dass er nicht in Teilen oder im Ganzen unverständlich wird bzw. einen ganz anderen Sinn bekommt, der nicht zu ihm gehört. Und da hört auch die Freiheit des Interpreten auf. Wenn ich als Dozent eine Arbeit eines Studenten bekommen würde, die sich frei wähnend über diese methodische Grundregel der Textinterpretation hinwegsetzt, bekommt er die Arbeit mit der Note "ungenügend" zurück und ich lasse ihn durch die Prüfung fallen. Ganz genauso beurteile ich die Leistung eines Regisseurs, der nicht bereit ist, eine Textvorlage als Verbindlichkeit zu betrachten, welche seine künstlerische "Freiheit" einschränkt, als inakzeptabel und - wenn dies seine Grundhaltung zu Texten und Werken ist - halte ihm vor, dass er nicht den nötigen Respekt vor den Autoren/Komponisten und ihren Werken zeigt, den sie verdienen und versage ihm meinerseits den Respekt.


    Gerade Peter Konwitschny ist (bzw. war; seit einiger Zeit tritt er vielleicht ein bisschen auf der Stelle) dafür ein herausragendes Beispiel. Und als Beweis für einen angeblichen "Konsens" taugen seine Aussagen schon gar nicht, höchstens für den Konsens, sorgfältig zu arbeiten.

    Peter Konwitschny hat sich - offenbar genervt nicht nur von der ganzen RT-Diskussion, sondern auch von dem Dilettantismus von so manchen Regisseuren-Kollegen - in einem Interview mal so geäußert, dass er gar kein Regietheater mache, sondern Werktreue für ihn das höchste Gebot sei. Sehr vielsagend ist das, finde ich, wenn so eine Äußerung von einem der profiliertesten Vertreter des sogenannten Regietheaters kommt.

    Wie gesagt ist Theater nicht auf einen solchen "zugrundeliegenden künstlerischen literarischen oder musikalischen Text" angewiesen. Mit Deinem Einwand, dieser Text könne ja auch "im Kopf des Regisseurs" vorhanden sein, bestätigst Du gerade, was ich sage: dass sich aus dem Text, wenn er verwendet wird, keine Verbindlichkeit ableiten lässt, das in einer vorherbestimmten Weise zu tun.

    Widerspruch. (S.o.!) Das ist das methodische ABC eines jeden Literaturwissenschaflters, dass Texte, die keine bloßen Ansammlungen von "Material" sind, sondern Werke und damit geschlossene Sinnzusammenhänge, ihre Verbindlichkeiten haben. Das zu leugnen betrachte ich - tut mir leid - als ausgebildeter Wissenschaftler, der ich nunmal bin - als Dilettantismus. Da kann ich einfach nicht anders! ;( ^^

    Das ist sachlich schlicht falsch. Es gibt selbstverständlich auch so etwas wie improvisiertes Theater ohne Textgrundlage.

    So ein Theater gibt es, nur ist es dann nicht die Aufführung eines Werkes von Goethe oder Mozart. Wenn man aus einer Fidelio-Aufführung improvisiertes Theater in einem "Spiel ohne Grenzen" macht, dann hat das mit Beethoven schlicht und einfach nichts mehr zu tun. Gegenüber solchen Versuchen sind die Einwände der RT-Gegner dann voll berechtigt.

    Ich versuche schon lange und vergeblich zu ergründen, was man unter "Werkgerechtigkeit" eigentlich versteht, aber das hier hat mich heute völlig verwirrt:

    Ja, also....

    Der Duden definiert den Begriff als "dem Wesen eines Kunstwerks entsprechend, ihm gerecht werdend". Diese Definition ist natürlich sehr problematisch, weil sie gleich mehrere Begriffe verwendet ("Wesen", "gerecht"), die genauso unscharf sind wie der zu definierende, aber immerhin geht doch daraus hervor, dass eine langweilige Aufführung nur dann "werkgerecht" sein kann, wenn es dem "Wesen" des Werkes entspräche, langweilig zu sein. Das...

    Der Duden hilft da auch nicht viel, sondern - hier ist die Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie (Ludwig Wittgenstein) durchaus hilfreich - man sollte sich die Bedeutung aus dem Verwendungskontext erschließen. Eine Interpretation, der man das Prädikat "werktreu" oder "werkgerecht" verleiht, bezeichnet man so in Abgrenzung zu solchen Interpretationen, die das nicht sind, die sich gewisse Freiheiten erlaubt haben. Ferruccio Busonis Interpretation von Chopins Preludes op. 28 ist so eine, die man schwerlich als "werkgerecht" bezeichnend kann oder eine Opernaufführung mit sinnentstellenden Kürzungen. Dieser Begriff wird also klar, wenn man sich klar macht, dass er eher nicht bestimmt, was man tun soll, sondern was man nicht tun soll. ;)

    ... wäre also bei einem langweiligen Stück das Bemühen, es auch möglichst langweilig zu spielen bzw. zu inszenieren. Auch so ein Ziel ist selbstverständlich legitim, aber welchen Sinn sollte das haben? Ich war eigentlich immer der Meinung, dass es in der Kunst - und besonders im Theater - keine größere Sünde gibt als Langeweile (ich habe das vor ein paar Jahren mal in Bayreuth erfahren, als ich bei Katharina Wagners "Tristan" peinlicherweise ganz kurz weggenickt bin...).

    Ich hatte es doch gesagt - die Lebendigkeit der Aufführung ist primär ein rezeptionsästhetisches Problem. "Werktreue" ist da eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine wirklich gute Aufführung.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Symbol und ChKöhn vertreten Auffassungen , die bei heutigen Regisseuren häufig zu finden ist und letzen Endes darin münden können ( nicht zwangsweise müssen) , eine Bühne sinnlos vollzumüllen wie bei Schlingensief, einem Tristan jegliche Erotik zu nehmen wie bei Marthaler oden den Venusakt in eine Biogasanlage zu verlegen. Das sind natürlich meine subjektiven Erfahrenungen und es gibt sicherlich hochintilligente Ansätze warum das doch eigentlich ganz super Inszenierungen sind. Das führte bei mir aber dazu , Bayreuth frustriert für einige Jahre zu meiden und erst in den letzten 2 Jahren wieder zurückzukehren. Der aktuelle Siegfried, mehr habe ich noch nicht vom neuen umstrittenen Ring gesehen, gibt mir aber wieder Hoffnung, daß es auch anders geht ! Inhaltlich bin ich auch eher bei Kaletha.

  • Ein Text, der ein "Werk" darstellt, ist ein geschlossener Sinnzusammenhang und will und muss in der Textanalyse auch als solcher betrachtet werden.

    Ja, in der Textanalyse. Hier geht es aber um Theater. Der "geschlossene Sinnzusammenhang" ist dort der des Theaterkunstwerks (lassen wir mal die Problematik des Begriffs "geschlossen" außen vor), und Du hast bisher nur gefordert aber nicht begründet, warum der derselbe sein muss wie bei der Textanalyse. Ich glaube im Gegenteil, dass er gar nicht derselbe sein kann, weil sonst das Theaterkunstwerk als eigenständiges Werk überflüssig wäre.


    Peter Konwitschny hat sich - offenbar genervt nicht nur von der ganzen RT-Diskussion, sondern auch von dem Dilettantismus von so manchen Regisseuren-Kollegen - in einem Interview mal so geäußert, dass er gar kein Regietheater mache, sondern Werktreue für ihn das höchste Gebot sei. Sehr vielsagend ist das, finde ich, wenn so eine Äußerung von einem der profiliertesten Vertreter des sogenannten Regietheaters kommt.

    Ich weiß aus sehr sicherer Quelle, dass Konwitschny einfach der Gegenseite das Argument wegnehmen wollte und deshalb von sich behauptet, er mache ja gar kein "Regietheater" sondern suche die "Werktreue". Dass er darunter etwas ganz anderes versteht, geht bei Deinem Autoritätsbeweis einfach unter.


    "Werktreue" ist da eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine wirklich gute Aufführung.

    Was auch immer Du unter "Werktreue" verstehst: Warum soll die eine notwendige Bedingung für eine gute Aufführung sein? Ohne Begründung ist das nicht mehr als eine unbelegte Behauptung. Nehmen wir das fiktive Beispiel, dass ein Regisseur tatsächlich ein Stück "zertrümmert": Warum wäre damit zwingend ausgeschlossen, dass das unter Verwendung der Trümmer neu Geschaffene "wirklich gut" ist?

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Symbol und ChKöhn vertreten Auffassungen , die bei heutigen Regisseuren häufig zu finden ist und letzen Endes darin münden können ( nicht zwangsweise müssen) , eine Bühne sinnlos vollzumüllen wie bei Schlingensief, einem Tristan jegliche Erotik zu nehmen wie bei Marthaler oden den Venusakt in eine Biogasanlage zu verlegen.


    Marthalers "Tristan" litt nicht an einer Auffassung des Regisseurs, sondern daran, dass es ganz einfach eine schlechte Inszenierung war. Das uninspirierte Stehtheater im zweiten Akt (pardon, Aufzug) kam dadurch zustande, dass das Bühnenbild unter den speziellen akustischen Bedingungen Bayreuths dazu führte, dass ein akustisches Zudecken der Sänger durch das Orchester drohte. Also konnte man die Protagonisten nur noch nach vorne holen und dort eine Art Oratorium zum besten geben lassen.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • So ein Theater gibt es, nur ist es dann nicht die Aufführung eines Werkes von Goethe oder Mozart.


    Du unterschlägst den Kontext meiner Erwiderung auf die Ausführungen von Helmut. Dieser hatte behauptet, dass das theatralische Bühnengeschehen "immer" und "in allen Fällen" relational sei. In dieser Formulierung ist das schlicht falsch - die absolute Formulierung einer These hat bekanntlich den Vorteil, dass man zur Falsifizierung nur ein Gegenbeispiel finden muss, und dies wäre hier das improvisierte Theater.


    Wenn man eine Diskussion strukturiert führen möchte, muss man eine sachlich begründete Falsifizierung einer These anerkennen, um sinnvoll weiterzukommen. Man kann der Falsifizierung aber nicht einfach ausweichen. Helmut hat ja nicht behauptet, dass Aufführungen der Stücke von Goethe oder Mozart relational seien, sondern dass es ein "autonomes theatralisches Bühnengeschehen" nicht gebe. Der Falschheit dieser Behauptung kann man nicht durch den Verweis auf Goethe oder Mozart begegnen.


    Aus der übergreifenden Perspektive betrachtet, wird über Kulturgrenzen hinweg seit Jahrtausenden in allen möglichen Winkeln der Erde Theater gemacht. Die Spielarten des Theaters sind dabei sehr vielfältig. Ein Spezialfall des Theaters sind Theateraufführungen, die sich der geschriebenen Stücke anderer Leute bedienen. Wir können gerne versuchen, für diesen Spezialfall zu überlegen, welche Relationen es zwischen der Aufführung und dem verwendeten Text geben kann und vielleicht sogar geben sollte. Rein phänomenologisch kann man aber erstmal festhalten, dass es Theaterformen gibt, in denen die Aufführung dem Wortlaut des verwendeten Textes sehr genau folgt, und es auch andere Theaterformen gibt, in denen das weniger oder kaum gilt.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

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  • Ja, in der Textanalyse. Hier geht es aber um Theater. Der "geschlossene Sinnzusammenhang" ist dort der des Theaterkunstwerks (lassen wir mal die Problematik des Begriffs "geschlossen" außen vor), und Du hast bisher nur gefordert aber nicht begründet, warum der derselbe sein muss wie bei der Textanalyse. Ich glaube im Gegenteil, dass er gar nicht derselbe sein kann, weil sonst das Theaterkunstwerk als eigenständiges Werk überflüssig wäre.

    Du verwässerst einfach wieder einmal die Dinge, welche an sich ganz klar sind.


    Nochmals am Beispiel Wagner erklärt: Bei Wagner gibt es die Kritik dessen, was er die "Nummernoper" nennt. Das, was Wagner etwas verächtlich als "Nummernoper" bezeichnet, spiegelt die Verfassung vieler traditioneller Opern, die sich vom klassischen Drama aristotelischer Prägung unterscheiden. Opern haben eine relative Selbständigkeit der Einzelszenen - im Unterschied zum klassischen Drama, das durch das Prinzip der Sukzessivität bestimmt ist. Das erklärt auch die (Aufführungs-)Praxis der Kürzungen und Umstellungen. Das kann man eben deshalb - in gewissen Grenzen - machen, weil bei "Nummernopern" die Szenen relativ selbständig sind und gar nicht oder nur kaum eingebunden in eine übergeordnete dramatische Sukzession. Wagner hat das nun genau kritisiert und sich entsprechend bei der Konzeption seines "Ringes" am klassischen Drama orientiert. Wenn jetzt ein Regisseur auf die Idee käme, das, was er bei anderen Opern gemacht hat, auch bei Wagner zu machen, nämlich Kürzungen vorzunehmen und Szenen umzustellen, dann ist das nicht akzeptabel weil nicht werkgerecht. Und das lässt sich eben rein durch eine Text- und Werkanalyse herausbringen, ganz unabhängig von der Aufführung und den Aufführungsbedingungen. Es widerspricht einfach der Werkkonzeption Wagners. Genauso kann man rein durch eine Analyse der Partitur und Werkanalyse zeigen, dass Hermann Scherchen Mahlers 5. Symphonie nicht hätte kürzen und verkürzt aufführen dürfen, weil dies sinnwidrig ist. Weder wird eine Aufführung einer Wagner-Oper, noch die einer Mahler-Symphonie nun überflüssig, nur weil man dem Regisseur bzw. Dirigenten erklären kann, dass der Aufbau des Werkes einer Oper oder eines Symphonie etwas ist, was er nicht nach Belieben umbauen darf, wie es ihm und seiner Aufführung gerade in den Kram passt. Darüber entscheidet schlicht nicht die Aufführung - sondern dass ist eine Verbindlichkeit, welche das Werk an nicht nur eine, sondern schlechterdings jede mögliche Aufführung stellt. Die Aufführungsbedingungen werden eben nicht ausschließlich von der Aufführung und Aufführungspraxis bestimmt und festgelegt wie Du behauptest, sondern maßgeblich von dem, worauf sich die Aufführung bezieht: auf ein von der Aufführung unabhängiges Werk. Dass dies so richtig ist, beweist sich allein schon dadurch, dass eine Aufführung, welche diese vom Werk her gegebenen Verbindlichkeiten nicht beachtet, in ihrem Ergebnis nur sinnwidrig sein kann.

    Ich weiß aus sehr sicherer Quelle, dass Konwitschny einfach der Gegenseite das Argument wegnehmen wollte und deshalb von sich behauptet, er mache ja gar kein "Regietheater" sondern suche die "Werktreue". Dass er darunter etwas ganz anderes versteht, geht bei Deinem Autoritätsbeweis einfach unter.

    Hier geht es doch nicht um Autoritäten, sondern um Signifikanz. Wenn ein Peter Konwitschny sich genötigt sieht, wegen gewisser Tendenzen beim Regietheater sich von diesem zu distanzieren, dann hat er dafür seinen Grund. Und diese Gründe kann man bei einem Regisseur von seinem Format nicht einfach vom Tisch wischen, sondern sollte sich mit ihnen ernsthaft auseinandersetzen.

    Was auch immer Du unter "Werktreue" verstehst: Warum soll die eine Bedingung für eine gute Aufführung sein? Ohne Begründung ist das nicht mehr als eine unbelegte Behauptung. Nehmen wir das fiktive Beispiel, dass ein Regisseur tatsächlich ein Stück "zertrümmert": Warum wäre damit zwingend ausgeschlossen, dass das unter Verwendung der Trümmer neu Geschaffene "wirklich gut" ist?

    Ich habe ja nun eine große Sammlung historischer Aufnahmen. Wenn die aus einer Zeit stammen, wo man "Werktreue" noch nicht als so wichtig erachtet hat, muss man selbstverständlich andere Maßstäbe anlegen, um ihre Qualität zu beurteilen. Anders ist es mit künstlerischen Produktionen von heute. Da kann man dieses Kriterium nicht einfach nicht beachten - es ist nunmal in der Welt. ^^

    Du unterschlägst den Kontext meiner Erwiderung auf die Ausführungen von Helmut. Dieser hatte behauptet, dass das theatralische Bühnengeschehen "immer" und "in allen Fällen" relational sei. In dieser Formulierung ist das schlicht falsch - die absolute Formulierung einer These hat bekanntlich den Vorteil, dass man zur Falsifizierung nur ein Gegenbeispiel finden muss, und dies wäre hier das improvisierte Theater.

    Ich glaube nicht. Wir reden von durchschnittlichen Aufführungen von traditionellen Opern, also Stücken von Mozart, Verdi, Wagner usw. Da gilt eben das, was Helmut Hofmann bemerkt. Die anderen Fälle sind doch gar nicht strittig - da gibt es auch entsprechend nichts zu diskutieren. Ich kann ja auch nicht sagen: Der Interpret einer Beethoven-Klaviersonate sollte sich an Beethovens Notentext halten ist falsch, denn Gabriela Montero, die eine Melodie aus dieser Beethoven-Sonate nimmt, um darüber zu improvisieren, halte sich ja auch nicht an Beethovens Notentext. Das tut sie in der Tat nicht. Aber sie macht auch Jazz daraus, was keine Beethoven-Interpretation mehr ist.

    Wenn man eine Diskussion strukturiert führen möchte, muss man eine sachlich begründete Falsifizierung einer These anerkennen, um sinnvoll weiterzukommen. Man kann der Falsifizierung aber nicht einfach ausweichen. Helmut hat ja nicht behauptet, dass Aufführungen der Stücke von Goethe oder Mozart relational seien, sondern dass es ein "autonomes theatralisches Bühnengeschehen" nicht gebe. Der Falschheit dieser Behauptung kann man nicht durch den Verweis auf Goethe oder Mozart begegnen.

    Und genau damit hat Helmut Hofmann Recht. Er hat treffend bemerkt, dass Du und Christian das Bühnengeschehen für ein "autonomes theatralisches Bühnengeschehen" haltet, wo es keine anderen Maßstäbe geben soll als die, welche aus diesem Bühnengeschehen stammen. Die Aufführung ist damit selbstgenügsam und bedarf zu ihrer Beurteilung keines Maßstabes außer ihr. Autonomie=Selbstgenügsamkeit. Genau das, sagt Helmut Hofmann zu Recht, ist falsch. Die Aufführung ist und bleibt immer, was ihre Beurteilungsmaßstäbe des Gelingens und Misslingens angeht, relational. Weil letztlich darüber der Bezug auf ein außerhalb der Aufführung liegendes Werk entscheidet. Es ist eben kurzschlüssig, das Werk mit seiner Aufführung einfach gleichzusetzen. Ich kenne keinen Werktheoretiker von Rang - und ich weiß, wovon ich rede - der so etwas behauptet.

    Aus der übergreifenden Perspektive betrachtet, wird über Kulturgrenzen hinweg seit Jahrtausenden in allen möglichen Winkeln der Erde Theater gemacht. Die Spielarten des Theaters sind dabei sehr vielfältig. Ein Spezialfall des Theaters sind Theateraufführungen, die sich der geschriebenen Stücke anderer Leute bedienen. Wir können gerne versuchen, für diesen Spezialfall zu überlegen, welche Relationen es zwischen der Aufführung und dem verwendeten Text geben kann und vielleicht sogar geben sollte. Rein phänomenologisch kann man aber erstmal festhalten, dass es Theaterformen gibt, in denen die Aufführung dem Wortlaut des verwendeten Textes sehr genau folgt, und auch andere Theaterformen gibt, in denen das weniger oder kaum gilt.

    Wir reden hier aber nicht über Theater und Theater allgemein und überhaupt und weltumspannend und Kultur übergreifend, sondern über ganz bestimmte Aufführungen aus unserer Tradition. Und die beziehen sich immer auf ein Werk, das sie zur Aufführung bringen, woraus sich dann eben auch - zum erheblichen Teil, natürlich nicht ausschließlich - die Maßstäbe für eine gelungene Aufführung ergeben.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich glaube nicht. Wir reden von durchschnittlichen Aufführungen von traditionellen Opern, also Stücken von Mozart, Verdi, Wagner usw.


    Ich habe von Theater alllgemein gesprochen. Das Musiktheater europäischer Prägung ist letztlich ein Spezialfall des kulturellen Gesamtphänomens Theater. Damit man sich den Eigenheiten des Musiktheaters nähern kann, muss man sich aber zunächst über ein paar allgemeine Grundprinzipien des Theaters verständigen. Die Verwendung eines zuvor verfassten Textes ist kein Grundprinzip des Theaters.


    Und genau damit hat Helmut Hofmann Recht.


    In der sehr allgemein gehaltenen Formulierung, die er gewählt hat, ist seine Aussage falsch. Wir können sie noch dreimal umdrehen, der Befund wird sich nicht ändern.


    Wir reden hier aber nicht über Theater und Theater allgemein und überhaupt und weltumspannend und Kultur übergreifend, sondern über ganz bestimmte Aufführungen aus unserer Tradition.


    Eben hier bin ich nicht bei Dir. Wie gesagt: man muss zunächst ein paar allgemeine Grundlagen zum Theater klären, dann kann man sich seinen Spezialfällen nähern.


    Um aber diesen Dreh vielleicht langsam zu bekommen: wenn man feststellt, dass es Theater ohne vorgefertigten Text geben kann, wieso kann man dann strikt einfordern, dass Theater mit vorgefertigtem Text sich zwingend an diesen zu halten hat? Und was heißt überhaupt "an diesen halten"? An den Wortlaut? An das, was man als übergeordneten Gehalt des Textes zu identifizieren meint? Und wer entscheidet das alles auf welcher Basis?


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich habe von Theater alllgemein gesprochen. Das Musiktheater europäischer Prägung ist letztlich ein Spezialfall des kulturellen Gesamtphänomens Theater. Damit man sich den Eigenheiten des Musiktheaters nähern kann, muss man sich aber zunächst über ein paar allgemeine Grundprinzipien des Theaters verständigen. Die Verwendung eines zuvor verfassten Textes ist kein Grundprinzip des Theaters.

    So wird aber kein Literaturwissenschaftler vorgehen wollen. Denn dann müsste er, um Brechts Lyrik zu verstehen, erst einen allgemeinen Begriff von Lyrik bilden, der als Generalnenner sämtlicher Kulturen fungiert, also chinesische, südafrikanische und indonesische Lyrik einbeziehen, um von daher Brecht zu begreifen. (Das tut heute allein schon deshalb Niemand, weil es eine Eurozentrismus-Debatte und Philosophie der Fremdheit gibt.) Nein - er wird sich erst einmal an die Tradition halten, in der Brechts Lyrik konkret steht. Das ist die europäische Lyrik angefangen bei den Griechen (Sappho). Beim Theater wird man entsprechend die konkrete Aufführungspraxis im Blick haben, zu der Opern von Beethoven, Verdi oder Wagner gehören. Da kann man nun sagen, dass mitunter ziemlich frei mit Textgrundlagen umgegangen wurde. Und dann ist zu ergründen, was dafür die Gründe und Bedingungen sind. Wenn es um Fragen der Legitimität geht, stellen sich weiter allgemeine ästhetische Fragen, welche das Verhältnis von Werk und Aufführung angehen.

    In der sehr allgemein gehaltenen Formulierung, die er gewählt hat, ist seine Aussage falsch. Wir können sie noch dreimal umdrehen, der Befund wird sich nicht ändern.

    Ich glaube nicht, dass Helmut Hofmann das so Kontext übergreifend gemeint hat. Die Allgemeinheit bezieht er glaube ich auf die konkrete europäische Tradition der Aufführung von Bühnenwerken.

    Eben hier bin ich nicht bei Dir. Wie gesagt: man muss zunächst ein paar allgemeine Grundlagen zum Theater klären, dann kann man sich seinen Spezialfällen nähern.

    Ja, aber es muss klar sein, um welche allgemeinen Grundlagen es geht. Man kann ja auch nicht einfach die Praxis kritisieren, sich an den Notentext zu halten, nur weil es das Phänomen John Cage gibt. Die Freiheiten, die sich ein Interpret bei Cage erlauben kann, darf er sich bei Beethoven einfach nicht erlauben. ;)

    Um aber diesen Dreh vielleicht langsam zu bekommen: wenn man feststellt, dass es Theater ohne vorgefertigten Text geben kann, wieso kann man dann strikt einfordern, dass Theater mit vorgefertigtem Text sich zwingend an diesen zu halten hat? Und was heißt überhaupt "an diesen halten"? An den Wortlaut? An das, was man als übergeordneten Gehalt des Textes zu identifizieren meint? Und wer entscheidet das alles auf welcher Basis?

    Man kann sich natürlich nicht einfach an einen "vorgefertigten Text" halten ohne Textanalyse. Das ist ein sehr komplexer Prozess. ^^


    Schöne Grüße

    Holger

  • Wir reden hier aber nicht über Theater und Theater allgemein

    Ich rede genau davon.


    Wagner hat das nun genau kritisiert und sich entsprechend bei der Konzeption seines "Ringes" am klassischen Drama orientiert. Wenn jetzt ein Regisseur auf die Idee käme, das, was er bei anderen Opern gemacht hat, auch bei Wagner zu machen, nämlich Kürzungen vorzunehmen und Szenen umzustellen, dann ist das nicht akzeptabel weil nicht werkgerecht. Und das lässt sich eben rein durch eine Text- und Werkanalyse herausbringen, ganz unabhängig von der Aufführung und den Aufführungsbedingungen. Es widerspricht einfach der Werkkonzeption Wagners.

    Ich hatte ja weiter oben geschrieben, dass minutiöse Analyse des Materials Voraussetzung für künstlerische Freiheit ist. Wenn bei einer solchen Analyse herauskommt, dass angedachte Eingriffe in das Material nicht zum Gesamtkonzept des entstehenden Theaterkunstwerks passen, dann wird also ein guter Regisseur auf sie verzichten (dass es auch schlechte Regisseure gibt, ist eine Selbstverständlichkeit, die aber hier nichts zur Sache tut). Du setzt einfach ohne jeden Grund voraus, dass die Analyse sich an dem zu orientieren habe, was Du (!) als "Werkkonzeption Wagners" erkennst. Warum sollte das so sein? Warum sollte es verboten sein, dass ein Künstler das Material, mit dem er arbeitet, im Hinblick auf seine Verwendbarkeit in seinem eigenen Kunstwerk analysiert? Und wer sollte das Recht dazu haben, ein solches Verbot auszusprechen?


    Genauso kann man rein durch eine Analyse der Partitur und Werkanalyse zeigen, dass Hermann Scherchen Mahlers 5. Symphonie nicht hätte kürzen und verkürzt aufführen dürfen, weil dies sinnwidrig ist.

    Dass er das durfte, steht ja wohl außer Frage. Ob es gelungen ist, kann ich nicht sagen, weil ich seine Fassung nicht kenne. So wie ich ihn kenne, war er aber durchaus zur Partitur- und Werkanalyse fähig. Bestand sein Vergehen nicht vielleicht doch eher darin, dass er dabei zu anderen Ergebnissen gekommen ist als Du?


    Wir reden hier aber nicht über Theater und Theater allgemein und überhaupt und weltumspannend und Kultur übergreifend, sondern über ganz bestimmte Aufführungen aus unserer Tradition. Und die beziehen sich immer auf ein Werk, das sie zur Aufführung bringen, woraus sich dann eben auch - zum erheblichen Teil, natürlich nicht ausschließlich - die Maßstäbe für eine gelungene Aufführung ergeben.

    Du setzt voraus, dass Theateraufführungen ("in unserer Tradition", denn sonst wäre die These von vornherein nicht zu retten) sich "immer auf ein Werk [beziehen], dass sie zur Aufführung bringen", und folgerst, dass sie sich deshalb immer und in einer bestimmten Weise auf dieses Werk beziehen müssen, weil sie andernfalls nicht gelingen können. Das ist zirkelschlüssig. Außerdem: Wenn es tatsächlich Tradition und somit weitgehender Konsens wäre, Werke grundsätzlich in dieser Weise "werktreu" "zur Aufführung" zu bringen, dann gäbe es doch die ganze Debatte über das sogenannte "Regietheater" gar nicht, denn dann wäre ja sofort ersichtlich, dass Theaterkunstwerke, bei denen das Material freier gehandhabt wird, einfach schlecht sind, und man brauchte nicht weiter über sie zu diskutieren.


    Um aber diesen Dreh vielleicht langsam zu bekommen: wenn man feststellt, dass es Theater ohne vorgefertigten Text geben kann, wieso kann man dann strikt einfordern, dass Theater mit vorgefertigtem Text sich zwingend an diesen zu halten hat?

    Das bringt es auf den Punkt. Es gibt keine belastbare Grundlage für eine solche Forderung.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • In der sehr allgemein gehaltenen Formulierung, die er gewählt hat, ist seine Aussage falsch. Wir können sie noch dreimal umdrehen, der Befund wird sich nicht ändern.

    Also, geschätzter Symbol, mir geht es hier nicht um Rechthaberei. Was ich in allgemein gehaltener Weise gesagt habe, ist genau das, was Dr. Holger Kaletha in erläuternder und präzise treffender Weise dazu wie folgt festgestellt hat:

    Und genau damit hat Helmut Hofmann Recht. Er hat treffend bemerkt, dass Du und Christian das Bühnengeschehen für ein "autonomes theatralisches Bühnengeschehen" haltet, wo es keine anderen Maßstäbe geben soll als die, welche aus diesem Bühnengeschehen stammen. Die Aufführung ist damit selbstgenügsam und bedarf zu ihrer Beurteilung keines Maßstabes außer ihr. Autonomie=Selbstgenügsamkeit. Genau das, sagt Helmut Hofmann zu Recht, ist falsch. Die Aufführung ist und bleibt immer, was ihre Beurteilungsmaßstäbe des Gelingens und Misslingens angeht, relational. Weil letztlich darüber der Bezug auf ein außerhalb der Aufführung liegendes Werk entscheidet. Es ist eben kurzschlüssig, das Werk mit seiner Aufführung einfach gleichzusetzen. Ich kenne keinen Werktheoretiker von Rang - und ich weiß, wovon ich rede - der so etwas behauptet.

    Und jetzt lass es bitte damit gut sein!

  • Also, geschätzter Symbol, mir geht es hier nicht um Rechthaberei.


    Mir auch nicht, lieber Helmut. Durch den erfolgten Austausch konnte klargestellt werden, was Du gemeint hast, und das ist doch die Hauptsache.


    LG :hello:

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  • Ich hatte ja weiter oben geschrieben, dass minutiöse Analyse des Materials Voraussetzung für künstlerische Freiheit ist. Wenn bei einer solchen Analyse herauskommt, dass angedachte Eingriffe in das Material nicht zum Gesamtkonzept des entstehenden Theaterkunstwerks passen, dann wird also ein guter Regisseur auf sie verzichten

    Du eierst hier wieder herum: ^^ Ergibt sich die Verbindlichkeit nun aus der "minutiösen Analyse des Materials" (dann hättest Du nur mit anderen Worten dasselbe gesagt wie ich) oder daraus, ob das in das "Gesamtkonzept" des Regisseurs passt? Wenn Letzteres gemeint ist, hat die werkbezogene Analyse letztlich keine Verbindlichkeit und es ist nichts Verbindliches aus ihr abzuleiten. Dann kann das "Gesamtkonzept" des Regisseurs im Grunde beliebig und willkürlich entscheiden, ob es die Ergebnisse der Analyse Ernst nimmt oder nicht. Also was ist nun richtig?

    Du setzt einfach ohne jeden Grund voraus, dass die Analyse sich an dem zu orientieren habe, was Du (!) als "Werkkonzeption Wagners" erkennst.

    Das ist nicht meine Privatmeinung, sondern ich gebe nur wieder, was der Forschungsstand der Fachliteratur zum Thema ist.

    Warum sollte das so sein? Warum sollte es verboten sein, dass ein Künstler das Material, mit dem er arbeitet, im Hinblick auf seine Verwendbarkeit in seinem eigenen Kunstwerk analysiert? Und wer sollte das Recht dazu haben, ein solches Verbot auszusprechen?

    Da muss ich nunmal sagen, dass sich viele RT-Gegner genau an diesem Sprachgebrauch reiben. Wenn ich in ein Möbelgeschäft gehe und Stühle kaufe, gehen sie in meinen Besitz über. Ich kann sie dann als "Material" betrachten, mit dem ich machen kann was ich will - also die Beine absägen oder die Polster entfernen. Nur wenn ein Regisseur sich mit Wagners Tristan beschäftigt, ist das nicht sein "eigenes Kunstwerk" (von mir hervorgehoben) und auch nicht ein "Material", über das er verfügen kann wie über ein x-beliebiges Ding in seinem Besitz. Diese Sprache klingt respektlos und zynisch. Wenn ein Künstler nicht "werktreu" inszenieren will, kann er das freilich tun. Nur ist das dann eine Entscheidung gegen eine Verbindlichkeit, weil sie ausdrücklich nicht gewollt ist (was man dann bitte auch zugeben sollte!), die er zu verantworten hat und deren Folgen er tragen muss.

    Dass er das durfte, steht ja wohl außer Frage. Ob es gelungen ist, kann ich nicht sagen, weil ich seine Fassung nicht kenne. So wie ich ihn kenne, war er aber durchaus zur Partitur- und Werkanalyse fähig. Bestand sein Vergehen nicht vielleicht doch eher darin, dass er dabei zu anderen Ergebnissen gekommen ist als Du?

    Scherchen war ein Pionier. Er hat Mahler dirigiert, als er noch unpopulär war. Und damals hat man die Eigenart von Mahlers Symphonik noch nicht begriffen - auch Scherchen nicht. Auch hier ist das nicht meine Privatmeinung. Bezeichnend ist Niemand von den späteren bedeutenden Mahler-Dirigenten Scherchen gefolgt.


    Du setzt voraus, dass Theateraufführungen ("in unserer Tradition", denn sonst wäre die These von vornherein nicht zu retten) sich "immer auf ein Werk [beziehen], dass sie zur Aufführung bringen", und folgerst, dass sie sich deshalb immer und in einer bestimmten Weise auf dieses Werk beziehen müssen, weil sie andernfalls nicht gelingen können. Das ist zirkelschlüssig.

    Der berühmte hermeneutische Zirkel sagt, dass man ihn nicht vermeiden kann, sondern es nur darum gehen kann, in ihn in rechter Weise hineinzukommen. Dass Aufführungen Aufführungen von Werken sind, ist erst einmal ein lebensweltliches Selbstverständnis. Und das kann man auch belegen. Ich sage ja nicht, dass das Werk die einzige Verbindlichkeit ist, die eine Theateraufführung betrifft. Dazu kommt die Aufführungstradition, die Interessen des Publikums, die Dispositionen des Künstlers... Was ihm wichtiger ist, das gewichtet der Künstler, welcher die Aufführung zu verantworten hat. Nur wenn er eben der "Werkgerechtigkeit" keine oder nur wenig Bedeutung beimessen will, hat das Konsequenzen - nämlich Inkonsistenzen in seiner "Theaterkonzeption". Da ist eben die Frage, wie weit, ob und mit welcher Begründung man solche dann in Kauf nehmen soll.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Nur wenn ein Regisseur sich mit Wagners Tristan beschäftigt, ist das nicht sein "eigenes Kunstwerk" (von mir hervorgehoben) und auch nicht ein "Material", über das er verfügen kann wie über ein x-beliebiges Ding in seinem Besitz.


    Der "Tristan" ist gemeinfrei und somit gewissermaßen Eigentum von uns allen. Es ist also so sehr "sein" Kunstwerk wie Deins oder meins. Damit kann er auch beliebig darüber verfügen, also eine Aufführung ohne den zweiten Aufzug oder mit Donald Duck im Schlussbild machen - de jure ist all dies nicht verboten. Wenn es aufgrund anderer Umstände (moralischer?) anstößig sein soll, dann würde mich interessieren, worauf diese Umstände beruhen und wer sie festlegt.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Der "Tristan" ist gemeinfrei und somit gewissermaßen Eigentum von uns allen. Es ist also so sehr "sein" Kunstwerk wie Deins oder meins. Damit kann er auch beliebig darüber verfügen, also eine Aufführung ohne den zweiten Aufzug oder mit Donald Duck im Schlussbild machen - de jure ist all dies nicht verboten. Wenn es aufgrund anderer Umstände (moralischer?) anstößig sein soll, dann würde mich interessieren, worauf diese Umstände beruhen und wer sie festlegt.

    Du hast es einfach nicht verstanden. Der herablassende Sprachgebrauch, von einem Kunstwerk als bloßem "Material" zu sprechen, um eine Theateraufführung zu bewerkstelligen, geht zusammen damit, dass man seine Aufführung egomanisch als sein exklusives Eigentum betrachtet. Ich würde mir nicht anmaßen, wenn ich eine Arbeit über Husserl und Kant schreibe, in Bezug auf die Texte vom "Material" für "meine" Arbeit, die auch so etwas wie ein (wissenschaftliches) "Kunstwerk" ist, zu sprechen. Da haben wir Geisteswissenschaftler doch gelernt, Respekt und Achtung vor Autoren und ihren Werken zu haben. ;)

  • Nur wenn ein Regisseur sich mit Wagners Tristan beschäftigt, ist das nicht sein "eigenes Kunstwerk" (von mir hervorgehoben) und auch nicht ein "Material", über das er verfügen kann wie über ein x-beliebiges Ding in seinem Besitz.

    Doch, genau das kann und darf er tun. Mit welchem Recht willst Du ihm das verbieten?

    Das ist nicht meine Privatmeinung, sondern ich gebe nur wieder, was der Forschungsstand der Fachliteratur zum Thema ist.

    Künstlerische Entscheidungen werden von Künstlern und nicht von Forschern getroffen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

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