Regietheater!!! Dr. Eusebius Beckmesser im Gespräch mit Schauspieler Luftikus Wendewicht

  • Tamino freut sich über das Exklusivrecht, ein Pausengespräch der Generalprobe zu einem Rezitationsabend Das deutsche Sonett wiedergeben zu dürfen, das zwischen dem zur Probe eingeladenen Theater- und Musikkritiker Dr. Eusebius Beckmesser und dem vortragenden Schauspieler Luftikus Wendewicht stattfand.


    Dr. Beckmesser (in der Folge abgekürzt mit Dr. B.): Mein lieber Herr Luftikus – ich darf sie doch mit Ihrem Vornamen nennen (Luftikus Wendewicht, in der Folge abgekürzt mit L. W., nickt zustimmend mit dem Kopf) – vielen Dank für Ihre sehr freundliche Einladung. Mein Kopf ist jedoch so überladen und auch etwas durcheinander von ihrem doch etwas schwer verdaulichen Rezitativ, so dass ich mir erlaube, Ihnen einige ganz naive Verständnisfragen zu stellen.


    L.W.: Aber gerne, mein Herr Kritiker! (Er wirkt etwas verschnupft, wenn nicht gekränkt von dieser Frage).


    Dr. B.: Sie haben auf ihr Programm das bekannte Sonett „Alles ist eitel“ von Andreas Gryphius gesetzt, das ich mir erlaube, einmal „werktreu“ in diesen Theaterhallen zu zitieren, auch wenn Ihnen das wohl nicht angemessen scheint:


    Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
    Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;
    Wo jetzund Städte stehn, wird eine Wiese sein,
    Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden;


    Was jetzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden;

    Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein;
    Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
    Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.


    Der hohen Taten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.

    Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
    Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten,


    Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind,

    Als eine Wiesenblum, die man nicht wieder find't!
    Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten.


    Und was haben Sie nun vorgetragen? Ich lese, was ich mitstenographiert habe (man sieht, wie sich ihm die Nackenhaare sträuben):


    Gryphius!
    Gryphius!
    Nur Eitelkeit auf Erden?
    Oh nein! Ich will nicht wein´
    Viel lieber sagen,
    Und mein Goethchen fragen,
    Mit diesem Schwärmer empfindsam sein:


    Über allen Gipfeln ist Ruh´!

    Über allen Gipfeln ist Ruh´!


    Ich Schwärmer blas ins Wunderhorn:

    Nacht ist´s jetzt, doch war es Tag
    Und sag:
    Ging heut´ Morgen über´s Feld,
    Wie schön ist doch die Welt!
    Schöne Welt!
    Schöne Welt!
    Keiner baut, reißt morgen ein;
    Städte stehn und Wiesen blühn,
    Ein Schäferskind will spielen mit den Herden;
    Jetzt lacht das Glück uns an, und niemals donnern die Beschwerden.


    In allen Wipfeln

    Spürest du
    Kaum einen Hauch
    Aaaaaah!
    (Prosa-Rezitativ) :
    Ist es nicht so, mein liebes Publikum?
    Wann waren Sie eigentlich zum letzten Mal im Wald?


    Der hohen Taten Ruhm sind wie ein Traum vergangen.

    Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
    Ach was – wie schön ist doch die Natur!
    Horcht,
    horcht nur in die Stille hinein
    Was ich Euch nun sage
    Nun sage:
    Frie….de!
    Freu….de!!
    Eierkuchen!!!


    Was denkt denn dieser Gryphius:

    Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten?
    Hat er denn mein Goethchen löblich
    Ääähhh, nein mich natürlich
    Nicht betrachtet
    Und gehört:

    Die Vöglein schweigen doch im Walde?
    Also: Warte nur!
    Denn balde
    Ruhest du für immer auch!


    Und siehe da!
    Für immer Goethe ist
    Was Gryphius war!
    Hurra! Hurra!


    (Es platzt aus Dr. Eusebius Beckmesser nun heraus: )


    Und jetzt frage ich Sie ganz einfach: Ist das etwa Gryphius und ein Sonett, wie Sie das auf Ihrem Programmzettel ankündigen? Sie wollen doch deutsche Sonette rezitieren? Statt dessen vermatschen Sie Gryphius mit Goethe und Gustav Mahler und die Sonettform ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt in diesem unverdaulichen Verse-Gebräu, zu dem Sie die Texte vergoren haben!


    L. W.: (Reserviert und arrogant) Nein, natürlich ist das nicht Gryphius – Gryphius ist nicht verbindlich!


    Dr. B: Aber was eine Sonettform ist, hätten Sie doch zumindest dem Poetik-Lexikon entnehmen können!


    L.W.: Lexika – das sind doch bloße Autoritäten. Nicht verbindlich!


    Dr. B.: Aber Sie können doch sehen: zwei Vierzeiler, zwei Dreizeiler, die Reimform!


    L.W.: Was soll das, Herr Dr. Beckmesser? Was Sie lesen, ist die reine Tautologie. Sie wollen nur „werktreu“ lesen. Also lesen Sie was sie lesen. Werktreue ist aber nicht verbindlich!


    Dr. B. Herr Gott! Dann schauen sie doch ins Poetik-Lexikon, dann sehen Sie, was eine Sonettform verbindlich ist!


    L.W.: Ich sagte es doch: Die Werktreue können sie mir nicht beweisen und verweisen immer nur auf die „Autorität“ des Lexikons. Geben Sie mir den Beweis, dass die Sonettform verbindlich zu nehmen ist, dann folge ich Ihnen! (Er lacht.)


    Dr. B.: (mit gequältem Gesicht) Sie sind wohl Regietheater-Künstler!


    L.W.: (ironisch) Sie haben es erkannt! Mein Vater war Ballonfahrer und gab mir, als ich meine Ausbildung zum Schauspieler begann, Balzaks Seraphita zu lesen. Da wird Schwedenborgs Himmel beschrieben, wo es weder vorne noch hinten, noch hin und zurück gibt, auch nicht hier und jetzt und damals und dann. So konzipiere ich mein Rezitationskunstwerk. Im Himmel gibt es keine Richtungen! Nichts ist verbindlich! Also versetzt mein Rezitationskunstwerk diesen Gryphius in Schwedenborgs Himmel, indem ich seine Worte wie bunte Luftballons aufsteigen lasse – und der Wind weht sie wer weiß wohin…


    Dr. B. (der Luftikus Wendewichts Ironie aufnimmt) ... wo sie dann, oh Luftikus, von Wendewicht windig-wendig gewendet auf Goethe treffen.


    L.W.: Richtig gesehen, mein verehrter Dr. Beckmesser. Aber sie sollten nicht stabreimen und albern herumwagnern. Denn sie wissen doch, der gute alte Richard hat Sie Hanslick als Beckmesser verspottet! In meinem Theater-Himmel, der Schwedenborgs Himmel ist, wird Gryphius von Goethe umarmt und endlich erlöst zu einer empfindsamen Seele, wie ich eine bin!


    Dr. B.: Donnerwetter! Das ist ja unglaublich faszinierend! Mich erinnert das jetzt an diese Autowerbung im Bezahlfernsehen: „Nichts ist unmöglich – Toyota!“


    L.W.: Ich sehe, sie haben etwas gelernt, mein Bester! Genau das ist Regietheater! Nichts ist verbindlich und alles ist möglich! Also statt ein weinerlicher Eusebius zu sein, sollten sie lieber auf mein Rezitationskunstwerk hören, sich in Schwedenborgs Himmel begeben und ein lebensfroher Florestan und fröhlicher Konstruktivist werden wie ich es bin! Die Gelegenheit dazu haben Sie – die Vorstellung ist morgen Abend!


    Dr. B.: Da muss ich Sie jetzt aber enttäuschen, mein Lieber. Ich will nicht wie Sie ein Luftikus der Unverbindlichkeiten werden und bleibe deshalb mit beiden Beinen, die mich so treu auf dem Boden der Verbindlichkeiten halten, auf der Erde. Deshalb gehe ich auch nicht in Ihre Vorstellung morgen Abend. Ich habe nämlich zur selben Zeit die Einladung zu einem Konzert mit Schumanns Carnaval, wo ich gleich auf beide, meinen Namensvetter Eusebius wie auch Florestan, treffe – und das stimmt mich wirklich sehr fröhlich! Aber: Danke für das aufschlussreiche Gespräch, Herr Luftikus! (Sie schütteln sich zum Abschied die Hände, jeder den Anderen ironisch angrinsend.)