Puccini: "La Bohème" - Wiener Staatsoper, 19.01.2023 - Bravo Zeffirelli!!!

  • Puccini: "La Bohème" - Wiener Staatsoper, 19.01.2023 - Bravo Zeffirelli!!!

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    Eine im besten Sinne konservative Operninszenierung hat die Wiener Staatsoper seit 60 Jahren im Repertoire: Puccinis "La Bohème" in der Produktion von Franco Zeffirelli von 1963 (Regie und Bühnenbild). Für die großartigen und historisch korrekten Kostüme zeichnete Marcel Escoffier verantwortlich. Mittlerweile ist es gar die zweitälteste noch gespielte Inszenierung an der Wiener Staatsoper (nach "Tosca"). Weitere Photos von der Inszenierung findet man auf der Website.

    Die Inszenierung stellt eine seinerzeitige Übernahme von der Mailänder Scala dar und feierte am 9. November 1963 (mit zweitägiger Verspätung infolge eines Streiks) unter Staatsoperndirektor Herbert von Karajan ihre Premiere. Mittlerweile hat sie nicht weniger als 452 (!) Aufführungen hinter sich. Aus dieser 452. Aufführung komme ich gerade. Und ich kann nur bestätigen: Von ihrer einstigen Magie hat die Produktion bis heute nichts eingebüßt. Die relative Schlichtheit des ersten und vierten Bildes ist der völlige Kontrast zur Massenszene im zweiten Bild, die mit das Beeindruckendste darstellt, was ich je live auf einer Opernbühne gesehen habe. Das Paris zu Beginn der Julimonarchie 1830 wird quicklebendig und ersteht vor den Augen des Zuschauers. Viel (sinnvolle) Bewegung auf der Bühne, von "Rampensingen" keine Spur. Sehr realistisch, die Schattenseiten nicht beschönigend. Gleichwohl kommt auch der Humor nicht zu kurz. Wer "Die Elenden" von Victor Hugo mag, ist hier genau richtig.


    Das ausverkaufte Haus am Ring konnte eine Opernmagie miterleben, wie sie heutzutage fast schon ausgestorben ist. Zudem war das künstlerische Niveau insgesamt erfreulich hoch, wobei Benjamin Bernheim als Rodolfo gewiss der gesangliche Höhepunkt war. Rachel Willis-Sørensen gab eine vielleicht etwas reife Mimì. Geheimfavoriten waren das amüsante Pärchen Marcello (der Russe Boris Pinkhasovich) und Musetta (die Ukrainerin Anna Bondarenko) - auch schauspielerisch köstlich. Hinzu gesellten sich sehr adäquat Stefan Astakhov als Schaunard und Peter Kellner als Colline. Übrigens alle bis auf Bernheim Rollendebütanten an der Wiener Staatsoper. Zum Schmankerl gerieten die Auftritte von KS Hans Peter Kammerer als Hausherr Monsieur Benoît und vor allem als Staatsrat Alcindor. Das Staatsopernorchester unter der koreanischen Dirigentin Eun Sun Kim (Musikdirektorin in San Francisco) zupackend, stellenweise vielleicht etwas laut. Sehr gut Chor, Extrachor und die Kinder der Opernschule der Wiener Staatsoper.


    Fazit: Ganz große Kunst von Franco Zeffirelli, der am 12. Februar 2023 hundert Jahre alt geworden wäre. Ein Exempel, wie Regie und Bühnenbild funktioniert und über Jahrzehnte Bestand haben kann.


    Bravo Zeffirelli!!! :hail::hail::hail:


    Für Kurzentschlossene: Die Produktion steht auch noch am 22., 25., 28. und 31. Jänner 2023 auf dem Spielplan (und hoffentlich noch lange darüber hinaus). Alle anderen können sich die Zeffirelli-Inszenierung zumindest als Video von der Scala besorgen.


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Sei bedankt, lieber Joseph, für diesen Erlebnisbericht, der mich sehr beeindruckt. Nur zu gern hätte auch ich in dieser Vorstellung beigewohnt. Selbst kenne ich die Inszenierung nur vom Mailänder Video, das Du verlinkt hast. Der Film kann natürlich das Ereignis selbst nur eingeschränkt wiedergeben, zumal noch durch den Blick der Kameraleute und ihres Teams. Wobei ich davon ausgehe, dass Zeffirelli selbst die Aufnahme genau überwachte, wenn nicht gar künstlerisch besorgt hat. Genau weiß ich das jetzt nicht. Gelegentlich seines bevorstehenden 100. Geburtstages hielte ich es an der Zeit, darüber nachzudenken, ob man nicht auch eine Inszenierung unter besonderen Schutz stellen sollte und könnte. Denn sie stellt ja gewissermaßen ein eigenes Kunstwerk dar. Insofern wäre ein solcher Schritt mehr als gerechtfertigt. Wie mit seinem Mutterhaus der Oper und seinem Theatermuseumwäre für ein solches Experiment, genau der richtige Ort. Ich bin mir natürlich völlig darüber im Klaren, dass Theater etwas Bewegliches, Prozessorales ist, das auch der Entwicklung und der neuen Einsicht bedarf. Im Ausnahmefall könnte man ja durchaus mal die Zeit anhalten.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Vielen Dank für den Bericht! Auch nach vielen Jahrzehnten Laufzeit findet die Inszenierung offenbar großen Zuspruch. Solange das so bleibt, wird sie sicher auf dem Spielplan bleiben.

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Auch mir gefällt dein Bericht sehr gut, lieber Joseph II.

    Bernheim als Rodolfo in dieser schönen Inszenierung kann ich mir sehr gut vorstellen.

    Den Film mit Freni und Raimondi habe ich zumindest einmal auf einer Kinoleinwand erleben dürfen.

    Ich habe deinen Tipp für Kurzentschlossene gleich an einen Opernfreund, der noch eine Woche in Wien sein wird, weitergeleitet. Vielleicht fällt er auf fruchtbaren Boden.

  • Die Streaming- und On-Demand-Plattform des Teatro alla Scala heißt LaScala.tv

    Erste Inhalte werden ab 9. Februar veröffentlich, erster Live-Stream am 14. Februar

    https://www.milanotoday.it/att…aming-opera-balletto.html


    Vom 4. bis 26. März 2023, anlässlich des 100. Geburtstags von Franco Zeffirelli präsentiert die Mailänder Scala erneut ihre klassische Inszenierung von La Bohème mit Freddie de Tommaso, Marina Rebeka, Irina Lungo. Wahrscheinlich wird das übertragen.

    https://www.teatroallascala.or…2023/opera/la-boheme.html

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Ich möchte Abbitte leisten wegen einer "gehudelten" Formulierung:" konventionelle Adaptionen sind Geschichte". Zu pauschal.
    Ich kenne die Wiener Boheme von Zeffirelli, sie ist es durchaus wert, über die Jahrzehnte konserviert zu werden, so wie manche andere Sternstunde des Theaters.

    Was Schenk betrifft: Ich bin sein größter Fan in Sachen Nestroy(in Regie und Darstellung unübertrefflich) und finde es erfreulich, dass seine in die Jahre gekommenen Operninszenierungen in Spielplänen bzw auf DVD weiterhin existieren. Das Traurige am Theater ist ja die Vergänglichkeit.

    Dennoch:

    NEUinszenierungen im Stil von Zeffirelli und Schenk wären heute einfach nicht mehr möglich.

    Ich wiederhole mich: Kunst hat nichts mit Stillstand zu tun, liebe Traditionalisten!

    Trotzdem sind viele alte Inszenierungen nach wie vor sehenswert - "kulinarisches Theater"- warum denn nicht, schmecken soll es schon auch.
    Jedenfalls war mir die opulente Boheme in der Staatsoper doch um einiges lieber als die Elektra im Heizungskeller.

  • Lieber Joseph,

    Wie hoch war denn der Altersdurchschnitt in der Boheme ?

    Lieber rodolfo39,


    ich würde das so wie mein Vorredner kurzstueckmeister beschreiben. Der Andrang auf diese Wiederaufnahme ist nach meinem Eindruck sehr groß. An der Abendkassa gab es viele, die noch auf Restkarten hofften, eher mittleren und jüngeren Alters.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Lieber Orfeo, sind die Streams der Scala kostenlos ?

    Ganz sicher werden die was kosten, es soll aber auch Abos geben. Die Preise werden wahrscheinlich erst am 9. Februar veröffentlicht. Ich habe mich angemeldet, obwohl die Produktionen mich nur teilweise interessieren, und werde dann sicher die Modalitäten erfahren.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Hab mich auch grade angemeldet. Falls eine nicht Libretto gerechte Inszenierung dabei sein sollten, werde ich das Abo kündigen :)

  • Wer seinen kulturellen Geschmack aus Nertflix-Serien bezieht, kann natütich zu keinem anderen Fehlschluss gelangen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich kenne zwar keine Netflix-Produktionen aber

    >>atmosphärisch gefesselt wie von einem Netflix-Kostümfilm<<

    muss ja überhaupt nicht falsch sein, und ist zudem tatsächlich eine positive Anmerkung.

    Man könnte daraus geradezu folgern, dass solche Inszenierungen auch heute wieder gemacht werden könnten und als aktuell empfunden werden.

  • Wer seinen kulturellen Geschmack aus Nertflix-Serien bezieht, kann natütich zu keinem anderen Fehlschluss gelangen.

    ^^:thumbup:

    Man könnte daraus geradezu folgern, dass solche Inszenierungen auch heute wieder gemacht werden könnten und als aktuell empfunden werden.

    Eher auch meine Schlussfolgerung dieser etwas merkwürdigen Rezension, wo es u. a. heißt:

    "Franco Zifirellis (sic) Inszenierung von La Bohème feiert den Sechziger."
    Da war offenbar ein Kenner der Materie am Werke. Keine weiteren Fragen. :pfeif:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • "Franco Zifirellis (sic) Inszenierung von La Bohème feiert den Sechziger."

    Lieber Joseph II., hattet Ihr früher einen 60-Schilling-Schein? Es grüßt Hans

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Lieber Joseph II., hattet Ihr früher einen 60-Schilling-Schein? Es grüßt Hans

    Lieber Hans,


    50 und 100 gab es. Gemeint ist die 60. Wiederkehr der Premiere dieser Inszenierung von Anno 1963.


    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich kenne zwar keine Netflix-Produktionen aber

    >>atmosphärisch gefesselt wie von einem Netflix-Kostümfilm<<

    muss ja überhaupt nicht falsch sein, und ist zudem tatsächlich eine positive Anmerkung.

    Mir sind solche Produktionen auch nicht genau bekannt. Glegentlich stehe ich an einer Bushaltestelle und blicke direkt auf eine große elektronische Tafel, auf der ständig Reklame für Netflix-Filme gemacht wird. Dann fällt mir immer wieder auf, dass die Ausstattungen im Vergleich mit Filmen, die mir sehr wohl bekannt sind, ehr popelig ausfallen. Außerdem funktioniert der Vergleich von "Der Standard.at" schon deshalb nicht, weil Netflix erst 1997 gegründet wurde, wie ich eben nachschlug. Zu diesem Zeitpunk ging die Inszenierung der "Bohéme" von Zeffirelli in Wien bereits in ihr fünfunddreißigstes Jahr. Das wäre so, als würde man behaupten, der Hölderlin schreibe wie Majakowski.


    Wenn aber nun geschrieben steht, der Regisseur des aktuellen "Ring" in Bayeuth inszeniere das Werk wie eine Netflix-Serie, dann wäre meinerseits nichts einzuwenden. :)

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Ich war gestern in der 454. Aufführung dieser Inszenierung und kann Joseph II. nur zustimmen. Diese Produktion ist ein Juwel von Zeffirelli. Möge sie uns noch lange erhalten bleiben.

    Die Produktion strotzt nur so von liebevollen Details. Ja, der zweite Akt ist hervorragend inszeniert. Da steht keiner nur rum, da ist ständig Bewegung. Die Pariser feiern eben.

    Auch wenn ich nicht unbedingt ein Freund von Tieren auf der Bühne bin, da wir wissen, wie stressig das für Tiere sein kann, ist es erfreulich, dass da auch immer noch der Esel über die Bühne läuft. Er ist es sicher gewohnt und scheint sich auf der Bühne wohl zu fühlen, und wird, wie ich genau beobachten konnte, sehr behütet und liebevoll umsorgt.


    Im krassen Gegensatz zum Treiben vor dem Café Momus steht das intime dritte Bild bei Schneefall vor dem Gasthof nahe der Zollschranke. Dieses Bild hat auch immer eine starke, wenn auch ganz andere Wirkung.


    Von den Sängern ist Benjamin Bernheim der - auch stimmlich strahlende - Höhepunkt der Aufführung. Selten hört man so einen perfekten Rodolfo. Rachel Willis-Sorensen ist als Mimi gewöhnungsbedürftig. Die Stimme ist eigentlich zu groß und zu schwer für die Mimi, doch im Finale berührt sie endlich auch vokal. Boris Pinkhasovich ist phasenweise ein zu polternder Marcello und endlich mal kein stimmliches Leichtgewicht ist die Musetta von Anna Bondarenko.


    Und auch gestern ist es mir wieder mal passiert. Das Finale hat mich emotional erwischt. Es hat mich unheimlich berührt. Wieso eigentlich? Ist es die Musik? Sicher auch. Ist es der genial singende Bernheim und die im Finale zu großer Form auflaufende Willis-Sorensen? Definitiv. Aber da muss noch mehr sein, nach all den vielen Bohèmes.

    Gestorben wird in den meisten Opern, das ist es nicht. Also, wieso packt einen gerade dieses Meisterwerk von Puccini emotional immer wieder aufs Neue?


    Gregor

  • Ich bin erstaunt, dass Rachel Willis-Sørensen immer noch als Mimì besetzt wird. Vor ca.10 Jahren erlebte ich sie in der Rolle in der Semperoper. Damals war sie schon aus dem Mimì-Alter herausgewachsen, sowohl optisch als auch akustisch.

    Dabei gibt es heute genügend Darstellerinnen, die dieser Rolle gerecht werden. Ruzan Mantashyan zum Beispiel…

    Freundliche Grüße Siegfried