Kopfhörer-Klausuren. Dr. Kalethas esoterisches Hörtagebuch

  • Manche musikalische Werke vollziehen einen Kreis – das Ende läuft in den Anfang zurück. Einen solchen Kreisgang nehmen kann auch der Gang des Lebens, so wie in meiner Kopfhörer-Geschichte. Als Jungstudent kaufte ich mir zuerst einen Stax-Kopfhörer und erst später meine ersten Lautsprecher. Mit den Jahren, von den Vorzügen großer Standlautsprecher eingenommen, entwöhnte ich mich vom Kopfhörer-Hören fast komplett. Heute aber freue ich mich über die kleine Kopfhörer-Anlage in meinem Souterrain-Arbeitszimmerchen, eingerichtet zum Musik-Lauschen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das Wiedereingewöhnen in das Kopfhörer-Hören nach Jahrzehnten der Kopfhörer-Abstinenz fiel mir leichter, als ich zunächst dachte. Unter der Abgeschlossenheit des Kopfhörers hört Musik nicht nur auf, ein störendes Geräusch und eine Belästigung für die Mitmenschen zu sein. Das Hören und Zuhören wird zu einem Lauschen in die Stille, das den Hörer zu einer fast meditativen Konzentration zwingen kann. Die Welt ist quasi ausgeschaltet und man ist umgeben nur noch von der Musik, also mit sich und der Musik ganz allein. In solch esoterischer Abgeschiedenheit brauche ich auf Niemanden Rücksicht zu nehmen, folge also wie es mir beliebt meiner Lust und Laune, sei es, dass ich in diese oder jene Musik kurz hineinlausche, wenn die Hörzeit bemessen ist, oder, wenn ich mir die Zeit nehmen kann und will, ausgiebig und ausschweifend mir auch lange, ganze Werke zu Gemüte führe. „In der Religion gibt es keinen Zwang“ sagt schön der Koran – in der Kopfhörer-Klausur privatissime gibt es das Glück der vollkommenen Zwanglosigkeit. Wenn man mit der Musik allein ist, lädt sie zum Sinnieren ein – ganz zwanglos darf man einfach nur assoziieren, Bilder gehen einem dann durch den Kopf, oder aber es kommen die Gedanken, Einfällen gleich, so wie sie wollen – sie können flüchtig, vorläufig, unausgereift sein und bleiben oder gründlicher in die Tiefe gehen. Im esoterischen Zwiegespräch mit die Musik gibt es auch keine „Argumente“. Gedanken, die ganz privat nur meine Gedanken sind, müssen und wollen sich Niemandem „beweisen“ und deshalb „diskutiere" ich mein Hörtagebuch auch nicht. Wer möchte, kann diese Notizen als Anregungen nehmen, als Anreiz zum Nachhören der gehörten Musik – und dabei vielleicht einige meiner Gedanken aufnehmen und mitnehmen für seine eigene stille Kammer des Meditierens über Musik.


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    Die folgende CD-Besprechung widme ich meinem verehrten Lehrer, Germanistik-Professor Jürgen Born, 1927 in Danzig geboren, ehemaliger Leiter der Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal. Von meinem Vater erhielt ich kürzlich die traurige Nachricht, dass sein Freund Jürgen Born am 20.1. im Alter von 95 Jahren verstarb.



    Wahrlich tragisch für einen „Handwerker“, wie es ein Pianist nun einmal ist, brach sich Nelson Freire zu Beginn der Corona-Pandemie 2019 zuerst die Schulter und Monate später auch noch das linke Handgelenk dazu. Während der durch die Corona-Isolation und seine Missgeschicke doppelt erzwungenen künstlerischen Pause hatte Freire offenbar große Angst, vergessen zu werden, wie sein Produzent Dominic Fyfe berichtet. Viel zu früh verließ Freire unsere Welt dann am 1. November 2021. Der Titel dieser Doppel-CD Memories spricht es aus: Die Erinnerung an diesen großartigen Pianisten soll mit dieser Veröffentlichung wach gehalten werden, die bislang unveröffentlichte Aufnahmen aus vier Jahrzehnten zusammenbringt – Rundfunkmitschnitte aus den 1970igern sowie im Tonstudio verbliebene Takes aus seiner Zeit bei Decca. Unvergossene Tränen: Erinnerungen an Nelson Freire – in seinem sehr persönlich geschriebenen Begleittext erzählt Dominic Fyfe, wie er in einem Telefonat mit Freire vom Tod seiner Eltern sprach, die er innerhalb eines Monats verlor, und der sehr scheue und äußerst zurückhaltende Künstler daraufhin verriet: „Ich habe meine Eltern mit 22 bei einem schrecklichen Unfall verloren, bei dem ich dabei war. Diese Erinnerung behältst du dein ganzes Leben lang.“ Dieses traumatische Erlebnis erklärt vielleicht die vornehme Zurückhaltung, die ungemein kultivierte, freundliche Reserviertheit von Nelson Freires Künstlerpersönlichkeit. Freire war nie der burschikose, auftrumpfende Virtuose, sondern selbst in den „pianistischsten“, vitalsten Virtuosen-Passagen ein Meister der stillen, eleganten Behutsamkeit. Sehr eindrucksvoll zeigt das der Rundfunkmitschnitt von Beethovens 4. Klavierkonzert von 1972. Freire spielt diesen Beethoven jugendlich frisch, aber ohne jemals forsch zu wirken, mit einer einnehmenden klassischen Eleganz und poetischen Wärme. Der langsame Satz berührt durch seine feine, warmherzige Empfindsamkeit. Das ist einfach wunderbar! Ein Glücksgriff ist auch, dass Freire die heute nahezu vergessenen Kadenzen von Camille Saint-Saëns spielt, die in ihrer Ausdehnung und ihrem musikalischen Gewicht eine eigenständige Komposition in der Komposition sind, eine Auseinandersetzung des Virtuoesen-Komponisten Saint-Saëns mit Beethoven. Beethovens vielleicht „romantischstes“ Klavierkonzert spiegelt sich so im spätromantischen Geist. Gerade auch das macht diese Aufnahme zu einer herausragenden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Freires lebenslange Freundin Martha Argerich, die Beethovens "mystisches" 4. Konzert ganz besonders liebt und sich genau deshalb bis heute nicht traut, es selbst aufzuführen, diese Freire-Aufnahme sehr mögen wird. Auch das Jahrzehnte bei DECCA später aufgenommene Andante favori ist ein wirklicher Hörgenuss. Jussi Björlings Stimme singe wie „unvergossene Tränen“, meinte einst ein Kritiker. Hier kann man Dominic Fyfe in seiner Bewunderung für Freires einzigartig berührendem Vortrag der Mélodie von Gluck/Sgambati nur beipflichten und ergänzen: Unvergossene Tränen traurig-schöner Erinnerung schmeicheln hier unseren Ohren. Nelson Freire liebte dieses Stück ganz besonders. In einem Video-Mitschnitt legt Freire eine Schallplatte seiner Lehrerin Guiomar Novaes auf, die eben dieses Stück gerne spielte. Kurios: Der Übersetzer aus dem Englischen macht aus der bedeutenden brasilianischen Pianistin (ihre unvergleichlich rhythmisch-nuanciert gespielten Chopin-Nocturnes sollte man gehört haben!), an die sich heute offenbar kaum noch Jemand erinnert und die er offenbar nicht kannte, einen „Pianisten“, also einen Mann! Ich freue mich schon darauf, meine Entdeckungsreise dieser Freire-Memories demnächst fortzusetzen.


  • Manche CDs kauft man nach dem Motto: „… das könnte interessant sein!“ So geschehen im Falle von Janine Jansens Album 12 Stradivari. Einmal habe ich eine „Schwäche“ für das Duo Klavier und Violine – oh Verzeihung, lieber Leser, als närrischer Liebhaber des Klaviers habe ich unhöflich gegenüber der Geigenspielerin mein Lieblingsinstrument doch glatt zuerst genannt! Deshalb entschuldige ich mich auch gleich mit der folgenden Anekdote, die Artur Rubinstein mit dem ihm eigenen Humor erzählt. Für Beethoven spielte im Klaviertrio nicht etwa die Violine, sondern das Klavier die „erste Geige“. Denn die Bezeichnung des Komponisten lautet „Trio für Klavier, Violine und Violoncello“. Rubinstein, Heifetz und Piatigorsky bildeten ein berühmtes Trio, das man damals auch das „Million Dollar-Trio“ nannte. Jascha Heifetz war – so Artur Rubinstein – ein bisschen eitel. Auf einem Pausen-Spaziergang während der Aufnahmesitzungen meinte er zu Rubinstein, es sei doch sehr ungerecht, dass immer er, Rubinstein, der Pianist, auf dem Plattencover zuerst geschrieben stehe. Das sei „undemokratisch“ – warum könne nicht einmal er, Heifetz, oder dann auch mal Freund Piatigorsky als Erster genannt werden? Rubinstein blieb aber stur und standfest und verwies sachverständig auf Beethovens Notentext: „Das ist nicht ungerecht. Da steht Schwarz auf Weiß über den Noten: Trio für Klavier, Violine und Violoncello - und deshalb muss es auch immer genau so heißen: Rubinstein, Heifetz, Piatigorsky.“ Heifetz stellte Rubinsteins Antwort aber nicht zufrieden. Er nörgelte weiter. Da platzte Rubinstein schließlich der Kragen: „Weißt Du, Heifetz, selbst wenn an Deiner Stelle Gott höchstpersönlich die Violine spielen würde, stände nachher auf dem Plattencover: Rubinstein. Gott, Piatigorsky“. Aber kommen wir zurück zu Janine Jansen. Der zweite Grund, warum ich diese CD in meine Sammlung eingefügt habe ist die Geigerin, über die ich immer wieder Lobeshymnen las, aber keine CD von ihr besessen hatte. Und schließlich faszinierte mich das Programm. Itzhak Perlman nahm seine Bach-Platte auf seinen zwei verschiedenen Geigen auf, einer Guarneri und einer Stradivari. Ein sehr reizvoller Vergleich. Und hier sind es gleich zwölf verschiedene Stradivaris!


    Stradivari-Geigen sind bis heute „Kult“ und man fragt sich natürlich, wie es möglich war, für diese Aufnahme gleich zwölf dieser „Wundergeigen“ zusammenzubekommen. Die Antwort gibt das Nachwort, das unterschrieben ist mit: Steven Smith J&A Beare Ltd. Die New York Times bezeichnete Charles Beare einmal als „weltweit angesehensten Geigenhändler“. Die Familie Beare handelt mit Geigen seit mehr als 150 Jahren – die Geschichte des Familienunternehmens Beare ist hier nachzulesen:


    https://www.corilon.com/biblio…tise-im-wandel-der-zeiten


    Das von John Beare 1865 gegründete Unternehmen hat sich immer wieder verzweigt, zuletzt fusionierte es 1998 mit „Morris and Smith“:


    „1998 begann das jüngste Kapitel in der Geschichte von „Beares“, als sich das Traditionsunternehmen mit dem Londoner Streichinstrumentenhändler „Morris and Smith“; vereinigte, um fortan unter der Marke „J & A Beare“ aufzutreten. Facettenreicher Sachverstand zeichnet die neue Geschäftsführung aus, die in dem Cellisten Simon Morris, dem Violinisten Steven Smith und der ehemaligen Christie´s-Direktorin Frances Gillham besteht – und in Charles Beare und seinem Sohn Peter, als jüngstem Beare bei Beares, der seine Kunst an der Geigenbauschule von Salt Lake City erlernt hat. Nach seiner Rückkehr in die familiäre Werkstatt arbeitete Peter Beare als Restaurateur, um seine Kenntnisse später durch Aufenthalte bei Etienne Vatelot in Paris, Premysl und Jan Spidlen in Prag und bei Carl Becker in Chicago zu vervollkommnen. Ein Schwerpunkt in der Arbeit von Peter Beare ist der Bau neuer Instrumente, der seit den späten 1980er Jahren unter der Mitarbeit von Christoph Götting wieder ein wichtiger Arbeitsbereich bei J & A Beare geworden war.“


    Steven Smith hat dieses Album wohl initiiert – im Zusammenhang mit einer „sechsbändigen Stradivari-Sammlung“, die er als „ultimative Stradivari Ikonographie” bezeichnet mit dazugehörigem Dokumentarfilm. Antonio Stradivari erreichte ein für die Barockzeit biblisches Alter von 93 Jahren. In seiner Werkstatt in Cremona wurden etwa 1200 Geigen hergestellt – von denen sich etwa 700 erhalten haben. Die berühmtesten Instrumente tragen die Namen der großen Violinisten, die sie spielten. Hier in dieser Aufnahme verwendet Janine Jansen u.a. die Stradivaris von Fritz Kreisler, Ida Haendel und Nathan Milstein. Ihr Instrument ist seit 2016 die Stradivari „Rivaz, Baron Gutmann“ von 1707.


    Diese CD ist wahrlich ein „Ohrenschmaus“ – gerade unter dem Kopfhörer. Die aus einer Musikerfamilie aus Utrecht stammende Janine Jansen wählte zunächst wie ihr Bruder das Cello als ihr Instrument. Und dies merkt man – ein Mstislav Rostropovich z.B. mochte den etwas gläsernen und in den Höhen schrillen Geigenklang nicht. Janine Jansens sehr sinnlicher Geigenton klingt so sonor und warm, als würde ihr Bogen nicht über die Saiten einer Violine, sondern die eines Violoncello streichen. Sehr klug hat sie das jeweilige Instrument für das spezielle Musikstück ausgewählt – die klangliche Verwandtschaft der Stradivaris ist natürlich gegeben, aber auch die Unterschiede sind deutlich hörbar – die Instrumente klingen mal heller, mal dunkler, mal schlanker oder voller im Ton. Janine Jansen ist eine Geigerin, die mit ihrem Instrument wahrlich „verwachsen“ ist. Ein Klavier ist und bleibt ein mechanisches Instrument, das für den Spieler in gewissem Sinne immer ein Fremdkörper bleibt. Emil Gilels meinte deshalb einmal, der Flügel sei für den Pianisten ein Koloss, den er sich erst unterwerfen müsse. „Geigerischer“ als Janine Jansen kann man wohl kaum spielen – sie lässt ihr Instrument so lebendig und intim „singen“, als wäre es die Stimme eine Operndiva, die aus ihrer Brust heraustönt, mit einer kaum glaublichen Ausdruckspalette und unerhörten Nuancen, feinen und feinsten Schwellungen des Tones bis ins äußerste Pianissimo. Und dazu passt auch das Programm – es werden geigerische „Delikatessen“ präsentiert, wie man sie im Konzertsaal als Zugabenstücke vorgeführt bekommt, als „süßen Nachtisch“ zum musikalischen Hauptgericht gleichsam. Das Tolle dabei ist: All dies wirkt keineswegs kitschig-sentimental – man genießt geigerische Präziosen, mit flexibelster Empfindsamkeit gespielt. Hier passt alles zusammen: Das Album hat letztlich den Sinn, dass nicht das Instrument die Stücke, sondern die Stücke das Instrument präsentieren, die Violine und was sie kann als Instrument – mit den Gipfeln der Geigenbaukunst, den wunderbaren Stradivaris. Fritz Kreislers Instrument eröffnet das Programm – mit zweien von Fritz Kreislers viel gespielten Arrangements. Es folgen die bei einer solchen Programmzusammenstellung zu erwarteten „Appetithäppchen“ – nicht also das ganze Werk von Robert und Clara Schumann, sondern das, was sich empfindsam vortragen lässt: die langsamen Sätze. Dabei sorgt Janine Jansen für Abwechslung – zu viel gleichförmige Sentimentalität drohte in seiner Versammlung eintönig zu werden – mit einem Gang durch die Epochen und verschiedenen musikalischen Stile, der geschickten Mischung von Unterhaltsamem und Ernstem, von Romantischem, Spätromantischem mit Modernem: Kreisler, Vieuxtemps, Tschaikowsky und Rachmaninow sind bei einem solchen Recital erwartbar, aber nicht unbedingt Ravels Vocalise oder Szymanowskis spekulativ-phantasievolle Mythes. Eine Entdeckung ist für mich der „Seufzer“, Sospiri op. 70, ein Arrangement für Violine und Klavier, von Edvard Elgar – ein tief empfundenes und das Gemüt bewegende Stück.


    Zum Schluss sei die Frage gestattet: Gibt es zu dieser wunderschönen CD auch kritische Töne anzumerken? Ja, aber auch nur vielleicht. Janine Jansen ist vom Typ der ausdrucksstarken, hoch empfindsamen virtuosen Geigerinnen. Eine Ginette Neveu spielt Ravels melancholische Habanera-Vocalise ebenfalls hoch expressiv, aber deutlich herber, mit der gewissen iberischen Trockenheit, die zu dieser Musik gehört, die eben doch etwas Anders ist als nur weiche – um nicht zu sagen weichliche – empfindsame Romantik. Und auch ein Nathan Milstein, dessen Stradivari Janine Jansen vorführt, hätte den Schumann sicher formstrenger und im Ton gefasster vorgetragen. Aber das schmälert das Glück und die Freude, der schönen Musik auf dieser CD unter dem Kopfhörer zu lauschen, in keiner Weise.


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  • Wiederbegegnung


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    Die Düsseldorfer Musikbücherei (Teil der Stadtbücherei) war für mich als Jungstudent wie für viele andere Studenten oder selbst nur Musikinteressierte auch ein wahrer Glücksfall. Zu einer großen Bücher- und Notensammlung – die oft auch die Universitätsbibliothek nicht bieten konnte – kam vor allem die Abteilung mit ausleihbaren Schallplatten (später dann CDs). Die Platten nahm man sich nach Hause und überspielte sie mit dem Cassettenrecorder auf eine Musi-Cassette. Darunter war damals die Platte der Brahms-Klaviersonaten Nr. 1 und Nr. 2 des jungen Krystian Zimerman. Die Aufnahme beeindruckte mich ähnlich wie Pollinis erste Schubert-Platte mit der Wanderer-Fantasie und der Sonate a-moll als ein Ideal von vollendet schönem Klavierspiel. Keine andere Aufnahme – Claudio Arrau nicht und Svjatoslav Richter nicht – hat mich jemals so einnehmen können wie diese Einspielung von Zimerman. Gerne hätte ich auch die CD gehabt – aber sie erschien einfach nicht. Da mein Cassettendeck längst nicht mehr spielbar ist, konnte ich über die Aufnahme nicht mehr verfügen. Es blieb die wehmütige Erinnerung an eine gleichsam „über“-schöne Aufnahme. Man kennt inzwischen die Skrupel von Zimerman, das, was ihm aus seinen frühen Zeiten nicht mehr gut genug scheint, einfach nicht mehr zu veröffentlichen oder gar nicht erst zu veröffentlichen. So nahm er u.a. Schuberts Sonate B-Dur D 960 auf – um sie dann dem Vergessen anheimzugeben und nach Jahrzehnten erneut aufzunehmen.


    Dankbar bin ich deshalb, diese Aufnahmen nun wenigstens als mp3-Dateien verfügbar zu haben. Und die Wiederbegegnung bestätigt meine Begeisterung von damals. Krystian Zimermans unglaubliche pianistische Souveränität bewältigt diese wuchtigen Brahms-Sonaten-Bauwerke mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, so, als dirigiere hier ein Dirigent sein Orchester. Da ist alles perfekt ausbalanciert: Dieser Brahms hat Wucht und Gewicht, ohne jemals schwerfällig zu wirken, die Musik hat durchaus Schumannsche Lebendigkeit bei Zimerman, ohne aber ins vordergründige Stürmen und Drängen abzugleiten. Zimerman versteht es, Brahms seine seriöse romantische Klassizität zu belassen mit dem Formsinn und der Übersicht über das Ganze eines Wanderers über dem Nebelmeer: Musik als romantische Schau auf ein Universum. Die gewisse Schwermut und grüblerische Tiefe ist da, aber vorgetragen ohne aufgesetztes Expressivo mit dieser gewissen jugendlichen Leichtigkeit, die aber niemals leichtsinnig wird, sondern die Brahmssche Strenge wahrt. Und dann ist da noch der unglaubliche Klangsinn in den „mystischen“ Sehnsuchts-Passagen im Pianissimo. Einfach nur bewundernswert! Eine der wenigen Interpretationen, die es verdienen, „ideal“ genannt zu werden. Ob Krystian der DGG doch noch einmal die Erlaubnis gibt, dieses Ereignis aus früheren Tagen zu veröffentlichen?



    Wie nicht anders zu erwarten ist natürlich auch sein Szymanowski überragend gespielt. Das Zustandekommen dieser CD-Veröffentlichung ist typisch Zimermann: Es ist die Vervollständigung eines Programms, was er vor drei (!) Jahrzehnten begonnen hatte, aufzunehmen. Die Zusammenstellung enthält ganz frühe Kompositionen Szymanowskis, wo der große Einfluss von Scriabin überdeutlich ist. Szymanowski ist ein Komponist, den ich am ehesten mit dem Bulgaren Pancho Vladigerov vergleichen würde, der anders als Strawinsky, Prokofieff oder Rachmaninow nicht über eine eigene, homogene Musiksprache verfügt, sondern sehr heterogen diverse Einflussquellen der Musik des 20. Jhd. verarbeitet und ihr dabei eine sehr eigene Note hinzufügt. Sehr lesenswert ist auch der Klappentext, wo Zimermans enge Beziehung zu Artur Rubinstein deutlich wird. Er habe zuerst „Todesangst“ gehabt, als er ihm vorspielen musste, bevor er sich dann mit ihm befreundete und ihn regelmäßig aufsuchte. Erst heute verstehe er richtig vieles von dem, was Rubinstein damals zu ihm sagte. Seine Begeisterung für Szymanowski verdankt Zimerman Artur Rubinstein, der Szymanowskis enger Freund war.


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  • Perlemuters Strukturalismus



    Müsste ich mich selber karrikieren, würde ich mich wohl als "Klavier-Verrückten" portraitieren, eingeschlossen in einer Bibliothek nur mit Klaviernoten und umringt von Klavieraufnahmen. Als ich in meiner Jugend begann, selber Schallplatten zu sammeln, war es zunächst ausschließlich Klavierliteratur - später erst erschloss ich mir nach und nach das Orchesterrepertoire. :D So gehört es zu den Merkwürdigkeiten meiner Biographie, dass ich viel zu lange von einem der bedeutendsten französischen Pianisten so gut wie gar keine Notiz nahm: Vlado Perlemuter. Ich entdeckte ihn erst sehr spät, nachdem ich u.a. ein Filmportrait des ungemein sympathischen Pianisten gesehen hatte, der das biblische Alter von 98 Jahren erreichte. Heute gehört er zu meinen "Lieblingspianisten"! Perlemuter, 1904 in Kowno in Litauen geboren, das damals noch zu Russland gehörte, stammt eigentlich aus einer jüdisch-polnischen Familie, die vor den Pogromen im russischen Zarenreich nach Frankreich floh. In Paris wuchs Vlado Perlemuter auf und erfuhr dort seine künstlerische Prägung, freundete sich mit Maurice Ravel an und war der erste Pianist, der Ravels Klavierwerk komplett spielte und aufführte.


    Und noch eine Vorgeschichte: Vor nicht langer Zeit fand in unser Münsteraner Wohnung eine Seminarsitzung mit Studenten statt. Ich selbst war an dem Abend nicht anwesend. Sie wollten Chopin hören. Also griffen sie mehr oder weniger wahllos in meine Klaviersammlung und fischten diese Perlemuter-Box heraus:



    Daraus hörten sie die Aufnahme mit den 4 Balladen - und das gleich dreimal hintereinander, weil es ihnen so ausgezeichnet gefiel! Perlemuters Chopin ist auch wirklich ganz ausgezeichnet - er hat den für Chopin so wichtigen Sinn für die "Linie" und die heute leider nicht mehr selbstverständliche polnische Eleganz, spielt die Dramatik heraus, aber immer gelassen und entspannt, ohne jegliche rhetorische Übertreibung mit der französischen Haltung dezenter Andeutung. Das ist wunderbar!


    Das Klavierwerk von Gabriel Fauré habe ich mit den sehr schönen EMI-Aufnahmen von Jean-Philippe Collard für mich entdeckt:


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    Collard spielt Gabriel Fauré so, wie Maurice Ravel seinen Lehrer beschrieb, als den Komponisten, der im Anschluss an Gounod die koloristische Sinnlichkeit und die "Melodie" in der französischen Musik wiederherstellte:


    "Man könnte die Bedeutung Faurés besser ermessen, wenn man seine Gesangstücke studieren würde, die der französischen Musik im Bereich des >Liedes< den Vorrang gewannen. Fauré gab die Strenge seines Lehrers Saint-Saëns auf und fühlte sich mehr zu der charakteristischen Farbengebung Gounods hingezogen ... Gounod war der wahre Wiederhersteller der Melodie in Frankreich, er, der das Geheimnis einer harmonischen Sinnlichkeit wiedergefunden hatte, das seit den Clavecinisten des 17. und 18. Jahrhunderts verlorengegangen war."


    (Maurice Ravel, 1923)


    Collards Einspielungen haben deshalb eine gewisse Glätte - er spielt Faurés Musik doch eher melodielastig und immer sehr flüssig stromlinienförmig und deshalb auch weniger satztechnisch strukturiert. Da dachte ich mir: Dieses "Manko" könnte Vlado Perlemuter beheben! Im Kopf hatte ich da Perlemuters Ravel-Offenbarung bei dem nur 2 Minuten kurzen Stückchen Menuet sur le nom d´Haydn. So klar und zwingend wie Perlemuter hier die Kontrapunktik herausspielt denkt man, wie es wirklich in nur ganz wenigen Fällen der Fall ist: So und nicht anders muss es eigentlich sein!



    Also fügte ich meiner Sammlung Perlemuters Fauré-CD hinzu. Und die Hörprobe unter dem Kopfhörer erfüllt meine Erwartungen voll und ganz: Vlado Perlemuter gelingt es, die perfekte Balance zwischen melodischer Sinnlichkeit und struktureller Durchzeichnung herzustellen. Auch bei Fauré muss ich nun die französische clarté nicht mehr vermissen. Exemplarisch!


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  • Der bei uns in Westeuropa bekannteste brasilianische Pianist ist zweifellos Nelson Freire. Die Brasilianerin Guiomar Novaes (1896-1979) dagegen ist in unseren Breiten (auf dem amerikanischen Kontinent ist es wohl anders) so etwas wie ein Geheimtip für Kenner geblieben. Sie hat nie Schüler unterrichtet - Nelson Freire nahm lediglich einige Stunden bei ihr. Die verdienstvolle Edition des auf das Remastering von historischen Aufnahmen spezialisierten Labels apr belegt, dass Novaes, das 17. (!) von 19 Kindern, eine wirklich große Pianistin war. Ihre Virtuosität ist beeindruckend. Sie hat diesen gewissen göttlich-schwerelosen, völlig mühelosen Anschlag in den rasenden Läufen, den nur wenige Begnadete unter den Pianisten vorweisen können. Hier, in ihren frühen Aufnahmen, spielt sie viel spätromantische Virtuosenstücke, dazu Scarlatti, Chopin, Liszt und Villa Lobos. Für unsere heutigen Hörgewohnheiten und Konzertprogramme sind die Virtuosenstücke und Bearbeitungen der alten Virtuosen, die noch von Traditionen des 19. Jhd. geprägt wurden, eher ein Repertoire von gestern. Aber gerade hier zeigt Guiomar Novaes, dass sie eine moderne Pianistin ist. Ihr Spiel ist von einer eindruckensvollen Natürlichkeit und Geradlinigkeit, frei von jeglicher Sentimentalität und rhetorischen Übertreibungen oder gar Manierismen. Ihre absolute Geschmackssicherheit erinnert an Jorge Bolet, ihr Stil ist aber irdischer und vielleicht etwas nüchterner auch als die Noblesse des deutlich jüngeren, großen Klavierästheten aus Kuba. Beeindruckend! Meine primäre Noaves-Empfehlung bleiben aber Chopins Nocturnes - ihre VOX-Einspielung aus späteren Zeiten. Ich kenne keine andere Aufnahme, welche so die komplexen rhythmischen Strukturen aus Chopins Klangstücken heraushört, wo die Interpretin also nicht nur im Belcanto badet oder die Nocturnes biedermeierlich-gemütlich zu Klischeebildern von Stimmungsromantik verharmlosen würde:


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    Dass Alexis Weissenberg Chopins Nocturnes als Abziehbildchen für´s romantische Poesiealbum behandeln würde, ist wahrlich nicht zu erwarten. Merkwürdiger Weise ist seine etwas unorthodoxe EMI-Aufnahme der Nocturnes - sie wählt eine sehr persönliche Reihenfolge, beginnend mit Nocturne Nr. 5 - nur (zum Glück!) als Japan-Import über jpc zu bekommen:



    Weissenberg startet mit dem Nocturne Nr. 5 und versetzt mich gleich in Begeisterung: Er hangelt sich nicht etwa schwelgerisch an den Kantilenen entlang, sondern offenbart die komplexe Textur der Musik - vielschichtige Lyrik, die in der Art einer kleinen Ballade ins Dramatische kippt (im Sinne von griech. metabole, des Umschlags von etwas in sein Gegenteil) - um sich wieder im Lyrischen zu beruhigen. Inzwischen habe ich diese Weissenberg-Offenbarung schon drei oder viermal gehört! Aber insgesamt hinterlässt Weissenbergs Aufnahme doch einen zwiespältigen Eindruck. Ich weiß nicht, woran es liegt - vielleicht, dass der "Weltmann" Weissenberg jegliche irgendwie artige Salonhaftigkeit bei Chopin vermeiden wollte? Manchmal vergreift sich der Meister im Ton, wird im Forte zu großmännisch mächtig, was seinen überragenden lyrischen Fähigkeiten freilich keinen Abbruch tut (Weissenberg ist ein ganz großartiger Lyriker!), aber so eben auch ein Stilbruch ist. Chopin ohne Einheit des Stils - das geht einfach nicht! Auch ist mir etwa der Beginn des späten, Liszt nahen Oktaven-Nocturnes op. 48 Nr. 1 in dieser Studioaufnahme etwas zu statuarisch, zu "russisch getragen", so dass dann auch die dynamisch-dramatische Entwicklung nicht so zwingend herauskommt. Das ist ihm dagegen im Konzert - deutlich flüssiger gespielt - wirklich wunderbar gelungen. Eindrucksvoll nachzuvollziehen ist das bei seinem Schwetzinger Chopin-Abend von 1972, eine Weisenberg-Sternstunde, die zum Glück aufgezeichnet wurde und auch als CD zu haben ist, wo neben der Klaviersonate Nr. 3 und der Polonaise-Fantasie auch einige Nocturnes zu hören sind:



    Und nun zum Schluss weg vom Klavier etwas Symphonisches. Vaclav Neumann war von 1964-68 Chefdirigent des Gewandhausorchesters in Leipzig. Aus Protest gegen den Einmarsch der Russen 1968 in Prag kündigte er dort und wurde zum Leiter der Tschechischen Philharmonie. Aus seiner Leipziger Zeit stammt diese Aufnahme von Smetanas Zyklus "Mein Vaterland" - tatsächlich im Deluxe-Samtschuber wie in der Werbung ^^ :



    Bei mir standen Smetanas Symphonische Dichtungen (mit Ausnahme - ja... ^^ - der populären "Moldau") eigentlich immer im Schatten derjenigen von Dvorak - für mich Juwelen der Orchesterliteratur und der Gattung. Neumanns völlig uneitles Dirigat ohne Übertreibungen lässt jedenfalls den Abstand nun doch etwas geringer werden. Überraschend ist der poetisch-warme und schlanke Klang des Gewandhausorchesters dem der Tschechischen Philharmonie sehr ähnlich - hier ist, Mitte der 1960iger Jahre, wohl doch noch die altdeutsche Orchestertradition des 19. Jhd. präsent. Eine sehr empfehlenswerte CD!


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    https://de.wikipedia.org/wiki/Wigmore_Hall



    Die schöne Wigmore Hall in London, die ursprünglich Bechstein Hall hieß, wurde 1901 von Bechstein errichtet, um der Konkurrenz von Steinway mit ihren erfolgreichen Konzerten in den Steinway Halls Paroli zu bieten. Der damals schon 82jährige beim Publikum ungemein beliebte Shura Cherkassky gab am 29. Oktober 1993 dort einen - man kann es nicht anders sagen - wirklich himmlischen Konzertabend, mit dem allein er sich einen Platz im Pianistenolymp für die Ewigkeit gesichert haben könnte. Die Gavotte variée von Rameau gleich zu Beginn verzaubert den Zuhörer mit einer überirdischen Schönheit. Cherkasskys Klavierspiel ist von einer Leichtigkeit, Natürlichkeit und einnehmenden Schönheit, die dabei immer unverkrampft und quasi intuitiv beiläufig den Wesenskern der Musik trifft, so dass die Musik einfach nur Musik ist, sich verwandelt von einem "Etwas", das ein Musiker vorträgt, in eine lebendige Erscheinung, die im Augenblick der Darbietung entsteht. Cherkassky hat alles: musikalische Kompetenz und Geschmackssicherheit - nur braucht er seinen Sachverstand nicht auf dem Silbertablett der Belehrung zu präsentieren. Die Musik spricht für sich selbst. Und er zeigt hier seine große Aufnahmebereitschaft auch für die Musik des 20. Jhd. Lennox Berkeley war Schüler von Nadia Boulanger in Paris - man hört es. Die Stücke sind wirklich eine Entdeckung wert! Besonders beeindruckt hat mich auch das Chopin Nocturne op. 48 Nr. 2, das Cherkassky so beseelt intim vorträgt mit einem zartfühlenden tiefen Schmerz, dass einem fast die Tränen kommen.


    Über seine Interpretation von Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 2 werde ich in meinem speziellen Thread noch berichten.


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  • Rachmaninows 150. Geburtstag am 1. April


    Ein Aprilscherz? Das Tamino-Forum würdigt zu diesem Datum Karl May, den bekannten und beliebten Verfasser von Unterhaltungsliteratur, mit der interessanten Erwähnung, dass er auch Komponist war. Soso! Karl May statt Rachmaninow? ^^ Rachmaninow, der Komponist, hat noch nicht einmal einen eigenen Thread! Immerhin wurde in der Rubrik über Pressemitteilungen auf den lesenswerten FAZ-Artikel von Jan Brachmann verwiesen:


    https://www.faz.net/aktuell/fe…-geburtstag-18787949.html


    Ich habe die bis zur Gehässigkeit - gerade bei Intellektuellen - gehende Verachtung von Rachmaninow nie geteilt und bekenne mich gerne als großer Liebhaber nicht nur des Pianisten Rachmaninow und Komponisten von für mich zum musikalisch Lebensnotwendigen gehörender Klaviermusik, sondern gerade auch des Sinfonikers Rachmaninow. Große Verdienste hat sich hier Vladimir Ashkenazy erworben. Seine Aufnahmen der symphonischen Werke mit dem Concertgebouw Orkest bleiben exemplarisch. Bevor er sich vom Konzertleben zurückzog, gab er eine Rachmaninow-Konzertreihe mit dem Philharmonia Orchestra, dessen Ermunterung er seine Karriere als Dirigent mit verdankt und dessen Ehrendirigent er ist. Ashkenazy war bekannt für mitreißende Konzerte. Dieser 2018 erschienene Mitschnitt der Symphonie Nr. 3 und der Symphonischen Tänze übertrifft die alte Aufnahme mit dem KCO finde ich deutlich. Das Orchester spielt mit hingebungsvoller Eindringlichkeit und Liebe zum Detail. Vor allem kommt da dieser "schwelgerische" Zug bei Rachmaninow zur Geltung, die gewisse Sättigung und Reife des Ausdrucks eines ganzen Lebens, wogegen die Amsterdamer Aufnahme (Symphonie Nr. 3) doch etwas burschikos und jugendlich unbedarft wirkt. Authentischer kann man Rachmaninow wohl nicht interpretieren!



    Für die Aufnahme von Rachmaninows Transkriptionen ließ sich Ashkenazy, wie er selbst verriet, über zwei Jahre Zeit. Herausgekommen ist eine bemerkenswerte Einspielung, welche die Stilsicherheit des Komponisten zeigt und die Fähigkeit, die Transkriptionen wie originäre Klavierstücke klingen zu lassen und nicht bloß "Übertragungen" von etwas. Bei den Stücken für Klavier zu vier und sechs Händen spielen Sohn Vovka und Ehefrau Dody mit. Klaviermusik für mehr als zwei Hände hat die Schwäche, dass es doch oft "klappert", in der Verdopplung das Mechanische des Klaviers zum Vorschein kommt. Bei Rachmaninos Stücken für zwei Klaviere hat mir immer sehr gefallen, dass es Rachmaninow gelingt, die Stimmen so zu verteilen, als höre man ein Klavierstück für zwei Hände. So auch hier zu hören:


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    Russische Ostern


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    Die russisch-orthodoxe Tradition spielt bei Rachmaninow eine große Rolle. Am Ende der ersten Suite für zwei Klaviere gibt es ein wahres Glockenfest: russische Ostern (nach dem orthodoxen Kalender erst nächste Woche ;) ). Für mich bis heute die Referenz - eine Aufnahme, wo alles stimmt: Ashkenazy mit Previn - die Idiomatik, das Zusammenspiel, die vorzügliche Aufnahmetechnik.


    Und zum Schluss eine immer noch exemplarische Aufnahme - "Zwielicht" und den "Flieder" (Lilacs), das Lied zur Liedtranskription:


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  • Vaclav Neumanns Schatten



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    So funktioniert leider der Musik-Betrieb: Internationale Aufmerksamkeit erlangt ein Orchester, wenn es sich aus dem Pool der Welt-Stars Jemanden angelt, sprich: einen namhaften Dirigenten verpflichtet. Die Tschechische Philharmonie ist ein wunderbarer Klangkörper mit unverwechselbarem Klang und ein wirkliches Mahler-Orchester mit Tradition - sie haben die 7. Symphonie uraufgeführt. Aber die beste Leistung nutzt einem Orchester letztlich nichts, wenn da Niemand am Pult steht, der das Orchester durch seinen allbekannten Namen auch verkaufen kann. In Prag hat man das auch begriffen, als man einst Vladimir Ashkenazy holte. Doch die Zusammenarbeit scheiterte schon bald - wie Ashkenazy einmal in einem Interview verriert - an unüberbrückbaren Mentalitätsunterschieden. Nun hat man Semyon Bychkov zum Chef gewählt und mit dem Beginn der Aufnahme eines Mahler-Zyklus hat man sie, die Aufmerksamkeit auch im "Westen".


    Jeder, der in Prag versucht, Mahler zu dirigieren und aufzunehmen, hat allerdings ein Problem: Vaclav Neumann, der ein wirklich großer Mahler-Dirigent war und Maßstäbe gesetzt hat, die nach ihm - wie ich finde - Niemand mehr mit diesem Orchester erreicht hat. Ich war also gespannt auf Bychkovs Aufnahme der 5. Auch hier zeigt sich einmal mehr insbesondere bei Mahler, dass es die Tschechische Philharmonie mit ihrer Spieltradition ist, welche dem Dirigenten die Richtung vorgibt. Den Trauermarsch spielen die Tschechen nicht schwer lastend und sentimental aufgeladen, sondern mit souveräner Leichtigkeit, idiomatischer Treffsicherheit, rhythmischer Präzision und poetischer Wärme - die berühmte Mahlersche "Deutlichkeit", die sie einfach haben, eingeschlossen. Dieser Mahler ist geradezu "Anti-Bernstein". Semyon Bychkov zeigt sich hier als kluger Orchesterleiter, indem er gar nicht erst versucht, gegen diese Spieltradition anzudirigieren und dem Orchester eine Sicht aufzuzwingen, welche nicht die ihre ist. Nur reicht es natürlich nicht, die Tschechische Philharmonie nur "ihren" Mahler spielen zu lassen. Da muss ein Dirigent mit Profil - die Konkurrenz ist erdrückend - letztlich auch Profil zeigen. Und dies tut Bychkov mit seiner Umsicht und Detailarbeit. Nur leider berührt mich sein "Trauermarsch" nicht. Sehr sorgfältig gearbeitet ist das - aber mehr nicht.


    Also habe ich mir im Anschluss Vaclav Neumann angehört - seine letzte Aufnahme von 1993, zwei Jahre vor seinem Tod. (Seinen zweiten Mahler-Zyklus in Prag konnte er leider nicht vollenden, es fehlen die 7. und 8. Symphonie.) Neumann war ein sympathisch-bescheidener Musiker, der sich nie in den Vordergrund spielte. Rhetorisierungen, subjektivistische Aufladungen, um Aufmerksamkeit zu erhaschen, waren ihm fremd. Aber er wusste sehr genau um die Stärken seines Orchesters und hatte bei aller "Objektivität" Sinn für Mahlers Subjektivität. Das zeigt sich gleich zu Beginn beim Trompetensolo. Auf Mahlers Orchester trifft Georg Simmels Satz zu, dass das Vergesellschaftetsein und Nicht-Verrgesellschaftetsein immer zusammengehören. Es gibt den integralen Orchesterapparat bei Mahler, aber auch die individualistischen Vereinzelungen gerade bei den Bläsern, wo das Solo zum Ausdruck subjektiver Freiheit des Gestaltens wird. Bei Semion Bychkov könnte die Solo-Trompete auch in einem Ravel-Orchester spielen, bei Neumann (hier spielt wohl der damalige Solotrompeter der Tschechischen Philharmonie, Miroslav Kejmar), wird aus dieser Eröffnung eine Apotheose subjektiver Freiheit - das Rubato des Blasens als subjektives Selbstbekenntnis des Individuums in seinem Weltschmerz. Damit ist man sofort in Mahlers Welt. Neumann nimmt diesen Satz im Tempo deutlich zügiger - er ist fast 2 Minuten schneller als Bychkov. Das ist letztlich entscheidend. Denn dadurch wird aus diesem Satz überhaupt erst ein wirkliches Drama, indem ein dramatischer Zug entsteht, das, was Hegel mit Blick auf das Drama das "zügige Fortschreiten zur Endkatastrophe" nannte, die kein "episches Verweilen" duldet. Bei Neumann gibt es entsprechend eine dramatische Finalität, die Höhepunkte und Katastrophen werden auch tatsächlich zu dynamischen Zielpunkten, wo das Grausen und Entsetzen herausbricht. Genau das geht bei Bychkov verloren - der dramatische Zug und die dynamische Zentrierung. So schön das gespielt ist - der Trauermarsch-Satz wirkt bei Bychkov eher belanglos als dass er den Hörer wirklich erschüttern könnte. Man kann natürlich diesen Trauermarsch deutlich langsamer spielen als Neumann. Nur braucht man dann letztlich ein anderes interpretatorisches Konzept. Damit es nicht fade wird, muss die Gemächlichkeit des Trauerzuges mit der Betonung der epischen Charaktäre korrespondieren und die entstehenden Längen bedürfen rhetorischer Nachdrücklichkeit und auch einer gewissen schwelgerischen Sentimentalisierung. Das "Entweder-Oder" gibt es eben auch in der Kunst und insbesondere der der Interpretation! 8-)

  • Gestern war einer der inzwischen bei mir seltenen Momente, wo ich mal ein Stündchen ohne Unterbrechung Musik hören konnte. Das wird sich hoffentlich ändern...


    Bestellt hatte ich mir vom jpc-Label cpo diese beiden Schreker-CDs - worauf ich hier hingewiesen hatte:


    Haben wollen oder nicht haben wollen? - das ist hier die Frage. Angebote und Neuaufnahmen kurz kommentiert




    Ich höre ja nun eher weniger gern Opern von der Tonkonserve - aber hier musste ich mich zwingen, aus Zeitgründen (ich wollte ja noch Anderes hören... :) ), abzuschalten. Diese Opern-Aufnahme aus Chemnitz ist in jeder Hinsicht ganz hervorragend: Frisch und lebendig, dazu sehr sorgfältig im Detail musiziert. Die Sänger sind hervorragend - und die Aufnahmetechnik dazu auch. Mir war, als würde ich eine zweite Aufführung in der Oper erleben. Wenn Chemnitz nicht so weit weg wäre, würde ich das dortige Opernhaus gerne besuchen. Bei nächster Gelegenheit setze ich das Durchhören fort... :) :thumbup:


    Von der CD mit Schrekers frühen Orchesterwerken hörte ich das Intermezzo Nr. 8 - das Werk eines musikalischen Wunderkindes. Sehr schön! Ich werde es garantiert wiederhören! Die Musiker und die Aufnahmetechnik sind ebenfalls hervorragend! Ebenfalls positiv zu vermerken ist der Klappentext - mit einer ausführlichen Information über die Edition von Schrekers Orchesterwerken. Der Kauf hat sich auf jeden Fall gelohnt :) :thumbup:


    Doch vorgenommen hatte ich mir und wirklich gespannt war ich auf Bruce Liu:



    Leider ist diese CD für mich eine ziemliche Enttäuschung! ;( Durch den Ravel habe ich mich verführen lassen, sie zu kaufen. Das hätte ich mir sparen können!


    Warum? Den Rameau kann man sich sehr gut anhören. Aber der Ravel - nein! Wenn man sich mit der Musik - insbesondere der Klaviermusik - von Ravel beschäftigt, sollte man im Kopf haben, wie einst Jean Cocteau Ravels Musik charakterisierte, als eine Art Läuterung des Impressionismus:


    "Musik ohne "sauce"! Das bedeutet: keine Schleier, die Nacktheit der Rhythmen, die Trockenheit der Linie, die Kraft des Einsatzes und die gelehrte Naivität des Tonfalls und der Akkorde."


    Sehr aufschlussreich auch die Charakterisierung von Ravel durch einen weiteren Franzosen, den Philosophen Gabriel Marcel:


    "Ich glaube, dass es sich bei dem Autor von Gaspard de la nuit um eine unvergängliche Liebe zur Präzision handelt und einen angeborenen Widerwillen gegen alles Ungeformte, das verhängnisvoll alle Rhetorik begleitet."


    Bruce Liu ist ohne Frage ein sehr kultivierter Klavierspieler, was einerseits sehr wohltuend ist. Ich erinnere mich an Zeiten, wo die jungen Wettbewerbs-Aspiranten insbesondere auf den Flügel regelrecht eindroschen: je lärmender und kraftstrotzender, um so besser. Für Bruce Liu ist das Klavier dagegen vor allem ein Instrument, was er "schön" zum Klingen bringen will. So weit, so gut. Nur gibt es eben verschiedene Wege zur Schönheit. Der von Bruce Liu ist der Sensualismus. Ihm geht es vor allem darum, ein Klavierstück mit sehr viel Empfindsamkeit in eine wohlige Klangwolke einzuhüllen (er liebt den Hallklang!) und wirklich jedem von den einzelnen Klangereignissen eine besondere Empfindungsqualität zu geben. Genau dieser Pointilismus geht bei Ravel jedoch gehörig schief! Sein Klangbild ist keineswegs undurchsichtig, aber er macht letztlich genau das Gegenteil von dem, was Jean Cocteau so trefflich für Ravel formulierte: Schon beim ersten Stück der "Miroirs", den Nachtfaltern, geht in seiner impressionistisch-empfindsamen Farbenkleckserei die "Linie" verloren. Zudem fällt auf, dass sein Klavierklang wenig akkordisches "Fleisch" hat, doch sehr ausgedünnt wirkt. Dadurch verliert die Musik nicht nur an Substanz, sondern es verschwindet die dunkle Seite der hintergründigen Raserei, die sich bei Ravel hinter der apollinischen, glitzernden impressionistischen Oberfläche verbirgt. Der Ravel, so wie ihn Bruce Liu vorträgt, ist völlig undämonisch. Une barque sur l´ocean - auch hier gibt es bei Liu keine großbogigen Linien, zu denen sich die musikalischen Einzelereignisse zusammenschließen - und der fehlenden Linienführung wegen auch keinen durchlaufenden rhythmischen Puls in den Wellenbewegungen. Zudem verliert das Stück seine Dramatik. Zunächst ist das große Meer lieblich - dann aber tun sich riesige Wellenberge und -täler auf, welche die zerbrechliche Nussschale von einer Barke zu verschlingen drohen. Da kommt in Ravels Meeresstück das Große, Mächtige und Erhabene zum Vorschein, was das Meer in seiner Größe und unendlichen Weite ausmacht und somit schön aber auch in seiner Gewaltigkeit erschreckend schrecklich sein kann. Bei Bruce Liu wird Ravels La Mer letztlich verharmlost zu so etwas wie dem Unterbacher See für Sonntagsausflüger, auf dem Familien mit Kindern mit dem Tretbötchen unterwegs sind. Ravel war der Sohn eines französischen Ingenieurs und einer Mutter, die aus dem Baskenland stammte. Das "Iberische", das Erbe der Mutter, kommt in Alborada del gracioso zum Ausdruck. Dessen spanische Rhythmen sind nun wahrlich hart, trocken und nackt und müssen es sein - haben jene "afrikanische Trockenheit", von der Friedrich Nietzsche mit Blick auf Bizets Carmen sprach. Bei Bruce Liu hören sich die harten und markigen spanischen Rhythmen eher an wie ein elegant-leichter Chopin-Walzer. Keine Tragik, keine Exzentrik, keine Dämonie! Ein leicht hingetupftes impressionistisches Gemälde. Der Narr ist bei Bruce Liu keine tragische Figur, sondern allenfalls ein Luftikus mit dem Leichtsinn des easy comes easy goes. Man höre nur Dinu Lipatti oder den aufregenden BBC-Mitschnitt mit Emil Gilels im Vergleich! Aber all das kann ich irgendwie noch ertragen und sitze ruhig in meinem Stuhl. Doch was dann in Vallee des cloches passiert - da ist meine Gelassenheit schlagartig vorbei. Kopfschütteln und Kopfschütteln bei mir - fast wäre ich "protestierend" aus dem Stuhl hochgefahren! :D So geht es jedenfalls gar nicht! Willkürliche Temporückungen, eine völlig unausgewogene klangliche Balance, das komplette Fehlen einer Dramatrugie in diesem Stück. Danach hörte ich zum Vergleich Svjatoslav Richter in Ludwigsburg 1991:


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    Auch Richter hat nicht den vollen Ton, die Selbstverständlichkeit, perfekte Ausgewogenheit und ideale klangliche Balance von Artur Rubinstein. Er schmuggelt durchaus russisches Expressivo in diese sehr französische Musik ein. Nur versteht es Richter, mit diesem Stück eine "Geschichte" zu erzählen, die verschiedene Kapitel hat, einen Anfang und ein Ende. Die "Kraft des Einsatzes" und der "Widerwille gegen das Ungeformte", von denen Jean Cocteau und Gabriel Marcel sprechen, sie sind bei Richter auch in diesem die Klänge verschmelzenden Glockenstück da, während in Bruce Lius sensualistisch-impressionistischer Konfusion alles irgendwie ineinanderläuft. Richters russische Ausdrucksbeseelung gepaart mit dem Sinn für die Form ist deshalb auf ihre Weise fesselnd und wahrlich ein Hörabenteuer wert.


    Nein, dies wird wohl die erste und letzte CD sein, die von Bruce Liu ihren Weg in meine Sammlung gefunden hat! Dazu auch noch diese modisch-abgeschmackte Masche von heute, Alben mit einem an den Haaren herbeigezogenen Albumtitel wie hier "Waves" an den Mann zu bringen - mit der dann auch nicht befriedigenden, mehr als dürftigen halbzeiligen Rechtfertigung im Klappentext. Ravels "Mirroirs" enthalten nur ein einziges Wasserstück und eine Barcarolle wie die von Alkan bezieht sich zwar auf eine Barke, die übers Wasser fährt, ist aber musikalisch eine Berceuse und gerade kein Wasserstück! Aufnahmetechnisch wenigstens ist das hervorragend! Insgesamt aber ist für mich diese CD :( :thumbdown:


    Danach brauchte ich nun etwas Erhebendes, was mich wieder ruhig im Stuhl sitzen lässt. Und dazu mein Griff - diesmal goldrichtig - zu dieser kürzlich erworbenen CD:



    Adorno als Komponisten kannte ich nur von seiner Orchestertranskription einiger Stücke aus Schumanns Carnaval her, die ich einmal in einem Konzert in der Düsseldorfer Tonhalle hörte. Die Studien für Quartett für Streicher schrieb er als 17jähriger im Jahr 1920. Was für eine frühreife, musikalische Hochbegabung Adorno doch war! Man versteht nun, dass Adorno gegen das Zwanghafte, den Systemzwang des Zwölftonsystems, wettert. Seine Musik hat Ausdruckskraft, nimmt sich die Freiheit zur poetischen Kraft bei aller Sorgfalt formaler Durchgestaltung. Wenn Adorno über Musik schreibt, weiß er also, wovon er spricht. Wer es nicht glaubt, soll sich diese CD (immer noch für nur 7,99 Euro im Sonderangebot zu haben) zu Gemüte führen. Das Leipziger Streichquartett ist zudem ein hochklassiges Ensemble und die Aufnahmetechnik superb! Diese CD werde ich demnächst mit großer Freude weiter hören! :)


    Zum Schluss eine Sternstunde des Liedgesangs - mit Liedern von Ravel und Richard Strauss. Das ist so überragend gesungen, dass selbst ich da fast sentimental werde ^^ :



    Gehört mit meiner Kopfhöreranlage:


    Kopfhörer: Focal Clear

    Kopfhörerverstärker: Lehmann Audio Linear

    CD-Player (verwendet als Zuspiellaufwerk): Marantz CD 80

    DAC: North Star Design Essensio

    Kabel (digital): Audioquest Cinnamon

    Kabel (Cinch): Audioquest Water


  • Dass Francesco Piemontesi ein geborener Liszt-Spieler ist, hat er mit seinen superben Aufnahmen von Années de pèlerinage längst unter Beweis gestellt. Doch das hier, die transzendentalen Etüden, ist sein Meisterstück. Piemontesi ist hier nicht nur der eher lyrische Liszt-Interpret - er zeigt die große Leidenschaft, ohne die man Liszts bisweilen heroische und bis zum Chaotischen und Exzessiven gehende leidenschaftliche Poesie dieser großen Stücke nicht gerecht werden kann. Piemontesi beherrscht einfach alle Register: Er hat die phänomenale, über alle transzendentalen Schwierigkeiten souverän gebietende Spieltechnik, er hat die Poesie, den Klangsinn, das Formbewusstsein, den immer guten Geschmack, eine bis in die letzte Note gehende Sorgfalt. Und Dank seines Lehrers Alfred Brendel wohl weiß er um den literarisch-philosophischen Hintergrund. Weil es eigentlich nie vorkommt, sage ich es: Trotz Cziffra, Arrau, Berman, Bolet usw. usw. ist dies von nun an meine unangefochtene Referenz! Mit dieser Aufnahme hat sich Francesco Piemontesi seinen Platz auf dem Olymp zeitlos-gültiger pianistischer Höhenflüge gesichtert! :):):):):)


    Allerdings aufgepasst: Bei der Aufnahme sind offenbar die Pegel nicht abgeglichen worden und unterschiedlich von Stück zu Stück. Dreht man bei Paysage den Lautstärkeregler nach oben, fallen einem dann beim heftigen Einsatz von Mazeppa die Ohren ab! ^^ Und: Es gibt einen schönen Klappentext von Nike Wagner.

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    Hier muss ich Thomas Pape erst einmal meinen besonderen Dank aussprechen, dass er mir zum Genuss dieses Monique Haas-Höhenfluges verholfen hat! :hail: :hello:


    Ihren Schumann, Mozart und Bach kannte ich gar nicht. Schumanns Kreisleriana - das ist ja wirklich unglaublich gespielt, ihre Synthese aus Klarheit, Poesie, Leidenschaft und sie hat Sinn auch für Schumanns kreislerianische Verrücktheit. Schumann hatte ja die Doppelnatur eines poetisierenden Rationalisten und zugleich romantischen Schwärmers - Monique Haas zeigt ihn genau mit diesen beiden Seiten. Und es gibt wahrlich berückend schöne Stellen in dieser Einspielung, die man noch nie so wunderbar gespielt gehört hat. Für mich ist das eine der besten Aufnahmen! Der Mozart ist von ihr wahrlich kein Schmuse-Mozart - sie spielt ihn mit einer Mischung aus klassischem Formsinn, Feinsinn und Dramatik. Wiederum eine der besten Aufnahmen, die ich kenne. Über ihren Debussy muss man nicht reden. Und Bach höre ich selten so ansprechend klar und zugleich ausdrucksstark. Zum Glück hatte ich heute ein bisschen Zeit zum Hören - es steht noch so vieles bei mir im Regal, was darauf wartet, auch Samson Francois! ;) :) :) :)


  • Es ist eine schöne Gewohnheit von mir, das neue Jahr musikalisch mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker einzuläuten. Einmal ist es eine wahre Erholung nach den musikalischen Zumutungen der Silvesternacht – ein „Zurück zur Kultur!“ gleichsam. Ja, der Wiener Walzer ist Gebrauchsmusik, „U“-Musik. Aber jede Zeit bekommt die Musik, die sie verdient. Der musikalische Massengeschmack ist heute auf dem Niveau von kasimulisch grölenden Fußballfans angelangt (genau da endete die ZDF-Übertragung aus Berlin nach Mitternacht) – das nahezu völlige Fehlen auch nur von Resten von musikalisch gutem Geschmack ist das, was die Pop-Kultur heute prägt. Dass Unterhaltungsmusik eben nicht notwendig schlechte Musik sein muss, belegt der Wiener Walzer: Tanzmusik, die auch als Konzertstück genossen, und dort mit äußerster musikalischer Sorgfalt und Ernst dargeboten werden kann, ohne ihren Charakter unterhaltsamer Leichtigkeit zu verlieren. Und Christian Thielemann war genau der Richtige für diese Aufgabe. Er wirkte gelöst und locker, wie befreit von allen Zwängen – vielleicht nicht nur, weil er das Neujahrskonzert zum zweitem Mal dirigiert, sondern auch wegen der für ihn glücklichen Berufung als Nachfolger von Barenboim in Berlin (?). Die Chemie zwischen Orchester, Dirigent und Publikum stimmt. Thielemann versteht, dass er bei diesem Anlass nicht den „Pultdiktator“ herauslassen darf, er weiß sehr genau, wann er die Zügel fester anziehen darf und wann er sie loslassen muss. Und er weiß, dass er an diesem Morgen eben auch ein „Unterhalter“ ist. Musikalisch war das einfach in jeder Hinsicht treffsicher. Wenn ich etwas bemäkeln wollte, dann die doch etwas sehr lange Kunstpause im Donauwalzer – so was ist einfach nicht mehr tanzbar – und die etwas verkrampfte Bemühung beim Radetzky-Marsch, das Klatschen des Publikums an den gewohnten Stellen zu unterbinden. Musikalisch ist die Intention zwar verständlich, diese obligatorische Zugaben-Schlussnummer einmal nicht zerklatschen zu lassen, aber solche Gelehrsamkeit dämpft eben auch die ausgelassene Stimmung zum Schluss. Alle Dirigenten haben freilich das Problem, dass man sie – das ist der Fluch sozusagen der verfügbaren Tonträger – an den singulären Darbietungen von Karajan und Carlos Kleiber misst. Man sollte es auch gar nicht erst tun. Aber Thielemann gehört zu den Wenigen, die sich auch vor Karajan und Kleiber nicht verstecken müssen. Es könnte also sein, dass ich mir die CD anschaffe, was ich beim Neujahrskonzert eigentlich nur in exklusiven Ausnahmefällen tue.



    Unter dem Kopfhörer begann für mich das Jahr 2024 mit dem Tschaikowsky-Violinkonzert – in einer neuen Aufnahme meiner Lieblingsgeigerin Lisa Batiashvili. Diese klanglich ausgezeichnete, inzwischen schon vergriffene UHQCD (leider ist der Klappentext nur japanisch, man kann ihn also nicht lesen wie gewohnt, wenn man nicht auch die „normale“ CD besitzt) stand schon länger ungehört in meiner Sammlung. Das Stück ist so etwas wie ein Reißer. Und es ist die ganz große Qualität dieser Aufnahme, dass sie das Tschaikowsky-Violinkonzert nicht als Reißer präsentiert. Da wird die Musik bis in die letzten Winkel ausgehorcht und ihr damit das Gewicht eines großen klassischen Werks gegeben, so wie das beim 1. Klavierkonzert Arrau, Rubinstein oder Lazar Berman können. Lisa Batiashvili hat diese unglaubliche Souveränität einer Alleskönnerin – und Barenboim und „sein“ Orchester begleiten ebenso gekonnt – die ihre Virtuosität Niemandem beweisen muss und sie entsprechend wohldosiert präsentiert, wenn sie der Musik gut zu Gesicht steht. Grandios!


    Ein frohes neues Jahr wünschend - Holger :) :) :)

  • Das Genie Carlos Kleiber



    Der Erzromantiker Novalis (Friedrich von Hardenberg) beschwörte einst eine „Kultur des Enthusiasmus“. Bezieht man dies auf die Musik und insbesondere die Dirigenten, dann verkörpert diese Kultur geistvoller Begeisterung einer wie kein anderer: Carlos Kleiber. Es ist ein Segen, dass sich dieser unglaubliche Probenmitschnitt von 1970 erhalten hat. Was für ein Kontrast zwischen Kleibers Lebensfreude und der quasi amtsstrengen Ernsthaftigkeit und biederen Steifigkeit der Orchestermusiker! Die historische Situation ist – in mehrerlei Hinsicht pikant – die 1968iger Revolte gegen die Adenauer-Ära. Im Orchester erkennt man die „Aufmüpfigen“ auch an den wenigen Rollkragenpulis. Die anderen Musiker wirken, ernst und steif in ihren Anzügen und Krawatten, eher wie graue Beamtenmäuse als engagierte Musiker: Das Klischee von „klassischer“ Musik als „ernster“ Musik – hier wird es sinnenfällig. Und da kommt dann ein Dirigent, fröhlich und frei, kein Pultdiktator wie Toscanini oder Karajan, sondern witzig und charmant, und steckt sie mit seinem Enthusiasmus an, wie wenn in einen ausgedörrten Wald durch einen Funken ein Feuer entfacht wird. So stocksteif wie sie da sitzen sollen sie ausgerechnet die federleichte, komödiantische Fledermaus-Ouvertüre spielen! Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man die Bilder sieht. Das wirkt schon fast grotesk-komisch. Und sie schaffen es Dank Kleiber! Er „durchglüht“ die Musik gleichsam, verleiht ihr von Innen Leben. Sein Charme übertritt bisweilen die Grenze zur Parodie. Ob die Musiker das gemerkt haben? Carlos Kleiber liebte bekanntlich das Leben – und die Frauen. Unzählige Affären hatte er. Und damit spielt er in der Probe – die schönen Frauen mit den langen Beinen… Urkomisch! Da kann man dem lieben Gott nur danken, dass er nicht in das MeToo-Zeitalter hineingeboren wurde. Heute wäre seine unbändige Lebenslust wohl mit Berufsverboten belegt in seinem Landhaus auf dem slowenischen Dorf versauert, wo er sich hätte hin flüchten müssen.


    Nach diesem bewegenden Film höre ich mir dann die Fledermaus-Ouvertüre von seinem Neujahrskonzert in Wien an – mit ganz anderen Ohren.



    Für mich ist „die“ Aufnahme von Beethovens Siebter, welche Richard Wagner die „Apotheose des Tanzes“ nannte, Carlos Kleiber. Und hier ziehe ich seine Konzertaufnahme mit dem Bayrischen RSO der perfekten Studioaufnahme aus Wien vor, die auf SACD zu haben ist



    Kleiber war ein Perfektionist und zugleich „Leidenschaftsmusiker“ durch und durch. Und diese Synthese gelingt ihm finde ich am besten im Konzert. „Jubelnde Ausgelassenheit“ – kein anderer Dirigent kann finde ich den revolutionären Geist, der speziell in dieser Beethoven-Symphonie steckt, so geradezu bestürzend authentisch vermitteln. Die europäische Kultur ist dadurch geprägt, dass sie große Angst hat vor der Ekstase. Nicht zufällig steht auf dem Apollon-Tempel von Delphi die Warnung „Halte Maß!“. Gerade die vom apollinischen Geist geprägte klassische Kunst darf sich doch wohl nicht dem selbstvergessenen Taumel der Begeisterung hingeben, verkündet ihr Maßhalte- und Mäßigungsethos und predigt, stets die Form und die kühl abgeklärte Distanz zu wahren. Carlos Kleiber beweist uns dagegen, dass sich apollinische Klassizität und dionysischer Rausch nicht ausschließen müssen. Beethovens Musik entstammt dem Zeitalter des Deutschen Idealismus, deren großer, wirklich die Welt bewegender Gedanke derjenige der „Freiheit“ war. In der „Apotheose des Tanzes“ der Siebten Symphonie macht sich der menschliche Geist frei von allen Zwängen, feiert ausgelassen die Schönheiten des Lebens. Musik als Feier des Lebens und der Lebenskraft – in dieser göttlich-überirdischen Heiterkeit ist der Freiheitstraum der Menschheit gelebte und erlebbare Utopie. Niemand kann diesen Freiheitsgeist im unbeschreiblichen Gefühl totaler Losgelöstheit so vermitteln wie Carlos Kleiber! Und dabei forciert er nie, wie der von HIP beeinflusste Stil von heute, sondern wirkt immer natürlich und selbstverständlich. „I don´t like overemphasizing!“ – bekannte Bernard Haitink, als er seinen Beethoven-Zyklus in Chicago erläuterte. „Overemphasised“ ist Carlos Kleibers Beethoven bei allem Überschwang bezeichnend nie – und genau das macht die Größe und Genialität seiner Interpretation aus.


    Carlos Kleiber bewunderte zwei Dirigenten – seinen Vater Erich Kleiber und Herbert von Karajan, dessen Grab in Anif er bei jedem Aufenthalt in Salzburg besuchte, bevor er die Heimreise nach Slowenien antrat. Der Vergleich mit Herbert von Karajans Aufnahmen ist aufschlussreich – besonders mit der doch etwas zu sehr auf Orchestervirtuosität getrimmten Einspielung aus den 1970iger Jahren. Gerade in den beiden letzten Sätzen, die Karajan herunterhetzt im aberwitzigen Tempo, wirken die Musiker, die das bewundernswert tatsächlich spielen können, fast schon wie angekettete Galeerensklaven, denen der Dirigent die virtuos überdrehte Schlagfrequenz einpeitscht. Genau das aber verfehlt Beethovens Geist – die Musik wirkt nicht frei und ausgelassen, sondern immer wie von der Hand eines Dirigentengottes geführt – in einem Gestus des Erzwungenen, überlegenen Kontrollierten und Beherrschten, statt dass die Musik einfach nur sie selber sein könnte. Karajan beherrscht die Extreme dieser Musik, nimmt sie an die Kandare höchst virtuoser Stabführung, Carlos Kleiber lässt sie im niemals zügellosen (!) Überschwang einfach frei. Abgesehen davon, dass Karajan am schwierigsten Satz der Siebtem, dem Allegretto, ästhetisch gescheitert ist, gefällt mir Kleiber auch in der Einleitung des Kopfsatzes besser, wo seine behutsame Zurückhaltung den Kontrast zum überschwänglichen Hauptthema umso deutlicher hervortreten lässt. Und wie Kleiber über einen ganzen Satz die Spannung aufrecht erhalten kann! Er war zudem ein Meister, was das Dirigieren der Übergänge angeht. Man höre nur die atemberaubenden Atempausen des Leisen im Scherzo!


    :hail: :hail: :hail:

  • Meine letzten sporadischen Hörklausuren - Sammlung (1)


    Herbert von Karajan


    Durch eine ganze Reihe von sehr "außermusikalischen" Umständen komme ich derzeit kaum zum Musikhören. Und wenn, dann ist es sehr sporadisch - kaum für das Durchhören eines längeren Stückes reicht es.


    Eine meiner Hör-Stipvisiten betraf Herbert von Karajan. Ich bekenne, dass mein Verhältnis zu diesem großen Dirigenten mehr durch Respekt geprägt ist als durch eine musikalische "Liebes-"Beziehung. Geprägt haben mich andere Dirigenten. Wenn ich einen "Lieblingsdirigenten" nennen sollte, dann fiele mir zuerst der Name Claudio Abbado ein. In meiner Jugendzeit erschloss ich mir das symphonische Repertoire vor allem durch Pierre Boulez und Claudio Abbado. Dann bin ich - bis heute - ein großer Freund des "böhmischen" Orchesterklangs, sammle Aufnahmen der Tschechischen Philharmonie. Von daher kommt meine große Wertschätzung von Dirigenten wie Karel Ancerl und Vaclav Neumann. So habe ich Karajan eher spät für mich entdeckt. Eine Schlüsselaufnahme war da für mich selbst überraschend seine Beschäftigung mit der zweiten Wiener Schule - Schönberg und Anton Webern. So präzise, so expressionistisch! Einfach famos!


    Um mir selber Karajan etwas näher zu bringen, hatte ich mir diese beiden Boxen zugelegt:




    Karajan sollte Prokofieffs "Klassische Symphonie" doch dirigieren können - aber gerade hier bestätigt er meine Haltung, eine durch Respekt bestimmte Distanz. Karajans Aufnahme ist in jeder Hinsicht "perfekt". Aber genau deshalb lässt sie mich auch ziemlich unberührt. Prokofieff liebte das Ballett, weil es der Spiegel des Menschlichen ist in allen seinen Facetten. Bei Karajan hat man das Gefühl, dass die Orchestermusiker als die Tänzer eine perfekte Prüfungsarbeit vor ihrem Ballettmeister abgelegt haben. Sie haben zweifellos alles realisiert, was er wollte. Ein perfekter Drill. Aber wo ist das gewisse Quäntchen, was über die Perfektion hinausgeht? So etwas wie Charme, Anmut, die gewisse Freiheit auch mal eine Spur des Unperfekten und damit des Menschlich-Allzumenschlichen zuzulassen? Bei Karajan bleiben die imaginären Tänzer in diesem Stück Marionetten, die perfekt tun, was ihnen die Hand des Dirigenten als ihrem Herren und Meister befiehlt. So aber erreicht diese Musik, so wie sie hier gespielt wird, zu mir als Hörer auch keine Nähe, sondern es bleibt bei einer kühlen Distanz.


    Ganz anders dagegen Karajans Sibelius. Das, was ich hier gehört habe, finde ich tief beeindruckend! Wenn Karajan eine Musik liegt, dann ist es Sibelius! Bei der symphonischen Dichtung Der Schwan von Tuonela und auch dem Valse Triste hatte ich den Vergleich mit der ebenfalls beeindruckenden Aufnahme von Hannu Lintu:


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    Lintus Aufnahme mit dem ausgezeichneten Finnish Radio Symphony Orchestra ist unglaublich subtil ausgehört - feinsinniger geht es kaum. Nur hat man bei Hannu Lintu den Eindruck, dass dieser Sibelius eher "französisch" klingt, wie ein Bruder von Debussy. Bezeichnend ist Lintu vom Tempo her deutlich langsamer als Karajan bei Der Schwan von Tuonela. Er zelebriert damit sehr französisch die isolierten Klangereignisse, während sich bei Karajan im zügigeren Tempo ein dynamisches Kontinuum realisiert mit dem dazugehörigen dramatischen, hoch expressiven Spannungsaufbau. Damit trifft Karajan einfach ideal den Sibelius-Ton, Musik auf der Schwelle von der Romantik zur Moderne: Ein fast impressionistisches Klanggewand - aber durchdrungen mit spätromantischer Empfindung.


    Die Vierte Symphonie von Sibelius fasziniert mich immer wieder. Für mich ist dies eines der originellsten Werke der Musikliteratur. Ich habe diese Symphonie immer als die Umkehrung des musikalischen Prinzips der Neunten Beethoven empfunden: Nicht der Gestus des Beginnens, des Werdens und Entstehens, sondern des Aufhörens, des Vergehens, des wiederholten Rückzugs der Musik in die Stille. Modern bei diesem Sibelius ist die Aufhebung der Finalität, Naturhaftigkeit als Realisierung des "Wir haben die Zwecke nur in die Natur hineingelegt, jetzt ziehen wir sie wieder heraus". Karajans Aufnahme finde ich auch hier wiederum tief beeindruckend. Da wird das Vergleichshören noch folgen. Sibelius wird mich in den nächsten Wochen denke ich weiter beschäftigen.


    Fortsetzung folgt also! :) :) :)

  • Meine letzten sporadischen Hörklausuren - Sammlung (2)


    Brahms 2. Klavierkonzert


    Mein zweiter Klausurbeitrag von heute betrifft das große und großartige 2. Klavierkonzert von Brahms, dass ich - ich muss es gestehen - relativ selten höre, weil es eine doch immense Verdichtung an Konzertration erfordert wie bei einer langen Mahler-Symphonie. Wenn man es gehört hat, dann ist es auch für die Hörsitzung genug. ^^



    Nelson Freire war eine scheue Persönlichkeit, der eher die leise Zurückgezogenheit liebte als die laute Selbstdarstellung eines Virtuosen in der Öffentlichkeit. Dazu passt auch sein stiller Tod - für die Musikwelt ein großer Verlust. Freire, der behutsame Virtuose, ist finde ich einer der wenigen geborenen Brahms-Spieler. Seine Aufnahmen des 2. Brahms-Konzertes gehören für mich zu den besten. Nach seinem Tod wurde diese Rundfunkaufnahme aus Frankfurt von 1977 mit dem vorzüglichen Dirigenten Horst Stein veröffentlicht, die wie ich finde sehr hörenswert ist. Die absolute Souveränität einer frischen aber nie forsch auftrumpfenden Virtuosität beeindruckt hier. Freire trifft den idiomatischen Brahms-Ton genau mit seinem melodischen, immer natürlichen Spiel, was bei aller Poesie die Herbheiten von Brahms nie verzuckert. Die fast dreißig Jahre später entstandene DECCA-Aufnahme aus Leipzig mit Ricardo Chailly bleibt bei dem Interpretationsansatz von 1977, ist in ihrem Gestus allerdings noch weniger direkt, geprägt von einer gewissen Alters-Intimität. Beides sind wunderbare Aufnahmen!


    Zuletzt habe ich meine Gilels-Sammlung durch zwei weitere Aufnahmen des 2. Brahms-Konzertes ergänzt:




    Der Rundfunk-Mitschnitt mit dem RSO Köln unter der Leitung des italienischen Dirigenten Mario Rossi, der auch Michelangeli begleitet hat, entstand in derselben Woche der Studioaufnahmen bei der DGG mit Eugen Jochum. Vielleicht liegt es an Rossi, der als Italiener keine Scheu hat, dem deutschen Brahms eine etwas schwelgerische, ästhetische Note zu verleihen, dass sich der große Emil Gilels hier so wohl fühlt. "Schöner" als Gilels hier kann man das Brahms-Konzert gewiss nicht spielen. Gilels gibt dem Werk eine Mischung aus Klassizität, gewichtiger Monumentalität und höchst feinsinniger Klangsinnlichkeit, die einzigartig ist. Die überragenden Qualitäten der Aufnahme von Krystian Zimerman mit Leonard Bernstein (die ich leider nur als Youtube-Video hören kann) sind unbestreitbar - aber Gilels ist Gilels und Zimerman ist Zimerman. Im 2. Satz kommen die Orchesterglocken, die eine Art musikalischer Aus- und Festzeit einläuten. Was folgt ist ein Quasi-Improvisato des Klaviers, eine Art Kadenz, wo der Virtuose mit höchst schwierigem Oktavenspiel glänzen kann. Zu Gilels Interpretationsstil gehört nun nicht das Assoziative, das sich Zimerman erlaubt. Er gestaltet klassisch klar und "direkt", die thematischen Konturen nachzeichnend, wie es auch nur in sein interpretatorisches Gesamtkonzept passt. Die Aufnahme mit Fritz Reiner und dem Chicago SO von 1958 zeigt fast zwanzig Jahre früher entstandenden jungen Emil Gilels mit seiner Wucht und Energie. Auch dies ist ungemein beeindruckend. Mir scheint, dass dies nicht die RCA-Studioaufnahme vom Mai 1958 ist. Vermerkt ist im Klappentext als Aufnahmedatum "8/1958" (Korrektur: 8. Februar 1958!) ohne weitere Angaben. Offenbar handelt es sich um einen späteren Konzertmitschnitt, wo Teile fehlen, man merkt gleich zu Beginn, dass hier zwei Aufnahmen zusammenmontiert wurden.


    Ein wirkliches Erlebnis sind die Solo-Zugaben des Rundfunk-Mitschnittes von 1971 - Debussy und Prokofieff. Bei den Images Heft I von Debussy ist es für mich jedenfalls ungemein schwer, eine Alternative zu Michelangeli zu finden. Emil Gilels ist der Einzige, wo ich denke: So kann man das auch wirklich überzeugend tatsächlich anders spielen, ohne dass man denkt, es ist irgendwie anachronistisch romantisierend oder sentimentalisierend. Sicher ist Gilels´ Spiel nicht ganz "idiomatisch" - also nicht so "französisch". Gilels spielt diesen Debussy von Beethoven und Prokofieff her kommend mit gemeißelter Prägnanz, geschärften Kontrasten und großer Dynamik. Das ist aber so betörend und fesselnd, dass ich diesen Gilels-Debussy unmöglich nur einmal hören kann und ins Grübeln komme über Debussy-Interpretation überhaupt. Gilels war eben ein Klaviertitan wie Michelangeli auch! Der Prokofieff ist natürlich Gilels´ Welt. Niemand - auch Svjatoslav Richter nicht - spielt die Vision figitives so wie Emil Gilels. Schade nur, dass Gilels den Zyklus nie komplett aufgenommen hat.


    :hail: :hail: :hail:


    P.S. Ich bin auf das fehlerhafte Aufnahmedatum bei Gilels/Reiner aufmerksam gemacht worden. Mein Fehler! Vermerkt ist der 8. Februar 1958 und nicht 8/1958! :!:

  • Meine letzten sporadischen Hörklausuren - Sammlung (3)


    Und nun zum Dritten meines Klausur-Berichts:



    Heute gilt die CD bei vielen Musikfreunden als "Auslaufmodell". Doch dann entgeht einem genau das, was sie (in diesem Falle handelt es sich um eine SACD des schwedischen Labels BIS) so besonders macht: der Klappentext nämlich. Der zum Zeitpunkt der Aufnahme erst 28 Jahre alte Yewgeny Sudbin hat ihn selbst verfasst. Schon der erste Satz dieses ungewöhnlich langen, sehr persönlich und dabei außergewöhnlich sachkundigen Begleittextes auf höchstem Niveau, der eine wirklich intime Kenntnis Scriabins und eine "philosophische" Begabung erkennen lässt, lässt aufhorchen:


    "Wie leicht ist es, Scriabin zu verfallen, eine der rätselhaftesten, umstrittensten und künstlerischsten Persönlichkeiten aller Zeiten. Wurde man erst einmal gebissen und hat das Gift in Gestalt seiner Klangwelt Körper und Geist durchdrungen, so sind die Auswirkungen allumfassend, sogar lebensbedrohlich!"


    Nicht nur im Wort hat Sudbin Sinn für die wahnhaft-wahnsinnigen Aspekte von Scriabins hoch erotischer, spekulativ-mystischer Musik, sondern auch auf dem Klavier. Diese Scriabin-Platte ist eine Offenbarung! Sudbin versteht es meisterhaft, die hohe Konstruktivität Scriabins mit dem Rauschhaften zu verschmelzen. Beides nämlich - nur exaltierte Emotionalität wie eine Reduktion auf analytische Konstruktivität, verfehlt Scriabins Musik. Besonders beeindruckend die 5. und 9. Sonate. So dämonisch beängstigend wie bei Sudbin klingt die Bass-Eruption der 5. Sonate bei Niemandem. Und wie er die freie Fantasie in das formbewusste Gestalten einbringt, ohne die Form zu zerstören, ist beeindruckend. Bei der 9. Sonate, der "Schwarzen Messe", merkt man, dass er das "Dämonische" dieser Musik versteht. Diese Aufnahme möchte ich neben die wirklich außergewöhnliche von Grigory Sokolov stellen. (Ich habe mich mal an einer Analyse dieses Stücks versucht, die mir glaube ich nicht schlecht gelungen ist, als Perfektionist in theoretischen Dingen halte ich meine Skizzen allerdings nicht für veröffentlichungsreif... ^^ ) Bemerkenswert auch Sudbins Fähigkeit zur Charakterisierung. Die Mazurka op. 3 Nr. 1 klingt wirklich "giusto". Die Etüde op. 8 Nr. 12, viel gespielt von den großen russischen Virtuosen von Horowitz bis Berman, besticht durch eine ungemein differenzierte dynamisch-poetische Gestaltung.


    Für Scriabin-Freunde eine unbedingte Empfehlung! :hail::hail::hail:


    Ein Wort noch zur Aufnahme-Technik. Der Flügel ist nicht ganz mittig aufgenommen, steht hörbar rechts und der Klang ist eher dunkel. Ich bevorzuge hier meine AVM Laufwerks/Wandler-Kombi wegen ihrer Klarheit und Offenheit im Hochtonbereich und ziehe ihr in diesem Fall meinem Denon SACD-Player DCD 1600 NE vor, höre also die CD-Spur bei dieser Hybrid-SACD. ^^

  • Vladimir Ashkenazy und Schubert


    Zu Schubert zeigt schon der junge Vladimir Ashkenazy eine besondere Affinität. Als ich in meiner Jugendzeit begann, Schallplatten zu sammeln, und das war zunächst schwerpunktmäßig Klaviermusik, waren die meisten Klavierplatten die von und mit Ashkenazy. Seine frühe Schubert-Platte hatte für mich immer eine besondere Bedeutung. Ich halte sie für eine der besten Schubert-Aufnahmen, die je gemacht wurden:


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    Dazu kam die mit dem "Grand Prix du Disque" ausgezeichnete Aufnahme der großen G-Dur-Sonate. So sah das Plattencover damals aus:


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    1986 habe ich meine Plattensammlung verkauft - darunter auch diese LP. Wenn ich nun bedenke, was die LP mit genau diesem Cover heute kostet! Ein Angebot findet sich tatsächlich - 600 Dollar! ^^ Seltsamer Weise ist ausgerechnet diese im wörtlichen Sinne "ausgezeichnete" Aufnahme nie als Einzel-CD zu Beginn der Compact Disc-Ära oder in einer der späteren preiswerten Serien in Europa veröffentlicht worden. Ich bin aber fündig geworden - 1990 erschien eine CD-Ausgabe jenseits des "großen Teichs", woher mir demnächst ein Exemplar zufliegen wird. :)


    Was ich lange gar nicht wusste, dass Ashkenazy auch die B-Dur-Sonate D 960 etwas später im Jahr 1985 aufgenommen hatte. Die einzig erhältliche CD war eine Rarität. Einst hatte mir der nette Willi wohl ein verfügbares erschwingliches (!) gebrauchtes Exemplar weggeschnappt :D , mir aber die Dateien auf dem berühmten "kleinen Dienstweg" zukommen lassen. Studiert hatte ich die Aufnahme damals aber nicht. Nun, nachdem inzwischen die große Sammelbox sämtlicher Soloaufnahmen von Ashkenazy erschien, sind wohl wieder einige Exemplare auf den Markt "gespült" worden. Und da habe ich mir eines davon endlich "gefischt".


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    Und damit bin ich auch mehr als glücklich! Die Aufnahme ist eine Ashkenazy-Sternstunde! Wunderbar und gleich einnehmend, wie Ashkenazy das melodische Hauptthema mit unglaublich schönem Ton aussingt. Und er trifft den Schubert-Ton des leise versonnen getragenen, Traurig-Schönen ganz genau. Bewundernswert sein Legato-Spiel - eine Ashkenazy-"Spezialität" - zu hören etwa in der Liszt-Etüde Paysage - gerade hier bei Schubert wird dies zum Ausdrucksträger: Es entsteht so ein Kontinuum des immer tragenden und damit eindringlich getragenen Melos. Man zieht den Hut vor Ashkenazys interpretatorischer Intelligenz, immer das Richtige zu tun. Schubert wird hier tiefschürfend bis in die letzte Note ausgeleuchtet und in allen seinen Facetten entfaltet. Ashkenazy ist ein großer Erzähler auf dem Klavier - hier verbindet sich seine epische Signatur mit intimer Lyrik. Das ist wahrlich beglückend - denn genau das ist Schubert! Großartig seine Dramaturgie im langen ersten Satz, wie er quasi symphonisch die dramatischen Spannungsbögen aufbaut und immer absolut organisch sich entwickelnd lässt. Hier merkt man beim Pianisten Ashkenazy den geborenen Dirigenten! Für mich ist das eine der schönsten und bedeutendsten Aufnahmen des musikalischen Juwels, das Schuberts letzte Klaviersonate darstellt!


    :hail: :hail: :hail: