Zum Kar-/Osterwochenende passend möchte ich dieses Thread über Bachs Matthäuspassion eröffnen. Für mich DAS Kunstwerk überhaupt. Als Theologischer Bachforscher habe ich mich naturgemäßg sehr häufig und sehr theologisch mit diesem Werk beschäftigt. Ich nenne und beschreibe ein paar meiner Highlights aus der Passion und würde mich freuen, wenn diese von Arien/Chören/Chorälen fortgesetzt werden, die euch besonders wichtig sind.
1) Chor: Kommt ihr Töchter helft mir Klagen
Jedes Mal lässt mich der fesselnde Beginn der Matthäuspassion mit seinem pochenden Orgelpunkt und dem langsam sich aussingenden Klagegesang der beiden Orchestergruppen sprachlos zurück.
Nach einigen Sekunden geschieht die erste Lösung, besser Erlösung, dieser ungemeinen Spannung mit welcher das Werk beginnt: Der Basso continuo steigt in einem oktavlangen Aufstieg gleichsam horizontal nach oben und leitet zum Einstieg des doppelchörigen vokalen Teils über. Die Frage-Antwort-Struktur (Sehet, Wen? - den Bräutigam! Seht ihn, Wie? - Als wie ein Lamm!) bietet auf engstem Raum eine Deutung, wie der Gekreuzigte theologisch werden kann. Schon dieser Eröffnungschor enthält mit den Worten "Bräutigam", "Lamm" und "Kreuz" die wichtigsten christologischen Kategorien im Werk Bachs in einer unvergleichlichen Zuspitzung. Der „Bräutigam“, mit dem die Seele (die in der kompletten Passion immer wieder in kommentierenden Rezitativen, eingeleitet von „Mein Jesus“ auftaucht) sich liebend vereinigen möchte, erscheint als Lamm. Doch damit nicht genug, der Eingangschor ist sogar für drei Chöre konzipiert, denn mitten in den Wechselgesang der beiden Chöre wird der Choral „O Lamm Gottes unschuldig“ ohne einen einzigen Missklang exponiert (HIP als Knabenchor).
Weiter heißt es im zweiten Teil des Eingangschors, der mit einer kurzen Rückung nach G-Dur eingeleitet wird: „Sehet die Geduld, seht auf unsre Schuld, sehet ihn aus Lieb und Huld, Holz zum Kreuze selber tragen“. Eben das Moment des „selber Tragens“ kann als 'Motto' des weiteren Werkes gelten. Der Jesus in der Matthäuspassion begegnet uns als leidendes Subjekt, als vollständiger Mensch, als Gegenüber der gläubigen Seele. Die liebende Beziehung des Ichs zu Jesus baut auf jenem Trost, dass Jesus selber das Kreuz tragen wird. Mir ist geholfen, durch die liebende und persönliche Zuwendung Christi. Dieser Trost durchzieht die gesamte Matthäuspassion und wohnt bereits dem Eingangschor inne. Musikalisch geschieht dies durch den Austausch der pochenden Spannung des Beginns durch tröstende Harmonien und sich auf Terzen einpendelnde Motive, sobald die Worte „Bräutigam“ und „Lamm“ auftauchen. Auch das Gis, welches den Schlussakkord auf dem Wort „Lamm“ unauffällig von e-Moll nach E-Dur rückt, wirkt hier nicht wie nachlassende Dramatik, sondern tröstend und nach vorne weisend.
Dieser Eingangschor ist für mich genial, berührend, erchütternd und er macht mich süchtig - ich möchte gar nicht, dass es aufhört.
Übrigens ist nach wie vor mein Favorit die Herreweghe-Version mit dem Collegium Vocale Gent.