Calvino, Italo: Wenn ein Reisender in einer Winternacht

  • Der Roman "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" (Originaltitel: "Se una notte d'inverno un viaggiatore") gehört momentan zu meinen Lieblingsromanen. Ich halte ihn außerdem für einen Glanzpunkt im Werk Calvinos. Der Roman entsteht 1979 und ist damit das drittletzte zu lebzeiten Calvinos (1923 - 1985) veröffentlichte Werk des Schriftstellers.

    Das charakteristische Merkmal dieses Romans ist, dass er aus lauter abgebrochenen Romananfängen von etwa 15 Seiten besteht. Diese insgesamt zehn Romananfänge sind stilistisch völli unterschiedlich und stellen jeweils Hommagen an bestimmte Literaturstile dar (Kafka, Nouveau Roman, japanischer Erotikroman, Symbolismus etc.). Es lässt sich also nicht von der Hand weisen, dass Calvino hier auch ein wenig sein handwerkliches Können zur Schau stellt.


    Der Roman ist der Literaturtheorie Roland Barthes' verpflichtet: Der Leser ist nicht nur Rezipient, sondern gleichzeitig kreative Größe, gewissermaßen Mitschöpfer. Stärke und Herausforderung dieses Stils bzw. Experiments liegen auf der Hand: Es ist frustrierend wenn Romananfänge an spannenden Stellen abbrechen, während man sich gerade in den Stil eingelesen hatte. Gleichzeitig wartet man gespannt auf den nächsten Romanbeginn und Stil. Bemerkenswert wird es für mich dadurch, dass eine Art Metahandlung entsteht. Und hier kommt noch einmal die Literaturtheorie zum Einsatz: Das verbindende Element der Metahandlung wird nur selten ausformuliert, es bildet sich viel mehr im Kopf des Lesers, der die einzelnen Romanfetzen nacheinander in Bezug zueinander setzt.


    Die äußere Handlung beginnt damit, dass der Leser "das neue Buch von Italo Calvino" in einer Buchhandlung ersteht, zu Hause den Roman beginnt (der erste von zehn Romananfängen) und dann feststellt, dass das gekaufte Exemplar fehlerhaft ist, weil der Roman abbricht. Er bringt es zurück in die Buchhandlung, wo er erfährt dass er durch einen Fehler der Binderei nicht den neuen Calvino, sondern einen polnischen Roman begonnen hat. Nun möchte er lieber ein Exemplar dieses Romans erstehen, um zu erfahren wie es mit dieser Geschichte weitergeht. Doch zu Hause muss er feststellen, dass der angebliche polnische Roman nicht identisch mit dem zuvor begonnen Buch ist. So geht es weiter durch die Romananfänge und durch die Metahandlung, in der im Folgenden auch die Leserin Ludmilla eine wichtige Rolle spielt.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)


  • Hallo Tristan2511, diesen Roman von Calvino kenne ich nicht, aber "Die unsichtbaren Städte" und "Der geteilte Visconte" > :thumbup:.


    LG Fiesco


    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Hallo Fiesco, wenn dir "Die unsichtbaren Städte" gefallen haben, wäre dieser Roman vielleicht etwas für dich. Zumindest ist der Ansatz, dass es keine eigentliche zusammenhängende Handlung gibt ähnlich. Bis auf eine Rahmenhandlung natürlich; Marco Polos Bericht hier, die Suche nach dem richtigen Roman dort. Beide Werke entsprechen der seiner Zeit modernen Literaturtheorie Ecos und Barthes'.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)