Beethoven Neunte oder der Chor, der nicht gelungen?

  • eine große, ganz wichtige, leider viel zu wenig beachtete Komposition will ich noch ausdrücklich nennen: die C-Dur-Messe op. 87! Für mich eine der schönsten, schlüssigsten und großartigsten Meßkompositionen, die ich kenne.

    Lieber Nemorino,


    da kann ich Dir nur von Herzen zustimmen, danke, dass Du an diese wunderbare Partitur erinnerst (Opus-Zahl scheint aber op. 86 zu sein, wenn ich das richtig sehe), das ist ganz herrliche, großartige, prachtvolle Musik, eine neuere Einspielung, die ich als sehr gelungen erachte, findet sich hier, derzeit für 9,99 preisreduziert beim Werbepartner erhältlich:


    Wer sich vorab einen Eindruck verschaffen will, findet die Videoaufnahme in gleicher Besetzung wie die CD hier in der Mediathek:

    https://www.ardmediathek.de/vi…S1hMjc0LWU4MjE3ZTlhMGI1Nw

    Auch gebe ich Dir völlig recht, was den Gefangenenchor angeht, dort wird ohne übermäßige vokale Schwierigkeiten eine ungeheure Atmosphäre erzielt, die sich immer mehr steigert und intensiviert, das ist ein sehr schönes Beispiel, dass es auch ohne Höchstschwierigkeiten sehr ausdrucksstarke Chorpartien bei Beethoven gibt.


    Ein weiteres Beispiel aus "Christus am Ölberge" möchte ich auch noch einfügen - der sehr erhabene, eindrucksvolle, schön gearbeitet Chor "Welten singen dank und Ehre":



    Oder ein weiteres grandioses Beispiel ist der "Derwischchor", den Nemorino ja bereits in seinem Beitrag erwähnt hat, hier zum Reinhören:


  • Oder ein weiteres grandioses Beispiel ist der "Derwischchor", den Nemorino ja bereits in seinem Beitrag erwähnt hat, hier zum Reinhören:

    Den "Chor der Derwische" schätze ich auch deshalb sehr, weil er Beethoven als Meister dieses Genres ausweist. Während Nemorino diesen Chor mit Hinweis auf "Die Ruinen von Athen" erwähnte, lenkt das Klangbeispiel von Don Gaiferos auf seine Wiederverwendung in der Schauspielmusik "Die Weihe des Hauses" hin. In beiden Werken anlässlich von feierlichen Theatereröffnungen wird er nämlich verwendet. Also kann er so schlecht nicht sein. :)


    Wenn nun Chöre von Beethoven in mancher Ohren nicht so klingen, dass bestimmte Erwartungen erfüllt werden, kann es doch wohl auch daran liegen, dass solche Erwartungen vom Komponisten ganz bewusst nicht erfüllt werden sollten. Insofern kann ich diese pingelige Kritik am Schlusschor der "Neunten" nicht nachvollziehen. Er wirkt auch auf mich auch nicht eigentlich harmonisch schön. Er tut gar auch weh. Ich höre ihn aber immer in Beziehung zum ersten Satz. Die Freude, die hier verkündet wird, ist für mich nicht Friede, Freude Eiierkuchen. Die vielen Misstöne, die sich hinein mischen, sind vielleicht die eighentliche Idee.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Liebe Taminos,


    es ist schön, dass der Thread durch eine Wendung nun doch noch echten Wert gewonnen hat, indem Beethovens Schaffen für Chor Würdigung findet. Dafür bedanke ich mich an nemorino, Don_Gaiferos und Rheingold1876 , zumal die Hinweise mir persönlich neue Werke erschließen.


    Gutes Hören und einen schönen Sonntag

    Christian Hasiewicz

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Und die Neunte sei halt rein kompositorisch im vierten Satz misslungen? Seriously? Wenn man sich zu so einer Aussage versteigt, dann ist das schon eine sehr gewagte Thesen, die man schon anders beweisen müsste als mit "Alle großen Chöre von Beethoven werden von uns Vokalensemble-Sängern verabscheut." Das sagt dann m. E. weniger über Beethoven aus als über die Limitiertheit des besagten Vokalensembles...

    Lieber Boris,


    natürlich ist das Chrorfinale von Beethovens 9. nicht misslungen! Es ist ein wirklich großartiges, ja einzigartiges Werk. Nur verstehe ich andererseits Dr. Pingel sehr gut. Man sollte vielleicht nicht vergessen, dass Beethovens Zeit die des Deutschen Idealismus war. Sein Zeitalter glaubte, dass Ideen die Welt verändern können. Entsprechend schafft Beethoven eine "Ideen-Komposition", d.h. er komponiert für einen Chor so, dass dieser Chorsatz seiner Kompositionsidee entspricht mit allen Komplikationen der Forderung und Überforderung der Sänger, die das mit sich bringt. Er orientiert sich eben nicht mehr an der Tradition des Chorsingens und den überlieferten Praktiken, jedenfalls nicht primär. D.h. er komponiert nicht in erster Linie ein Werk für den Chor - der Chor hat vielmehr seiner kompositorischen Idee zu dienen und nicht umgekehrt. Wenn der Chorsänger damit Probleme hat, muss er halt sich bemühen und der Chorgesang überhaupt sich ändern. Das autonome Ich des Komponisten und seine Kompositionsidee schaffen sich ihre aufführungspraktische Realität souverän selber und dienen ihr nicht. ^^ Ich habe mal zur 2. Klaviersonate von Boulez gesagt, dass die serielle Komposition über jeden Zweifel erhaben ist, ich aber trotzdem damit nicht warm werde, weil das nicht wie originäre Klaviermusik klingt, sondern das Klavier hier eher wie ein instrumentum behandelt wird, ein Mittel zum Zweck zur Realisierung einer seriellen Komposition. Von daher verstehe ich Dr. Pingels Vergleich von Beethoven mit Heinrich Schütz. Ich bin nun kein Chorsänger, aber wenn er sagt, Schütz ist unendlich "chorischer" als Beethoven, denke ich an meine Einstellung zur 2. Klaviersonate von Boulez. :hello:


    Einen schönen Sonntag wünschend

    Holger

  • Lieber Holger,


    ich stimme Dir zu, was den Entstehungsprozess der 9. Symphonie angeht und denke auch, dass hier natürlich eine Idee, ein Gedanke, ein Ausdruck im Mittelpunkt steht, der die Kriterien von Sanglichkeit, Singbarkeit, Einfachheit zweitrangig erscheinen lässt. Dass Beethoven hier Grenzen sprengen will, ist klar, und dafür muss er an die Grenzen gehen, sowohl orchestral als auch vokal.
    Es hat immer schon Werke gegeben, die als "unaufführbar" galten, zu virtuos, zu schwer, und manchmal bedurfte es eine neuen Generation von extrem talentierten und höchst trainierten Musikern, die erst viel später in der Lage waren, diese Werke dann aufzuführen. Wobei der Chor in der 9. unbequem liegen mag - allerdings hätte ich noch nie gehört, dass er unaufführbar wäre, oder auch nur, dass er nicht gut klänge, weil so hoch. Für mich ist er so fordernd wie es zum Beispiel die Königin der Nacht bei Mozart oder die Olympia bei Offenbach ist - mag sein, dass dies eine Hürde, eine Herausforderung ist, eine Leistung, die nicht jeder erbringen kann, und dennoch werden die Werke oft gespielt und aufgeführt. Ich habe auch noch nie erlebt, dass deswegen jemand die Königin der Nacht eine Oktave tiefer hören will oder die Olympia vielleicht doch lieber ohne Koloraturen singen lassen will. Ähnlich befremdlich ist daher für mich die Idee, Chor und Solisten durch ein Bläserensemble zu ersetzen, ein grotesker Gedanke für mich.
    Ansonsten würden wir, wenn es nur um die einfache Singbarkeit geht, vielleicht Lehar oder Johann Strauß für die größten Chorkomponisten halten ;-) das sollte also vielleicht nicht das einzige Kriterium sein...

  • Lieber Holger, du hast das wieder besser ausgedrückt als ich. Die 9. Sinfonie ist ein grandioses Werk und man sollte es bei dem Chor belassen, den ich inzwischen auch gut hören kann, vor allem nach den Einwänden hier. Bei den Mahler-Sinfonien mit Chor habe ich das gleich viel besser verstanden, die würde ich nicht ohne Chor haben wollen. Ich habe jedenfalls verstanden, dass Beethoven hier der Vorgänger von Mahler ist. Ich teile auch eure Meinung, dass die Coda sensationell ist.

    Ich werde also aufhören, Beethoven mit Schütz (der übrigens Heinrich heißt und nicht Alfred, so sehr das auch naheliegt:pfeif:). Da habe ich hier doch von den Vernünftigen (zuletzt hier im Vorgängerbeitrag von Don Gaiferos) einiges gelernt, von den Unvernünftigen allerdings auch.

    Mahler ging ja noch einen Schritt weiter und baute auch für Solisten "Lieder" ein. Eine Mahler-Sinfonie ohne "Urlicht" und "O Mensch" kann ich mir auch nicht vorstellen.

    Das Beispiel der Königin der Nacht ist sehr treffend, ein ähnliches Beispiel ist die halsbrecherische Arie der Zerbinetta, von den mörderischen Koloraturen einer Barockoper ganz zu schweigen.

    In einem Punkt möchte ich Don Gaiferos widersprechen, das ist die "einfache Singbarkeit". Die guten Laienchöre sind Vokalensembles, deren obere Grenze bei etwa 30 Mitgliedern liegt. In den meisten gibt es ausgebildete Sänger, sodass Musikstücke, die auch Solisten benötigen (Musikalische Exequien von Schütz), nicht von bezahlten Solisten, sondern aus dem Chor selbst herangezogen werden. Andere Stücke sind absolut schwer, etwa unser Programm im Augenblick: Jesu meine Freude von Bach, Schaffe in mir Gott von Brahms. Sogar ein Klassiker wie Händels Messias enthält knifflige Chöre. Nicht etwa das Hallelujah, das ist leicht, aber der Chor Durch seine Wunden sind wir geheilet. Das ist im alten polyphonen Stil geschrieben, den nur gute Chöre beherrschen (ich habe den Messias in drei verschiedenen Chören gesungen und weiß, wovon ich rede).

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • (der übrigens Heinrich heißt und nicht Alfred, so sehr das auch naheliegt :pfeif: ).

    ^^ Hab´s inzwischen gemerkt... Alfred Schütz gibt es, ich weiß allerdings nicht, ob der im Chor gesungen hat. ^^^^^^ Später mehr, jetzt muss ich in den Garten... :hello:

  • In einem Punkt möchte ich Don Gaiferos widersprechen, das ist die "einfache Singbarkeit". Die guten Laienchöre sind Vokalensembles, deren obere Grenze bei etwa 30 Mitgliedern liegt. In den meisten gibt es ausgebildete Sänger, sodass Musikstücke, die auch Solisten benötigen (Musikalische Exequien von Schütz), nicht von bezahlten Solisten, sondern aus dem Chor selbst herangezogen werden. Andere Stücke sind absolut schwer, etwa unser Programm im Augenblick: Jesu meine Freude von Bach, Schaffe in mir Gott von Brahms. Sogar ein Klassiker wie Händels Messias enthält knifflige Chöre. Nicht etwa das Hallelujah, das ist leicht, aber der Chor Durch seine Wunden sind wir geheilet. Das ist im alten polyphonen Stil geschrieben, den nur gute Chöre beherrschen (ich habe den Messias in drei verschiedenen Chören gesungen und weiß, wovon ich rede).

    Da bin ich ganz Deiner Meinung, selbstverständlich gibt es auch noch andere Chöre, die sehr anspruchsvoll sind, Du hast da treffende Beispiele genannt, und auch der Begriff "Laienchor" umfasst ja eine sehr große Bandbreite, vom Hobbysänger ohne jeden Gesangsunterricht bis hin zum semi-professionellen Vokalisten mit fundierter Ausbildung, der aus unterschiedlichen Gründen nicht hauptberuflich dem Gesang nachgeht.

  • Gould war kein guter Pianist. Prove me wrong.

    Gibt es die wirklich? Kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Wer mit solcher Leichtigkeit und Transparenz durch Bachs komplizierteste Fugen tanzt, wer "La Valse" mit absoluter Souveränität und finsterer Konsequenz kompromisslos bis zum Zusammenbruch führt, wer bei Brahms feinste Nuancen hörbar macht oder die haarsträubend schweren Stimmkreuzungen in den Goldberg-Variationen hinlegt als wäre es eine Scarlatti-Sonate, der ist natürlich ein ganz außergewöhnlicher, grandioser Pianist. Das zu bestreiten wäre einfach albern. Eine ganz andere Frage ist, ob man mit seinen Interpretationen immer einverstanden ist. Die sind oft grandios einseitig und nicht selten bewusst provozierend. Dass das nicht jedem gefällt, hat er mit Sicherheit mindestens in Kauf genommen, wenn nicht gelegentlich (wie bei der m.E. völlig missratenen "Appassionata") sogar angestrebt.

    Wer ernsthaft zweifelt, ob er "ein guter Pianist" war, soll sich mal das hier anhören:


    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Gibt es die wirklich? Kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Wer mit solcher Leichtigkeit und Transparenz durch Bachs komplizierteste Fugen tanzt, wer "La Valse" mit absoluter Souveränität und finsterer Konsequenz kompromisslos bis zum Zusammenbruch führt, wer bei Brahms feinste Nuancen hörbar macht oder die haarsträubend schweren Stimmkreuzungen in den Goldberg-Variationen hinlegt als wäre es eine Scarlatti-Sonate, der ist natürlich ein ganz außergewöhnlicher, grandioser Pianist. Das zu bestreiten wäre einfach albern. Eine ganz andere Frage ist, ob man mit seinen Interpretationen immer einverstanden ist. Die sind oft grandios einseitig und nicht selten bewusst provozierend. Dass das nicht jedem gefällt, hat er mit Sicherheit mindestens in Kauf genommen, wenn nicht gelegentlich (wie bei der m.E. völlig missratenen "Appassionata") sogar angestrebt.

    Wer ernsthaft zweifelt, ob er "ein guter Pianist" war, soll sich mal das hier anhören:


    Wenn technische Fähigkeiten schon einen guten Pianisten ausmachten, wäre er einer reiner virtuoser Mechanikus, ein besserer Zirkusaffe. Ein Werk mit Seele zu erfüllen, die Dramaturgie zu strukturieren und Spannung aufzubauen, zu wissen, wo er sich zurückzunehmen hat - das ist das andere. Dass Gould für Mozart keinen Sinn hat sagt viel - über Gould, nicht über Mozart. Ja, er hat Bach entromantisiert gegeben, und war damit Posterboy für mehr als eine Generation Intellektueller, die vor allem Jazz oder Neue Musik hören. Die Goldbergvariatonen sind "Kultaufnahmen" - viele Fans wissen gar nicht, dass es auch andere Aufnahmen gibt. Er hat einen eigenen Zugang zu Brahms gefunden. Aber vieles ist schlicht scheusslich.


    Und nein, mein Geschmacksurteil werde ich nicht weiter gegen einen Experten begründen - ich gönne auch jedem seinen Privatkult. Ich halte es da eher mit Arno Schmidt - "die Welt ist groß genug, dass wir alle darauf unrecht haben dürfen." ;)

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Opus-Zahl scheint aber op. 86 zu sein

    Lieber Don_Gaiferos,


    natürlich Op. 86! Habe das sofort korrigiert. Danke für den Hinweis.


    Außer der schönen Beecham-Aufnahme von 1957 (EMI) besitze ich noch zwei, allerdings ebenfalls ältere Versionen, einmal Giulini (EMI, 1970) und meine absolute Lieblingsaufnahme mit Karl Richter, die beide wohl im Zusammenhang mit Beethovens 200. Geburtstag entstanden sind.


    Die Richter-Aufnahme von 1970 habe ich, in Kombination mit Mozarts "Krönungsmesse" (Markevitch, 1960), auf dieser CD:

    Beethoven: Messe C-dur und Mozart: Krönungsmesse - Karl Richter, L.v..  Beethoven, W.A. Mozart, Mbo: Amazon.de: Musik

    Karl Richter (1926-1981) leitete den Münchener Bach-Chor und das Münchener Bach-Orchester (beide von ihm gegründet).

    Ein erlesenes Solistenquartett stand ihm zur Verfügung: Gundula Janowitz (Sopran), Julia Hamari (Alt), Horst R. Laubenthal (Tenor) und Ernst Gerold Schramm (Baß).

    Besonders kostbar ist (für mich) diese Aufnahme durch Gundula Janowitz, deren herrlicher Sopran sich bereits im Kyrie zu wunderbaren Gesangsbögen aufschwingt und die auch ansonsten das Solistenquartett dominiert. Richters Orchester reicht nicht an Giulinis New Philharmonia Orchestra heran, und auch der Chor ist vergleichsweise zweitrangig, und doch ergreift mich gerade diese Version immer wieder auf besondere Weise. Hier wird mit Herzblut gesungen und musiziert, während Giulinis und Beechams Aufnahmen deutlich professioneller, aber auch neutraler klingen.


    Ich kann die alte Richter-Version nur wärmstens empfehlen. Sie dürfte gebraucht noch erhältlich sein.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Wer mit solcher Leichtigkeit und Transparenz durch Bachs komplizierteste Fugen tanzt, wer "La Valse" mit absoluter Souveränität und finsterer Konsequenz kompromisslos bis zum Zusammenbruch führt, wer bei Brahms feinste Nuancen hörbar macht oder die haarsträubend schweren Stimmkreuzungen in den Goldberg-Variationen hinlegt als wäre es eine Scarlatti-Sonate, der ist natürlich ein ganz außergewöhnlicher, grandioser Pianist.


    Wenn technische Fähigkeiten schon einen guten Pianisten ausmachten, wäre er einer reiner virtuoser Mechanikus, ein besserer Zirkusaffe. Ein Werk mit Seele zu erfüllen, die Dramaturgie zu strukturieren und Spannung aufzubauen, zu wissen, wo er sich zurückzunehmen hat - das ist das andere. Dass Gould für Mozart keinen Sinn hat sagt viel - über Gould, nicht über Mozart.


    Neben seinen technischen Fähigkeiten, meine ich immer eine beachtliche geistige Durchdringung der Musik zu erfahren. Ich finde seinen Mozart wunderbar und höre ihn gerne, nicht weil er ihn schnell spielen kann, sondern weil er bei Mozart Dinge hörbar macht, die man sonst nirgendwo hört und die in dieser Musik offensichtlich drin sind. Natürlich gibt es auch andere Einspielungen, die mich berühren.


    Man muss das weder hören wollen, noch können, nur die Reduktion auf das Technische ist viel zu simpel. Ich habe im Hörer-Thread auf eine Besprechung aufmerksam gemacht. Ich vermute, dass Leon Fleisher und Emanuel Ax keine Dummköpfe sind, wenn ihnen die Interpretationen von Gould gefallen.

  • Wenn technische Fähigkeiten schon einen guten Pianisten ausmachten, wäre er einer reiner virtuoser Mechanikus, ein besserer Zirkusaffe. Ein Werk mit Seele zu erfüllen, die Dramaturgie zu strukturieren und Spannung aufzubauen, zu wissen, wo er sich zurückzunehmen hat - das ist das andere. Dass Gould für Mozart keinen Sinn hat sagt viel - über Gould, nicht über Mozart. Ja, er hat Bach entromantisiert gegeben, und war damit Posterboy für mehr als eine Generation Intellektueller, die vor allem Jazz oder Neue Musik hören. Die Goldbergvariatonen sind "Kultaufnahmen" - viele Fans wissen gar nicht, dass es auch andere Aufnahmen gibt. Er hat einen eigenen Zugang zu Brahms gefunden. Aber vieles ist schlicht scheusslich.

    Die höhnische Verachtung technischer Fähigkeiten kann ich vermutlich deshalb nicht teilen, weil ich weiß, was dazu gehört, sie zu erlangen. Darüber rümpfen ja auch meist nur diejenigen die Nase, deren eigene musikalische Leistung sich darin erschöpft, eine CD aus dem Regal in den Player zu befördern. Aber mal davon abgesehen: Der griechische Ursprung des Wortes "Technik" (τέχνη) bedeutet übersetzt "Kunst" oder "Kunstfertigkeit". Die Aufteilung von Musikern in "bloße Virtuosen" und "echte Künstler", die in Deutschland in einer unheilvollen Tradition steht, ist unsinnig, weil auch die großartigste musikalische Idee ohne überlegene Beherrschung des Handwerks kein Kunstwerk werden kann. Gould war ohne jeden Zweifel ein brilllanter Könner des Klavierspiels und ein streitbarer, origineller, oft experimenteller und manchmal provokativer Interpret, der Generationen von nachfolgenden Musikern beeindruckt und beeinflusst hat. Ich bin keineswegs immer mit seinen Deutungen einverstanden (Deine freundliche Unterstellung eines "Privatkults" trifft also auf mich nicht zu), seine Mozart-Sonaten finde ich zwar ganz interessant aber doch überwiegend befremdlich, seine Appassionata grauenhaft, die letzte Beethoven-Sonate stellenweise skurril usw.. Aber ich finde die schlechterdings unübertreffliche Transparenz seines Spiels, das Miteinander von geistiger Durchdringung, analytischer Klarheit und emotionaler Einfühlung bei den meisten seiner Aufnahmen großartig, selbst wenn einige von ihnen mir nicht "gefallen". Seine Aufnahme der drei Brahms-Intermezzi op. 117 gehört für mich zu den schönsten überhaupt, ebenso seine Eroica-Variationen, seine Schönberg-Einspielungen oder das Schumann-Klavierquartett (um mal nicht nur Bach zu erwähnen). Dass seine mit Recht berühmten Bach-Aufnahmen nur von Jazz- oder Neue Musik-Hörern bewundert werden, ist offenkundig falsch, aber auch sein angeblich fehlendes Mozart-Verständnis kann ich so pauschal nicht bestätigen; seine Aufnahme des c-Moll-Konzertes finde z.B. ziemlich gut (witzigerweise wurde er seinerzeit dafür kritisiert, dass er im Andante die Akkorde ausnahmslos arpeggiert spielte, was heute als "historisch korrekt" gilt; so ändern sich die Zeiten :).)

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Hier ein schon etwas älterer, interessanter Artikel über Gould aus der FAZ (eigentlich pro-Gould geschrieben), seinen selbsterklärten Puritanismus und seinen Hass auf Salzburg und Mozart. Ich geselle mich hier halt auf die andere Seite - die der Mozart-Verehrer, der mediterranen Sinnenfreude und der Haltung Alfred Brendels, und lasse den Freunden der Dekonstruktion den Baustaub ihrer musikalischen Abbrucharbeiten. 😉


    https://m.faz.net/aktuell/feui…raechter-1213409.amp.html

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."




  • Lieber Nemorino,

    herzlichen Dank für Deine Empfehlungen, insbesondere die Aufnahme mit Richter interessiert mich sehr, nach dem, was Du geschrieben hast. Beim Werbepartner ist sie tatsächlich derzeit wohl nicht erhältlich, ich werde mal nach einem gebrauchten Exemplar Ausschau halten und befasse mich unterdessen schon einmal mit der Version auf youtube:

  • ich werde mal nach einem gebrauchten Exemplar Ausschau halten

    Lieber Don_Gaiferos,


    bei "booklooker.de" kannst Du die CD kostengünstig erwerben, für schlappe 0,50 € + Versandkosten (€ 1,80). Es gibt sie auch noch etwas teurer, für 2 € + Porto. Rufe mal die Seite auf, da wirst Du fündig.


    Schönen Sonntagabend noch,

    LG Nemorino :hello:

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Lieber Nemorino,

    ganz herzlichen Dank für diese tolle Empfehlung, ich habe sogleich bestellt! Ich freue mich sehr auf diese Version, was ich auf youtube gehört habe, ist sie tatsächlich sehr schön, edel und berührend musiziert. Danke!

  • Wenn technische Fähigkeiten schon einen guten Pianisten ausmachten, wäre er einer reiner virtuoser Mechanikus, ein besserer Zirkusaffe. Ein Werk mit Seele zu erfüllen, die Dramaturgie zu strukturieren und Spannung aufzubauen, zu wissen, wo er sich zurückzunehmen hat - das ist das andere. Dass Gould für Mozart keinen Sinn hat sagt viel - über Gould, nicht über Mozart. Ja, er hat Bach entromantisiert gegeben, und war damit Posterboy für mehr als eine Generation Intellektueller, die vor allem Jazz oder Neue Musik hören. Die Goldbergvariatonen sind "Kultaufnahmen" - viele Fans wissen gar nicht, dass es auch andere Aufnahmen gibt. Er hat einen eigenen Zugang zu Brahms gefunden. Aber vieles ist schlicht scheusslich.

    Das ist bezeichnend in jeder Hinsicht falsch - musikhistorisch, musikphilosophisch, bezeichnend gerade die These, dass Gould Bach "entromantisiert" habe. Dann setzt man romantisch=empfindsam. Carl Dahlhaus hat - was sehr erhellend und richtig ist - auf das populäre Missverständnis hingewiesen, die Romantik als eine empfindsame Gefühlsästhetik aufzufassen: Sie sei von der Empfindsamkeit des Mozart-Zeitalters genauso weit entfernt wie vom Hanslickschen Formalismus. Der Romantiker Friedrich Schlegel verglich die Musik mit einer "philosophischen Ideenreihe" und bezeichnete die Empfindsamkeit schlicht als "platt". Das Geistige eines Musikstücks, was sie über einen bloß sinnlichen Nervenkitzel heraushebt, ihr "Gedankliches" und Bedeutungsvolles, ist das musikalische Thema als ihr Inhalt in musikphilosophischer Tradition. Der große Bach-Bewunderer August Halm sah das Geistige von Bachs Musik gerade darin, in der zentralen Bedeutung des Themas und seiner Verarbeitung. Und genauso - auf das Rein-Geistige und Gedankliche zielend - spielt Glenn Gould Bach. Kein anderer Pianist hat so viel Sinn für den polyphonischen Geist Bachs, wozu von der technischen Seite Goulds extreme Fingerunabhängigkeit hinzukommt, die ihm das ermöglicht. Bezeichnend hat bei Alfred Brendel, der Musik empfindsamer auffasst, Bach bei weitem nicht die Bedeutung wie für Gould. Gould spielt nun durchaus empfindsame spätromantische Musik, aber nur dann, wenn sie thematische Substanz hat wie Sonaten von Scriabin. Immer dann, wenn die Empfndsamkeit thematisch-gedanklich vermittelt ist, ist er grandios, wie bei Brahms. Schönberg und Alban Berg spielt er eben nicht abstrakt, sondern man erkennt bei ihm die Bezüge zu Brahms. Das kann nur ein Musiker mit Geist wie Gould. Auch das ist exemplarisch. Mit primär empfindsamer Musik hatte er seine Schwierigkeiten - Liszt (außer den Transkriptionen der Symphonien für Klavier) hat er nie gespielt, Chopin nicht und mit Mozarts Empfindsamkeit hatte er große Probleme. Gould war nun ein Rigorist und Exzentriker, der die Seite der Musik, die er für geistlos hielt, die bloß sinnliche Empfindsamkeit und Affektivität, gnadenlos reduzierte, wenn sie ihn störte. Das ging in vielen Fällen schief, aber selbst dann ist er oft ungemein lehrreich.


    Schöne Grüße

    Holger

  • „Bezeichnend falsch“ - bezeichnend für was? Bezeichnend ist es vielleicht, dass du meinen Beitrag für einen oberlehrerhaften musikphilosophischen Vortrag nutzt.


    Mangelnde Sachkenntnisse deinerseits zeigt dabei z.B. die Behauptung, Gould habe Chopin nicht gespielt - das ist schlicht Unsinn, siehe das Video unten.
    Aber Details spielen ja keine Rolle, es reicht, etwas mit seinen philosophischen Sprachfertigteilen herumzuschwadronieren, und zu ignorieren, dass mit einer „romantischen Spielweise“ schlicht eine mit mehr Pedal und Legato gemeint ist, wie sie z.B. Kempff bei seinen Bach-Einspielungen zeigt.



    Gutes Hören

    Christian Hasiewicz

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Aber Details spielen ja keine Rolle, es reicht, etwas mit seinen philosophischen Sprachfertigteilen herumzuschwadronieren, und zu ignorieren, dass mit einer „romantischen Spielweise“ schlicht eine mit mehr Pedal und Legato gemeint ist, wie sie z.B. Kempff bei seinen Bach-Einspielungen zeigt.

    Es ist doch immer wieder bemerkenswert, mit welcher Aggressivität hier manche reagieren, wenn sie von anderen auf sachliche Fehler hingewiesen werden. Ich bin ja mit Dr. Kaletha nicht immer (hüstel) einer Meinung, aber mit der Unterscheidung von Empfindsamkeit und Romantik hat er vollkommen recht. Und "romantisches" oder "romantisierendes" Klavierspiel mit "Pedal und Legato" gleichzusetzen, ist zwar weit verbreitet aber einfach falsch. Schon die frühesten Hammerklaviere zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten Pedale, und die Kunst des Legato-Spiels wurde theoretisch beschrieben und praktisch gelehrt. Und Robert Schumann, den man mit einigem Recht (vor allem wegen seiner Verbindung zur Poesie) als "romantischsten" aller Klaviermusikkomponisten bezeichnen kann, hat mehr mit Bach gemeinsam als sogar mit Beethoven.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • „Bezeichnend falsch“ - bezeichnend für was? Bezeichnend ist es vielleicht, dass du meinen Beitrag für einen oberlehrerhaften musikphilosophischen Vortrag nutzt.

    Dein Problem ist ein tief sitzendes Ressentiment gegen Philosophen und Intellektuelle. Goulds Bach war damals neu, sein Spiel als geistloses Virtuosentum und "Intellektualismus" abzutun, ihn als "Posterboy für mehr als eine Generation Intellektueller, die vor allem Jazz oder Neue Musik hören" hinzustellen, verkennt erst einmal die musikhistorischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge und das darin gegebene Verständnis gerade von Bach, das eben Goulds Zugang zu Bach als eine geistige Haltung und nicht nur bloß modische Extravaganz verständlich macht. Zum anderen ist es sehr aufschlussreich, was Vladimir Ashkenazy erzählt, dass er und seine Mitstudenten am Moskauer Konservatorium Goulds Bach hörten und dies bei ihnen wie eine Bombe einschlug. Dies ganz sicher nicht wegen Goulds Virtuosität - Virtuosen hat die russische Pianistenschule wahrlich genug und auch nicht - die Zeit damals war die der Sowjetunion und des eisernen Vorhangs -, weil die Lev Oborin-Klasse aus Jazz-Hörern und Anhängern von Neuer Musik bestand. Nein, Gould hat sie beeindruckt wegen der musikalischen Substanzialität seines Bach-Spiels.

    Mangelnde Sachkenntnisse deinerseits zeigt dabei z.B. die Behauptung, Gould habe Chopin nicht gespielt - das ist schlicht Unsinn, siehe das Video unten.

    Das hatte ich in dem Moment tatsächlich vergessen, dass er die H-moll-Sonate spielt. Ich hatte aber auf die selektive Art, wie Gould romantische und spätromantische Musik rezipiert, hingewiesen und insbesondere darauf, dass er zur romantischen Empfindsamkeit dann Zugang findet, wenn sie sich mit thematisch-motivischem Denken verbindet wie bei Brahms. Bezeichnend spielt er von Chopin eine der Sonaten, wo es eben solche thematisch-motivische Arbeit gibt. Um die Nocturnes dagegen hat er einen großen Bogen gemacht.

    Aber Details spielen ja keine Rolle, es reicht, etwas mit seinen philosophischen Sprachfertigteilen herumzuschwadronieren, und zu ignorieren, dass mit einer „romantischen Spielweise“ schlicht eine mit mehr Pedal und Legato gemeint ist, wie sie z.B. Kempff bei seinen Bach-Einspielungen zeigt.

    Im Klavierunterricht wollte man mir jedenfalls beibringen, dass man Bach gefälligst ohne Pedal spielt, was eine durchaus verbreitete Sicht ist - und das nicht wegen Glenn Gould. Eine "romantische Spielweise" von Bach kann man sicher nicht nur am Pedalgebrauch festmachen. Das ist auch nicht das Charakteristikum von Goulds Bach-Spiel, dass er Bach nur "trocken" spielt, sondern seine polyphonische Denkweise. Wenn Du die "romantische Spielweise" auf den Pedalgebrauch verengst, kannst Du deshalb jedenfalls nicht erwarten, dass ein Leser genau das darunter versteht.

  • Es ist doch immer wieder bemerkenswert, mit welcher Aggressivität hier manche reagieren, wenn sie von anderen auf sachliche Fehler hingewiesen werden. Ich bin ja mit Dr. Kaletha nicht immer (hüstel) einer Meinung, aber mit der Unterscheidung von Empfindsamkeit und Romantik hat er vollkommen recht. Und "romantisches" oder "romantisierendes" Klavierspiel mit "Pedal und Legato" gleichzusetzen, ist zwar weit verbreitet aber einfach falsch. Schon die frühesten Hammerklaviere zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten Pedale, und die Kunst des Legato-Spiels wurde theoretisch beschrieben und praktisch gelehrt. Und Robert Schumann, den man mit einigem Recht (vor allem wegen seiner Verbindung zur Poesie) als "romantischsten" aller Klaviermusikkomponisten bezeichnen kann, hat mehr mit Bach gemeinsam als sogar mit Beethoven.

    Ich reagiere dann abweisend, wenn Menschen versuchen, hier aus philosophischer oder musikwissenschaftlicher Sicht Gatekeeper zu sein, wie man etwas zu sagen oder zu sehen hat. Der Begriff romantisierende Spielweise ist wie du sagst gängig und etabliert und illustriert hier was ich meine. Wenn man googelt +Klavier +"romantisierende Spielweise", findet man hunderte Treffer von Rezensionen (z.B. die des FonoForums von Richters Einspielung des "Wohltemperierten Klaviers") und musikjournalistischen Beiträgen. Da ein musikwissenschaftliches Studium hier keine Zugangsvoraussetzung für dieses Forum ist, musst du wohl mit dem unwissenschaftlichen Gebrauch leben.


    Gutes Hören

    Christian Hasiewicz

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Ich reagiere dann abweisend, wenn Menschen versuchen, hier aus philosophischer oder musikwissenschaftlicher Sicht Gatekeeper zu sein, wie man etwas zu sagen oder zu sehen hat. Der Begriff romantisierende Spielweise ist wie du sagst gängig und etabliert und illustriert hier was ich meine. Wenn man googelt +Klavier +"romantisierende Spielweise", findet man hunderte Treffer von Rezensionen (z.B. die des FonoForums von Richters Einspielung des "Wohltemperierten Klaviers") und musikjournalistischen Beiträgen. Da ein musikwissenschaftliches Studium hier keine Zugangsvoraussetzung für dieses Forum ist, musst du wohl mit dem unwissenschaftlichen Gebrauch leben.

    Worauf ich allergisch reagiere, wenn man einem bedeutenden und wirklich großen Pianisten wie Glenn Gould die Bedeutung und Größe abspricht mit geschmäcklerischen Argumenten, die sachlich keine Substanz haben und einfach auf einer grotesken Fehleinschätzung beruhen. Man kann sich an Goulds Interpretationen reiben, aber Niveau kann man ihnen eben nicht so leichtfertig absprechen. Dann muss man auch ertragen können, dass man zur Begründung etwas weiter ausholt und eben auch die philosophische Ebene einbezieht. Zum anderen kann man nicht im Ernst behaupten, dass alle anderen Bach-Interpretationen vor und neben Gould romantisierend gewesen seien. Svjatoslav Richter hatte seine Probleme mit Goulds Bach, was man seinem Tagebuch entnehmen kann, aber als "romantisierend" würde ich seinen Bach nun gerade nicht bezeichnen. Und was ist mit Claudio Arrau z.B.? Arrau romantisierend bei Bach????


    Schöne Grüße

    Holger

  • ich stimme Dir zu, was den Entstehungsprozess der 9. Symphonie angeht und denke auch, dass hier natürlich eine Idee, ein Gedanke, ein Ausdruck im Mittelpunkt steht, der die Kriterien von Sanglichkeit, Singbarkeit, Einfachheit zweitrangig erscheinen lässt. Dass Beethoven hier Grenzen sprengen will, ist klar, und dafür muss er an die Grenzen gehen, sowohl orchestral als auch vokal.
    Es hat immer schon Werke gegeben, die als "unaufführbar" galten, zu virtuos, zu schwer, und manchmal bedurfte es eine neuen Generation von extrem talentierten und höchst trainierten Musikern, die erst viel später in der Lage waren, diese Werke dann aufzuführen. Wobei der Chor in der 9. unbequem liegen mag - allerdings hätte ich noch nie gehört, dass er unaufführbar wäre, oder auch nur, dass er nicht gut klänge, weil so hoch. Für mich ist er so fordernd wie es zum Beispiel die Königin der Nacht bei Mozart oder die Olympia bei Offenbach ist - mag sein, dass dies eine Hürde, eine Herausforderung ist, eine Leistung, die nicht jeder erbringen kann, und dennoch werden die Werke oft gespielt und aufgeführt. Ich habe auch noch nie erlebt, dass deswegen jemand die Königin der Nacht eine Oktave tiefer hören will oder die Olympia vielleicht doch lieber ohne Koloraturen singen lassen will. Ähnlich befremdlich ist daher für mich die Idee, Chor und Solisten durch ein Bläserensemble zu ersetzen, ein grotesker Gedanke für mich.
    Ansonsten würden wir, wenn es nur um die einfache Singbarkeit geht, vielleicht Lehar oder Johann Strauß für die größten Chorkomponisten halten ;-) das sollte also vielleicht nicht das einzige Kriterium sein...

    Lieber Boris,


    das sehe ich ganz ähnlich. Ich würde es auch nicht für sinnvoll halten, die Chorstimmen instrumental zu ersetzen. Nur absurd ist der Gedanke auch nicht, wenn man mit bedenkt, dass eine Symphonie mit einem Chorfinale ungewöhnlich ist und nicht der Gattungstradition entspricht. So ist die 9. - allen voran von Richard Wagner - ja auch rezipiert worden. Beethoven behandelt deshalb den Chor als Schlusssatz einer Symphonie als solchen "symphonisch" - die Chorstimmen sind von der Satztechnik her symphonisch und nicht chorisch gedacht. Allein vom Satz her könnte also anstelle der Sopranstimme auch eine Trompete spielen - semantisch geht das natürlich nicht (s.u.!), aber satztechnisch wäre es denkbar. Deswegen ist Dr. Pingels Gedankenexperiment für mich auch nicht "grotesk". ^^ Für meine Ohren schreit der Sopran an dieser Stelle mehr als er singt ^^ - solche ästhetischen (und "unchorischen") Härten kommen letztlich eben daher, dass Beethoven den Chorsatz rigiros der symphonischen Satztechnik "unterworfen" hat, um es humoristisch auszudrücken. ;)

    Lieber Holger, du hast das wieder besser ausgedrückt als ich. Die 9. Sinfonie ist ein grandioses Werk und man sollte es bei dem Chor belassen, den ich inzwischen auch gut hören kann, vor allem nach den Einwänden hier. Bei den Mahler-Sinfonien mit Chor habe ich das gleich viel besser verstanden, die würde ich nicht ohne Chor haben wollen. Ich habe jedenfalls verstanden, dass Beethoven hier der Vorgänger von Mahler ist. Ich teile auch eure Meinung, dass die Coda sensationell ist.

    Ich werde also aufhören, Beethoven mit Schütz (der übrigens Heinrich heißt und nicht Alfred, so sehr das auch naheliegt :pfeif: ). Da habe ich hier doch von den Vernünftigen (zuletzt hier im Vorgängerbeitrag von Don Gaiferos) einiges gelernt, von den Unvernünftigen allerdings auch.

    Mahler ging ja noch einen Schritt weiter und baute auch für Solisten "Lieder" ein. Eine Mahler-Sinfonie ohne "Urlicht" und "O Mensch" kann ich mir auch nicht vorstellen.

    Lieber Dr. Pingel,


    beim - jetzt Deine Einwände im Hinterkopf - sehr bewussten Wiederhören war ich erst einmal beeindruckt von Beethovens "musikalischer Logik". Dein Hinweis auf Gustav Mahler ist finde ich auch erhellend. Beethoven lässt das Liedthema erst einmal instrumental vorweg ertönen, so dass dann die Singstimme als dessen "Erfüllung" erscheint, wie als ob die Symphonik danach gerufen hätte. Das hat Wagner dann als "Erlösung der Musik durch das Wort" philosophisch gedeutet (mit der weitreichenden geschichtsphilosophischen These, dass damit die Ablösung der Symphonie durch das Musikdrama quasi beschlossen sei :D ) und Gustav Mahler hat sich im Chorfinale seiner 2. Symphonie genau das bei Beethoven abgeschaut und abgehört. Höchst konstvoll ist, wie Beethoven erst mit dem Sologesang beginnt und später erst den vollstimmigen Chor einsetzen lässt - diesen Satz also als kontinuierliche Steigerung von Enthusiasmus und Überschwang konzipiert auch von der Verteilung der Singstimmen her. Diese Stringenz und Klarheit der symphonischen Logik beeindruckt - mich jedenfalls - ungemein. Deswegen kann man auch semantisch finde ich die Chorstimmen nicht sinnvoll symphonisch ersetzen. Die Verbindung mit dem Wort ist Teil dieser dynamischen Steigerungsbewegung. Man kann das Wort, was einmal ergriffen wird, nicht gleichsam zurücknehmen. Das würde merkwürdig wirken. Jedenfalls finde ich es sehr gewinnbringend, dass Du die Diskussion angestoßen hast. :D :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • ch reagiere dann abweisend, wenn Menschen versuchen, hier aus philosophischer oder musikwissenschaftlicher Sicht Gatekeeper zu sein, wie man etwas zu sagen oder zu sehen hat. Der Begriff romantisierende Spielweise ist wie du sagst gängig und etabliert und illustriert hier was ich meine. Wenn man googelt +Klavier +"romantisierende Spielweise", findet man hunderte Treffer von Rezensionen (z.B. die des FonoForums von Richters Einspielung des "Wohltemperierten Klaviers") und musikjournalistischen Beiträgen. Da ein musikwissenschaftliches Studium hier keine Zugangsvoraussetzung für dieses Forum ist, musst du wohl mit dem unwissenschaftlichen Gebrauch leben.

    Dass der Begriff "romantisierende Spielweise" ein inhaltsleerer Kampfbegriff ist, kann man ganz ohne musikwissenschaftlichen Hintergrund schon daran erkennen, dass er auf so unterschiedliche, zum Teil geradezu entgegengesetzte Bach-Interpreten wie Edwin Fischer, Claudio Arrau, Svjatoslav Richter und Angela Hewitt angewandt wird. Niemand hat Dir deshalb verboten, ihn zu verwenden, aber Du musst schon damit leben, dass man ihn begründet hinterfragt. Zum letzten Satz im obigen Zitat: Ich habe kein musikwissenschaftliches Studium absolviert, bin also diesbezüglich der falsche Ansprechpartner. Ich bin aber der Überzeugung, dass ein sinnvoller Austausch nur möglich ist, wenn man sich über die Bedeutung der Begriffe geeinigt hat. Für den Begriff "romantisierend" gilt das ganz offensichtlich nicht.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Worauf ich allergisch reagiere, wenn man einem bedeutenden und wirklich großen Pianisten wie Glenn Gould die Bedeutung und Größe abspricht mit geschmäcklerischen Argumenten, die sachlich keine Substanz haben und einfach auf einer grotesken Fehleinschätzung beruhen.


    Da stimme ich Dir vollkommen zu. Allerdings möge man in Deiner Aussage versuchsweise die Passage "und wirklich großen Pianisten wie Glenn Gould" durch "und wirklich großen Werk wie dem Finale von Beethovens Neunter" ersetzen... ;)


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich reagiere dann abweisend, wenn Menschen versuchen, hier aus philosophischer oder musikwissenschaftlicher Sicht Gatekeeper zu sein, wie man etwas zu sagen oder zu sehen hat.


    Und da haben wir ihn wieder, den Strohmann der angeblichen Ge- und Verbote, der allerdings den entscheidenden Schönheitsfehler hat, dass niemand hier Ge- und Verbote formuliert oder gefordert hat. Offensichtlich muss man das noch ein paarmal wiederholen: Man darf selbstverständlich alles sagen, aber man muss eventuell mit sachlich begründetem Widerspruch rechnen. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Widerspruchs steigt dann erheblich an, wenn man relativ steile Thesen mit relativ dünnen Argumenten untermauert.


    Übrigens hast Du in diesem Fall den Widerspruch explizit gefordert (Hervorhebung von mir):


    Gould war kein guter Pianist. Prove me wrong.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Da stimme ich Dir vollkommen zu. Allerdings möge man in Deiner Aussage versuchsweise die Passage "und wirklich großen Pianisten wie Glenn Gould" durch "und wirklich großen Werk wie dem Finale von Beethovens Neunter" ersetzen... ;)

    Da sind wir in der Diskussion nun aber doch ein Stück weiter gekommen.


    Zumal: Gerade das Chorfinale der 9. ist in der Rezeptionsgeschichte sehr überhöht worden - vor allem durch Richard Wagner, der hier einen musikgeschichtlichen Wendepunkt sah, die Überwindung des Paradigmas der Symphonie hin zum Musikdrama: "Erlösung der Musik durch das Wort". Und dann kommt ein biederer Chorsänger und sagt aus seiner Perspektive: Dieses Chorfinale ist misslungen! :D Eigentlich ist das sehr heilsam, denn es holt diese Symphonie-Kantate vom Sockel der Überhöhung zurück auf die Erde möglicher ästhetischer Kritik. Aber nein, das geht natürlich nicht. Man muss dem armen Chorsänger gleich die Urteilskompetenz absprechen und damit die Diskussion und mögliche ästhetische Kritik abwürgen und im Keim ersticken. Wenn man sich nur erinnert hätte, wie schonungslos in vergangenen Zeiten auch "Meisterwerke" gnadenlos verrissen wurden, Beispiel: Eduard Hanslick - ist das eigentlich nur komisch oder anders ausgedrückt: unangemessen. Beethoven hat mit der Komposition dieser Symphonie-Kantate nicht nur die Gattungsgrenzen gesprengt, die mögliche Kritik an seinem Chorsatz zeigt, dass hier auch ästhetisch Grenzen überschritten werden mit den damit verbundenen Härten. Es zeugt von mangelnder Besonnenheit, die ästhetischen Probleme eines solchen Chorsatzes, der als Symphoniesatz komponiert ist, nicht zu sehen, die eben dazu führen, dass so mancher Chorsänger das als nicht schön zu singen und "unchorisch" empfindet. Meine Linie war nicht die, sich am Urteil "misslungen" aufzuhängen, sondern das ästhetischen Problem, das dem zugrunde liegt, zu fassen. Dass dies der fruchtbarere Weg ist, hat sich gezeigt. Selbst Dr. Pingel hat sein Urteil inzwischen revidiert. Mit Polemik und Abstreiten von Urteilskompetenz erreicht man keine Einsicht und auch nicht eine produktive Meinungsbildung und Meinungskorrektur.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Eigentlich ist das sehr heilsam, denn es holt diese Symphonie-Kantate vom Sockel der Überhöhung zurück auf die Erde möglicher ästhetischer Kritik.

    Ich glaube, der "Sockel der Überhöhung" wurde schon vor langer, langer Zeit eingerissen. Wir haben eher das Problem, dass der Konsens, dass klassische Musik etwas Fördernswertes ist, verloren, und ich sehe daher die klassische Musik in ihrer Existenz bedroht. Deshalb ist mir das Verächtlichmachen verhasst.

  • Ich glaube, der "Sockel der Überhöhung" wurde schon vor langer, langer Zeit eingerissen. Wir haben eher das Problem, dass der Konsens, dass klassische Musik etwas Fördernswertes ist, verloren, und ich sehe daher die klassische Musik in ihrer Existenz bedroht. Deshalb ist mir das Verächtlichmachen verhasst.

    Wirklich? 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg... Gerade um die 9. rankt sich der Beethoven-Mythos. Als ein "Verächtlichmachen" empfinde ich nun nicht, wenn Jemand die symphonischen ersten Sätze für genial hält, und nur am Chorfinale herumnörgelt. Der ungeheuren Beliebtheit der 9. tut das jedenfalls keinen Abbruch, die deshalb auch eine Förderung kaum nötig hat.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose