Beethoven Neunte oder der Chor, der nicht gelungen?

  • Wirklich? 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg... Gerade um die 9. rankt sich der Beethoven-Mythos.

    Ich wollte ja schon schreiben, dass ich den Eindruck habe, dass Du etwas in der Vergangenheit lebst ... so in den 60er-Jahren mit Stockhausen quasi, als die klassische Musik noch etwas galt und aktuelle Tendenzen allgemein wahrgenommen wurden - Stockhausen eben war doch ein Begriff. Heute lebende Komponisten werden weder von Philosophen noch von Künstlern anderer Gebiete gekannt, geschweige denn vom Feuilleton. Und dass im 2. Weltkrieg ein Beethoven-Mythos rankte, ist auch etwas für Historiker.

  • Und dass im 2. Weltkrieg ein Beethoven-Mythos rankte, ist auch etwas für Historiker.

    Was wurde bei der deutschen Wiedervereinigung gespielt, das war 1990? ;) Und heute im Zeitalter der Globalisierung und Migration inclusive neuer imperialistischer Kriege bleibt dieses Chorfinale ein Mythos.

    Klassische Musik ist nicht "ungeheuer" beliebt, und ohne Förderung gibt es keine Aufführung von Beethoven-Sinfonien!

    Das ist eine sehr deutsche Sicht. Eine solche öffentliche Förderung gibt es in den USA oder in China wohl auch nicht. In Japan hat sich bis zum heutigen Tag die Begeisterung für die 9. erhalten mit unzähligen Aufführungen. Sie ist eben mehr als eine "normale" Symphonie, die man ab und zu auch mal spielt.

  • Zum "Beethoven-vom-Sockel-stoßen": Ein sehr bekanntes Dokument ist Mauricio Kagels Film "Ludwig van" von 1970. Damals war das vielleicht provokativ, nach Jahrezehnten der Kanon-Diskussion, der Bemühung, eine Unterscheidung zwischen Populärmusik und "ernster Musik" aufzuheben, die allmählich auch den Bereich der Kulturförderung erreicht (es gibt eine Initiative von Populärmusikschaffenden, bei der auch Vertreter des Schlagers beteiligt sind, die eine Angleichung der Förderung fordern), glaube ich nicht, dass der Sockel noch eine nennenswerte Rolle spielt.

  • Ich wollte ja schon schreiben, dass ich den Eindruck habe, dass Du etwas in der Vergangenheit lebst ... so in den 60er-Jahren mit Stockhausen quasi, als die klassische Musik noch etwas galt und aktuelle Tendenzen allgemein wahrgenommen wurden - Stockhausen eben war doch ein Begriff. Heute lebende Komponisten werden weder von Philosophen noch von Künstlern anderer Gebiete gekannt, geschweige denn vom Feuilleton. Und dass im 2. Weltkrieg ein Beethoven-Mythos rankte, ist auch etwas für Historiker.

    Die "klassische Musik" heißt so, weil ihr Höhepunkt in der Zeit des Barocks, der Klassik und der Romantik lag. Mit dem Ende der großen Symphonik, Mahler und Bruckner, endet auch ihre Hochphase, in der Oper mit Strauss. Wie auch in vielen anderen Kunstgattungen und Kulturbereichen (Lyrik, Epik, Architektur) die kulturellen Höhepunkte in der Vergangenheit liegen.

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Das ist eine sehr deutsche Sicht. Eine solche öffentliche Förderung gibt es in den USA oder in China wohl auch nicht. In Japan hat sich bis zum heutigen Tag die Begeisterung für die 9. erhalten mit unzähligen Aufführungen. Sie ist eben mehr als eine "normale" Symphonie, die man ab und zu auch mal spielt.

    Ich kenne mich in den USA nicht aus.

    https://link.springer.com/chap….1007/978-3-322-85836-8_7


    "Die bundesstaatlichen Zuschüsse machen in den USA zwar nur einen Bruchteil der gesamten Kulturfinanzierung aus, sie haben aber eine wichtige Signalfunktion für das private Engagement."


    "Mittlerweile haben sich die Wellen zwar wieder gelegt und die bundesstaatliche Förderung wird im wesentlichen beibehalten, aber aufgrund der Rezession bleibt der Kultursektor auch weiterhin nicht frei von ökonomischen Schwierigkeiten."


    Ob sich der Red-Bull-Erbe eine Beethoven-Sinfonie zur Selbstverherrlichung finanzieren würde?

    :untertauch:

  • Die "klassische Musik" heißt so, weil ihr Höhepunkt in der Zeit des Barocks, der Klassik und der Romantik lag. Mit dem Ende der großen Symphonik, Mahler und Bruckner, endet auch ihre Hochphase, in der Oper mit Strauss. Wie auch in vielen anderen Kunstgattungen und Kulturbereichen (Lyrik, Epik, Architektur) die kulturellen Höhepunkte in der Vergangenheit liegen.

    Mir ging es darum, welchen Stellenwert die klassische Musik in der Gesellschaft hat. Dieser ist seit den 60ern stark zurückgegangen. Das Beispiel Stockhausen habe ich gewählt, da Holger oft auf Stockhausen Bezug nimmt.

  • Stockhausen war nicht deshalb in der Breite bekannt, da er breitentaugliche Musik komponiert hätte, sondern weil in den 50er/60er-Jahren die klassische Musik auch über "Kenner-Kreise" hinaus als wichtig angesehen wurde.


    Dass Komponisten, die heute leben, Stockhausens Bekanntheit nicht einmal ansatzweise haben, liegt nicht daran, dass die "Hochphase" der "klassischen Musik" im "Barock" lag ;), sondern daran, dass die klassische Musik generell zu einem Hobby für Schrullige degradiert wurde.

  • Zum "Beethoven-vom-Sockel-stoßen": Ein sehr bekanntes Dokument ist Mauricio Kagels Film "Ludwig van" von 1970. Damals war das vielleicht provokativ, nach Jahrezehnten der Kanon-Diskussion, der Bemühung, eine Unterscheidung zwischen Populärmusik und "ernster Musik" aufzuheben, die allmählich auch den Bereich der Kulturförderung erreicht (es gibt eine Initiative von Populärmusikschaffenden, bei der auch Vertreter des Schlagers beteiligt sind, die eine Angleichung der Förderung fordern), glaube ich nicht, dass der Sockel noch eine nennenswerte Rolle spielt.

    Nur zwei Notizen (Wikipedia):


    Am 22. März 2014 zur Zeit der Annexion der Krim durch Russland spielten Mitglieder der Odessaer Symphoniker auf dem Fischmarkt von Odessa (Ukraine) im Rahmen eines Flashmobs die Ode an die Freude.


    Eine Kundgebung der Partei Alternative für Deutschland in Mainz wurde am 21. November 2015 durch wiederholte Darbietung der Ode an die Freude auf den Treppen und im Foyer des Staatstheaters gestört.[41] Das infolgedessen eingeleitete Verfahren gegen den Intendanten des Staatstheaters wegen Störung einer genehmigten Veranstaltung wurde später eingestellt.


    Sie wurde 2008 im Kosowo als provisorische Nationalhymne gespielt. Also hoch politisch ist die 9. und insbesondere das Chorfinale noch immer - steht als National- und Europahymne ganz oben auf dem Sockel. Und da will dann Jemand Kritik am Chorsatz üben? :D

  • Die "Ode an die Freude" losgelöst von der 9. Sinfonie ist natürlich ein Pop-Schlager. Um die ging es mir natürlich nicht.


    (Da hält aber auch der Sopran nicht 300 Takte lang das c4.)

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  • Wenn die "Ode an die Freude" als Statement gebracht wird, dann wird damit eine Bedeutung transportiert, so wie wenn jemand die "Internationale" singt. Das hat mit einer Würdigung des Komponisten Ludwig van Beethoven so wenig zu tun wie mit einer Würdigung des Komponisten Pierre Degeyter.

  • Wenn die "Ode an die Freude" als Statement gebracht wird, dann wird damit eine Bedeutung transportiert, so wie wenn jemand die "Internationale" singt. Das hat mit einer Würdigung des Komponisten Ludwig van Beethoven so wenig zu tun wie mit einer Würdigung des Komponisten Pierre Degeyter.

    Das ist dann aber so ähnlich wie bei Verdi und La Donna e mobile. Die Popularität macht ästhetische Betrachtungen wenig populär oder verhindert ästhetische Kritik. Eigentlich ist dieses Chorfinale in den letzten 200 Jahren genug gewürdigt worden, so dass ihm ein paar kritische Töne wohl nicht schaden können. :D

  • Die Popularität ist ja gerade ein Grund, darauf einzuschlagen. Und die Popularität der "Ode an die Freude" wäre für mich der letzte Grund, Beethoven zu verteidigen. Allerdings ging es darum ja gar nicht, sondern um andere Passagen, die vermeintlich "schlecht komponiert" seien.

  • Ich habe jetzt mal in Cooks Buch von 1993 über Beethovens 9. reingeschaut. Das Stück wurde stets als "cultural symbol" gesehen, erst wegen der Doppelfuge als deutsches, heutzutage als "symbol of world unity". Da sieht man schon in der großen zeitlichen Dimension die Abnahme der Bedeutung der Musik selbst, denn die Weltenvereinigung kommt aus dem Text, während die Doppelfuge noch etwas Musikalisches war.

  • Ich pflichte Kurzstückmeister bei und mache das an einem einfachen Beispiel fest: Bei den allfälligen Empfängen des Verbandes, für den ich damals arbeitete, war es vor 20 Jahren üblich, sich bei Tisch auch über kulturelle Dinge zu unterhalten. Es war für die ältere Generation selbstverständlich, Opernaufführungen zu besuchen, dafür auch zu reisen oder das mit Urlauben zu verbinden, ebenso Konzerte. Es gab Grundkenntnisse in Kunst, Musik und Literatur. Bei meiner Generation wurde die Luft schon dünn, die Gespräch drehten sich dann eher um Sport, Freizeit und die schönsten Strände in Urlaubsparadiesen, oder, wie ein junger Unternehmensnachfolger, über E-Autos und ihre Möglichkeiten. Für den Fall der Fälle gibt's die Reihe "Get Abstract", mit der man auf wenigen Seiten "Kernkompetenzen" in Literatur, Ökonomie oder Philosophie erhalten kann, ohne auch nur eines der Werke in Gänze lesen zu müssen. Damit die Unkenntnis nicht auffällt, gibt's auf den letzten Seiten die Rubrik "Wichtige Zitate aus dem Buch...". Seit Einführung des Privatfernsehens wird ein gerüttelt Maß der Bevölkerung geistig proletarisiert (aber jeder Tropf zu einem selbstbewussten Individuum erklärt). Da gehört es fast zum guten Ton, sich über klassische Musik lustig zu machen. Für Literatur gilt übrigens das Gleiche, und manchmal gewinne ich den Eindruck, dass Menschen ihre Unbildung gar nichts ausmacht.


    Es ist schon richtig, dass die Kulturförderung in Deutschland noch größer ist als anderswo. Aber die immerhin vorhandene Möglichkeit, Kultur breitesten Kreisen zu öffnen verpufft am Unwillen ebenjener Wunschzielgruppe. Wenn dann noch André Rieu die "Ode an die Freude"verhunzt und regelrecht schändet erhält man eine grobe Vorstellung von der Wertschätzung von klassischer Musik.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Es wundert mich, daß die "Europahymne" hier bisher nicht erwähnt wurde, ebenso die Verwendung als gemeinsame Hymne der gesamtdeutschen Olympioniken und wohl auch bei anderen Sportveranstaltungen.

    Der spanische Sänger Miguel Rios sang die Melodie unter dem Titel "A Song of Joy", der als Schlager sogar in Deutschland Spitzenplätze belegte. Das ist allerdings ein Modetrend der 70-er und 80-er gewesen, wo besonders Freddy Breck etliche Klassiktitel als Schlager mißbrauchte.

    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Es wundert mich, daß die "Europahymne" hier bisher nicht erwähnt wurde, ebenso die Verwendung als gemeinsame Hymne der gesamtdeutschen Olympioniken und wohl auch bei anderen Sportveranstaltungen.

    Darin drückt sich allerdings keine Wertschätzung von Ludwig van Beethoven, seinem Schaffen, der 9. Sinfonie oder ihrem Schlusssatz aus, es gilt der einprägsamen Melodie, und die Hymne existiert unabhängig von ihrem Schöpfer als politisches Konstrukt. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der Eurovisionsfanfare, von der ja auch kaum jemand ihren Schöpfer kennt und das Werk, aus dem sie entnommen wurde. Oder die deutsche Nationalhymne. Das alles hat nichts mit Wertschätzung klassischer Musik zu tun, sondern eher mit der Enteigung ihres Schöpfers um sein Werk.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ich möchte nach Hören meiner CDs den 4. Satz auch nicht mehr negativ sehen. Bei einigen Dirigenten hört sich das für meine Laienohren doch recht gut an, z.B bei Fricsay und Järvi ( Bremen ) Und es hat auch sehr geholfen hier mit zu lesen.


    Kalli

  • Ich schließe mich dem Kollegen kalli an. Es ist also absolut wichtig, über die Werke und in diesem Falle eben über die Bedeutung des Chores nachzudenken. Das spitzt die Ohren!


    Seit Einführung des Privatfernsehens wird ein gerüttelt Maß der Bevölkerung geistig proletarisiert (aber jeder Tropf zu einem selbstbewussten Individuum erklärt


    Das ist das Erstaunliche! Es wird einem an jeder Straßenecke erzählt, wie besonders man ist. Warum sollte man sich mit dem Verständnis von irgendwas abmühen? ... Das wäre man doch dumm ;)



    BTW: kalli Den Martynov würde ich nicht vergessen ..... :)

  • Die Popularität ist ja gerade ein Grund, darauf einzuschlagen. Und die Popularität der "Ode an die Freude" wäre für mich der letzte Grund, Beethoven zu verteidigen. Allerdings ging es darum ja gar nicht, sondern um andere Passagen, die vermeintlich "schlecht komponiert" seien.

    Ich hatte mal eine interessante Begegnung mit einem Komponisten und Musikwissenschaftler bei einer Konferenz, der mir erklärte, dass die Fugen bei Mahler im Vergleich mit Bruckner handwerklich schlecht komponiert seien. Bruckner war Schüler von Simon Sechter (der ist der Inbegriff des Wiener Akademismus ^^ ) und es ist klar, dass er von daher eine Fuge handwerklich perfekt komponieren kann. Und die Analyse kann dann herausbringen, dass das bei Mahler nicht so ist. Also warum soll man nicht sagen dürfen, dass ein Chorsatz bei Schütz oder Bach chorisch-handwerklich besser komponiert ist als bei Beethoven? Die Frage ist letztlich aber immer die nach der Vergleichshinsicht. Ästhetisch ist damit nämlich noch nicht viel ausgesagt. Warum sind die Fugen bei Mahler nicht perfekt durchkomponiert? Mahler selbst deutet die Fuge als Ausdruck von Chaos und die Vielstimmigkeit als Sinnbild einer babylonischen Sprachverwirrung. Zu dieser ausdrucksästhetischen Dimension des Chaos passt letztlich keine super geordnete, perfekt auskomponierte Fuge. Der Vergleich ist also abstrakt und berücksichtigt das eigentlich ästhetisch Wesentliche nicht. Bei Beethoven ist es ähnlich. Da wird ein Chorsatz als Symphoniesatz komponiert. Rein chorisch betrachtet kann das "schlechter komponiert" sein als Schütz oder Bach, aber das trifft dann nicht die ästhetische Bedeutung, die dieser Chorsatz bei Beethoven hat.


    Ich habe jetzt mal in Cooks Buch von 1993 über Beethovens 9. reingeschaut. Das Stück wurde stets als "cultural symbol" gesehen, erst wegen der Doppelfuge als deutsches, heutzutage als "symbol of world unity". Da sieht man schon in der großen zeitlichen Dimension die Abnahme der Bedeutung der Musik selbst, denn die Weltenvereinigung kommt aus dem Text, während die Doppelfuge noch etwas Musikalisches war.

    Ich habe mich ja ausführlich mit der Beethoven-Rezeption insbesondere in Deutschland beschäftigt. Das begann bereits während meines Studiums, wo ich im Rahmen einer Konzertreihe der Aufführung sämtlicher Beethoven-Sonaten einen Vortrag hielt zu genau dem Thema dabei auf Richard Wagners Beethoven-Novelle. Die Rezeption der Symphonien Beethovens war immer sehr ideologielastig. Das "Außermusikalische" mit Hanslick gesprochen dominierte: Beethovens Symphonien als "Reden an die deutsche Nation". Bezeichnend wurde die 9. heroisch im Zusammenhang mit der "Eroica", der 3., rezipiert. Von daher ist es wirklich schon eine Befreiung, wenn man heute ganz ohne diesen ideologischen Ballast der traditionellen Beethoven-Rezeption über das spzifisch-musikalische Problem diskutiert, ob dieser Chorsatz nun gelungen ist oder nicht.

    Darin drückt sich allerdings keine Wertschätzung von Ludwig van Beethoven, seinem Schaffen, der 9. Sinfonie oder ihrem Schlusssatz aus, es gilt der einprägsamen Melodie, und die Hymne existiert unabhängig von ihrem Schöpfer als politisches Konstrukt. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der Eurovisionsfanfare, von der ja auch kaum jemand ihren Schöpfer kennt und das Werk, aus dem sie entnommen wurde.

    Politische Konstrukte gab es aber in der Rezeption insbesondere des Chorfinales schon immer.


    Ich pflichte Kurzstückmeister bei und mache das an einem einfachen Beispiel fest: Bei den allfälligen Empfängen des Verbandes, für den ich damals arbeitete, war es vor 20 Jahren üblich, sich bei Tisch auch über kulturelle Dinge zu unterhalten. Es war für die ältere Generation selbstverständlich, Opernaufführungen zu besuchen, dafür auch zu reisen oder das mit Urlauben zu verbinden, ebenso Konzerte. Es gab Grundkenntnisse in Kunst, Musik und Literatur. Bei meiner Generation wurde die Luft schon dünn, die Gespräch drehten sich dann eher um Sport, Freizeit und die schönsten Strände in Urlaubsparadiesen, oder, wie ein junger Unternehmensnachfolger, über E-Autos und ihre Möglichkeiten. Für den Fall der Fälle gibt's die Reihe "Get Abstract", mit der man auf wenigen Seiten "Kernkompetenzen" in Literatur, Ökonomie oder Philosophie erhalten kann, ohne auch nur eines der Werke in Gänze lesen zu müssen. Damit die Unkenntnis nicht auffällt, gibt's auf den letzten Seiten die Rubrik "Wichtige Zitate aus dem Buch...".

    In diese Klage stimme ich mit Dir gerne ein, nur trifft das alles nicht einen Chorsänger, der klassische Werke nicht nur passiv rezipiert, sondern aktiv mit zur Aufführung bringt und sich auch nicht weigert, Beethoven zu singen, nur weil er dessen Chorsätze nicht ganz so gerne singt wie andere. :D


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Von daher ist es wirklich schon eine Befreiung, wenn man heute ganz ohne diesen ideologischen Ballast der traditionellen Beethoven-Rezeption über das spzifisch-musikalische Problem diskutiert, ob dieser Chorsatz nun gelungen ist oder nicht.

    Das glaube ich Dir gerne, allerdings hatte ich ja schon geschrieben, dass die Befreiung von dem Balast nun schon recht lange zurückliegt. Und wenn jemand behauptet, Beethoven hätte schlecht komponiert, so reagiere ich genauso, wie wenn Josquin oder Debussy das Opfer wäre.

  • Zum anderen ist die Behauptung, dass nur die musikwissenschaftliche Analyse ein ästhetisches Urteil fundieren kann, mithin nur Musikwissenschaftler sich ästhetische Urteile erlauben dürften, natürlich grotesk falsch.


    Ich mache mal einen praktischen Vorschlag: Für jede Wiederholung dieser Strohmann-Behauptung (die niemand formuliert hat, aber die dessen ungeachtet fleißig widerlegt wird) zahlt der Autor der Wiederholung 10 € in die Forums-Kasse ein. Bei der momentanen Wiederholungs-Frequenz dürfte in ca. einem Jahr so viel Geld gesammelt worden sein, dass Alfred uns alle in Wien zum Abendessen im Sacher einladen kann. Deal? ;)


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Generell setzt ein ästhetisches Urteil die Erfassung einer ästhetischen Idee voraus. Kein Ästhetiker von Rang und Namen, also weder ein Kant, noch ein Hegel usw. haben jemals behauptet, dass dafür wissenschaftliche Kenntnisse und Analysefähigkeit die Voraussetzung ist. Das ästhetische Urteil ist schließlich ein Geschmacksurteil und kein Erkenntnisurteil (die grundlegende Unterscheidung macht die Kritik der Urteilskraft und die sollte ein "Intellektueller" kennen) - entsprechend braucht man zur Erlangung von ästhetischen Urteilsfähigkeit auch kein Wissenschaftler zu sein oder zu werden.

    Also soweit ich mich erinnere unterscheidet Dahlhaus zwischen Geschmacksurteil und Sachurteil. Bei Kant gibt es offenbar die Unterscheidung zwischen "Sinnen-Geschmack" und "Reflexions-Geschmack". So simpel wie Du das hier machst, wird das glücklicherweise von den Heroen des Nachdenkens über Musik nicht betrieben.

  • Der schöne Chorsatz - das stimmige, harmonische Zusammenstimmen aller Stimmen - ist ein intuitives Erlebnis und keine abstrakte Verständigkeit kommt jemals im Leben dahin, dies zu verstehen, wenn man es nicht zuvor schon intuitiv erfasst hat.

    Das klingt für mich nicht nur nicht analytisch sondern auch nicht philosophisch.

    Intuitiv kann doch jeder irgendwas als schön empfinden. Auf dieser Basis gibt es kein intersubjektives Unterscheiden eines "schönen Chorsatzes" von einem "schiarchen".

  • Das klingt für mich nicht nur nicht analytisch sondern auch nicht philosophisch.

    Intuitiv kann doch jeder irgendwas als schön empfinden. Auf dieser Basis gibt es kein intersubjektives Unterscheiden eines "schönen Chorsatzes" von einem "schiarchen".

    Da kann ich nur sagen, Kants Kritik der Urteilskraft lesen. Die ist aber unter Philosophen berühmt-berüchtigt als seine schwerste Schrift...

  • Intuitiv kann doch jeder irgendwas als schön empfinden. Auf dieser Basis gibt es kein intersubjektives Unterscheiden eines "schönen Chorsatzes" von einem "schiarchen".


    Genau, das wäre dann sozusagen die maximale Potenzierung postmoderner Beliebigkeit. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen dem Chorsatz aus der Neunten und einem von den Fischer-Chören einstimmig gesungenen Volkslied, sondern jegliche diesbezügliche Kategorisierung ist lediglich ein Ausdruck kolonialistisch-rassistisch-patriarchal-ableistisch-heteronormativ geprägter Machtstrukturen. ;)


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich glaube, der Komponist hat einfach nur Käse verzapft …

    Das ist nun einfach eine subjektive Wertung ohne Grundlage. Wenn Du das behauptest, musst Du unterstellen, dass besagter Komponist ein schlechter Komponist ist, weil er nicht weiß, was eine "gut gemachte" Fuge ist und er Fugen nicht richtig analysieren kann. Ich maße mir so etwas nicht an, weil so etwas unseriös ist und sich für meinen bescheidenen Geschmack nicht gehört. Er hat ja eine Fuge von Bruckner mit einer von Mahler verglichen und gesagt, Mahler habe im Unterschied zu Bruckner seine Fugen nicht richtig auskomponiert, sie seien also kompositionstechnisch nicht von der Qualität Bruckners. Mich interessiert als Ästhetiker wie gesagt nicht diese kompositionstechnische Frage an sich. Ästhetisch entscheidend ist eben, was die Fuge bei Bruckner und was sie bei Mahler bedeutet. Das bezieht ein rein kompositionstechnischer Vergleich nicht ein und bleibt damit abstrakt. Ich kann es somit dahingestellt sein lassen, ob diese kompositionstechnische Aussage nun richtig oder nicht richtig ist. Das ist gar nicht die für die Ästhetik interessante Frage.

  • Das ist nun einfach eine subjektive Wertung ohne Grundlage. Wenn Du das behauptest, musst Du unterstellen, dass besagter Komponist ein schlechter Komponist ist, weil er nicht weiß, was eine "gut gemachte" Fuge ist und er Fugen nicht richtig analysieren kann. Ich maße mir so etwas nicht an, weil so etwas unseriös ist und sich für meinen bescheidenen Geschmack nicht gehört. Er hat ja eine Fuge von Bruckner mit einer von Mahler verglichen und gesagt, Mahler habe im Unterschied zu Bruckner seine Fugen nicht richtig auskomponiert, sie seien also kompositionstechnisch nicht von der Qualität Bruckners.


    Mich würde die entsprechende Analyse dieses Komponisten durchaus interessieren. Eine Annahme von Richtigkeit allein auf Basis von Autorität (weil es halt ein Komponist gesagt hat), ist mir hier zu wenig. Stockhausen merkte über den "Tristan" mal an, dass das Vorspiel ganz brauchbar, aber der Rest überflüssig sei. Die Aussage ist Käse, auch wenn sie von einem genialen Komponisten getätigt worden ist.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

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