Theologische Bachforschung

  • Weil das die theologisch Denkweise ist bzw. weil Geisteswissenschaft so funktioniert. Theologische Chiffren wurden durch die Jahrhunderte verwendet, wir können bei einem so speziellen Begriff nahezu sicher sein, dass er auf den Ursprung - in diesem Fall Augustin abhebt.

    Deine Definitionen finde ich zu schubladenhaft. Es gibt ja nicht 'den Pietismus'. Diese Strömungen gehen auseinander hervor und ineinander über, sie entwickeln sich und die daraus resultierende Frömmigkeit führt ein Eigenleben.

    Arndt gilt übrigens unumstritten als Vorreiter des Pietismus und wird besonders im frühen Pietismus viel gelesen und rezipiert. Da muss man nicht allzu vorsichtig sein.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Schubladenhaft? Und woher weißt du, dass der Verfasser des Textes von BWV126 diese "theologischen Chiffren" verwendet hat? War er ein Theologe? Oder ist das eine theologische Schublade?^^

  • Wissen kann man es bei einem unbekannten Textdichter nicht. Aber es ist übliches Vorgehen und damit sehr wahrscheinlich, nicht mehr aber auch nicht weniger.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Na wenn du meinst ;)

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • So hat es in den letzten Jahren viele neue Erkenntnisse über Bachs Sakralmusik gegeben die auch in religionsästhetische und letztlich sogar praktisch- und systematisch theologische Diskurse eingegangen sind.

    In diesem Thread möchte ich einfach mal einen Einblick in diese kleine Nische geben und vielleicht kommt es ja auch zum Meinungsaustausch.

    Ich finde die Thematik sehr spannend und habe diesen Thread erst jetzt entedeckt. Ich wollte mich schon immer intensiver mit den Kantaten beschäftigen, die ich sehr liebe und bewundere. Es sind Meisterwerke von unglaublicher Schönheit, die auch mich als Atheisten tief berühren. Leider habe ich keine Zeit und auch kein Wissen, hier etwas beizutragen, aber ich lese gerne mit.


    Das Geheimnis dieser Werke liegt glaube ich darin, dass sie eine sehr tiefgehende Auseinandersetzung mit schwer auslotbaren Themen wie Trauer, Verlust und Tod bezeugen. Also Themen, denen man sonst lieber aus dem Weg geht.


    Bach hat sich ihnen über diese religiöse Chiffren, wie Du das nennst, immer wieder genähert. Dabei ist es mir ein Rätsel, wie er diese berührenden Zeugnisse, die so unvergleichlich schön von Liebe und Vergebung erzählen, gerade im christlichen 'Diskurs' finden konnte - aber zweifelsohne hat er sie dort gefunden.


    Viele Grüße

    Christian

  • Für mich ist dieser Thread eine Entdeckung. Obwohl Bach einer meiner Lieblingskomponisten ist, ist sein Kantatenwerk für mich völliges Neuland. Die historische Einordnung finde ich spannend!

  • Für mich ist dieser Thread eine Entdeckung. Obwohl Bach einer meiner Lieblingskomponisten ist, ist sein Kantatenwerk für mich völliges Neuland. Die historische Einordnung finde ich spannend!

    Wenn das für Dich noch Neuland ist, hast Du die wunderbarsten Entdeckungen vor Dir, um die Du zu beneiden bist!
    Meine erste Kantaten CD war diese mit Herreweghe und sie gehört für mich auch heute noch zu den schönsten:

    Kantaten Bwv 39 / 73 / 93 / 105 / 107 / 131 https://amzn.eu/d/a1CsBkK


    Viele Grüße, Christian

  • Maarten t´Hart, der niederländische Schriftsteller, hat viel über Bach geschrieben, besonders über die Kantaten.

    Er stellte fest, dass die Trauermusiken und Lamenti Bach viel besser, weil intensiver, gelungen sind als die freudige Musik. Er meinte, dass das auch an Bachs Lebensumständen gelegen haben muss, bei denen Schmerz, Verlust und Tod wie bei fast allen Menschen damals prägender waren als Freude und Glück. Manchmal denke ich, das ist auch heute noch so. Wenn ich so über die Musiken in meinem Leben nachdenke, so sind es doch die Schmerzen, die die bessere Musik haben. Das bedeutet, dass die Ursache nicht bei Bach speziell in seinen Lebensumständen ist, sondern dass das bis heute eine Grundbefindlichkeit ist. Johannes Brahms hat es so ausgedrückt: "Das Leben raubt uns mehr als der Tod!"

    Einige Beispiele, die natürlich nur für mich gelten.

    -Cavallis Arien, der wie auch Monteverdi vor ihm, als Erfinder des Lamentos gilt.

    - Heinrich Schütz mit seinen musikalischen Exequien, den Lamenti in der Geistliche Chormusik und den Psalmen Davids. Es gibt kaum etwas Herzzerreißenderes als "Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehöret... Rahel beweinete ihre Kinder und wollte sich nicht nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen..." Oder die Klage des alternden David über den Tod seines Lieblingssohnes Absalom: "Mi fili Absalon".

    Gustav Mahler: "Nicht wiedersehn", der "Abschied", "Lieder eines fahrenden Gesellen", Kindertotenlieder.

    Und meine beiden allerschönsten, allertraurigsten Bachkompositionen: "Schlummert ein, ihr matten Augen" und "Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine...."

    Ein Mann kommt in eine Buchhandlung. "Ich hätte gerne Goethes Werke!" Der Buchhändler fragt: "Welche Ausgabe?" Der Mann: "Da haben Sie auch wieder Recht!" Er geht.

  • Meine erste Kantaten CD war diese mit Herreweghe und sie gehört für mich auch heute noch zu den schönsten:

    Kantaten Bwv 39 / 73 / 93 / 105 / 107 / 131

    Ich habe gestern noch bestellt. Ich werde versuchen, ein paar Gedanken nachzuvollziehen, aber in erster Hinsicht, wie immer, die Musik auf mich wirken lassen. Vielen Dank für Deinen Tipp!

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  • Ich habe gestern noch bestellt. Ich werde versuchen, ein paar Gedanken nachzuvollziehen, aber in erster Hinsicht, wie immer, die Musik auf mich wirken lassen. Vielen Dank für Deinen Tipp!

    Dazu empfehle ich als Einstiegsdroge noch die Estomihi-Kantaten mit Herreweghe. Ich finde, dass es für keinen anderen Sonntag ein derartig hohes Niveau an Meisterwerken gibt.

    Musik wirken lassen ist auch für mich immer das erste und wichtigste. Gleichzeitig gilt ja oft - und bei Bach besonders - wer mehr weiß, hört mehr. Ein paar Gedanken zu einzelnen Sätzen schreibe ich aktuell auch immer mal in den Threads der jeweiligen Kantaten. :hello:


    Aktuell ist meine Empfehlung beim Werbepartner nicht zu haben, aber sicherlich anderswo und auf yt.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Im Klemperer-Thread kam die Frage auf, welche Bedeutung Albert Schweitzer in der Bachforschung heute beizumessen ist.


    Ein Berliner Alttestament-Prof sagte mal im Studium über die im letzten Jahrhundert hochgeschätzten Werke Gerhard von Rads: "Das sind gute Bücher! Lesen Sie das und wenn Sie es fertig gelesen haben, dann stellen Sie es wieder ins Bücherregal - aber zu den Romanen." Etwas drastisch, aber ungefähr der heutige Rang von Schweitzers Bachforschung. Dabei ist der Umgang mit Schweitzer in der Regel zurecht sehr respektvoll - nur ist sein Stand eben überholt. Die neue Fassung seiner Bach-Monographie ist inzwischen 115 Jahre alt. Besonders die Datierung und Zuordnung der Kantaten ist inzwischen völlig überholt. Den Diskurs bereichert hat Schweitzer allerdings durchaus wirkmächtig, denn bis heute verwendete Umschreibungen der (theologischen) Bedeutung Bachs Musik gehen auf ihn zurück; etwa der konsequente Gebrauch von "Klangrede", der sich heute völlig durchgesetzt hat oder nicht zuletzt das so treffende Bonmot vom "Fünften Evangelisten". 1908 war Schweitzer zudem einer der ersten, die sich im Kontext von Bachs Musik mit Affektenlehre, Symbolik und Leitmotivik beschäftigt haben.

    Man wird also festhalten können, dass Schweitzers Arbeiten (Monographie und Vorträge) zu Bach heute weitgehend überholt sind, aber ein sehr wichtiger Teil der Bachforschung sind, die relativ lange auch ziemlich wirkmächtig waren.


    Als Interpret Bachscher Orgelwerke ist Schweitzer überdies ja ein bekannter Teil der Aufführungsgeschichte Bachscher Musik. Im Elsass, besonders im schönen Straßburg, weist man an verschiedenen Orgeln darauf hin. Sein Orgelspiel gilt dabei heute als sehr informiert und durchaus HIP: Sprich Schweitzer sah Bachs Orgelmusik eher als strenge Architektur, denn als Gefühlserleben und spielte sie deshalb sehr gleichmäßig und wenig expressiv. Er setzte sich für den deutlicheren Niederschlag der Terrassendynamik in der Registrierung ein und argumentierte zunächst vollständig gegen Schwellergebrauch und mahnte später zum maßvollen Gebrauch. Seine Bedeutung als Interpret ist letztlich heute wirkmächtiger und noch wichtiger einzuschätzen, als seine Arbeit als Bachforscher.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Er stellte fest, dass die Trauermusiken und Lamenti Bach viel besser, weil intensiver, gelungen sind als die freudige Musik. Er meinte, dass das auch an Bachs Lebensumständen gelegen haben muss, bei denen Schmerz, Verlust und Tod wie bei fast allen Menschen damals prägender waren als Freude und Glück.

    [...]

    Das bedeutet, dass die Ursache nicht bei Bach speziell in seinen Lebensumständen ist, sondern dass das bis heute eine Grundbefindlichkeit ist. Johannes Brahms hat es so ausgedrückt: "Das Leben raubt uns mehr als der Tod!"

    Wenngleich mir auch unzählige Stellen einfallen, in welchen der freudige Bach zu überzeugen weiß, so ist die Grundeinsicht sicher richtig. Einerseits mag Bach als Barockmensch und mit seinem von Verlusten gezeichneten Leben (freilich auch eher normal zu seiner Zeit) eine gewisse Vanitas-Lebenseinstellung gehabt haben. Andererseits denke ich dass du Recht hast und es eher in der Conditio humana begründet liegt und in der Beschaffenheit von Kunst im allgemeinen: Der Ausdruck des Gebrochenen, Fragmentarischen und Traurigen - des Abgründigen also bietet mehr Raum und letztlich vielleicht auch mehr Notwendigkeit für (ästhetische) Verarbeitung als der Ausdruck von Freude und Glück, welcher sich schneller erschöpfen mag.


    Dazu schrieb ja auch Christian:

    Das Geheimnis dieser Werke liegt glaube ich darin, dass sie eine sehr tiefgehende Auseinandersetzung mit schwer auslotbaren Themen wie Trauer, Verlust und Tod bezeugen. Also Themen, denen man sonst lieber aus dem Weg geht.


    Diese Anmerkungen nehme ich zum Aufhänger nochmal auf das Spezifikum der Sterbekantaten und vergleichbarer Sätze in verschiedensten Kantaten zu sprechen zu kommen.

    Die mit ihnen verbundene Todessehnsucht der barocken Dichtung und Kunst ist einerseits Kennzeichen der Epoche, andererseits eben auch Ausdruck der oben genannten abgründigen Seiten des Lebens. Und gerade in der Thematisierung derselben gelingt es Bach ja sehr häufig, Trost zu vermitteln.

    Vanitas und Memento mori sind Kennzeichen einer bereits im alttestamentlichen Buch Kohelet (Prediger Salomo) zu findenden pessimistischen bzw. ernüchterten Weltsicht. Die Erkenntnis der Vergänglichkeit aller Dinge führt in der Weltsicht des alten Israels zu dem Urteil: "Alles ist eitel" (Luthers Übersetzung für Nichtigkeit). Auf diese evidente, weil empirisch erfahrene Erkenntnis gibt es verschiedene Reaktionsmöglichkeiten. Auf der einen Seite Resignation und Pessimismus. Auf der anderen Seite erst einmal eine Konzentration auf das Hier und Jetzt - weil es das einzige ist worauf es dann noch ankommt. Dass in der Geistesgeschichte dieses Vanitas-Moment genau umgekehrt erscheint - also alle Hoffnung auf das Jenseits, liegt an der christlichen Transformation des älteren, jüdisch-orientalischen Gedankens. Das Christentum erweitert die Endlichkeit des menschlichen Lebens (im Judentum gibt es den Gedanken der Sche'ol aber keine ausformulierte Jenseitshoffnung) um das 'Ewige Leben' und überhöht dieses mit göttlichen Kategorien. Die Abwesenheit alles Vergänglichen und Abgründigen in diesem ewigen Jenseits kehrt aber die Vorzeichen vollständig um: Erstrebenswert ist nun dieses Jenseits und eben nicht das 'eitle', also nichtige diesseitige Leben. Je dunkler und abgründiger dieses Leben wird, desto heller erscheint das erhoffte Leben nach dem Tod als Gegenwelt. Da die Vanitas-Einstellung im Barock u.a. durch äußere Gegebenheiten einen Höhepunkt erreicht, konzentrieren sich Theologie und (christliche) Dichtung auf diese Jenseitshoffnung. Dort, wo es keinen 30jährigen Krieg, keinen Hunger, keine Kindersterblichkeit und keine Gewalt gibt muss alles nach dem Tod besser werden. Mit diesem Grundgerüst verbindet sich im Barock in allen Kunstsparten Vergänglichkeit und Schönheit - erstmals entsteht eine Ästhetik des Abgründigen, wenn auch noch nicht in romantischer Konsequenz.


    In Bachs Werk findet sich diese Ästhetik immer wieder. Einerseits in den spezifischen Sterbekantaten für Trauerfeiern, wie am bekanntesten im 'Actus tragicus' BWV 106, aber auch BWV 157. Im berühmten Actus, der wahrscheinlich noch aus Mühlhäuser Zeit stammt und noch einem älteren Kantaten-Typus angehört, wird die Schrift ganz lutherisch zunächst nur mit der Schrift ausgelegt. Auf alttestamentliche Aussagen folgen neutestamentliche: "Es ist der alte Bund: Mensch du musst sterben" - "In deine Hände befehle ich meinen Geist [...] Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein". Kunstvoll fügt Bach in diesem genialen Eingangssatz mehrere Schichten übereinander um im Laufe der Kantate zu dem Ergebnis zu kommen: "Mit Fried und Freud fahr ich dahin". Das Ende ist etwas Gutes - eine typische Aussage für Trauerfeiern dieser Zeit.


    Hinzu kommen die klassischen Sterbekantaten BWV 84, 27, 95, 8 und 161. Diese Werke gehören (bis auf BWV 84) alle zum 16. Sonntag nach Trinitatis. Die Textdichter nehmen sämtlich das Evangelium der Auferweckung des Jünglings zu Naim aus Lukas 7, 11-17 zum Anlass für diese Thematik. Gerade hierin zeigt sich diese barocke Einstellung: Auf Grundlage dieses Textes ließe sich entweder die Auferweckung und damit das irdische Leben feiern - oder über die Vergänglichkeit des Lebens an sich nachdenken. Es geschieht konsequent zweiteres.


    "Komm du süße Todesstunde, [...] mach meinen Abschied süße" (BWV 161, 1. Satz, Arie)

    "Mein Verlangen ist, den Heiland zu empfangen und bei Christo bald zu sein (BWV 161, 3. Satz, Arie)

    "Der Schluss ist schon gemacht. Welt - Gute Nacht! Und kann ich nur den Trost erwerben, in Jesu Armen bald zu sterben" (BWV 161, 4. Satz, Rec)

    "Wenn es meines Gottes Wille, wünsch ich dass des Leiebes Last heute noch die Erde fülle" (BWV 161, 5. Satz, Arie)

    "Mit Freuden, ja mit Herzenslust, will ich von hinnen scheiden" (BWV 95, 1. Satz, Scena)

    "Nun falsche Welt! Nun hab ich weiter nichts mit dir zu tun" (BWV 95, 2. Satz, Rec)

    "Ach schlage doch bald, selge Stunde, den allerletzten Glockenschlag" (BWV 95, 5. Satz, Arie)

    "Liebster Gott wann werd ich sterben?" (BWV 8, 1. Satz, Chor)

    "Herrscher über Tod und Leben, mach einmal mein Ende gut" (BWV 8, 6. Satz, Choral)

    "Wer weiß, wie nahe mir mein Ende, hin geht die Zeit, her kommt der Tod" (BWV 27, 1. Satz, Choral)

    "Willkommen will ich sagen, wenn der Tod ans Bette tritt" (BWV 27, 3. Satz, Arie)


    Immer neue lyrische Umschreibungen und direkt formulierte Wünsche fallen den Textdichtern für die Sehnsucht nach dem irdischen Tod ein. Und immer wieder erfindet Bach gerade für diese Sätze berückende, traurige und tröstliche Musik von gewissermaßen jenseitiger Schönheit. Man muss sich verdeutlichen, dass diese Lebenseinstellung omnipräsent durch alle Gesellschaftsschichten ist. Von den Kirchengesangbüchern, bis zur Hofkunst finden sich diese Motive in großer Selbstverständlichkeit wieder.


    Weitere sehr bekannte Beispiele finden sich quer durch Bachs Kantatenschaffen für alle Anlässe: Als bekanntere Beispiele seien BWV 73, 82, 83, 57, 35 oder 156 genannt. Besonders die Nunc-dimittis-Kantaten BWV 82 und 83 stehen als weltbekannte Beispiele dieser Theologie und ihres ästhetischen Niederschlags an der Spitze der Bachpflege. "Ich habe genug" BWV 82 nennen nicht wenige Menschen als liebste Kantate und auch mir geht es ähnlich. Wie im Falle der Jünglingserweckung, wird auch hier das Evangelium zum Ausgangspunkt der Reflexion über die Vergänglichkeit des eigenen Lebens. Im dritten Canticum des Lukasevangelium besingt Simeon seine Freude darüber, als alter Mann noch das neugeborene Jesuskind gesehen zu haben und nun zufrieden sterben zu können. Als Identifikationsfigur für die barocke Gläubige Seele wird diese Aussage Simeons ein wenig umgedeutet: Das Sehen das Jesuskindes ist nun nicht mehr ursächlich für die Freude auf bzw. über den Tod. Indirekt besteht diese Freude freilich nur durch Jesu Heilstat, die ein gerechtgertigtes Ewiges Leben erst ermöglicht, doch wird auch hier die Todessehnsucht zum allgemeinen Merkmal aller Gläubigen.

    "Eile Herz voll Freudigkeit vor den Gnadenstuhl zu treten" (BWV 83, 3. Satz, Arie)

    "Ich habe genug [...] Nun wünsch ich noch heute mit Freuden von hinnen zu scheiden" (BWV 82, 1. Satz, Arie)

    "Schlummert ein ihr matten Augen, fallet sanft und ruhig zu" (BWV 82, 3. Satz, Arie)

    "Ich freue mich auf meinen Tod, ach hätt er sich schon eingefunden, da entkomm ich aller Not die mich noch auf der Welt gebunden (BWV 82, 5. Satz, Arie)


    Besonders letztere Arie ("Ich freue mich auf meinen Tod") fasst diese jenseitsorientierte Komponente der barocken Theologie kurz und b+ndig zusammen: Das Leben ist voller Gram, Elend und Sünde - Jesus hat den Tod besiegt und ein Ewiges Leben auch für die sündhafte menschliche Natur ermöglicht - in diesem Jenseits ist kein Leid und kein Tod mehr (Offenabrung) - das Jenseits ist das bessere Leben, es wird (sofort) herbeigesehnt.

    Ewiges Leben bedeutet für den gläubigen Barockmenschen also auf der einen Seite das Ende des irdischen Leids und auf der anderen Seite heilsame Gottesnähe und eine bessere Welt.


    Da ist es kein Wunder, dass Bach und viele andere Komponisten (im Barock und freilich auch anders konnotiert wieder in der Romantik) besondere Höhepunkte ihres Schaffens gerade an dieser 'Bruchkante' des Lebens erreichen.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Und immer wieder erfindet Bach gerade für diese Sätze berückende, traurige und tröstliche Musik von gewissermaßen jenseitiger Schönheit.

    Hallo Tristan, ja genau, hier gelingen ihm einige der schönsten Melodien. Das meinte ich. Du hast die Werke benannt.


    Besonders betörend finde ich auch das Duet in BWV 140, das aber nicht von einer Todessehnsucht handelt, sondern von einer Begegnung zwischen Jesus und dem Gäubigen im Diesseits, oder?


    Viele Grüße, Christian

  • Besonders betörend finde ich auch das Duet in BWV 140, das aber nicht von einer Todessehnsucht handelt, sondern von einer Begegnung zwischen Jesus und dem Gäubigen im Diesseits, oder?

    Über dieses Duett, welches auch für mich 'betörend' ist (vielleicht meine liebste Arie aller Kantaten) habe ich neulich hier etwas geschrieben. Vordergründig geht es nicht um Todessehnsucht, das stimmt. Viel mehr steht in mystischer Tradition die Vereinigung mit Christus im Vordergrund. Hier begegnen sich viele Ebenen, aber eben auch die Irdische: Im diesseitigen Leben soll Christus im Herzen getragen werden, soll nicht nur eine Begegnung, sondern eine Vereinigung (erotische Metaphern inklusive) stattfinden. Man findet diese Komponente recht häufig im Werk Bachs (z.B. "Mache dich mein Herze rein" aus der MP oder die komplette Kantate BWV 49), aber dieses Duett ist wohl der Gipfel.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ich denke, dass diese barocke Verherrlichung des himmlischen Lebens nach dem mühseligen auf der Erde auch ein Anlass für die Marxsche Religionskritik war, die sich ja in dem Schlagwort "Opium des Volkes" (ich hab das gerade nicht im Kopf, ob es so oder "Opium für das Volk" heißt) manifestiert.

    Ein anderer Autor (leider auch vergessen) nahm die Geschichte vom Jüngling zu Nain zum Anlass für eine vernichtende Kritik: dem armen Jüngling wurde damit der Tod gleich zwei Mal beschert

    Ein Mann kommt in eine Buchhandlung. "Ich hätte gerne Goethes Werke!" Der Buchhändler fragt: "Welche Ausgabe?" Der Mann: "Da haben Sie auch wieder Recht!" Er geht.

  • Ein toller Thread! Ich lerne unglaublich viel! Herzlichen Dank also noch einmal an Tristan! :)


    Dem möchte ich mich anschließen. Das ist eine große Bereicherung für das Tamino-Forum!

    Diese Kommentare freuen mich wirklich sehr! Ich wünsche ebenfalls einen möglichst erholsamen Sonntag! :)

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ich denke, dass diese barocke Verherrlichung des himmlischen Lebens nach dem mühseligen auf der Erde auch ein Anlass für die Marxsche Religionskritik war, die sich ja in dem Schlagwort "Opium des Volkes" (ich hab das gerade nicht im Kopf, ob es so oder "Opium für das Volk") manifestiert.

    Ein interessanter Punkt. Zur Religionskritikwelle des 19. Jh. führen natürlich unglaublich viele Faktoren. Tiefgreifende denkerische und religiöse Veränderungen durch die Aufklärung, durch Kant und Hegel, durch den Idealismus und die Veränderung des Materialbegriffes und und und. Marx äußert sich in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie in diesem Sinne, gewissermaßen anti-barock, wie du es gesagt hast: Die leidvolle Existenz wird durch "billige Vertröstung" auf das Jenseits erträglicher gemacht. Religion bezeichnet Marx vor allem deshalb als reine Ideologie, weil eben das irdische Leid, aus dem sie einen Ausweg sucht - mittels Kontingenzbewältigung und Jenseitstrost - gar nicht begründet bzw. ignoriert wird.

    Die gesuchte Stelle lautet: "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes." Marx meint also den sich insbesondere im Barock - z.B. im Werk Bachs - zeigenden Jenseitsglauben als reines selbstgenügsames Konstrukt zu entlarven. Man hat daraus folgenden Gedanken abgeleitet: Wenn das Elend der Welt als gegeben hingenommen wird, müsste auch der religiöse Trost als selbstgegeben verstanden und nicht verherrlicht werden. In einem System aber, das die Ursache des Leids - die in letzter Konsequenz ja auch Gott sein müsste - nicht als systemimanent benennt oder erklärt, ist die angebotene Lösung nur Selbstzweck, nur eine Droge zur Beruhigung.

    Insofern würde ich dir beipflichten, dass die religiöse barocke Todessehnsucht ein Mitauslöser der etwa ein gutes Jahrhundert später einsetzenden Religionskritik ist.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Dem Lob möchte ich mich unbedingt anschließen. Für mich ist das besonders wichtig, weil viele Dinge, die ich noch im Kopf habe, hier noch einmal aufgenommen, korrigiert und erweitert werden. So wie hier die Religionskritik. Ich hatte das immer als Unterrichtsthema in der Oberstufe. Da haben wir auch die Texte gelesen, also Buddha, Feuerbach, Marx, Freud. Das hier noch einmal aufgegriffen und vertieft zu sehen, ist ein Genuss. Heute würde ich dem Thema Bachkantaten hinzufügen, die ich diesem Thema hier entnehmen könnte.

    Ich möchte auch betonen, dass Tristan so schreibt, dass es nicht banal, aber auch nicht Jargon ist. Nicht zuletzt besticht die intensive Verbindung von Theorie und musikalischer Anschauung.

    Ein Mann kommt in eine Buchhandlung. "Ich hätte gerne Goethes Werke!" Der Buchhändler fragt: "Welche Ausgabe?" Der Mann: "Da haben Sie auch wieder Recht!" Er geht.

  • Im Klemperer-Thread kam die Frage auf, welche Bedeutung Albert Schweitzer in der Bachforschung heute beizumessen ist.

    Lieber Tristan, für Deine ausführliche Antwort danke ich Dir sehr herzlich. Mir ist schon klar, dass Forschung ein kontinuierlicher Prozess ist, und daß ein über 100 Jahre altes Buch weiteres Denken und Forschen ausgelöst haben wird, das dann alte Erkenntnisse überholt. Sein zweites großes Werk war ja wohl die Leben Jesu Forschung. Leben und Wirken Schweitzers waren ja ohnehin bemerkenswert genug. Von seinen hinterlassenen Orgelaufnahmen besitze ich wohl die meisten und empfand das Anhören der frühen Aufnahmen tatsächlich als sehr gegen den Strich gebürstet, teilweise auch mit hohem Tempo gespielt. Die späten, aus den 1950er Jahren kranken ein wenig an den nachlassenden Kräften Schweitzers. Schön zu lesen, dass die Orgelaufnahmen Schweitzers auch heute noch Gültigkeit für sich beanspruchen können. Was meinen Groll auf meine Heimatstadt Dortmund im Allgemeinen und die Verantwortlichen der St. Reinoldikirche (hähähä, das St. im Namen ist bei dieser evangelischen Stadtkirche so was Ähnliches wie der Stein an der Kette des Prometheus) im Besonderen. Für diese Kirche hat Albert Schweitzerin den 1950er Jahen eine Orgel mitentworfen und auch gespielt. Nun wurde aber jüngst ein neues Instrument eingeweiht, das alte mal gerade 70 Jahre Alte verschrottet. Mit Konservieren und Erhalten haben sie's nicht, die Dortmunder.


    Nochmals herzlichen Dank für Deine Antwort und für diesen Thread.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ein kurzer Blick soll nun auf die symbolisch-musikalische Gestaltung der Bachkantaten geworfen werden. Methodisch muss zuerst vom Text des Kunstwerks ausgegangen werden, da die Musik freilich nicht sonderlich erstauskunftsfähig ist. Vielmehr hat die Musik bei Bach den definitorischen Text mit seinen theologischen Tendenzen zu öffnen, sie hat erweiternden und kommentierenden Charakter und ermuntert zu Assoziationen. Bachs Musik belegt den Willen, theologische Erkenntnisse an den Texten zu musikalisieren. Letztlich liegt beides für Bach so eng beisammen, dass ein wechselseitiges Interpretieren geschieht.

    Es gilt zwischen allgemeinen dispositorischen (Instrumentarium, Stimmen, Formen) und spezifischen kompositorischen Gestaltungsmitteln zu unterscheiden.


    Die besondere Stellung der Vox Christi wurde bereits auch hier erwähnt. Bach hält sich hierbei an die historische Vorgabe der Zuweisung an den Bass als majestätische, aber unnahbare Stimme. Dennoch verändert er die Tradition und weist der Vox Christi nicht nur sachliche bzw. liturgisch-priesterliche Rezitative zu, sondern auch Ariosi und gelegentlich Arien. In diesen kann der Text wesentlich vielschichtiger vertont und emphatischer gesungen werden, als in im Sprechduktus gestalteten Rezitativen. In Christus - wahrer Mensch und wahrer Gott - wird Gott nicht nur für die Menschen nahbar, sondern auch für die Kunst darstellbar. Das Bilderverbot im westlichen Christentum (zuweilen freilich umgangen wie z.B. in der Münchner Asamkirche) bezieht sich nur auf Gott-Vater ("Du wirst dir kein Bildnis machen"). Christus, als Mensch, ist darstellbar und dies ist in der Kunstgeschichte millionenfach geschehen. In der Musik verhält es sich nicht ganz so strikt, weil das Bilderverbot nicht direkt übertragen wurde und ein Stimmenverbot nicht existiert. Die Vox Christi ist zwar keine Vox Dei, dennoch kam die Stimme Gottes in Oratorien vor. Einerseits in den klassischen Bibeloratorien als Bibelwort, andererseits im Laufe der Musikgeschichte auch zunehmend in freier Dichtung. Weil aber - nicht erst seit der Reformation - gewisse Demut und sogar Ablehnung bestand, Gott stimmlich darzustellen (analog zum Bilderverbot), bleibt die direkte Gottesrede (auch als Zitat à la "Und Gott sprach:...") die Ausnahme im Werk vieler Komponisten. So auch bei Bach; wenn bei ihm Gottes Stimme dargestellt wird, z.B. in BWV 88, dann mit der gleichen Stilistik wie bei der Vox Christi: Ariose Formen mit geringem Tonumfang, herrschaftliche und feierliche Bassstimme. Ähnlich verhält es sich auch in der Romantik noch, wenn man z.B. an Mendelssohns "Elias" oder auch Franz Schmidts "Buch mit sieben Siegeln" denkt.


    Die Symbolik der Singstimmen in den Kantaten und Passionen Bachs wird bereits im 16. Jh. von Johann Saubert (siehe Zitate) zutreffend gedeutet. Der Bass wird neben seiner Funktion als Vox Christi dann eingesetzt, „wann der wahre Glaub im Menschen wird entzündet“. Dem Tenor wird eine Arie oft dann zugewiesen, wenn das „unsträflich Leben, da sich die Glieder all nach Gottes Wort ergeben“ haben, dargestellt wird. Die Altstimme wird eingesetzt, „wann Gott der heilige Geist die Hertzen selbst regieret“. Der Diskant (im Sinne des Sopran) schließlich wird, häufig im Duett mit dem Bass, dann eingesetzt, „wann ferner das Gebet wie ein Discant auffsteiget“. Diese Einteilung lässt sich in vielen, freilich jedoch nicht allen Kantatensätzen Bachs nachweisen.


    Doch auch dem Instrumentarium kommt symbolische Kraft zu. Eingeschränkt wird diese jedoch häufig dadurch, dass Bach sich in seinen Kompositionen stets an den vorhandenen Möglichkeiten zur Aufführung orientieren musste. Der Einsatz der Instrumente nach ihrer Klangfarbe ist dabei eine Möglichkeit des symbolischen und deutenden Komponierens. In der Matthäuspassion wird beispielsweise die warm, weich und ein wenig wehmütig klingende Oboe d'amore gezielt an einigen Stellen eingesetzt: Im Rezitativ „Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt“, in der Arie „Ich will dir mein Herze schenken“ und im Chor „Ach wo ist mein Jesus hin“. Sie wird in der MP also dezidiert mit der Symbolik des Herzens verbunden, welche hier als innige Beziehung des Glaubenden mit Jesus gedeutet wird. Unter vielen weiteren Beispielen sollte man auch den verstärkten Einsatz des Continuo in den Turbachören an den Stellen, an welchen nachdrücklich etwas gefordert oder zornig eingeworfen wird (z.B.: „Lasst ihn, haltet nicht!“), um der Musik einen tieferen, autoritären Klang zu verleihen.


    Eine weitere Form des symbolischen Komponierens betrifft konkrete Kompositionstechniken und melodische, rhythmische und harmonische Erscheinungen. Zum einen kommen freilich die im Barock üblichen augenfälligen Tonmalereien vor. Als Beispiel seien die klanglich nachempfindbaren Sterbeglocken in einigen Sterbekantaten (z.B. BWV 127 „Herr Jesu Christ wahr' Mensch und Gott“), das hörbare Anklopfen“ zu den Worten „Siehe, ich stehe vor der Türe und klopfe an“ in der Adventskantate BWV 61 („Nun komm der Heiden Heiland“), oder auch schlichte melodische Auf- und Abwärtsbewegungen zu Verben der Auf- und Abwärtsbewegung (z.B. „auffahren“, „hinabsteigen“) in verschiedenen Kantaten oder die hörbaren Wellenbewegungen in BWV 59 („Mein Wandel auf der Welt ist einer Schifffahrt gleich“) und BWV 88 ("Siehe ich will viel Fischer aussenden").


    Spezialfälle sind die besonders geschickten Musikalisierungen von Symbolen, z.B. im Notentext. In der schon erwähnten Kantate BWV 159 zeichnet in der Arie „Es ist vollbracht“ die Melodie des Eingangsmotivs sowohl im Notenbild als auch hörbar ein Kreuz nach (durch eine abfallende Sexte von b1 nach d1 wird der lange Balken, durch eine anschließende Terz und dem Einpendeln auf dem Mittelton g1 der Querbalken nachgezeichnet).


    Auch die bei Bach beinahe schon standardmäßige Umsetzung der barocken Affektenlehre gehört in das weite Feld der musikalischen Symbolik. Der schon erwähnte Albert Schweitzer gehörte zu den ersten, der hier Entdeckungen festgehalten hat. Freilich unterliegt bei Bach nahezu jede Arie und die meisten Chöre den Grundlagen der in Musik gesetzten Affekte. Schon in der Antike zählen Platon vier und Aristoteles elf Affekte auf. Relevanter für die Barockmusik sind die sechs von Descartes genannten Affekte: Trauer, Freude, Hass, Liebe, Verlangen, Bewunderung (im religiösen Kontext auch Anbetung). Welche Emotion, sprich welcher Affekt, auch immer textlich einer Arie zu Grunde liegt – die Musik aller Barockkomponisten wird diesen im Grundsatz widerspiegeln. Freudige Musik ist in der Regel schnell und meist tänzerisch. Trauer, aber auch Liebe und Verlangen meist langsam, klagend oder wiegend (z.B. im berühmten pastoralen Siciliano-Rhythmus). Hass erklingt im Barock üblicherweise in virtuosem Furor, während Bewunderung/Anbetung meist hymnisch und feierlich klingt. All dies ist bei Bach so selbstverständlich wie bei Händel, Telemann, Purcell, Hasse und Co. Interessanter sind Details und musikalische Umdeutungen bzw. Kommentierungen. Mit der schon erwähnten barocken Todessehnsucht erklären sich z.B. die oft freudig konnotierten Arien im Themenfeld Tod und Sterben (z.B. „Ich freue mich auf meinen Tod“ aus BWV 82 oder auch die unerwartet schnelle Eingangsarie BWV 156 „Ich steh mit einem Fuß im Grabe“).

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Christologisch lässt sich sowohl in der Theologiegeschichte, als auch in Bachs Frömmigkeit insgesamt ein leichter Wandel von streng lutherisch-orthodoxer Theologie zu frühaufklärerischer und auch pietistischer Theologie feststellen. Dieser Wandel lässt sich auch in Bachs Biographie nachweisen. Bach zeigte sich privat und in seinem Werk stets als theologisch gebildeter Christ der lutherischen Orthodoxie. Seine Erziehung, das Umfeld in Mitteldeutschland und die Begegnungen mit verschiedenen Theologen der Orthodoxie hat diese Prägung gewiss gesteigert. Gerade in Leipzig fand Bach seine Ansichten wohl von einer breiten Gruppe Geistlicher repräsentiert (darunter Superintendent Salomo Deyling und Pfarrer Christian Weise, der auch als Beichtvater Bachs fungierte). Während seines weit über 30-jährigen Schaffens als Kirchenmusiker hat sich die Theologie und speziell die Christologie tiefgreifenden Veränderungen unterzogen, die auch Bachs persönliche Theologie betreffen mussten. Schon in verschiedenen Kantatentexten begegnet eine eher frühaufklärerische denn lutherisch-orthodoxe Christologie, in der Matthäuspassion ist dieser Wandel dann frappierend. Petzoldt geht in Anschluss daran von einer „leicht variierten Frömmigkeit“ aus, die sich „spätestens in seinem letzten Lebensjahrzehnt einstellte“. Hierfür spricht auch der Beitritt Bachs in Lorenz Christoph Mizlers Sozietät im Jahr 1747, die sich aus Wolffianern zusammensetzte und sich auch über musikalische Fragen austauschte. Bach positionierte sich damit in den teilweise heftigen Leipziger Auseinandersetzungen zwischen Wolffianern und Anti-Wolffianern deutlich auf der Seite der Aufklärer und somit gegen seinen vorgesetzten Superintendenten Salomo Deyling, der die Tradition und Dogmatik erhaltend im Zentrum der 'Phalanx der entschiedenen Gegner aller Tendenzen der neueren Philosophie' stand. Der Wandel in Bachs Ansichten lässt sich hieran besonders gut ablesen, da Bach noch zu Beginn seines Wirkens in Leipzig in Deyling einen ähnlich denkenden Glaubensgenossen der lutherischen Orthodoxie vorfand. Beide waren sich z.B. auch darin einig, den althergebrachte, traditionellen Chorälen (u.a. von Martin Luther) im Gottesdienst den Vorzug vor neueren Kirchenliedern zu geben. Bachs Frömmigkeit wandelte bzw. erweiterte sich also gegen Ende seines Lebens um aufklärerische Tendenzen.


    Vor gelegentlicher theologischer Überinterpretation warnt Renate Steiger, indem sie darauf hinweist, dass Bach als praktizierender Kirchenmusiker auch oftmals pragmatisch vorgehen musste. Der Komponist benötigt eine Textvorlage, die sich musikalisch sinnvoll und zufriedenstellend umsetzten lässt. Hierfür ist es freilich gelegentlich notwendig, Anpassungen und Kürzungen der Texte vorzunehmen, auch wenn Bach dabei äußerst behutsam vorgeht und dem Text stets viel Raum lässt. Speziell vom Pietismus kommt auch die Kritik, dass lutherische Kirchenmusik, speziell aus der Feder Bachs, dazu neigt, zu weltlich-opernhaft, zu anspruchsvoll und unkirchlich zu sein. Diese Kritik bezieht sich augenscheinlich auf die Form, Größe und Darstellung Bachscher Kirchenmusik, lässt jedoch weitestgehend den Inhalt außer Acht.


    Die genannten Indizien lassen folgenden Schluss bei aller verbleibenden Spekulation zu: Bach zeigt sich als fest im Luthertum verankert und gewandt im Umgang mit den Topoi der lutherisch-orthodoxen Dogmatik. Diese stellen für ihn jedoch keinesfalls unveränderliche Wahrheiten dar, sondern zeigen sich mit dem Spätwerk als zunehmend von frühaufklärerischen Tendenzen beeinflusst. Ein Wandel der persönlichen Frömmigkeit und Theologie Bachs von der klassischen lutherischen Orthodoxie hin zum Pietismus und der Frühaufklärung im Laufe seines Lebens lässt sich feststellen. Dennoch bleiben lutherische Elemente für das Schaffen Bachs unverändert von zentraler Bedeutung. Es sind dies weniger dogmatische Topoi, wie die Zweinaturen- oder die Satisfaktionslehre, sondern Elemente, wie sola scriptura, die Individualität des einzelnen Glaubenden vor Gott und freilich die Verkündigung des Evangeliums durch die Musik. Die geistliche Musik Johann Sebastian Bachs ist demnach stets auch als praedicatio sonora zu verstehen.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)