Es ist der Lauf unserer menschlichen Zeit, dass unser Leben nicht ohne Anfang und Ende ist. Wir erblicken das Licht der Welt, das irgendwann dann für uns erloschen ist. Ob wir das immer begreifen, wenn wir alltäglich so leben, als wären wir unsterblich, „in den Tag hinein“? „Der Tod geht mich nichts an“ – sagte einst Epikur: „Denn wenn er ist, bin ich nicht mehr, und solange ich bin, ist er nicht.“ Bezeichnend redet Epikur von sich selbst und nicht davon, wo uns der Tod tatsächlich im Leben trifft und betrifft: durch den Tod des Anderen nämlich. Die Menschheit ist freilich so etwas wie ein großer Ameisenhaufen, wo es von einzelnen Ameisen nur so wimmelt. Was bedeutet es dann schon, wenn die einzelne Ameise nicht mehr ist? Der „große Haufen“ bleibt doch! Doch so denken kann eigentlich nur ein Zyniker. Eine Portion Zynismus gehört freilich zu unserem Alltag, wie könnten wir auch sonst ertragen, dass der Tod allgegenwärtig ist, Menschen einfach unbarmherzig jede Minute und Sekunde verschwinden lässt. Zynismus ist eine Haltung der Distanz und Gewinnung von Distanz, der Tod aber geht uns an und rückt uns auf die Pelle sozusagen, genau dann nämlich, wenn uns der Mensch, der da stirbt und sterben muss, wirklich nah ist, wir also nicht einfach zynisch Distanz nehmen können, wenn ein „Irgendwer“ stirbt. Jeder versteht das, wenn es um die nahen Verwandten, Freunde und auch Bekannten geht. Aber wie ist das mit Künstlern, deren Aufnahmen wir hören und die wir vielleicht einige Male im Konzert erlebt haben? Erleben sie nicht durch die Musikkonserven, die vielen Filmaufnahmen und Dokumente, die ihnen ein fiktives Leben verschaffen, die permanente Wiedergeburt auf Abruf und Knopfdruck der Betätigung der Fernsteuerung unseres CD-Spielers oder Fernsehers, sind also tatsächlich für uns unsterblich? Bleiben sie also nicht durch das, wodurch wir mit ihnen in Berührung kommen, ihre Kunst nämlich, für uns, unser subjektives Empfinden zumindest, immer lebendig? Behält also nicht Epikur letztlich auch hier Recht, dass uns der Tod des Künstlers eigentlich nichts angehen sollte, wenn er durch seine Kunst im Grunde für uns gar nicht sterben kann? Merkwürdiger Weise reagieren wir aber betroffen und bestürzt, wenn ein großer Künstler, dessen Kunst uns persönlich sehr viel bedeutet, von dieser Welt geht, den wir aber persönlich eigentlich gar nicht kennen, weil wir ihm in der Regel nie begegnet sind, allenfalls ihn nur von Ferne auf dem Konzertpodium erblicken konnten. Eine wirkliche Nähe ist das nun nicht. Warum also reagieren wir so betroffen, wenn er diese Welt verlässt? Eine nicht ganz leicht zu beantwortende Frage. Offenbar bringen wir das, was eine Person tut, immer mit dieser Person selbst in Verbindung. Sie bedeutet uns viel oder wenig, je nachdem, ob das, was wir von ihr schätzen, uns viel oder wenig bedeutet.
Mit Maurizio Pollini ist ein Mensch nicht nur überhaupt gestorben, sondern für mich gestorben, weil er für mich immer etwas ganz Besonderes bedeutet hat. Und das bewegt mich, bestürzt mich, macht mich traurig, so dass ich, seit ich davon gestern während einer Zugfahrt erfuhr, immer wieder daran denken muss und mir dabei durch den Kopf geht, was er mir bedeutet hat und nach wie vor bedeutet. Die überraschende Nachricht von Pollinis Tod geht mir nicht aus dem Kopf, selbst wenn er vielleicht dann doch nicht ganz so überraschend gekommen ist. Der Schock bleibt – auch wenn meine Erinnerung an das Konzert von 2019 in Köln, das ich zuletzt von ihm besuchen durfte, die eher traurige an einen doch schon sehr gebrechlich wirkenden Maurizio Pollini war, der das Geländer brauchte, um sich auf das Podium zu schleppen, der Mühe hatte, sich zu konzentrieren und seine Kräfte zu sammeln – weit entfernt von seiner überwältigenden physischen Kraft und geistigen Macht, mit der ich ihn in meiner Jugend in den 1970iger Jahren im Konzert zuerst erlebt hatte.
Pollinis Geburtstag, der 5. Januar, ist eigentlich so etwas wie ein Zeichen, das die Götter gesandt haben, denn er ist am gleichen Tag wie Arturo Benedetti Michelangeli und Alfred Brendel geboren, die auch an einem 5. Januar das Licht dieser Welt erblickten. Vielleicht war er also von vornherein vom Schicksal dazu bestimmt, ein großer Pianist zu werden. Für einen Musiklieber und Freund von Klaviermusik wie mich wird ein Pianist geboren mit seiner Entdeckung, aber dies letztlich nur in den seltenen Fällen, wo daraus eine lebenslange Beziehung wird, eine Art „Wahlverwandtschaft“ entsteht: So wie er fühle und denke ich auch über Musik, Klaviermusik insbesondere, und will und kann nicht anders als so denken. Dann wird der Künstler zum Bruder, zu einer Art intimen Freund, den man ständig um sich haben muss und wo man diese Freundschaft auch ständig pflegt. Man setzt sich immer wieder und auf´s Neue mit seiner Kunst und dadurch mit ihm auseinander. Von daher klärt sich vielleicht die Bestürzung über seinen Tod – zumindest ein wenig – auf: Auf einmal nämlich kann er uns nichts mehr Neues sagen, er wird selbst zu einer Konserve der Erinnerung, wie es seine Tonkonserven sind. Die Begegnung mit ihm verwandelt sich nun ganz in eine Erinnerungspur, wo alles nur noch aus der Vergangenheit und nichts mehr aus der wirklichen Gegenwart herkommt. Die Möglichkeit, den großen Maurizio Pollini vielleicht doch noch einmal begegnen zu können im Konzert, durch eine neue Aufnahme, wo er ganz andere Seiten von sich als Künstler zeigt, wovon man trotz Alter und Altersgebrechen dann wenigstens träumen konnte, sie ist nun schlechterdings zur Unmöglichkeit geworden. Und das schmerzt.
Meine erste Pollini-Platte war die berühmte Aufnahme der Chopin-Etüden op. 10 und op. 25 bei der Deutschen Grammophon. Damals lernte man die klassische Musik und ihre Interpreten durch das Radio kennen – die Sendungen auf WDR 3 und SWF 2. Dort muss mir Pollini begegnet sein. Von den Chopin-Etüden hatten meine Eltern die Aufnahme von Tamas Vasary in ihrer Plattensammlung, durch die ich sie kennenlernte und Vasarys Aufnahme auch heute noch sehr schätze. Doch Pollini ist eine andere Dimension! Gerade die immens schwierige erste Etüde op. 10 Nr. 1 – ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe sie in meiner Jugend- und Studentenzeit täglich geübt und auch heute noch mit steifen Fingern kann ich es als minder begabter Amateurpianist nicht lassen, mich an ihr wieder zu versuchen. Wie Pollini diese Etüde spielt, ist schlicht sagenhaft. Er spielt sie keineswegs einfach nur schnell. Da ist dieser unglaubliche „Zug“, diese bezwingend mühelos durchgehaltene Energie und vor allem die Fähigkeit, die einzelnen Töne wirklich klar und kräftig herauszuspielen trotz des Tempos. Diese Aufnahme vereinigt alle überragende Fähigkeiten Pollinis. Alfred Cortot, der sogar spezielle Übungs-Etüden zu den einzelnen Chopin-Etüden komponierte, schrieb einst, dass der Virtuose ohne Musikalität genauso wenig Zugang zu ihnen findet wie der Musiker und Poet ohne Virtuosität. Pollini besitzt beides in vollendeter Einheit. Wie man es schon aus den wahrlich aufregenden Mitschnitten vom Chopin-Wettbewerb aus Warschau heraushören kann, den er 1960 mit nur 18 Jahren gewann (mit Artur Rubinstein in der Jury, mit dem sich Pollini danach auch befreundete) ist sein Chopin-Spiel darin revolutionär, weil es die romantische Tradition nicht einfach vergisst, sondern mit der der Moderne vereinigt. Pollini spielt „Chopin modern“, also glasklar mit neusachlicher Unbestechlichkeit und Schnörkellosigkeit, dabei aber immer poetisch und ungemein sensibel-klangschön mit überragendem Sinn für Form und Proportion. Dabei bleibt seine Spielart stets natürlich, nichts wirkt irgendwie forciert oder „gewollt“. Das ist und bleibt für mich maßstabsetzend. Gerne bekenne ich mich als Ästhet. Für mich muss Klavierspiel ein „schönes“ Klavierspiel sein, der Pianist einen „schönen Ton“ haben, das Instrument wirklich zum Klingen bringen können. Zugleich mag ich aber keine Effekthascherei und also auch keine Schönspielerei an der gefälligen glänzenden Oberfläche. Schönheit heißt für mich, wie es exemplarisch das Spiel von Pollinis Lehrer Arturo Benedetti Michelangeli verkörpert, das Pollini neben Artur Rubinstein entscheidend geprägt hat: Klarheit und Deutlichkeit, das Vermögen des „Eidetischen“, das eigentlich Wesentliche so prägnant wie möglich herauszustellen und der Sinn einer harmonischen Proportionierung aller wesentlichen Aspekte eines Musikstücks, also weder wichtige Details zu verdecken noch eher Unwichtiges überzubelichten. Pollinis Klavierspiel mit seinem Sinn für Klassizität, seiner Tonschönheit und zugleich Modernität wurde für mich deshalb auch eines der Prägenden neben vielleicht drei oder vier anderen der ganz Großen: Ein Ideal für das Leben!
Bleibend beeindruckt hat mich dann ein Konzerterlebnis, dass ich als Schüler im inzwischen abgerissenen Düsseldorfer Schumann-Saal erleben konnte, der besonders für Klavierabende eine sehr gute Akustik hatte. Pollini spielte damals ich glaube zwei Beethoven-Sonaten, die „Pastorale“ op. 28 und Les Adieux, wenn ich mich recht erinnere. Dazu stand Schumanns Kreisleriana auf dem Programm. Mein Platz war auf dem Podium – ich saß auf der Höhe des Pianisten hinter ihm. Pollinis Spiel war so unglaublich kraftvoll und dynamisch, dass es bis an die Schmerzgrenze ging, für das Podium also eindeutig zu laut. So war der Schumann eine Freude, insbesondere die Arabeske, die wunderschön gespielt war, wie ich Pollinis ästhetisches Spiel von der Schallplatte her kannte. Ich muss sagen, dass keine der Aufnahmen der Deutschen Grammophon die Dynamik von Pollinis Klavierspiel damals wiedergeben kann. Spüren kann man sie bei einigen technisch nicht so perfekten Rundfunkmitschnitten, etwa Bartoks Im Freien, ein eindrucksvoller Beleg für Pollinis ungewöhnliches „Stehvermögen“ in dieser Zeit, den großen Einsatz von Kraft und Dynamik von Anfang bis Ende durchzuhalten. Ich bedaure, das damals nicht auf Cassette aus dem Radio mitgeschnitten zu haben. Denn diese Aufnahmen sind wie so viele andere Rundfunkaufnahmen von ihm nie veröffentlicht worden. Noch heute unvergessen sind bei mir die Zugaben aus dem Konzert im Schumann-Saal. Man konnte da seinen Platz verlassen und auf dem Podium näher an den Pianisten herantreten. Er spielte u. a. die Chopin-Etüde op. 10 Nr. 5, die „Schwarze Tasten-Etüde“. Wie er da mit unglaublicher Kraft im Fortissimo die Oktaven am Schluss in den Flügel „haute“, war atemberaubend. Dagegen klingt die berühmte Studioaufnahme der DGG fast schon harmlos!
Die wirklich großen Pianisten haben eine ganze Reihe von Aufnahmen hinterlassen, die zeitlos gültig sind und Maßstäbe gesetzt haben für alle anderen Pianisten, die danach kommen. Und davon hat Pollini einfach sehr viele aufzuweisen wie sonst nur ganz wenige andere Klaviertitanen. Pollini war unbestreitbar ein ganz großer Chopin-Spieler. Er bekannte sich auch zu seiner Liebe zu Chopin, die ihn durch sein ganzes Leben begleitete und erwähnte, dass Chopin wie kaum ein anderer Komponist Musik für Klavier geschrieben habe, die so gut in den Händen liegt. Absolut überragend sind die Aufnahmen der Etüden, wo man inzwischen die DGG-Aufnahme mit der ebenfalls aufregenden früheren EMI-Aufnahme vergleichen kann, die Jahrzehnte unveröffentlicht blieb. Die EMI hatte doch tatsächlich den Exklusivvertrag mit ihm gekündigt, weil man dort meinte, dieser Pianist hätte keine Zukunftsperspektive! Was für eine groteske Fehleinschätzung! So landete Pollini schließlich bei der Deutschen Grammophon. Dazu kommen als absolut maßstabsetzende Aufnahmen die Polonaisen und die Préludes, sowie die mit ihrer Klarheit und Treffsicherheit nach wie vor bestechende Aufnahme des 1. Klavierkonzerts mit Kletzky. Von seinen Aufnahmen der Sonate op. 35 mit dem Trauermarsch gefällt mir fast der Mitschnitt vom Chopin-Wettbewerb am besten mit seiner bezwingenden Klarheit und Konzentration. Singulär!
Joachim Kaiser bewunderte seine erste Schubert-Platte mit der großen A-Moll-Sonate D 845 und der Wanderer-Fantasie mit dem schönen Cover, dem Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich. Ich muss gestehen: Ich auch! Für mich ist das bis heute unerreicht. Ein besseres Cover hätte die Plattenfirma nicht finden können – es ist geradezu das Sinnbild für Pollinis überragende Qualitäten. Pollini steht wie der romantische Wanderer über der Schubert-Welt. Er hat schlicht den großen synthetisierenden Überblick, der alles, aber auch alles souverän beherrscht! Er spielt Schubert singend, mit dem Sinn für Kantabilität eines Italieners, die Schönheiten dieser Musik von Schuberts Musik leuchten bei ihm geradezu heraus, dabei mit einer geradezu schlafwandlerischen Sicherheit in der Wahrung von Form und Proportion, aber vor allem auch mit dem revolutionären Gestus der aus dem deutschen Idealismus herkommenden Romantik, dieser etwas kämpferischen Aufbruchstimmung des Mutes und des freien Willens, die Welt befreiend in Bewegung bringen und verändern zu wollen. Ich kenne keine andere Aufnahme, welche diese Synthese aus Gesanglichem, Ästhetischem und Weltläufig-Bewandertem so gelingt wie Pollini hier. Kaum einen minderen Rang nimmt bei mir seine erste Schumann-Platte ein mit der Fantasie op. 17 und der Klaviersonate Nr. 1. Bei jedem Wiederhören beeindruckt mich das sich immer wieder selbst antreibende „Schwungrad“ der Bewegung im Kopfsatz der Schumann-Sonate, das man nur bei Pollini so hören kann. Die Fantasie op. 17 konnte ich von ihm in der Kölner Philharmonie erleben, als er noch voll bei Kräften war. Ein denkwürdiger Abend. Er schloss mit Schumann – als Zugaben gab es Chopin, nachdem er in der ersten Hälfte mit Stockhausens Klavierstücken begonnen und nach der Pause mit einer Auswahl aus Schönbergs Klavierstücken fortgesetzt hatte. Um bei Schumann zu bleiben: Exemplarisch ist und bleibt für mich auch seine Aufnahme der Davidsbündlertänze, wobei ich ein Konzert aus Salzburg aus den 1980iger Jahren mitgeschnitten habe, das sogar noch etwas intensiver ist. Dort steigert sich am Schluss die Trauer in nackte Wut und Verzweiflung, was man so natürlich nur im Konzert und nicht in einer Studioaufnahme vorführen kann. Pollini wurde immer mal wieder gerne von Kritikern nachgesagt, dass er ein kühler Klassizist sei. Dieser Mitschnitt (ebenfalls unveröffentlicht) beweist eindrucksvoll das Gegenteil. Seine später entstandene Liszt-Platte enthält eine Sonate h-moll mit einer quasi symphonischen dynamischen Dramaturgie, die man so nur bei Pollini haben kann. Und er weiß um den destruktiven, mephistophelisch-nihilistischen Sinn der Dynamik bei den späten Klavierstücken.
Wie gerne hätte ich Pollini mit Beethovens 4. Klavierkonzert einmal im Konzert gehört, so wie er es kraftvoll und mit jugendlichem Elan mit seinem Freund Claudio Abbado aufgeführt hat, wovon ein Fernsehmitschnitt existiert. Er schätzte die Zusammenarbeit mit den großen alten deutschen Dirigenten wie Karl Böhm um „so viel wie möglich von ihm zu lernen“, wie er im Falle von Böhm bekannte. Seine Aufnahmen der Beethoven-Konzerte und auch die der Mozart-Konzerte sind für mich unverzichtbar. Und natürlich war ein Zentrum seines Pianistenlebens der Kosmos von Beethovens Klaviersonaten. Alle Schallplatten und CDs habe ich nacheinander natürlich gleich nach ihrem Erscheinen gekauft. An dieser Stelle dürfen auch nicht die immer klugen und sehr lehrreichen Klappentexte des Pollini-Freundes und italienischen Musikwissenschaftlers Paolo Petazzi unerwähnt bleiben, der bis zu seiner letzten Veröffentlichung der Beethoven-Sonaten op. 101 und 106 für ihn die Texte schrieb.
Nicht vergessen werden sollte auch, dass Pollini Kammermusik machte und bisweilen als Liedbegleiter fungierte. Mit Fischer-Dieskau hat sich zum Glück eine tief bewegende Aufnahme der Winterreise aus Salzburg erhalten.
Maurizio Pollini war schließlich eine singuläre Erscheinung, was sein Interesse für die Musik des 20. Jhd. und insbesondere Neue Musik angeht. Eigentlich alle anderen großen Pianisten mit wenigen Ausnahmen (etwa Daniel Barenboim) haben einen großen Bogen um Neue Musik gemacht oder sich nur sporadisch mit ihnen beschäftigt. Pollini hat sich beiden musikalischen Welten intensiv gewidmet und sie höchst fruchtbar als eine musikalische Kontinuität betrachtet. Schönbergs Klavierstücke sind dafür ein Beispiel. So neu sie sind, so verarbeiten sie doch die romantisch-spätromantische Tradition, sind also keineswegs „emotionslose“, rein rationale Musik. Kaum ein Anderer konnte das so vermitteln wie Pollini und somit war es auch nur konsequent, dass Schönberg bei ihm in Köln vor dem Schumann erklang als Bindeglied zu Stockhausen gleichsam. Seine Aufnahme des kompletten Klavierwerks von Schönberg ist eine Jahrhundertaufnahme – ein Wunder an Präzision und geistiger Verdichtung. Ebenso außergewöhnlich auch seine Aufnahme der Alban Berg-Sonate, die bei ihm dramatische Kraft bekommt. Ebenfalls unerreicht für mich bleibt bis heute seine Aufnahme der Etüden von Debussy, Debussys abstraktestem und in dieser Hinsicht wohl „modernsten“ Werk. Einen Sonderstatus in meiner persönlichen Wertschätzung genießt aber wiederum eine seiner ganz großen Aufnahmen aus den 1970igern mit Petruschka von Strawinsky und der 7. Klaviersonate von Sergei Prokofieff. Pollini spielt beide Werke als repräsentative Werke klassischer Moderne. Bei Petruschka schafft er es wie kein Zweiter, das Werk nicht nur als eine virtuose Klaviertranskription eines Orchesterwerks erscheinen zu lassen, sondern ihm die Bedeutung einer originären Klavierkomposition zu geben. Und seine singuläre Aufnahme der 7. Sonate von Prokofieff bleibt bei mir weiterhin die „Referenz“.
Pollini gehört zu den Pianisten, die einen Wandel durchgemacht haben zu einem Spät- und Alterstil hin. Meist ist darüber wenig schmeichelhaft zu lesen: Pollini hat an Kraft und Präzision eingebüßt, ist nicht mehr der, der er einmal war. Es ist eine begründete Vermutung, dass Pollinis nachlassende physische Kraft damit zu tun hatte, dass er ein Kettenraucher war. Sicher ist es für einen Künstler mit Perfektionsdrang, der Pollini wie sein Lehrer Benedetti Michelangeli auch war, nicht leicht, sich einzugestehen und zu akzeptieren, dass das Altern seinen Tribut fordert. Das spricht jedoch gerade für ihn. Pollini war ein sehr bescheidener und in dieser demütig-bescheidenen Art ungemein sympathischer Künstler und Mensch. Die rein privative Sicht auf Pollinis wirkliche oder vermeintliche „Altersschwächen“ empfinde ich letztlich als einseitig. Pollini schafft es nämlich, dass man „tiefsinnig“ wird, was das Musizieren im Alter angeht, indem er die veränderten manuellen Möglichkeiten letztlich nutzt für eine andere – letztlich altersweise – Sicht auf die Musik. Ich zitiere aus meinem Beitrag „Herbstlaub oder Götterdämmerung“:
„Heute verfließen bei ihm die Konturen, durch reichlichen Pedaleinsatz wird ein Klangkontinuum erzeugt, bei dem es auf Feinzeichnung und akribische Detailarbeit nicht mehr ankommt. Dahinter steht offenbar die Intention und Absicht, um keinen Preis den musikalischen Fluß ins Stocken geraten zu lassen. Pollini möchte Musik wie selbstverständlich klingen lassen, da wird alles vermieden, was irgendwie die Aufmerksamkeit von der Musik weg hin auf den Interpreten lenken könnte: Die Musik verliert so jegliche Anstößigkeit, ein gleichsam reibungsloses Musizieren, das durch nichts Besonderes, kein Übermaß mehr auffällt, in welcher Hinsicht auch immer – sei es die Kraft, die dynamische Differenzierung, ein individuelles Rubato, geistsprühender Einfallsreichtum oder eine irgendwie pedantische Sorgfalt im Umgang auch mit vermeintlichen Nebensächlichkeiten. Pollinis Altersstil kultiviert Unauffälligkeit als die Tugend eines sich gleichsam selbst zurücknehmenden interpretatorischen Willens.“
Herbstgold oder Götterdämmerung? Maurizio Pollinis Chopin-Recital
In einer anderen Besprechung habe ich den „Mut zum Desintegralen“ dieses Altersstils thematisiert, die Zerfallstendenzen des Lebens, welche das Alter mit sich bringt, in eine interpretatorische Haltung umzusetzen, welche auch den dekonstruktiven Seiten der Musik zu ihrem Recht verhilft:
Maurizio Pollini - Grenzgänger zwischen Romantik und Moderne
Keine Kunst entzieht sich möglicher Kritik – auch die hohe Interpretationskunst Maurizio Pollinis nicht. Doch der Ausnahmerang des Künstlers Pollini zeigt sich gerade hier, dass selbst die Kritik nur als eine kritische Würdigung ausfallen kann, wie in meiner Besprechung seiner Studio-Aufnahme der Debussy-Préludes Heft II:
Maurizio Pollini - Grenzgänger zwischen Romantik und Moderne
Pollini hatte zwei „Vorbilder“ – Arturo Benedetti Michelangeli und Artur Rubinstein. Rubinsteins Klavierspiel charakterisierte Daniel Barenboim einmal so, dass bei ihm „alles gleichsam durch einen Natürlichkeitsfilter“ ginge. In Pollinis Spätstil, der sich Rubinstein deutlich annäherte, ging ebenfalls alles durch solch einen „Natürlichkeitsfilter.“ Das grandioseste Ergebnis davon ist vielleicht die Einspielung der kompletten Nocturnes von Chopin. Pollini gelingt es hier, die Nocturnes in die Nähe der Balladen und Sonaten zu rücken und sie als Kunstwerke zu emanzipieren: Sie sind nun keine biedermeierlichen Quietive mehr, keine gemütlichen Empfindungsbilder für das Poesiealbum, sondern Ernst zu nehmende kleine musikalische Dramen. Auch bei Beethoven schafft es Pollini immer wieder, der Musik seine (Alters-)Sichtweise gleichsam abzugewinnen: der eines kontinuierlichen, dramatischen Flusses, der alles durchzieht, wie besonders eindrucksvoll etwa in der so schönen Sonate op. 22, die so jeglichen Anflug klassizistischer Harmlosigkeit verliert:
Maurizio Pollini - Grenzgänger zwischen Romantik und Moderne
Anlässlich der Todesnachricht von Arturo Benedetti Michelangeli hörte ich sein mirakulös gespieltes Prélude cis-moll von Chopin. Bei Pollini waren es einige Youtube-Videos, die ich noch nicht kannte: neben einer wunderbar gespielten Barcarolle und der Ballade g-moll von Chopin in Konzerten aus Mailand von 2022 und 2023, dazu ein Konzert in Wien von 1984, wo man bei Schumanns Symphonischen Etüden noch die unglaubliche Kraft des „jungen“ Pollini erleben kann, was die Aufnahmetechnik auch entsprechend an die Grenze der Übersteuerung bringt.
Schließen möchte ich meine Würdigung des großen Maurizio Pollini mit meiner Konzertbesprechung des Kölner Konzerts von 2019 mit dem Titel „Ein Denkmal, sein Schatten und sein Aufbegehren“ abschließen, seinem überwältigenden Vortrag von Beethovens letzter Klaviersonate op. 111 im zweiten Teil des Konzerts:
Maurizio Pollini - Grenzgänger zwischen Romantik und Moderne
„Nicht wenige Konzertbesucher werden wohl große Befürchtungen gehabt haben, was die zweite Hälfte des Konzerts mit op. 111 angeht. Doch was für eine Verwandlung! Schon mit dem ersten Akkord war ein ganz anderer Pollini zu hören, einer, der sich einen Ruck gab, sich merklich zusammenriss. Da war plötzlich die Energie des Aufbäumens da, die Musik entfaltete einen unwiderstehlichen Sog, wie man es von Pollini in seinen besten Darbietungen kennt. (Das Programmende war für 21.35 Uhr angekündigt, er war 21.27 Uhr zuende!) Es ereignete sich der Glücksmoment, dass die Tragik des Vortrags Beethovens letzter Klaviersonate tragische Züge verlieh. Die „Arietta“ komponiert eigentlich mit einer Variationskette, die sich in einen Triller auflöst, das Auflösen von Musik in die elysischen Gefilde reinen Klanges. Bei Pollini stemmte sich das musikalische Subjekt energisch gegen solche Auflösungsprozesse mit dem Versuch einer Sammlung und Steigerung von Kräften. Was Pollini hier so wunderbar gelang – vielleicht war es deshalb so berührend, weil sich der Musiker hier mit Beethoven identifizierte? Das Alter als der Versuch und die Notwendigkeit, nicht vor den schwindenden Kräften zu kapitulieren, sondern alle Kräfte aufzubieten, um zu zeigen: „Ich bin noch nicht am Ende angekommen, sondern stehe noch im Leben mit Saft und Kraft!“ Eine Machtdemonstration unbändigen Lebenswillens. Dabei zeigte Pollini die großen Qualitäten seines Spiels, die man von ihm aus den letzten Jahrzehnten kennt, den schönen großen, vollen und runden Ton, die Farbkontraste von hell und dunkel, die er sehr geschickt dramaturgisch zu nutzen verstand. Hier konnte er das bestätigen, was Klaus Bennert über die Studioaufnahme schreibt, dass Pollini hier „die ideale Verbindung von tragödienhafter Heftigkeit und klassischer Harmonie der Proportionen“ gelinge. Die haarsträubend schweren Trillerkennten bewältigte er ungemein souverän und klangschön! Klaviertechnik ist letztlich eine Sache des Kopfes!
Das Publikum erhob sich nach dem Verklingen der Arietta von den Sitzen und spendierte enthusiastischen Applaus. Das war ein Sieg des Geistes über die Gebrechen des Körperlichen!“
Mit Pollinis Klavierspiel und Interpretationskunst werde ich jedenfalls nie „zuende kommen“. Der Tod, er hat absolute Macht über unser Leben und über unseren Körper. In dieser Hinsicht kann der Mensch zwar mit seiner Gebrechlichkeit fertig werden, aber keinen „Sieg“ über den Tod vollbringen, wenn die Gebrechlichkeit des Alters schließlich zur Hinfälligkeit wird. Allerdings das Geistige in der Kunst, was der Künstler vereint mit Herz und Verstand hervorbringt und an die Nachwelt weitergibt, das berührt auch die Hinfälligkeit alles Lebendigen und der sie vollendet, der Schnitter Tod, letztlich nicht.