Der Titel des Threads ist nicht von mir. Ich habe Ihn einem Kapitel aus Jens-Malte Fischers Buch "Große Stimmen" entliehen, in welchem der Autor sehr kenntnisreich darlegt, dass es sich bei der Tenorrolle des Otello um die neben dem Tristan wohl anspruchsvollste Partie für diese Stimmlage handle. Nicht umsonst haben sich etliche prominente Sänger an ihr schon rein stimmlich "verhoben", Giuseppe di Stefano und Luciano Pavarotti sind nur zwei prominente Beispiele.
Die Ansprüche an die Titelrolle erschöpfen sich aber nicht nur in der stimmlichen Ausnahmeerscheinung, auch wenn diese für das Gelingen unabdingbar ist. (Auch hier die Parallele zum Tristan und es ist sicher nicht zufällig, dass es die größten Rolleninterpreten oft in beiden Meisterwerken zu Ausnahmeleistungen gebracht haben).
Eine voluminöse, schallkräftige Stimme ist gefordert, Fischer nennt weiterhin im Idealfalle ein "attraktives baritonales Timbre" und man wird ihm wohl zustimmen, wenn man sich erinnert, dass wir mit Otello einen erwachsenen Helden vor uns haben, dessen jüngere Tage wohl doch schon einige Zeit zurückliegen.
Darüber hinaus wird aber eine breite Palette stimmlicher Ausdrucksfähigkeit gefordert, glaubwürdige Charakterdarstellung verlangt einen sich vollkommen entäußernden Sänger, der doch die Grenze zum Kitsch bzw. zur Parodie nie überschreiten darf. Fischer spricht auch von "Wetterstürzen", was meint, dass der Interpret unterschiedlichste gesangs- und darstellerische Anforderungen in enger zeitlicher Abfolge meistern muss ( hingewiesen sei auf eine Stelle, die vom Sänger innerhalb von zwölf Takten nicht weniger als sechs komplett verschiedene Ausdruckscharaktere verlangt!).
Aber natürlich ist Otello nicht nur die männliche Hauptrolle, sondern die Qualität der ganzen Oper verdient den Glanz. Musikalisch ein Geniestreich des alten Verdi, für manchen aber schwer verdaulich oder gar ungenießbar (So mancher Liebhaber der Traviata, Trovatore und Rigoletto kann wenig mit dem Otello anfangen und das es noch keinen Thread im Forum darüber gibt, ist vielleicht auch nicht nur Zufall). Der Jago ist sicher auch eine der anspruchsvolleren Rollen der Partien für einen "Charakterbariton". Trotzdem ist es sicher leichter, eine gute Desdemona aufzutreiben, als eine Isolde. Insofern scheint mir doch eine gewisse Konzentration der Betrachtung auf die Titelrolle beim Otello gerechtfertigt.
Wie auch immer, ich gestehe frei heraus, dass ich in diesem Fall keine wirklich befriedigende Aufnahme kenne.Toscanini ist mein Favorit, aber die Aufnahme ist halt doch technisch nicht auf dem neuesten Stand. Gerne nenne ich meine Otello-Favoriten, es sind Ramon Vinay und Jon Vickers, wobei Vinay eindeutig der gleichere unter den beiden Gleichen ist - deshalb ist er auch oben als Otello abgebildet .
Beide entsprechen stimmlich voll meinen Vorstellungen, beide haben das raue Otello-Timbre, beide beherrschen die große stimmliche Geste ebenso wie das subtile Singen. Vickers in der Aufnahme unter Serafin ist was die stimmliche Potenz angeht sogar vorn. Man höre nur einmal das "Esultate", das ist ein Ohrenöffner erster Klasse, wenn es um Volumen und Schallkraft geht.
Doch letztendlich ist es die wilde, rohe Art von Vinay, die dann den Ausschlag gibt (es liegt sicher auch an seinem "Wüstenatem"-Timbre ;)), welche letztendlich die stimmlich zurückgenommenen zärtlichen Momente des Otello für mich so überzeugend machen. Ich habe schlicht den Eindruck, dass sich Vinay hier wirklich einerseits entäußert, andererseits hart bändigen muss. Vickers wirkt bei aller Leidenschaft manchmal immer noch eine Spur nobler und selbstbeherscht. ( An dieser Stelle sehe ich mich gezwungen nochmals zu erwähnen, dass ich Vickers für einen der Größten in dieser Rolle überhaupt halte, lediglich seine Darstellung einzig der von Vinay um eine Winzigkeit unterlegen!)
Der Otello war für mich letztlich auch eine Art Tor zur Vergangenheit, nachdem ich feststellen musste, inwieweit z.B. Placido Domingo - sicher in den letzten beiden Jahrzehnten der führende Vertreter der Rolle - hinter den Ausnahmeerscheinungen des letzten Jahrhunderts zurückbleibt. Alles in allem Ring frei für dieses Thema, insbesondere natürlich bezüglich der Empfehlung von Gesangsaufnahmen.
Sehr interessieren mich persönlich Meinungen über Vinay in der Live-Aufnahme unter Fritz Busch, weil ich Vinay bisher nur unter Toscanini kenne, die Aufnahme unter Busch aber sehr oft gelobt wird.
Gruß
Sascha