„Bach würfelt nicht."

  • Wenn, dann ist das eh nur was für Kenner, weniger für Liebhaber (Amateure) und insofern eher ein unwichtiges Bonbon wie auch die Verarbeitung z.B. des Notenthemas b-a-c-h: Ottonormalhörer hört das sowieso nicht; trotzdem kann das Stück / die Fuge für Nur-Hörer auch ohne das Hintergrundwissen ausreichend angenehm sein.

    Ich meinte es wirklich ziemlich konkret. Was habe ich davon, wenn ich eine Stelle mit dem Todestag von Maria Barbara Bach in Verbindung bringen kann oder eventuell mit dem Namenstag eines seiner Kinder? Wird diese Stelle dadurch musikalisch überzeugender?


    Manchmal habe ich einfach bloß den Verdacht, dass man versucht, Musik auf unmusikalischem Wege zu verstehen. Es mag interessant sein, zu sehen, wie weit man damit kommt, aber am Ende steht man der Musik wieder gegenüber und man kann mit ihr oder eben auch nicht. Das hängt sicher an keinem Todestag oder etwas ähnlichem, sondern nur an der Musik.


    Der Vortrag unseres Prof. Dr. hc. leidet einmal daran, dass er nicht vortragen kann - ein Fall für Oliver Kalkofe - und der in meinen Augen leicht krankhaften Sucht, hinter den Noten Geheimnisse entdecken zu wollen. Hören reicht offensichtlich nicht aus.


    Wir haben schon gesehen, dass biografische Details hilfreich seien können. Ich will auch nicht auschließen, dass ein hermeneutischer Ansatz Informationen liefern kann, wenn sich schlüssige Kontexte ergeben.


    Aber diese Todestag-Symbolik basiert auf reinem Zufall, zum einen auf dem Zufall des Todestages und zum anderen auf der Kodierung, der man eine gewisse Willkür ja kaum absprechen kann. Das hat für mich etwa denselben Charakter als wollte ich die Biografie eines Menschen aus der Sternkonstellation zu seinem Geburtstag oder aus der des Tages, wo er sein erstes verstehbares Wort gesagt, ableiten. Der Verdacht, dass es sich nur um Blödsinn handelt, ist für mich nicht von der Hand zu weisen.

  • ch meinte es wirklich ziemlich konkret. Was habe ich davon, wenn ich eine Stelle mit dem Todestag von Maria Barbara Bach in Verbindung bringen kann oder eventuell mit dem Namenstag eines seiner Kinder? Wird diese Stelle dadurch musikalisch überzeugender?

    Ich verstehe die Vehemenz der Frage nicht? Wie Ulli schon sagte, es ist ein Bonbon für Kenner bzw. in vielen Fällen für diejenigen, die dran glauben. Es bringt dich wahrscheinlich gar nicht weiter, dass eine Stelle auf den Todestag Maria Barbaras verweist (außer du kannst nachweisen, dass diese Stelle vielleicht durch einen besonderen Schmerz oder ein liturgisches Trauer-Chiffre gekennzeichnet ist - dann erkennst du, dass Bach hier unter der Oberfläche eine Trauermusik geschrieben hat).

    Aber was bringt es dir zu wissen, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist. Wird Frankreich dadurch schöner und sprichst du dann besser Französisch? Wohl kaum. Humanistische Bildung bzw. Erkenntnisstreben als anthropologische Größe würde ich da eher ins Feld führen.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ich verstehe die Vehemenz der Frage nicht?

    Die Vehemenz liegt vielleicht an meinen eigenen Überzeugungen, war aber nicht beabsichtigt.


    Aber was bringt es dir zu wissen, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist. Wird Frankreich dadurch schöner und sprichst du dann besser Französisch?

    Gutes Argument. Aber Paris ist erfreulicherweise ja die Hauptstadt von Frankreich. :)


    Es mag sein, dass ich aufgrund meiner Vorbildung mit solcher Art Zahlenakrobatik etwas auf Kriegsfuß stehe. Für mich bleibt da einfach die Frage, ob man sich nicht einfach was vormacht, das Bonbon also virtuell giftig ist ;)

  • Lieber Tristan2511


    Im Falle von Paris als Hauptstadt ist das Wissen insofern von Bedeutung, dass Frankreich ein zentralistisch ausgerichteter Staat ist. So wird vieles, was in diesem Land geschieht, verständlicher. Das hat geschichtliche Gründe. Übrigens, der Bezugspunkt für das französische Strassensystem der 14 Nationalstrassen ist auf dem Vorplatz von Notre Dame.


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    Man bewegt sich in der Stadt auch ohne dieses Wissen ohne Probleme. ;) Man spricht, wie du schreibst nicht besser französisch oder findet die Stadt schöner.


    Zurück zu Bach


    Es ist mir im Grunde Wurst, ob Bach gewisse Zahlenverbindungen in seinen Werken eingebaut hatte. Wenn es für einige von Bedeutung ist, soll es für sie gelten.


    Auch ohne das Wissen von Harmonik und den Gesetzen des Kontrapunktes, um mal von der Zahlenmystikschiene wegzukommen, kann man das bachsche Wohltemperierte Klavier 1. und 2. Teil als Hörer geniessen.

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Für mich bleibt da einfach die Frage, ob man sich nicht einfach was vormacht, das Bonbon also virtuell giftig ist ;)

    Ja, das ist mit Sicherheit so. Die meisten dieser Erkenntnisse wirken in der Tat sehr konstruiert. Es scheint Leute zu geben - quasi das Gegenteil von dir - die Spaß daran haben ;)

    Ich bezog mich mehr auf Stellen, die tatsächlich nachweisbar sind, oder die Bach bezeugt hat. Auch dann bringt dir die Erkenntnis vielleicht beim Hören nicht viel, außer Weiterbildung. Und an solchen Stellen ist Paris wirklich die Hauptstadt von Frankreich ;)

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Auch ohne das Wissen von Harmonik und den Gesetzen des Kontrapunktes, um mal von der Zahlenmystikschiene wegzukommen, kann man das bachsche Wohltemperierte Klavier 1. und 2. Teil als Hörer geniessen.

    Das sehe ich genauso, obwohl mir doch hin wieder der Gedanke kommt, ob das Rezeptionserlebnis einer harmonischen Reise nicht doch stark durch Quintenzirkel und der chromatischen Abfolge der Präludien und Fugen evoziert ist. Das fände ich schon interessant. Auch wenn dadurch die Musik an sich nicht tangiert ist, kann es den Hörfokus auf musikalische Ereignisse lenken.

  • In erster Linie ist es ein Unterrichtswerk durch alle Tonarten, was durch die wohltemperierte Stimmung erst ermöglicht wurde. Bach setzte sich dafür ein, denn nur so wurde es möglich, in anderen Tonarten zu komponieren.

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.




  • https://www.faz.net/aktuell/fe…t-der-fuge-110173304.html



    Mit kriminalistischer Sorgfalt erkundet der Musikwissenschaftler und Jurist Meinolf Brüser das Geheimnis der „Kunst der Fuge“. Seine Schlüsse sind erschütternd.

    von Jan Brachmann


    […]

    Bach hat persönliche Bezüge in der Musik verschlüsselt

    Brüser, gerade sechzig Jahre alt geworden, ist promovierter Jurist und hat im vergangenen Jahr eine zweite Dissertation vorgelegt, dieses Mal in Musikwissenschaft. Sie beschäftigt sich mit Bachs Motetten und ist unter dem Titel „Wenn Bach trauert“ beim Bärenreiter-Verlag erschienen. In der Zusammenführung satztechnischer Analysen, lebensweltlicher Daten und musikalischer Praxis kommt Brüser in diesem Buch zu dem Schluss, dass Bach in den Motetten persönliche Trauerarbeit leiste: um seine erste Frau Maria Barbara, um einen verstorbenen Schüler seines Thomanerchores, um die früh verstorbenen Zwillinge, die seine zweite Frau, Anna Magdalena, zur Welt gebracht hatte. Brüser geht davon aus, dass diese Werke nicht nur Gegenstände, Partituren seien, sondern Teil einer Frömmigkeitspraxis, die sich im aktiven Vollzug von Musik als Gebet erfülle.

    Zudem lassen sich Verschlüsselungen des Selbstbezugs in den Motetten ausfindig machen: B-A-C-H-Figuren in den Tönen, teilweise transponiert und permutiert, und zahlenalphabetische Signaturen.


    B+A+C+H = 14

    Die Technik, Buchstaben durch Zahlen zu codieren, die „Gematrie“, geht auf die jüdische Mystik zurück und lässt sich in der Musik seit der Renaissance nachweisen. Dass Bach gematrisch arbeitete, ist lange bekannt und unbestritten. Die Zahl 14 wurde oft als Signatur in Tonzahlen und Taktzahlen nachgewiesen: B (2) + A (1) + C (3) + H (8) = 14. Vierzehn Töne hat das Thema der ersten Fuge in C-Dur im ersten Teil des „Wohltemperierten Klaviers“, vierzehn Knöpfe hat die Jacke auf der Urfassung des einzigen authentischen Bach-Porträts von Elias Gottlob Hausmann. „B+A+C+H = 14“ lautete auch der Titel einer hoch informativen Sonderausstellung im Bachhaus Eisenach zum 329. Geburtstag Bachs, denn die Quersumme von 329 ist ebenfalls 14.“

  • denn nur so wurde es möglich, in anderen Tonarten

    ... auf dem Claiver zu spielen. Die „wohltemperirte“ Stimmung machte bloß das lästige umstimmen beim Tonartenwechsel überflüssig bzw. das Spielen von entfernteren Tonarten innerhalb eines Stückes erst möglich.

    Masi schweigt.
    (Don Giovanni à trois)

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  • "Dass Bach gematrisch arbeitete, ist lange bekannt und unbestritten."

    Das ist keineswegs "unbestritten": Ich hatte weiter oben schon einmal darauf hingewiesen, dass Matthias Wendt von der Robert-Schumann-Forschungsstelle Düsseldorf mit einem selbst geschriebenen Programm Bach-Werke nach der 13 durchsucht hat und ebensoviele Treffer bekam wie bei der 14 (außerdem ist er auf eine Reihe von Rechenfehlern der Numerologen gestoßen). Und Martin Morgenstern, der im Gegensatz z.B. zu Helga Thoene tatsächlich Musikwissenschaftler ist, hat im Subtext der Ciaconna für Violine solo die Namen Brian Jones (B-A-E-Es), Mick Jagger (A-G-G-E) und Keith Richards (C-H-A-D) "nachgewiesen".


    "„B+A+C+H = 14“ lautete auch der Titel einer hoch informativen Sonderausstellung im Bachhaus Eisenach zum 329. Geburtstag Bachs, denn die Quersumme von 329 ist ebenfalls 14."

    Das finde ich besonders hübsch: Dass andere mit Quersummen rumspinnen, wird als Beleg für die Richtigkeit der eigenen Spinnerei genommen.

  • Das ist keineswegs "unbestritten": Ich hatte weiter oben schon einmal darauf hingewiesen, dass Matthias Wendt von der Robert-Schumann-Forschungsstelle Düsseldorf mit einem selbst geschriebenen Programm Bach-Werke nach der 13 durchsucht hat und ebensoviele Treffer bekam wie bei der 14 (außerdem ist er auf eine Reihe von Rechenfehlern der Numerologen gestoßen).

    Ja, ich weiß, deswegen habe ich diesen FAZ-Artikel verlinkt, der eine andere Meinung einnimmt.

    Der Autor ist Jan Brachmann (oben ergänzt).

  • Ich konnte nicht anders und habe jetzt in meiner eigenen Biographie gematrische Forschungen angestellt. Dass mein Vor- und Nachname jeweils die Opus-Zahlen von zwei der größten Beethoven-Sonaten (op. 101 und 53) verschlüsselt, hatte ich ja schon geschrieben, aber der Wunder sind noch weit mehr: Der Nachname der Professorin, bei der ich mein Studium abschloss, zeigt mit dem gematrischen Wert 116 ebenso auf meine lebenslange Brahms-Beschäftigung wie der Vorname meiner langjährigen Klavierduo-Partnerin (118). Begonnen habe ich mein Studium als Jungstudent in Dortmund (109, Beethoven!), abgeschlossen habe ich es mit dem Konzertexamen mit Beethovens Es-Dur-Konzert op. 73 in Detmold (73!). Besonders schön finde ich die Verbindung der beiden Säulenheiligen Beethoven und Brahms zu Giselher (83, Brahms' zweites Klavierkonzert) Klebe (35, Beethovens Eroica-Variationen). Die Straße, in der ich zu Beginn meines Studiums wohnte (Am Anger), verweist auf Beethovens Rasumowski-Quartette (59). Nach einem Umzug in die "Allee" (35) begann ich dann auch mit dem Klavierduo, und eines unserer ersten Werke waren die Beethoven-Variationen von Saint-Saens op. 35! Unseren größten Wettbewerbs-Erfolg hatten wir in München (83, Brahms!), woraufhin wir etliche CDs mit dem Tonmeister (Günther) Appenheimer (110, Beethoven) in Sandhausen (106, Hammerklavier-Sonate!) aufnahmen. Beethoven und Brahms ziehen sich von den Anfängen bis in die Gegenwart durch mein gematrisches Leben: Meine wichtigsten Kammermusikpartner der letzten Jahre waren Eckhard Fischer (118, Brahms) und Maria Lott (109, Beethoven), außerdem (Alexander) Gebert (57, Appassionata!), (Thomas) Lindhorst (119, Brahms!), (Thomas) Christian (101, Beethoven).


    Om.


    P.S.: Wer sich selbst und sein Leben besser verstehen will, kann gematrische Forschungen ganz leicht unter https://charactercalculator.com/de/gematria-calculator/ machen. Dort gibt es sogar die Möglichkeit, neben der "einfachen" Verschlüsselung die die hebräische oder englische einzuschalten, was zu ganz neuen, erschütternden Erkenntnissen führen kann.

  • Ich habe leider vergessen, wie der Ägyptologe heißt, der sich mit den zahlensymbolischen Spekulationen gewisser Pyramidengreunde befasst hat. Der hat sich die Mühe gemacht, den Zeitungskiosk vor seinem Haus zu vermessen und die Ergebnisse auf Aussagen über die Weltgeschichte zu untersuchen. Von den Proportionen gewusst teile der Cheopspyramide über die wichtige Daten der französischen Geschichte bis zu Daten seines erheben Lebens hat er da die erstaunlichsten Sachen gefunden, die offensichtlich von Erbauer dieses Kiosks in diese codiert worden sind. Vielleicht finde ich das noch. Es war äußerst amüsant und aufschlussreich...


    EDIT: Ich habe es gefunden. Der Mann hieß Jean-Pierre Adam. Einen ähnlichen Witz machte ein anderer Wissenschaftler, der die Maße seines Fahrrads nahm und aus diesen alle möglichen Naturkonstanten, Jahreszahlen wichtiger Ereignisse u. v. a. m. herausfand. Er hat diese neue Wissenschaft Velologie (glaube ich) genannt. Sie hat sich aber nicht durchgesetzt...


    Übrigens besagt das alles nicht, dass es keine Zahlenmystik gibt und die nicht angewandt wurde. Es besagt lediglich, dass man bei diesen Dingen äußerst umsichtig vorgehen und nach sehr, sehr strengen (nicht numerologischen) Beweisen für sein (Er)findungen suchen muss, weil es nicht schwer ist, auf diese Weise alles zu finden, von dessen Existenz man überzeugt ist. (Wie das von Christian angefochtene Beispiel mit den Zahlen 13 und 14 bei Bach sehr schön zeigt.)

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

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  • Exkurs:

    Jenseits der Zahlenmystik sondern ein Naturgesetz: In den ägyptischen Pyramiden wie in einem Kioskgebäude in Dinkelsbühl können sich grundlegende harmonische Proportionen verbergen.


    György Doczi: Kraft der Grenzen


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    Ja, und was in der Mathematik ein gänzlich neues Kapitel der Sicht auf die Welt eröffnet hat, ist dieses Buch:


    Benoit B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur


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    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Ja. Man kann da alles finden, was man sucht. Man muss nur ausreichend gründlich und mit eiserner Konsequenz das Prinzip post hoc ergo propter hoc anwenden...

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Was Menschen zu allen Zeiten gemacht haben, die Welt sich erklären. Ohne diesen Drang, wären wir noch der Meinung, dass die Welt eine Scheibe ist.


    Zu Mandelbrot Die fraktale Geometrie der Natur habe ich das gefunden, Autor Christoph Erlemeier


    Dieses Buch mit dem Titel "Die fraktale Geometrie der Natur" gilt als die bekannteste Veröffentlichung des französisch - amerikanischen Mathematikers Benoît Mandelbrot. Mandelbrot gilt als Querdenker und seine Theorie der Fraktale stand konträr zu den Vorstellungen anderer gelehrter Mathematiker, die alles über die Geometrie des Euklid erklären möchten. Mit diesem Buch verschaffte sich Mandelbrot dennoch öffentliches Gehör und es erscheint mittlerweile so, dass dieses Buch ein wichtiger Schritt für viele Entwicklungen und Beobachtungen war und noch sein wird.


    Zu Mandelbrot selbst ist zu sagen, dass er sich als französischer Jude während des zweiten Weltkriegs ständig vor den Häschern der Nazis verstecken musste, was ihn nach seiner Meinung dahingehend geprägt hätte, seine Umgebung schärfer zu beobachten. Seine Liebe zur Mathematik, speziell zur beobachtenden Mathematik in Form der Geometrie entdeckte er im Jahr 1945. Während seines Studiums in Frankreich wurde ihm bewusst, dass er algebraische Formeln im Kopf sofort als Bilder erkannte. Er promovierte auch noch in Frankreich, welches er später verließ, weil man ihm dort keinen Lehrstuhl an einer Universität geben wollte. Man hielt ihn in Frankreich zwar für begabt, aber irregeleitet. So wurde er Mitarbeiter im Forschungsteam von IBM in den USA, das 1958 nach kreativen Köpfen und Querdenkern suchte.


    Die IBM Ingenieure rätselten damals darüber, warum ständig Daten bei der Übertragung via Telefonleitung verloren gehen. Mandelbrot stellte die Nebengeräusche dabei auch graphisch dar und er entdeckte in der Darstellung das Phänomen der Selbstähnlichkeit, was an sich nicht ganz neu war. Er erinnerte sich an die Cantorsche Punktmenge (Georg Cantor, dt. Mathematiker des 19. Jahrhunderts). Cantor behauptete 1833, dass beim immer kleinerer werdenden Zerlegen einer Geraden am Ende nicht Nichts übrig bleiben würde, sondern eine unendlich große Menge an Punkten gegenwärtig sei. Die Cantor Menge gilt daher heute als das älteste Fraktal. Bedeutender war für Mandelbrot allerdings die Monsterkurve des schwedischen Mathematikers Helge von Koch. Die Monsterkurve, die sich aufgrund der Angliederung immer kleinerer Dreiecke ergibt, gleicht in ihrer Form einer Schneeflocke. Sie ist in ihrer Konstruktionsvorschrift streng selbstähnlich, was so viel bedeutet, dass beim Vergrößern beliebiger Abschnitte immer die gleichen Strukturen erscheinen. Mit Hilfe dieser Erkenntnisse konnte IBM letztendlich das Datenübertragungsproblem lösen. Die Amerikaner erkannten schnell das Potential des Mathematikers und von 1987 bis 2005 lehrte Mandelbrot noch an der Eliteuniversität von Yale.


    Mandelbrot verfasste wegweisende Arbeiten im Bereich der fraktalen Geometrie und der Chaosforschung, bekannt ist vor allem die Entdeckung der Mandelbrot - Menge (auch als Apfelmännchen bekannt). Auch der Begriff des Fraktale geht auf Mandelbrot zurück. Ein Fraktal ist demnach ein Objekt aus mehreren verkleinerten Kopien seiner selbst. Provokativ stellte Mandelbrot damals die Frage nach dem Umfang Großbritanniens: Wie lang ist die Küste Britanniens? Dabei sprach er ein bekanntes Problem der Landvermessung an. Nach Mandelbrot ist die Küste Großbritanniens eigentlich unendlich lang. Die Längenmessung ist abhängig von der Länge der Zollstöcke, die man anlegt. Je kleiner die Zollstöcke sind, desto mehr muss man anlegen und desto länger wird die Küste Großbritanniens. Er spricht beim Vermessen der Küsten auch von dessen Rauheit. Je rauher eine Fläche ist, desto fraktaler sei sie. Die Tätigkeit bei IBM gab Mandelbrot die Möglichkeit, den Computer immer verstärkter einzusetzen, auch für eigene Berechnungen im Bereich der Fraktale. So griff er die Ideen der Funktionsiteration von Pierre Fatou und Gaston Maurice Julia (französischer Mathematiker) auf, der die Julia Menge in einem Aufsatz aus dem Jahr 1918 beschrieb. Julia konnte damals noch nicht unendlich viele Schritte rechnerisch durchführen. Der Computer kann bei der Erzeugung unendlich vieler Berechnungen eine nützliche Hilfe darstellen. Mandelbrot stellte diese Berechnungen auch graphisch dar. Es entstand dabei ein käferartiges Gebilde, welches man auch als Apfelmännchen bezeichnet. Die Mandelbrot - Menge misst dabei die Menge aller komplexen Zahlen c, für welche die rekursiv definierte Folge komplexer Zahlen mit dem Bildungssatz zn+1 = (zn)² +c und dem Anfangsglied z0 = 0 beschränkt bleibt.


    Das Spannende an der Mandelbrot Menge ist, dass man das Phänomen des Apfelmännchens ähnlich dem Phänomen des "Goldenen Schnitts" auch überall in der Natur beobachten kann. Dies wird vor allem in diesem Buch sehr deutlich. Vorab behauptete die Wissenschaft, dass sich die Natur nicht den mathematischen Regeln unterordnen lassen würde. Der Goldene Schnitt ist z.B. ein Naturphänomen, welches sich mathematisch beschreiben lässt und gilt auch heute noch als ein bedeutendes Gestaltungsinstrument im Design. Die Modebranche entdeckte bereits in den 1980er Jahre die Bedeutung der Mandelbrot Menge für ihr Texturdesign. Verbunden sind die ersten Schritte dieser Mode -Erscheinungen mit dem Namen Jhane Barnes, die mit Hilfe von Computern Moiré Effekte erzielte. Eine große Bedeutung bekam die Mandelbrot Menge vor allem bei der Darstellung komplexer Special Effects im Filmbusiness. Einer der ersten bedeutenden Filme mit Einsatz von Fraktalen war z.B. Star Trek 3. In einer Kampfszene wird durch Überlagerungen eines einfachen Strahls beispielsweise Lavamasse in die Luft geschleudert um dann wieder herab zu fallen und abzukühlen. Die neuen Möglichkeiten wurden auch schnell von der Computerspiele- Industrie erkannt. Die erste Nutzung erfolgte aber bereits im Jahr 1978 im Werbefilm und zwar durch Laurel Carpenter, der für experimentelle Flugzeuge von Boeing Filme drehen sollte. Man benötigte dazu einen Hintergrund mit Bergen. Die graphische Zerlegung am Computer ermöglichte es, auf aufwendige Trickfilmtechniken zu verzichten. Auch Carpenter hatte vorab Mandelbrots Schriften studiert. Interessant ist sicher noch der Hinweis, dass der Amateurfunker Cohen über dieses Buch nach einem Streit mit seinem Vermieter zur Erfindung einer kleinen Antenne kam. Dazu bog er Drähte in zackige Formen gemäß der Kochschen Kurve und entdeckte dabei, dass die Antenne sogar eine viel größere Frequenzbreite empfangen kann. Heute ist diese Antenne in jedem Mobilfunkhandy eingebaut. Man spricht auch von fraktalen Antennen.


    Heute erhofft sich die Wissenschaft noch mehr an Erkenntnissen durch Nutzung der fraktalen Geometrie. Der Bostoner Kardiologe Ary Goldberger stellt heraus, dass die Herzfrequenzen nicht wie von Galileo einst behauptet konstant verlaufen, sondern sich parallel einer fraktalen Architektur verhalten. Er hofft darauf, eine Möglichkeit zu finden, durch Messungen früher Herzprobleme erkennen zu können. Im Design denkt man darüber nach, dass auch das menschliche Auge sich nicht linear Gegenstände durch Abtasten erarbeitet und dass dies evtl. auch zu Überlegungen führen könne, Instrumente in Flugzeugen oder Autos nicht linear, sondern fraktal anzuordnen. In der Universität Toronto werden Überlegungen dazu angestellt, ob man mit Hilfe von Ultraschallaufnahmen kleine Krebsgeschwüre frühzeitiger erkennen kann, denn die Durchblutung erfolgt im Menschen fraktal (ähnlich einem Baum oder einer Blume), was nicht für Tumore (chaotisch, mistelförmig verknotet) gilt. Die Mandelbrot Menge leistete aber noch mehr. Sie half auch die bekannte Theorie zu erklären, dass sich Energieverbrauch zur Masse nach der Formel E = M Ÿ verhält. Demnach verbraucht z.B. ein Elefant, der ca. 200000 Mal schwerer ist als eine Maus, nur 10000 Mal so viel Energie wie die Maus.


    Geoffrey West von der Universität in Santa Fe erhofft mit der Mandelbrot Theorie auch erklären zu können, wie hoch der Absorptionsgrad von CO2 der Regenwälder wirklich ist. Nach West stimmt die Größenverteilung von kleinen und großen Bäumen im Regenwald mit dem Verhältnis großer und kleiner Äste an einem einzelnen Baum überein. Die Vermessung eines Baums müsse nach Wests Meinung ausreichen um dies zu bestimmen. Der Baum und seine Astverzweigungen sind selbst ein Beispiel für Fraktale. Man findet die Fraktale aber auch anderswo in der Natur, wie z.B. in Wolkenformationen, in Gebirgszügen oder Brokkolistrünken. Die Ergebnisse dieser Mathematikergeneration von Mandelbrot Anhängern vertieft unser Verständnis der Natur und regte zu einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen, medizinischen und künstlerischen Innovationen an, von der Ökologie des Regenwalds bis zum Modedesign.


    Dieses Buch wird Ihnen diese hier von mir beschriebenen Innovationen nur zum Teil oder nur angeschnitten erläutern. Es ist auch kein richtiges Mathematikbuch oder Lehrbuch, sondern stellt vermehrt Vergleiche zur Natur auf. In seinem Buch erklärt er dem Leser, dass viele Formen (Baum und Äste, Blutadern, Wolken, Datenübertragungsfehler, etc.) die bisher mit unseren Erkenntnissen nicht erklärbar bzw. beschreibbar sind nach ein und demselben Prinzip funktionieren. Er nimmt sogar Bezug zur Kunst, indem er auf den Holzschnitt "Die große Welle von Kanagawa" des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai (1790 -1849) verweist. Dieser zerlegte in diesem Bildnis die große Welle in immer kleinere Wellen, so dass Fraktale entstanden. Das Buch zählt meines Erachtens zur populärwissenschaftlichen Literatur, so dass auch Laien oder Feinde der mathematischen Formeln Unterhaltung beim Schmökern finden können. Eine durchdachte Struktur sucht man vergeblich, so dass man zum Erfassen wichtiger Punkte für das Lesen Bleistift und Papier bereit legen sollte. Das Buch könnte durchaus auch Freunde von Literatur zum Goldenen Schnitt interessant sein.

    .

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Warum ich Mandelbrot erwähne:


    In Jugend forscht haben zwei Schüler im Alter von 18 und 19 Jahren und eine Schülerin 16 Jahre 2009 ein Projekt eingereicht:


    Und Bach zwinkerte uns zu – mathematische Interpretationsperspektiven zur Kunst der Fuge


    Mathematik und Musik – zwei Welten, die scheinbar wenig miteinander verbindet. Doch weit gefehlt. Dass dem nicht so ist, beweisen Justus Eggers, Hans-Eckhard Lange und Lisa Schmelzer: Sie betraten Neuland in der Musiktheorie, indem sie sich die Frage stellten, ob Musik durch mathematische Muster interpretierbar ist. Die Schüler nutzten die fraktale Geometrie, um die Struktur von Johann Sebastian Bachs "Kunst der Fuge" zu analysieren. Mit der Auswertung von über 300 Bilddateien begaben sie sich auf die Suche nach der Schnittstelle zwischen Musiktheorie und Mathematik. Es gelang ihnen schließlich nicht nur, mathematische Strukturen in den Musikstücken sichtbar zu machen, sondern auch ihre Methode auf weitere Werke zu übertragen.

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • EDIT: Ich habe es gefunden. Der Mann hieß Jean-Pierre Adam. Einen ähnlichen Witz machte ein anderer Wissenschaftler, der die Maße seines Fahrrads nahm und aus diesen alle möglichen Naturkonstanten, Jahreszahlen wichtiger Ereignisse u. v. a. m. herausfand. Er hat diese neue Wissenschaft Velologie (glaube ich) genannt. Sie hat sich aber nicht durchgesetzt...

    Danke für den Hinweis! Ich habe daraufhin bei Wikipedia den Artikel "Pyramidologie" gefunden, in dem u.a. auch die Beispiele mit dem Kiosk und dem Fahrrad genannt werden:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Pyramidologie

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  • Dass fraktale Strukturen immer wieder bei (Wachstums-)Prozessen auftauchen, ist gar nicht so verwunderlich. Tatsächlich werden solche Algorithmen benutzt um mit dem Computer virtuelle Landschaften zu erzeugen, die natürlich aussehen :)


    Ist diese Arbeit über die Kunst der Fuge einsehbar? In der heutigen Zeit wird sehr schnell mal gesagt, dass irgendetwas grundlegend neu sei ... Um es zu beurteilen, muss man sich leider häufig die Mühe machen, es selbst zu lesen ...

  • Lieber astewes


    Ich habe der Kommunikation & Public Affairs von Jugend forscht eine Anfrage zu diesem Projekt gesendet.


    LG moderato

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Lieber astewes


    Inzwischen habe ich eine Antwort zum Projekt von Jugend forscht erhalten:


    Lieber XY,


    bitte entschuldigen Sie die späte Rückmeldung! Vielen Dank für Ihre Nachricht und Ihr Interesse an Jugend forscht!


    Die Rechte an der Arbeit liegen bei den Jungforschenden, sodass wir die schriftliche Arbeit leider nicht weiterleiten dürfen. Gerne sende ich aber Ihre Anfrage an die Jungforschenden weiter, verbunden mit der Bitte, Ihnen weitere Informationen zu dem Projekt zur Verfügung zu stellen.


    Mit weihnachtlichen Grüßen


    YZ


    Ich halte auf dem Laufenden, falls sich jemand melden sollte.

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Bach würfelt nicht, er folgt einem klaren Plan.


    Johann Sebastian Bach (1685-1750)


    Kanonische Veränderungen über "Vom Himmel hoch da komm ich her" BWV 769


    Sie entstanden 1747 als Antrittsbeitrag für Lorenz Christoph Mizlers Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften, gegründet 1738. Jedes Mitglied dieses Vereins war gehalten, bis zu seinem 65. Lebensjahr einmal jährlich einen musiktheoretischen Aufsatz im Druck zu veröffentlichen. ...

    Bach konnte statt eines Aufsatzes jeweils eine Komposition einreichen, die einen entsprechenden theoretischen Anspruch hatte. Sein Antrittsbeitrag 1747 waren die Canonischen Veränderungen. 1748 reichte er das Musikalische Opfer ein und für 1749 hatte er höchstwahrscheinlich die Kunst der Fuge geplant. Danach wäre er wegen seines Alters von weiteren Beiträgen entbunden gewesen.


    Quelle: SWR2


    Der Tübinger Organist, Stiftskantor und Professor für Orgelliteratur und -improvisation an der Hochschule für Kirchenmusik Tübingen Ingo Bredenbach spricht und analysiert das Werk:


    https://www.swr.de/swrkultur/m…-da-komm-ich-her-100.html


    Hier der Notentext: Bernhard Schneider an der Klais-Orgel von St. Aegidien, Braunschweig


    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.