Johann Strauß (Sohn) (1825-1899):
ASCHENBRÖDEL
Ballett
in drei Akten
Libretto von A. Kollmann (d.i. Karl Colbert)
Uraufführung am 2. Mai 1901 am königlichen Opernhaus, Berlin
Personen
der Handlung:
Mme.
Francine, Modistin
Yvette, ihre ältere Tochter
Fanchon, ihre jüngere Tochter
Grete, ihre Stieftochter
Leon, Warenhausbesitzer
Lore, seine Verlobte
Franz, Leons Bruder
Mitarbeiterinnen im Atelier von Francine
Ort und Zeit: Unbestimmte Stadt zur Zeit der Entstehung des Balletts.
Erster Akt.
Das
Atelier der Modistin Mme. Francine.
Die
Mitarbeiterinnen von Mme. Francine sitzen an Nähmaschinen und nähen
Kleider für die geplanten Vorführungen. Francine treibt ihre
Mitarbeiterinnen zur Eile an; mit ihrer Stieftochter Grete liegt sie
allerdings mal wieder im Clinch - ihre vorgelegten Arbeiten gefallen
ihr nicht.
Ihre leiblichen Töchter kommen ins Atelier und bringen mit sichtbarer Freude Karten für einen Ball mit, die sie unter den Mitarbeiterinnen verteilen. Für Grete ist allerdings keine Karte vorgesehen, die übrig gebliebene zerreißen sie sogar.
Leon, Warenhausbesitzer, kommt mit seiner Verlobten Lore ins Atelier, um für sie ein Maskenkostüm auszusuchen. Während Lore die verschiedenen Kostüme anprobiert, flirtet Leon mit Grete, was Lore natürlich nicht gefällt, schließlich die Unterhaltung verärgert unterbricht und Leon zum Gehen drängt, ohne ein Kostüm erstanden zu haben.
Inzwischen hat Grete geholfen, Yvette und Fanchon für den Ball herzurichten; danach zieht sie sich in ihr Zimmer zurück. Darin erscheint plötzlich ein junger Mann, der sich als Franz und Bruder des Warenhausbesitzers Leon vorstellt. Er soll ihr, wie er sagt, eine Karte für den Ball in Leons Haus übergeben. Allerdings lehnt sie sein Angebot, mit ihm auf den Ball zu gehen, mit der Begründung ab, alleine dorthin gehen zu wollen.
Damit endet der erste Akt; ihm folgt ein Zwischenbild, in dem Grete im Traum mit Leon im Kurort Semmering einen schönen Tag erlebt. Nach einem kurzen Vorspiel folgt der
Zweite
Akt, der
einen Ballsaal in Leons Villa darstellt.
Unter den Gästen, die sich hier ein Stelldichein geben, sind auch Yvette und Fanchon, die, wenn auch vergeblich, versuchen, Leon zu bezaubern. Leon hat nur Augen für Grete, die gerade die Treppe herunterkommt; selbst Lore, seine Verlobte, ist Luft für ihn. Er geht auf Grete zu und führt sie stolz auf die Tanzfläche. Das passt Yvette und Fanchon natürlich nicht, aber Leon schützt Grete vor den wütenden Bemerkungen ihrer Halbschwestern. Während eines Walzers gesteht Leon Grete seine Liebe zu ihr, was Lore, die das mitgehört hat, wütend macht, Leon sie jedoch in die Schranken weist. Grete ist unterdessen geflohen, Leon eilt ihr nach und findet einen Schuh, den Grete verloren hat.
Ein erneutes Zwischenspiel schildert Gretes Traum von einer Heirat und der ersten Liebesnacht mit Leon. Ein Vorspiel leitet über zum
Dritten
Akt, der
die Hochzeitsreise von Grete und Leon nach Venedig als Traumbild
zeigt.
Den Brautleuten wird von der Bevölkerung gehuldigt, doch Yvette und Fanchon sind ihnen mit Mutter Francine auf den Fersen. Sie überschütten Grete mit Vorwürfen, doch Leon und Franz erscheinen, immer noch in ihren Ballkostümen, und verteidigen Grete. Leon kniet vor Grete nieder und zeigt ihr ihren Schuh, den sie entgegen nimmt, und dann Leon einen Kuss auf die Stirn gibt. Franz, der ebenfalls einen Schuh gefunden hat, probiert ihn bei Yvette und Fanchon aus, doch muss er schließlich feststellen, dass er Mutter Francine gehört…
Anmerkungen.
1898 erschien in der Wiener Wochenzeitschrift Die Waage ein Preisausschreiben für ein Ballett-Sujet, das kein Geringerer als Johann Strauß vertonen sollte. Es wäre das erste eigenständige Ballett des inzwischen dreiundsiebzigjährigen Walzerkönigs. Bisher waren lediglich zu seinen Operetten Balletteinlagen entstanden. Strauß hatte kundgetan, dass er tatsächlich an einer Ballettkomposition arbeite, dass ihm aber ein geeignetes Libretto fehlen würde. Und das sollte mit der Hilfe jenes Preisausschreibens gefunden werden.
Garant für eine Aufführung in der k. und k. Hofoper war Hofoperndirektor Gustav Mahler, der zwar für das Ballett nichts übrig hatte und auch kein Freund der Musik von Strauß war, der sich aber dem Wunsch des Generalintendanten der Wiener Hoftheater, Freiherr von Hofmann, nicht widersetzen wollte. Mit der Musik für einen solchen Ballettabend sollten die bedeutenden Wiener Tanzkomponisten wie Suppé, Millöcker und Strauß engagiert worden.
Schon 1888 war in der Presse von einem Strauß-Ballett mit dem Namen Goldzauber berichtet worden, doch kam diese Komposition nie auf eine Bühne. Es ist übrigens auch nicht verbürgt, dass Johann Strauß davon überhaupt Kenntnis gehabt hat.
Nun aber konnte der Plan in Erfüllung gehen, denn das Preisausschreiben erbrachte 718 Einsendungen. Die Findungskommission, zu der neben Mahler und Strauß auch Hanslick gehörte, beklagte zwar das geringe Niveau der Texte, entschied sich schließlich für Kollmanns Aschenbrödel. Man hatte wohl im Sinn, dass es immerhin etliche Kompositionen zu diesem Thema gab, von Rossini, Prokoffief und Wolf-Ferrari beispielsweise, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreuten.
Johann Strauß machte sich an die Komposition und die Wiener Presse berichtete, dass das Ballett im November 1899 zur Uraufführung gelangen sollte. Alle Planungen wurden aber hinfällig, denn Strauß starb im Juni 1899 und hatte bis dahin nur den ersten und einen Teil des dritten Aktes fertiggestellt. Nun galt es, einen kompetenten Komponisten zu finden, der das fragmentarische Werk vollenden konnte. Millöcker lehnte aus Krankheitsgründen ab und der Ballettdirigent der Hofoper, Josef Bayer, der wegen seiner Ballette Wiener Walzer, Sonne und Erde und Die Puppenfee eine respektable Wahl war, übernahm die Aufgabe.
Aber jetzt machte Gustav Mahler einen Rückzieher, denn, und das war sein Argument, mit dem Tod von Strauß war die Vertragsgrundlage entfallen. Der Versuch von Adele Strauß, das Theater an der Wien, bevorzugte Stätte der Uraufführungen von Strauß-Operetten, für die Uraufführung zu gewinnen, ging ebenfalls daneben. Ein Versuch, das Berliner königliche Hoftheater einzuspannen, glückte. Allerdings erklärte Ballettmeister Emil Graeb das Sujet für nicht aufführungsreif; er bestand auf einer Neufassung des Librettos.
Diese Arbeit übernahm der Wiener Schriftsteller Heinrich Regel. Und das wiederum machte eine Neufassung der Musik notwendig. In der Folge zerlegte Bayer die vorhandene Musik in 95 kleine Abschnitte, die er in neuer Reihenfolge zusammenstellte. So wurde das Ballett in Berlin in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II. mit vollem Erfolg uraufgeführt. Der erwartete Siegeszug blieb allerdings aus. Es folgten 1903 lediglich drei Vorstellungen in Königsberg und eine in Insterburg im Dezember 1906.
In Wien ergab sich aber jetzt eine Änderung in der Führung der Hofoper: Gustav Mahler schied aus und Felix von Weingartner wurde als Nachfolger berufen. Der war, im Gegensatz zu Mahler, ein entschiedener Verfechter der Musik von Johann Strauß und unterzeichnete umgehend einen Vertrag zur Erstaufführung des Aschenbrödel-Balletts, die am 4. Oktober 1908 stattfand - allerdings nicht in der Urfassung, sondern in der Regel-Bayer-Version.
Als Professor Michael Rot Ende der 1990er Jahre daran ging, das Ballett im Rahmen der Gesamtausgabe der Werke von Johann Strauß herauszugeben, war die Quellenlage aber nicht gerade rosig. Die Hinterlassenschaft von Strauß zu Aschenbrödel (ein Konvolut von über 450 Seiten) galt seit langer Zeit als verschollen. Im Grunde genommen war nur der Klavierauszug von Josef Bayer, der auch das Kollmannsche Libretto enthält, greifbar, ergänzt mit Orchesterstimmen der Berliner Aufführung. Der Versuch, die Originalfassung wiederherzustellen, war folglich die Rückabwicklung der Regel-Bayer-Version.
Lange nach im Jahre 2001 erfolgten Publikation der Aschenbrödel-Noten stellte sich heraus, dass Strauß’ Hinterlassenschaft zu Aschenbrödel nicht durch Verlust, sondern durch Diebstahl abhanden gekommen war. Es war allerdings Deutschen Sicherheitsbehörden gelungen, der verloren geglaubten Handschriften habhaft zu werden und das hauptsächlich aus Skizzen bestehende Konvolut der Wiener Bibliothek zu restituieren.
(Zusammenfassung aus dem Booklet zur Erstveröffentlichung der Urfassung von Aschenbrödel bei cpo; es spielt das ORF-Sinfonie-Orchester unter Ernst Theis.)