Nach 44 Jahren Abwesenheit kehrte Massenets Werther im Juni 2024 an die Mailänder Scala zurück. Für die Regie wurde Christof Loy verpflichtet. Für die Besetzung der Titelrolle holte sich die Scala den derzeit führenden Interpreten im lyrischen französischen Tenorrepertoire: Benjamin Bernheim. Der Franzose erweist sich gesanglich und auch optisch als die Idealbesetzung.
Loy verlegt die Handlung in das gutbürgerliche Deutschland der 1950er Jahre. Die komplette Oper besteht aus einem Einheitsbühnenbild, dem Wohnbereich mit dem Speiseraum, der hinter einer Schiebetür zu sehen ist. Hier zeigt sich, dass der Amtmann ein wunderschönes, altmodisches Eigenheim besitzt. Die Damen erscheinen natürlich in den dazu passenden 50er-Jahre Kostümen, die Herren tragen Anzüge.
Amüsant der erste Auftritt Werthers, der in seinem blauen Anzug mit den leicht hochgekrempelten Hosen, die die daruntersitzenden weißen Socken betonen, wie ein Schüler wirkt, der modisch mit der Zeit gehen will. Die ganze Inszenierung von Christof Loy ist vor allem eines: geschmackvoll. Das Publikum dankt es ihm am Ende der Aufführung (Loy tritt auch noch in der letzten Vorstellung der Premierenserie vor den Vorhang) mit starkem Applaus und Bravos.
Benjamin Bernheim erweist sich wenig überraschend, wie schon eingangs erwähnt, als die ideale Besetzung. Er verfügt über eine detaillierte, ausgefeilte Gesangstechnik, das Timbre ist lyrisch weich und zart. In den dramatischen Momenten kann er aber genauso eindrucksvoll auftrumpfen, da hört man schon einen leichten metallischen Kern in der Stimme. Und dann ist da noch sein unglaublicher Farbenreichtum. Ja, er bringt Stimmfarben zu Gehör, die jede Nuance der Partitur hörbar machen.
Da ist der lieblich-zarte Ton in seiner Auftrittsarie Je ne sais si je veille ... o nature, pleine de grace, die eindringlichen Tonsprünge in Reve! Extase! Bonheur! oder dann die Erschütterung in der Stimme wenn er von Charlottes geplanter Heirat erfährt und er sich erstmals mit dem Freitod auseinandersetzt. Stets dabei im Vordergrund seine goldfarbene Tenorstimme, die sich unaufhörlich im Saal verströmt.
Der große Tenorhit Pourquoi me reveiller - den Bernheim unter anderem mit einem souveränen Diminuendo krönt - wird vom Publikum mit tosendem Applaus und vielen Bravo-Rufen gefeiert und wird natürlich zum umjubelten Höhepunkt der Aufführung.
Für die Charlotte hat die Scala die russische Mezzosopranistin Victoria Karkacheva ausgewählt, die erst vor drei Jahren sowohl den Ersten Preis als auch den Birgit-Nilsson-Preis beim Gesangswettbewerb Operalia gewinnen konnte. Dennoch war es einigermaßen eine Überraschung, dass man für eine so große Premiere die Charlotte einer noch wenig bekannten Sängerin anvertraut. Ihr Mezzosopran ist für die Partie vielleicht einen Tick zu leicht, ihr fehlt es an Tiefe, aber vor allem ist ihr Timbre selbst alles andere als aufregend. Die Briefszene geht viel zu beiläufig vorbei. Im Publikum saß zumindest eine Person, die begeistert war und ein einsames Bravo in den Saal schleuderte, dazu wurde versucht Applaus auszulösen. Aber niemand im Publikum reagierte darauf. Auch ich nicht. Das war einfach viel zu beliebig. Aber von da an ist der Knoten bei Karkacheva geplatzt. Im anschließenden Duett mit Sophie blüht die Stimme erstmal auf, sie findet endlich stimmlich einen Zugang zu der Rolle, auch in den folgenden Duetten mit Werther steigert sie sich, auch wenn sie nie Bernheims Klasse erreicht. Im Spiel ist sie spröde und zu kühl (gut, vielleicht auf die Regie zurückzuführen), gesanglich fehlt es ihr an Farben und den Anforderungen des französischen Gesangsstils wird sie auch nicht gerecht.
Charlottes jüngere Schwester Sophie wurde mit der italienischen Sopranistin Francesca Pia Vitale besetzt, die sich ideal in ihre Partie einfügen kann und deren Stimme leicht und glasklar ist, während Jean-Sebastien Bou - darstellerisch zwar sehr engagiert - ein stimmlich wenig geschmeidiger Albert ist. Aber wahrscheinlich muss er das ja gar nicht sein. Den Albert mag ja eigentlich niemand. Charlotte nicht, Werther nicht, das Publikum nicht.
Im Orchestergraben sorgt Dirigent Alain Altinoglu mit dem Scala-Orchester für reichlich Spannung aber genauso für mitreißende Emotionen und erweist sich als Kenner von Massenets Partitur. Gleichzeitig ist er den Sängern ein sehr guter Begleiter.
Ein musikalischer Höhepunkt jeder Aufführung ist natürlich das Intermezzo zum letzten Akt, welches in konventionellen Inszenierungen wohl eher vor geschlossenen Vorhängen gespielt wird. Loy hat hier einen hervorragenden Einfall. Zur Musik sehen wir auf der offenen Bühne Albert, der die Briefe Werthers an Charlotte findet, sie wütend zu Boden wirft und sie dann alle verzweifelt liest. Nicht nur Charlotte steht geschockt im Raum. Ebenfalls anwesend ist Sophie, die ja selbst für Werther schwärmt und die nun regelrecht erstarrt. Die Musik Massenets passt hier hervorragend zu dem auf der Bühne Gezeigtem.
Für die Mailänder ist Werther nach der langen Abwesenheit vom Scala-Spielplan zur Rarität geworden, dennoch gibt es am Ende begeisterten Applaus. Im Mittelpunkt des Publikumsinteresses steht natürlich Benjamin Bernheim, der bei seinen Solovorhängen ganz zu Recht frenetisch bejubelt wird. Nun ist er - nach New York oder Zürich - auch in Mailand DER Mann fürs Lyrisch-Französische.
Gregor