„Gruß“ (III)
Bei den Schlussworten „Sag´, ich lass´ sie grüßen“ würde man nun erwarten, dass die melodische Linie, nach diesem zögerlichen Verharren zuvor, in die große, mit einem Aufstieg in hohe Lage einhergehende Emphase ausbricht. Das aber geschieht nicht. Im Gegenteil: Sie vollzieht einen verminderten Quintfall in untere Lage, geht von dort in einen eilig anmutenden, weil in Achtelschritten vollzogenen dreischrittigen Sekundanstieg über, um dann auf dem Wort „grüßen“ allerdings einen gewichtigen, weil in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgenden Sekundanstieg in mittlerer Lage zu beschreiben. Eine emphatische Aufgipfelung der Melodik stellt das nicht dar, und der Grund dafür erweist sich auf der Stelle, denn die melodische Linie setzt ihre Entfaltung ohne Pause fort. Sie hat das, was da sich in diesen lyrischen Schlussworten hinsichtlich der Haltung des lyrischen Ichs ausdrückt, das ihnen innewohnende affektive Potential also, noch nicht hinreichend erfasst.
Mit einem Crescendo versehen und in Subdominantseptharmonik gebettet, beginnt sie nun mit einem zweimaligen Sekundanstieg auf identischer tonaler Ebene in oberer Mittellage und setzt diesen Aufschwung-Dynamik beinhaltenden deklamatorischen Gestus bei den Worten „Rose schaust“ eine kleine Sekunde höher fort, wobei die Harmonik eine Rückung zur Dominante vollzieht. Damit hat sich in der Dehnung auf „schaust“ eine starke melodische Binnenspannung aufgebaut, und nach einer Viertelpause darf sie sich dann endlich entladen. Auf dem Wort „sag´“ liegt nun eine forte vorzutragende lange Dehnung in hoher Lage. Bei den Worten „ich laß sie“ ereignet sich nun nicht mehr der Anstieg in Sekundschritten wie zuvor, vielmehr einer, der auf ausdrucksstarke Weise eine Oktave tiefer ansetzt und über drei Terzschritte erfolgt, auf dass die melodische Linie dann über einen Quartsprung zu einer expressiven, sforzato auszuführenden langen Dehnung in hoher Lage übergehen kann, die auf der zweiten Silbe von „grüßen“ in eine weitere Dehnung eine Sekunde tiefer mündet.
Erst in der Wiederholung des Schlussverses findet dieser zu der musikalischen Emphase, die die Haltung des lyrischen Ichs und seine Emotionen auf voll und ganz zum Ausdruck bringt. Dies deshalb, weil die melodische Linie nun mit einer langen Dehnung in hoher Lage einsetzt und nach einem Anstieg über das große Intervall einer Oktave in einem stark gedehnten, über zwei Takte sich erstreckenden Sekundfall auf dem Grundton in hoher Lage endet, wobei die Harmonik in gesteigertem Kadenz-Gestus eine Rückung von der der Subdominante A-Dur über die Dominante H-Dur zur Tonika E-Dur beschreibt. Und auch das Klavier trägt dazu seinen Teil bei, indem es von seinen Akkordfolgen ablässt und mit aufsteigend angelegten Sechzehnteln und Legato-Akkordrückungen begleitet.

Edvard Grieg. Seine Lieder in Auswahl vorgestellt und analytisch betrachtet
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Felix Mendelssohn, „Gruß“
Dass diese Heine-Vers auch von Mendelssohn vertont wurden, darauf wagt man gar nicht hinzuweisen, zu so großer Bekanntheit ist dieses Lied gelangt. Anders als bei „Ihr Bild“, soll hier auch keine ausführliche vergleichende Liedbetrachtung erfolgen. Gleichwohl stellt sich auch hier die Frage nach dem Unterschied im liedkompositorischen Zugriff auf den lyrischen Text. Sie drängt sich sogar regelrecht auf, angesichts des signifikanten Kontrasts im klanglichen Hörbild.Es handelt sich um ein reines Strophenlied, es steht im Zweivierteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Andante“ versehen. Im Klaviervorspiel steigen über Quarten im Bass Sechzehntel-Terzen im Diskant auf, halten kurz inne, setzen diese Bewegung dann weiter fort und beschreiben am Ende einen kleinen Bogen. Etwas Fanfarenhaftes wohnt dieser musikalischen Bewegung inne. In ihrem Anstiegsgestus suggeriert sie Weite und stellt damit eine zarte Evokation des lyrischen Bildes der ersten Strophe dar. Das Klaviervorspiel wirkt wie ein Vorklang auf den Geist des Liedes: Ein melodisch-harmonisches Auskosten des D-Dur-Akkords.
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Mendelssohn, „Gruß“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Die klangliche Faszination, die von der melodischen Linie der Singstimme ausgeht, ist mit Worten nicht zu fassen. Sie ist von unmittelbar eingängiger volksliedhafter Schlichtheit. Beschreiben kann man sie höchstens, und daraus diesbezügliche Vermutungen herleiten. Zweimal dieselbe Abwärtsbewegung in Terzen auf den ersten vier Silben des ersten Verses, danach eine Aufwärtsbewegung in Sekunden, und dann bei den Worten „liebliches Geläute“ wieder eine melodische Bewegung, die wie ein kleines Spiegelbild des Anfangs wirkt, nur in höherer Lage und mit einmal einem kleineren Intervall.
Nach einer Achtelpause setzt sich diese Bewegung der Vokallinie dann bei dem zweiten Verspaar in ähnlicher Weise fort. Wieder zunächst zwei Schritte nach unten (zu einem tiefen „dis“), dieses Mal aber mit größeren Intervallen. Und danach ein Emporsteigen zum höchsten Ton des ganzen Liedes (einem „fis“), auf dem ein melodischer Bogen mit Dehnung beschrieben wird, der dann auf der Tonika landet.
Der klangliche Reiz dieser zweiten Bewegung gründet auch darin, dass bei „Klinge, kleines Frühlingslied“ eine harmonische Modulation vollzogen wird, die diesen Worten eine deutliche klangliche Frische verleiht. Das Klavier begleitet derweilen durchgängig mit im Piano pochenden Sechzehnteln, zum Teil in Form von Einzeltönen im Diskant, zum größeren Teil aber mit Akkorden.
In diesem Lied erfährt und erlebt man die Stärke des Liedkomponisten Mendelssohn sozusagen in klanglicher Reinkultur: Er vermag es, den Geist des lyrischen Textes mit einer einfachen Melodie musikalisch einzufangen. Hier erklingt ein in seiner melodischen und harmonischen Schlichtheit unmittelbar in Bann schlagendes „kleines Frühlingslied“, es klingt „hinaus ins Weite“. Dann gibt es noch das Bild von den „sprießenden Veilchen“ und am Ende den Wunsch, dass eine Rose gegrüßt werden möge. Und im letzten Vers, den Worten „Sag´, ich lass sie grüßen“ schwingt sich die Liedmusik zu einer in ihrer Zartheit unmittelbar ansprechender melodischer Emphase auf.
Der Unterschied im zugrundlegenden liedkompositorischen Konzept ist offenkundig. Er zeigt sich schon in der formalen Anlage: Bei Mendelssohn ein reines Strophenlied, bei Grieg eine in ihrer Faktur vergleichsweise komplexe Durchkomposition. Er folgt auch hier seiner liedkompositorischen Grund-Intention, nicht einfach „, Musik zu machen, sondern in erster Linie darum, den geheimsten Intentionen des Dichters gerecht zu werden“. Wie vorangehend in detaillierter Weise aufgezeigt, will er mit jeder Melodiezeile die Aussage jedes Verses in seiner Semantik und in seinem affektiven Gehalt erfassen, so dass ein Strophenlied gar nicht infrage kommen kann, und um der Emphase des letzten Verses auf expressiv adäquate Weise gerecht zu werden, greift er sogar zum Mittel der Wiederholung.
Und Mendelssohn? Diese am lyrischen Text in seiner Semantik und seinen affektiven Dimensionen ansetzende kompositorische Verfahrensweise ist ihm fremd. Er zielt auf etwas ganz und gar Anderes ab: In der Melodik den Geist eines Frühlingsgrußes einzufangen und zum Ausdruck zu bringen. Und das gelingt ihm in einem Spiel mit den Tönen eines D-Dur-Akkordes, das in seiner Schlichtheit wie das Aufklingen von frühlingshaften Naturlauten anmutet.
Ein kompositorisch rein evokatives Prinzip steht hier einem interpretativen gegenüber. Welches in diesem Fall das effektivere, seinen Rezipienten unmittelbarer ansprechende und ergreifendere ist, das hat die Geschichte erwiesen. -
„Ich liebe dich“, op. 5, Nr. 3
Du mein Gedanke, du mein Sein und Werden!
Du meines Herzens erste Seligkeit!
Ich liebe dich wie nichts auf dieser Erden,
Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit!
Ich denke dein, kann stets nur deiner denken,
Nur deinem Glück ist dieses Herz geweiht;
Wie Gott auch mag des Lebens Schicksal lenken,
Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit.
(Hans Christian Andersen, Deutsch von Friedrich von Holstein)
Vorbemerkung:
Lyrik zu interpretieren, deren Sprache man nicht kennt, die einem nur in Gestalt einer Übersetzung vorliegt, das geht nicht.
Und im Grunde geht auch nicht, sich auf eine analytische Betrachtung der Liedmusik darauf einzulassen, denn diese ist ja auf der Grundlage dieses lyrischen Textes und einer kompositorischen Interpretation desselben hervorgegangen.
Aus diesem Grund habe ich es bislang unterlassen, und betreibe das hier mit großem Unbehagen. Meine analytischen und interpretativen Ausführungen zu Grieg-Liedmusik auf norwegische oder dänische Lyrik können also nur relative Gültigkeit beanspruchen, relativ, weil sie aus der Bezugnahme auf den deutschen Text hervorgehen.
Hans Christian Andersen und seine Dichtung spielen eine große Rolle in Griegs Leben und kompositorischem Schaffen. Dieser fühlte sich von der Thematik, der schlichten Sprachlichkeit und der Musikalität von Andersens Lyrik stark angezogen und vertonte fünfzehn Gedichte von ihm, so dass Andersen den zahlenmäßig ersten Platz unter den Dichtern einnimmt, deren Lyrik von Grieg vertont wurde. Auch menschlich standen die Beiden sich nahe. Vor Griegs Abreise nach Italien im Herbst 1865 trug Andersen einen Abschiedsgruß in dessen Stammbuch ein.
Das Lied „Ich liebe dich“, das im Original „Jeg elsker dig“ heißt, ist das dritte des 1864/65 entstandenen Opus fünf, das den Titel „Hjertets Melodier“, also „Melodien des Herzens“ trägt, vier Liedern auf Gedichte von Andersen beinhaltet und ein Verlobungsgeschenk für die Sängerin Nina Hagerup darstellt, die später nicht nur eine geliebte Frau, sondern hochgeschätzte Interpretin seiner Lieder wurde. Grieg bekannte im Jahr 1881: „Was mich in dieser Zeit zutiefst beeinflusste und den Anstoß zu vielen Liedern gab, z.B. >Hjertets Melodier“, war meine Bekanntschaft und Verlobung mit meiner jetzigen Frau Nina Hagerup.“
Der dänische Opernsänger Julius Steenberg charakterisierte 1881 ihren gesanglichen Vortrag mit den Worten:
„Für sie galt als oberstes Gesetz, das hervorzuheben, was er zu betonen wünschte, - wenn es sein musste, ohne Rücksicht auf die konventionelle Gesangskunst. (…) Oft glich ihr Gesang einem lebhaft dramatischen Rezitativ. Sie erfasste nicht nur die Grundstimmung der Dichtung, sondern vertiefte sich in jedes einzelne Wort, so dass die Wirkung im Gesang eine stärkere und eigentümlichere war als beim Vorlesen der Dichtung.“
Dies wurde hier deshalb zitiert, weil Nina Hagerups gesanglich-interpretatorischer Ansatz am lyrischen Wort genau dem liedkompositorischen Grundkonzept Griegs entspricht: Es ist auf das musikalische Erfassen der lyrischen Aussage ausgerichtet, und das Melos, so großen Wert er auf seine gebundene Entfaltung legt, bezieht daraus allererst seine Gestalt.
Dieses Lied hat zu geradezu unglaublicher Popularität gefunden, wurde in viele Sprachen der Welt übersetzt und in unzähligen Aufnahmen publiziert. Zu Griegs Lebzeiten fand sich allerdings kein Verleger für es, wie für das ganze Opus 5, so dass er es im April 1865 in Kopenhagen auf eigene Kosten drucken lassen musste. Die Faszination, die von ihm ausgeht, gründet wohl darin, dass es Grieg gelang, die sprachlich einfach und schlicht anmutende Direktheit der lyrischen Aussage in eine ihr darin vollkommen entsprechende Liedmusik umzusetzen und in ihrem emphatischen Geständnis-Charakter in seiner Eindringlichkeit dabei sogar noch zu steigern.
Das geschieht dadurch, dass sich die Melodik aus nur zwei deklamatorischen Grundfiguren entwickelt und entfaltet, das Prinzip der Wiederholung in zweierlei Formen zum Einsatz kommt und die zentrale Aussage, das klassische „Ich liebe dich“ dadurch und mittels einer Ausweitung des deklamatorisch-melodischen Ambitus in Kombination mit einem dynamischen Fortissimo eine Steigerung seiner Emphase erfährt, die weit über das hinausgeht, was in Andersens Lyrik vorliegt. Wie sich das im Detail der kompositorischen Faktur darstellt, dies aufzuzeigen ist Aufgabe der nachfolgenden analytischen Betrachtung. -
„Ich liebe dich“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein Dreivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, Grundlage dafür, dass sie in ihrem „Andante“ die innere Beschwingtheit entfalten kann, die ihr klangliches Wesen ausmacht. Ein dreitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus, das, weil es sich in seiner Struktur vom Klaviersatz der Singstimmen-Begleitung deutlich abhebt und als Zwischenspiel vor der Liedmusik des zweiten Verspaares der beiden lyrischen Strophen in Kurzfassung noch einmal aufklingt, eine durchaus eigene Aussagefunktion reklamiert. Während der der melodischen Linie der Singstimme mit einer zweimaligen, darin allerdings bedeutsamen Ausnahme in Diskant und Bass akkordisch angelegt ist, entfaltet sich das Vorspiel in Gestalt eines chromatischen Anstiegs von synchronen Achtel-Sprungfiguren in Diskant und Bass, die in C-Dur und G-Dur Harmonik im Bass einsetzen, in a-Moll-, G-Dur- und d-Moll-Harmonisierung in obere Diskant- und Basslage ihre Aufwärtsbewegung fortsetzen und in G7-Harmonik enden, die in ihrer Dominantsept-Klanglichkeit den Einsatz der Melodik in C-Dur-Harmonisierung eröffnet.
Grieg hat die Zweistrophigkeit des Andersen-Gedichts umgestaltet, indem er aus dem ersten und dem zweiten Verspaar eine im kompositorischen Satz sich jeweils wiederholende Liedstrophe macht. Auf den Worten des ersten und zweiten Verses der ersten und zweiten Strophe liegt also eine identische Liedmusik, ebenso wie auf denen der dritten und vierten Verse derselben. Dazwischen erklingt, nur einen Takt einnehmend, der verkürzte Klaviersatz des Vorspiels in einer in a-Moll- und D-Dur erfolgenden und wieder in ein G7 mündenden Harmonisierung. In der zwischen Dur und Moll pendelnden und in einen Dominantseptakkord mündenden Anstiegsbewegung der Achtelfiguren empfindet man dieses Vorspiel als Ausdruck der liebeerfüllten seelischen Regungen des lyrischen Ichs.
Auf den Worten „Du mein Gedanke, du mein Sein und Werden“ beschreibt die melodische Linie eine Bewegung, die nicht nur auf den Worten „Ich denke dein, kann stets nur deiner denken“ in identischer Weise wiederkehrt, sondern auch noch auf dem ersten Vers von Griegs zweiter Strophe, den Worten „Ich liebe dich wie nichts auf dieser Erden“ also, und sogar noch auf dem dritten in derselben, lautend „Wie Gott auch mag des Lebens Schicksal lenken“. In diesen beiden Fällen ist aber der Klaviersatz ein anderer, worauf noch einzugehen ist.
In all diesen Versen drückt sich die emotionale und existenzielle Befindlichkeit des lyrischen Ichs aus, die Tatsache, dass es in all seinem Denken, Handeln und Fühlen von der Liebe zum Du erfüllt ist, davon geleitet wird und sie als Sinnerfüllung seines Daseins empfindet. Deshalb hat Grieg diese drei Verse in einer Melodik zusammengefasst, obwohl sie sich bei Andersen ja doch in beiden Strophen finden. Die melodische Linie auf ihnen ist wellenförmig angelegt. Sie setzt mit einem verminderten Sekundanstieg in mittlerer Lage ein, beschreibt bei „Gedanke“ nach einem Terzanstieg einen auf eine Tonrepetition folgenden Sekundfall, wiederholt diese Aufwärtsbewegung bei „du mein Sein und“ auf gleichsam gesteigerte Weise noch einmal in Gestalt eines in tiefer Lage ansetzenden dreischrittigen Sekundanstiegs, um bei dem Wort „Werden“ in einem gewichtigen, weil in deklamatorischen Schritten im Wert eines Viertels erfolgenden Sekundfall zu enden.
Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von C-Dur über a-Moll nach d-Moll. Aber dazwischen, beim Sekundanstieg auf den Worten „mein Sein und“, vor dem Sekundfall auf „Werden“ also, ereignet sich eine Rückung in verminderte Fis-Harmonik. Sie ist von Grieg wohl als harmonisches Mittel eingesetzt, das d-Moll zu akzentuieren, in das der Sekundfall auf den Schlussworten „Werden“, „denken“ „Erden“ und „lenken“ gebettet ist. Denn das Tongeschlecht Moll bringt hier nicht seelischen Schmerz zum Ausdruck, vielmehr reflektiert es das affektive Potential, das den schwärmerischen Bekenntnissen des lyrischen Ichs über seine seelische Befindlichkeit innewohnt.
Wie wichtig und bedeutsam diese Melodiezeile Grieg ist, das wird nicht nur daraus ersichtlichen, dass er sie vier Mal erklingen lässt, es zeigt sich auch in dem ihr zugehörigen Klaviersatz. Dieser besteht in den ersten beiden Fällen im Diskant aus zweistimmigen, am Ende in die Dreistimmigkeit übergehenden Akkordrepetitionen. Im Bass aber vollziehen Achtel die Bewegungen der melodischen Linie exakt mit, so dass diese gleichsam eine Oktavierung erfährt. In den beiden anderen Fällen, dem dritten Vers der ersten und der zweiten Strophe also, ereignet sich eine Potenzierung dieser Oktavierung, die ja doch eine Akzentuierung der melodischen Aussage darstellt. Nun vollziehen nicht nur die Achtel im Bass jeden deklamatorischen Schritt mit, jetzt geschieht das zusätzlich auch noch durch die Oberstimme der zwei- und dreistimmigen Akkorde im Diskant. -
„Ich liebe dich“ (II)
Die zweite melodische Figur, aus der sich die Liedmusik entfaltet, klingt bei den Worten „Du meines Herzens erste Seligkeit!“ auf und wiederholt sich auf den Worten „Nur deinem Glück ist dieses Herz geweiht“, den jeweils zweiten Versen der beiden Gedicht-Strophen also. Der deklamatorische Gestus, in dem sie sich entfaltet, das sprunghafte Auf und Ab, das am Ende über einen Fall in eine Tonrepetition übergeht, kehrt auch in der Melodik auf den Worten des letzten Verses beider Strophen wieder, in der die Liedmusik in Gestalt mehrfacher Wiederholungen den Höhepunkt ihrer Expressivität erreicht. Und wie bewusst Grieg, um ein Höchstmaß an Eindringlichkeit zu erreichen, in diesem Lied mit dem Prinzip der Wiederholung arbeitet, das zeigt sich darin, dass er auch diese zweite melodische Figur mit der Anstiegsbewegung einleitet, mit der die erste einsetzt. Nur dass es dieses Mal kein Anstieg in einer Kombination aus verminderter Sekunde und Terz ist, sondern bei den Worten „du meines“ („Herzens“) und „nur deinem“ („Glück) einer über zwei einfache Sekundschritte.
Bei dem Wort „Herzens“ beschreibt die melodische Linie einen Quartfall, geht dann bei „erste“ nach einem Sextsprung in einen gedehnten Terzfall über und setzt diesen Sprung-Gestus bei dem Wort „Seligkeit“ fort, indem sie mit einem Quintsprung in hohe Lage aufsteigt, um von dort nach einer kleinen Dehnung auf die Ausgangsebene zurückzufallen und dort in eine Tonrepetition überzugehen. Das ist der erwähnte deklamatorische Sprung- und Fallgestus, den man als Ausdruck eines Entzückens auffassen kann, das aus dem seelischen Innenraum nach außen drängt, denn diese melodische Bewegung setzt im Pianissimo ein und endet mit einem Crescendo bei dem Wort „Seligkeit“ im Forte. Aber dass Grieg die Emotionen, die in diesen zweiten Versen beider Strophen ihren lyrischen Niederschlag finden, als wesenhaft im seelischen Innenraum angesiedelt versteht, wird darin vernehmlich, dass er das Forte auf dem gedehnten Quintfall bei den Worten „Seligkeit“ (Strophe 1) und „Herz geweiht“ (Strophe 2) in ein Decrescendo übergehen lässt. Das Klavier begleitet diese Melodiezeile mit einfachen Akkordrepetitionen, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von A-Dur zur Dominantseptvariante von D-Dur.
Und da ist nun noch die sich ebenfalls wiederholende Liedmusik auf dem Schlussvers beider Strophen, in dem, da er identisch ist, Andersen dem Komponisten das Prinzip der Wiederholung gleichsam vorgegeben hat. Dieser steigert sich darin aber darin auf massive Weise, indem er nicht nur alle Melodiezeilen wiederholt, sondern darüber hinaus die Worte „Ich liebe dich“, die ja schon als Bekenntnis im dritten Vers der ersten Gedichtstrophe enthalten sind, nun vier Mal deklamieren lässt. Im Grunde ist das ja doch eine unglaubliche Kühnheit, dieses sprachlich so unendlich abgegriffene Liebesgeständnis in dieser Weise in Musik zu setzen, aber die eigentlich zu erwartende Peinlichkeit ereignet sich nicht: Man empfindet das - ich jedenfalls - als absolut selbstverständlich und natürlich. Und da scheint das Wesen von Griegs Liedmusik auf: Ihre mit Realismus einhergehende Natürlichkeit.
Die melodische Figur, in die die Melodik der zweiten Verse beider Strophen bei den Worten „erste Seligkeit“ und „dieses Herz geweiht“ mündet, der Sprung mit gedehntem Fall und Tonrepetition, liegt auch den Worten „ich liebe dich“ zugrunde. Auch der zugehörige Klaviersatz mit seinen Akkordrepetitionen ist strukturell der gleiche.Was sich nun aber liedkompositorisch bei den Wiederholungen ereignet, ist bemerkenswert, weil es eine Erklärung dafür liefert, dass man sie in keiner Weise als peinlich empfindet. Beim ersten „ich liebe dich“ geht die melodische Linie, in A7-Harmonik gebettet, nach einem auftaktigen Terzsprung auf der Silbe „lie-“eine kleine Dehnung in mittlerer Lage über und vollzieht danach einen Quartfall in Gestalt eines deklamatorischen Sechzehntel-Schritts auf der Silbe „be“. Auf dieser tonalen Ebene folgt dann ein Viertel-Schritt bei dem Wort „dich“ nach. Beim nach einer Achtelpause nachfolgenden zweiten „ich liebe dich“ ereignet sich die gleiche melodische Bewegung, nur dieses Mal auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und in D7-Harmonik gebettet.
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„Ich liebe dich“ (III)
Das dritte „ich liebe dich“, an das sich nun die Worte „in Zeit und Ewigkeit“ anschließen, setzt die melodische Linie, weiterhin in der Dominantseptvariante von D-Dur harmonisiert, zu ihrem auftaktigen Sprung eine weitere Terz höher an, der nach dem Terzsprung erfolgende gedehnte Fall auf „liebe“ erfolgt aber dieses Mal über das größere Intervall einer Quinte, was eine Akzentuierung dieses Wortes mit sich bringt. Danach beschreibt die melodische Linie eine mit einem Crescendo versehene dreischrittige Anstiegsbewegung über zwei Sekunden und eine Terz, um bei dem Wort „Ewigkeit“ zu einer kleinen Dehnung überzugehen, die in eine rhythmisierte Tonrepetition eine Sekunde tiefer mündet. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung vom vorangehenden D7 zum als Subdominante fungierenden Dominantsept-G-Dur.
Diese auf dem dreimaligen „ich liebe dich“ basierende und in das Wort „Ewigkeit“ mündende Melodik ist, versehen mit der Anweisung „cresc. sempre“, auf eine mittels schrittweisen Anhebung der tonalen Ebene erfolgende kontinuierliche Steigerung der Emphase angelegt, wodurch das „ich liebe dich“ auf jeweils neue Weise erklingt, so dass ein Peinlichkeitseffekt in der Wiederholung nicht eintreten kann. Und nach diesem kompositorischen Konzept verfährt Grieg auch bei der nun im Fortissimo vorzutragenden Melodik auf der Wiederholung der Worte „Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit“. Nun setzt der auftaktige Terzsprung auf „ich liebe dich“ auf einer um eine um eine Sekunde weiter angehobenen tonalen Ebene ein.
Aber dann ereignet sich etwas Bemerkenswertes: Der gedehnte Fall erfolgt nun, und dies ritardando, aus hoher Lage über eine verminderte Sexte, wobei die Harmonik eine Rückung nach f-Moll vollzieht. Das ist kein Schmerzlichkeit insinuierendes Moll, vielmehr eines, das, wie der nachfolgende Übergang der Harmonik zu G7-Tonalität bewusst macht, emotionale Tiefe der melodischen Aussage zum Ausdruck bringt, so dass dieses nun vierte „ich liebe dich“ als Geständnis den Höhepunkt seiner Expressivität erreicht hat. Die melodische Bewegung auf den Worten „in Zeit und Ewigkeit“ ist strukturell zwar die gleiche, weist aber eine kleine Variation auf, weil Grieg sie mit ihren aus einem gedehnten Sekundfall hervorgehenden deklamatorischen Repetitionen auf „Ewigkeit“ nun in die Tonika C-Dur münden lassen will.
Das dreitaktige Nachspiel lässt die melodische Bewegung dieser letzten Melodiezeile in akkordischer Gestalt noch einmal erklingen, über den oberen Leitton der Akkordfolge im Diskant nämlich, und bekräftigt damit die das Aussage-Zentrum dieses Liedes bildenden Worte „ich liebe dich“. Drei arpeggierte, eine harmonische Rückung von der Dominante zur Tonika beinhaltende Akkorde setzen den Schlusspunkt. Der letzte in C-Dur verklingt mit einer Fermate im Pianissimo. -
„Zwei braune Augen“, op. 5, Nr. 1
Hab jüngst gesehen zwei Augen braun,
Drin war mein Heil, meine Welt zu schaun.
O Blick so liebreich und kindlich rein,
Nein, nie und nimmer vergeß ich dein!
(Hans Christian Andersen, Deutsch von W. Henze)
„To brune oine“ ist der Titel des Originals. Es stellt schlichte Lyrik dar, sich entfaltend in sprachlich konstatierendem, ein Ereignis referierendem Gestus. Ein metaphorisch evokatives Potential weist sie nur darin auf, dass das lyrische Ich in die Augen des Du „sein Heil“ und „seine Welt“ projiziert. Das Gedicht verkörpert in seiner Sprachlichkeit und seiner eindimensionalen Metaphorik den die Nähe zum Volkslied suchenden und wahrenden Grundton von Andersens Lyrik.
Und in dieser seiner Eigenschaft kommt es Grieg gelegen, sucht er in seiner Liedkomposition diese Nähe doch auch. Aber er erschöpft sich nicht darin, überschreitet vielmehr schon in seinen frühen Lied-Opera wie diesem, erst recht aber in seinen späteren Liedkompositionen das strukturelle Potential der Volksliedmelodik, erst recht aber das ihrer Harmonisierung sehr deutlich. Dies jedoch, und das macht den Reiz und die Besonderheit seiner Lieder aus, ohne in ihrem Grundton die Volksliednähe völlig preiszugeben.
Man kann das bei diesem Lied schon, allerdings erst gleichsam in seinen Ansätzen, deutlich vernehmen und erkennen. Die Melodik weist in ihrer Struktur eine volksliedhafte Einfachheit und Schlichtheit auf, ist aber nach dem Da capo-Prinzip angelegt und erfährt über das kompositorische Mittel der Wiederholung eine Steigerung ihres Aussage-Potentials. Der Klaviersatz weist Eigenständigkeit auf und verleiht dem Lied in seiner tänzerischen, dabei sich an der harmonischen Dominante ausrichtenden Anlage der Liedmusik die ihren Charakter prägende und darin durchaus beeindruckende leichtfüßige Beschwingtheit. -
„Zwei braune Augen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein Dreivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, die Tempo- und Vortragsanweisung lautet „Allegretto con grazia“, und als Grundtonart ist G-Dur vorgegeben. Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus, und es ist bezeichnend, dass dieser inmitten desselben stattfindet, am Ende seines zweiten Takts nämlich, so dass es gleichsam aus ihm hervorgeht und von seinem Geist inspiriert und beflügelt wird. Es ist ein wesenhaft tänzerischer, in der mit einer auftaktigen, durch eine Sechzehntelpause unterbrochenen Figur aus Achtel und Sechzehntel eingeleiteten Folge von drei- und vierstimmigen Staccato-Achtelakkorden, die in einer von der Tonika G-Dur zur Dominante D-Dur harmonisiert ist. Mit dieser Auftaktfigur ist das die Grundstruktur des Klaviersatzes in der Begleitung der melodischen Linie bis zum Liedende. Die Harmonik verbleibt dabei allerdings nicht in dieser Tonika-Dominanten-Enge, greift vielmehr im Quintenzirkel und im Tongeschlecht weiter aus, die Tendenz zur Dominante wohnt ihr allerdings wie eine Art Orgelpunkt inne.
Die Gliederung der Liedmusik in Melodiezeilen, die jeweils einen Vers beinhalten und in eine Pause münden, ist durchaus volksliedgemäß. Dass diese Pause aber nach der zweiten Zeile nicht mehr aus einem Achtel, sondern aus vier Takten besteht, in denen ein Zwischenspiel erklingt, zeigt, dass Grieg zu diesen Andersen-Versen liedkompositorisch mehr zu sagen hat, als ihm in der schlichten Volksliedsprache möglich wäre. Und erst recht zeigt sich das darin, dass er nach der Melodiezeile auf dem vierten und letzten Vers nach einer neuerlichen, nun zwei Takte umfassenden Pause, die Verse drei und vier noch einmal wiederholt und nach einer Achtelpause die Worte „vergeß ich dein“ mit einer eigenen, das Lied beschließenden Melodik hinzufügt.
Das ist eben das Typische an seinen Liedern: Sie stellen Liedkomposition im Geist des romantischen Klavierliedes dar, atmen aber, ähnlich wie bei Brahms, auf deutlich stärkere Weise Volkslied-Geist. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist übrigens, dass er sich zwar liedkompositorisch stark an Schubert und Schumann orientierte, an diesem aber kritisierte, dass er interpretatorisch zu viel in den lyrischen Text hineinlege. Brahms stehe ihm diesbezüglich näher.
Auf den Worten „Hab jüngst gesehen“ beschreibt die Melodik nach einem auftaktigen Sekundfall einen Quintsprung in hohe Lage, dem eine Kombination aus Sekund- und Terzfall nachfolgt. Und diese Bewegung wiederholt sie auf den Worten „zwei Augen braun“ noch einmal, ohne den Terzfall am Ende allerdings, weil das Wort „braun“ nur einsilbig ist. Harmonisiert ist sie in G-Dur, mit kurzer Zwischenrückung zur Dominante. Das ist melodischer Volkslied-Gestus, ebenso wie die Tatsache, dass die nach einer Achtelpause einsetzende Melodik aus periodischem Denken hervorgegangen ist. In ihrer Struktur ist sie darauf hin angelegt, mit der ersten Melodiezeile ein Paar zu bilden, um darin zu einem Abschluss in Gestalt einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene des Grundtons in unterer Lage zu kommen. Bei den Worten „drin war mein Heil“ beschreibt die melodische Linie nun einen Anstieg über zwei Sekundschritte und einen über eine Terz und geht nach einer kleinen Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „Heil“ in einen Sekundfall über, der, nach einem kurzen Innehalten in Gestalt eines Sekundschritts aufwärts, bei dem Worten „schaun“ in besagter langer Dehnung in der Tonika endet.
Im nachfolgenden fünftaktigen Zwischenspiel erklingt die Melodik in akkordischer Gestalt noch einmal, wobei auch arpeggierte Akkorde einbezogen sind. Mit dem dritten Verses geht das lyrische Ich, ablassend vom sprachlichen Gestus des konstatierenden Berichts, zum Ausdruck der Emotionen über, wie sie sich in der Begegnung mit dem „Blick“ des Du eingestellt haben, wobei die Aussage ihre Ereignis-Relation abgesteift hat und auf die Ebene überzeitlicher Gültigkeit angesiedelt ist. Das schlägt sich in der Liedmusik dergestalt nieder, dass sie nun einen schwärmerischen Ton anschlägt. Auf den Worten „O Blick so liebreich“ beschreibt die melodische Linie, in H-Dur harmonisiert, in unterer Mittellage eine sanfte Bogenbewegung in Sekundschritten, die das Klavier im Diskant in Gestalt von bitonalen Akkorden mitvollzieht. Dabei liegt auf dem Wort „liebreich“ ein leicht gedehnter und es mit einer zarten Akzentuierung versehender Sekundfall. Bei „und kindlich rein“ wird die Akzentuierung aber deutlicher. Hier vollzieht die melodische Linie einen Oktavsprung, dem auf „rein“ ein Quartfall nachfolgt. Auch diese melodische Bewegung vollzieht das Klavier in akkordischer Gestalt mit, sie ist aber nun in e-Moll-Harmonik gebettet. Darin kommt der affektive Gehalt zum Ausdruck, den Grieg in dieser lyrischen Aussage wahrnimmt. -
„Zwei braune Augen“ (II)
Auf den Worten des Schlussverses beschreibt die melodische Linie eine Bewegung, die man als Leser des Gedichts eigentlich nicht erwartet. Das anfängliche „Nein“ erfordert doch, so denkt man, eine melodische Hervorhebung. Nichts dergleichen geschieht aber. Wie beiläufig geht die melodische Line hier in gleichgewichtigen deklamatorischen Achtelschritten in einen Terzfall in tiefer Lage über, erhebt sich daraus in gleicher Weise wie gerade erst im vorangehenden Vers in drei Sekundschritten und geht wie dort bei „liebreich“ in einen wieder in e-Moll harmonisierten und leicht gedehnten Sekundfall über. Nun aber folgt kein Oktavsprung nach, vielmehr setzt die melodische Linie ihre Abwärtsbewegung auf den Worten „nimmer vergeß“ weiter bis in tiefe Lage fort. Darin auch hier wieder im Diskant begleitet mit bitonalen Akkorden, aber versehen mit der Anweisung „poco rit.“ und einem Crescendo.
Bei den Worten „ich dein“ ereignet sich dann aber ein nach dieser vorangehenden Abwärtsbewegung geradezu überraschender Anstieg der melodischen Linie über die vergleichsweise nun großen Intervalle einer Terz und einer Quarte hoch zu einer langen Dehnung auf dem Wort „dein“ in oberer Mittellage. Begleitet und akzentuiert wird sie dabei vom Klavier mit einem ebenso lang gehaltenen Akkord, dessen Tonart aber ebenso überraschend ist: Es ist ein D-Dur. Und damit wird klar, dass diese Melodik in ihrer doch ungewöhnlich anmutenden Struktur und ihrer in ein hier als Dominante fungierendes D-Dur mündenden Harmonisierung auf liedmusikalische Offenheit hin angelegt ist, zum Ausdruck bringend, dass noch nicht alles gesagt ist, das Lied mit der Melodik auf dem letzten lyrischen Vers noch nicht an sein Ende gelangt ist.
Und so kommt es auch. Die Worte der dritten und vierten Strophe werden noch einmal deklamiert, und dies keineswegs auf der bereits erklungenen Melodik. Nun ist es eine von gesteigerter Expressivität. Auf den Worten „O Blick so liebreich und kindlich rein“ vollzieht die melodische Linie nach einem auftaktigen Sekundfall einen Quintsprung in hohe Lage, geht bei „liebreich“ in einen Terzfall über und wiederholt nach einem sich anschließenden Sekundfall auf den Worten „kindlich rein“ die anfängliche Sprungfigur auf „Blick so lieb-“ noch einmal.
Harmonisiert ist diese melodische Bewegung in G-Dur mit kurzer Zwischenrückung zur Dominante, und das Klavier begleitet sie mit Staccato-Achtelakkorden. Und während die Melodik auf den Worten „Nein, nie und nimmer vergeß ich dein“ sich beim ersten Mal von mittlerer in tiefe Lage absenkte, beschreibt sie nun, in G-Dur harmonisiert, am Anfang einen ausdrucksstarken, partiell triolischen Anstieg aus tiefer Lage über eine veritable Oktave bis in hohe, geht bei „nimmer“ in einen leicht gedehnten und in a-Moll gebetteten Sekundfall über und setzt die damit eingeleitete Abwärtsbewegung bis zu einer kleinen, nun wieder in G-Dur harmonisierten Dehnung in mittlerer Lage bei „dein“ fort.
Noch immer aber will es Grieg damit nicht genug sein lasse. Das im letzten Vers gegebene Versprechen des lyrischen Ichs ist ihm so wichtig, dass er die Worte „vergeß ich dein“ nach jeweils einer Achtelpause noch zwei Mal deklamieren lässt. Erst in Gestalt eines schlichten melodischen Auf und Abs in mittlerer Lage, wobei die Harmonik eine Rückung von a-Moll über D-Dur nach G-Dur vollzieht.
Nun aber wird´s hochgradig emphatisch. Auf dem Wort „vergeß“ beschreibt die melodische Linie erst einen kurzschrittigen Sekundfall, dann aber auf der Silbe „-geß“ einen mit einem Crescendo versehenen Legato-Quintsprung und geht in hoher Lage in eine in a-Moll gebettete lange Dehnung über. Bei „ich“ senkt sie sich danach um eine kleine Sekunde ab und endet schließlich über einen großen Sekundschritt abwärts bei dem Wort „dein“ in einer langen Schlussdehnung auf der Quinte zum Grundton in oberer Mittellage.
Begleitet wird sie dabei von der Staccato-Achtelfigur, in der die Liedmusik im Vorspiel einsetzte, und die in ihrer tänzerischen Rhythmisierung gleichsam ihren Geist verkörpert. Im Pianissimo folgt nur noch ein achtstimmiger G-Gur-Akkord nach.
Es ist ja alles gesagt zu den „zwei braunen Augen“ und die Fülle an Gedanken und Emotionen, die sie im lyrischen ich bei der Begegnung mit ihnen auslösten. -
„Beim Sonnenuntergang“, op. 9, Nr. 3
Nun sinkt die Sonne nieder sacht
In fernem Waldesschatten,
Und leise lischt ihr Licht in Nacht
Auf Bergen, Meer und Matten.
Die Blumen und die Vögel all,
So hold sie blühn und singen,
Nun auch mit ihrem Duft und Schall
Verhauchen und verklingen.
Ich blick mit ruhevollem Sinn
In all das Schwinden, Schweigen,
Gar bald wird gleichfalls so dahin
Sich meine Sonne neigen.
Und was das Herz mit bangem Schlag
Erwünscht, erhofft hienieden,
Verstummt, und auf den lauten Tag
Folgt stiller Abendfrieden.
(Andreas Munch, Deutsch von Hans Schmidt)
Über den Verfasser dieses Gedichts konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Ich lese nur bei Grieg in einer Äußerung über die Dichter, deren Verse er vertonte und mit der bemerkenswerten Feststellung einleitete „Meine Wahl der Dichter hängt eng mit dem Erlebten zusammen“:
„Ich hatte in Kopenhagen schon den alten norwegischen Lyriker A. Munch kennen gelernt und Lieder wie >Ausfahrt< und >Wiegenlied< verdanke ich seinen schönen Gedichten“.
Die beiden ersten Strophen enthalten eine Folge von idyllischen lyrischen Abendbildern, die, unter Ausblendung der in der deutschen Lyrik der Romantik präsenten Ambivalenz von Abend und Nacht, in ungebrochener Weise friedlich anmuten. Darin erschöpft sich das Gedicht aber nicht. In der dritten und vierten Strophe erweisen sich diese Bilder als Erfahrungen eines lyrischen Ichs, dem sie sich als symbolische Metaphorik des eigenen Lebens in seiner Entfaltung von Tag, Abend und Nacht darstellen. Dabei tritt diese Symbolik, und das macht den Reiz dieser Verse aus, durchaus doppeldeutig auf: „Abend“ als Tages-Abend und „Abend“ als Lebens-Abend. Der „stille Abendfrieden“, den der letzte Vers anspricht, kann also als ein Frieden-Finden im Tod aufgefasst und verstanden werden, wobei das lyrische Ich allerdings, und das ist von Relevanz für die Vertonung dieses Textes durch Grieg, auf die in diesem Sinn als ambivalent erfahrenen Abendbilder „mit ruhevollem Sinn“ blickt.
Griegs Vertonung dieses Gedichts, das im Original mit „Solnedgang“ betitelt und Teil des zwischen 1863 und 1866 entstandenen und aus vier Kompositionen auf Texte von A. Munch bestehenden Opus 9 ist, stellt ein variiertes Strophenlied dar, dergestalt, dass auf der ersten und dritten und der zweiten und vierten Strophe eine je eigene Melodik liegt. Der letzte Vers wird am Ende mit einer wiederum eigenen Melodik wiederholt. Der Strophenlied-Geist schlägt sich aber auch darin nieder, dass sich melodische Bewegungen innerhalb der Strophen auf identische oder strukturell ähnliche Weise wiederholen.
Alles atmet aber einen von jeglichen Brüchen in der Melodik und Verstörungen in ihrer Harmonik verschont bleibenden musikalisch-Idyllischen Geist und erweist sich darin als kompositorischer Niederschlag des Bekenntnisses des lyrischen Ichs: „Ich blick mit ruhevollem Sinn / In all das Schwinden, Schweigen“. -
„Beim Sonnenuntergang“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Das Original des Liedes steht in A-Dur als Grundtonart. Da mir nicht nur der Notentext, sondern auch die Aufnahme in einer Transposition nach H-Dur vorliegt, stütze ich meine Betrachtung auf diese. Es kommt ja ohnehin nur darauf an, zu erkennen, wie Grieg die Harmonik in Gestalt ihrer Rückungen einsetzt, und das lässt sich auch anhand einer Transposition aufzeigen.
Ein Zwölfachteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und sie soll „lento e dolce“ vorgetragen werden. Ein kurzes, nur einen Takt einnehmendes Vorspiel geht der darin auftaktig einsetzenden Melodik voraus. Es besteht aus einer schlichten Folge von bitonalen Achtelakkord-Dreiergruppen im Diskant mit einem länger gehaltenen punktierten Viertel darüber und ansteigenden punktierten Vierteln im Bass. Die punktierte Viertel-Oberstimme der Akkorde beschreibt eine Bewegung in Sekundschritten, die in gleichsam reduzierter Gestalt Grundstruktur der Melodik auf den Worten des ersten Verses der ersten und dritten Strophe abbildet. Diese beschreibt allerdings dann eine Bewegung in größeren Intervallen.
Die nachfolgende Beschreibung der Melodik stützt sich aus den genannten Gründen auf die Worte der ersten und zweiten Strophe. Bei „Nun sinkt die Sonne nieder sacht“, den Worten des ersten Verses also, beschreibt die melodische Linie einen mit einem Sekundschritt auftaktig eingeleiteten repetitiven Anstieg über das Intervall einer Quarte und kehrt, in H-Dur harmonisiert, nach einer Repetition auf der damit erreichten tonalen Ebene in mittlerer Lage bei dem Wort „nieder“ wieder zu einer Repetition auf der Ausgangsebene zurück, um bei „sacht“ einen Terzfall in tiefe Lage zu vollziehen. Das ist strukturell schlichte Melodik, die aber den deskriptiv-konstatierenden Gestus des lyrischen Textes reflektiert und überdies durchaus eingängig ist.
Das Klavier begleitet sie im Diskant mit den triolischen Achtelakkordfolgen aus dem Vorspiel, und diesen Satz behält das Klavier in Begleitung der Singstimme in seiner Grundstruktur bis zum letzten Vers bei, nur dass aus den bitonalen Akkorden dort, wo es auf eine besondere Akzentuierung der melodischen Aussage ankommt, phasenweise dreistimmige werden. Erst in der Wiederholung des Schlussverses nimmt der Klaviersatz eine neue Gestalt an. Grundsätzlich wahrt er die von Grieg ganz bewusst angestrebte, am Geist des Volksliedes sich orientierende strukturelle Einfachheit und Schlichtheit, was aber nicht ausschließt, dass es dort, wo die lyrische Aussage es erfordert, Ausbrüche daraus gibt, hier in Gestalt von Unterbrechungen im repetitiven Gestus der Akkordfolgen im Diskant.
Bei den Worten „In fernem Waldesschatten“ geht die melodische Linie von der tonalen Ebene, auf der sie bei „sacht“ endete in einen dreischrittigen Sekundfall in tiefe Lage über, bei dem die Harmonik eine Rückung nach cis-Moll vollzieht. Dem Wort „fernem“ wird mit dem in Moll-Harmonik gebetteten melodischen Fall eine flüchtige Anmutung von Wehmut verliehen. Aber schon bei dem nachfolgenden Wort „Waldesschatten“ vollzieht die Harmonik wieder eine Rückung ins Tongeschlecht Dur, Fis-Dur mit Rückung nach H-Dur nämlich, und die melodische Linie vollzieht mit einer Kombination aus Quart- und Sekundschritt einen Anstieg zu einem gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage. Das Klavier akzentuiert das, indem sich die bitonalen Akkordrepetitionen im Intervall von der Terz zur Quinte ausweiten. Dies aber nur kurz. Während des gedehnten Falls werden wieder Terzen daraus.
Griegs Liedmusik ist also, bei aller klanglichen Einfachheit, in der sie sich präsentieren will, in ihrer kompositorischen Binnenstruktur durchaus subtil angelegt. -
„Beim Sonnenuntergang“ (II)
„Un poco più animato“ soll die Melodik auf den Worten der zweiten (und damit auch der vierten) Strophe vorgetragen werden. Auf den Worten „die Blumen“ setzt sie wieder mit einer deklamatorischen Tonrepetition ein, und zwar auf der gleichen tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage ein wie schon zuvor beim ersten und dritten Vers der ersten Strophe. Grieg nutzt ganz offensichtlich die Wiederkehr von partiellen Elementen der melodischen Figuren, um einen höheren Grad an Eindringlichkeit derselben zu erreichen. Bei den Worten „und die Vögel all“ beschreibt die melodische Linie zwei Mal eine Fallbewegung. Zunächst eine in Gestalt von Sekundschritten in tiefer Lage, dann aber, nach einem ausdrucksstarken verminderten Sextsprung, bei „Vögel all“ einen in hoher Lage ansetzenden Fall über zwei Terzen.
Das Klavier begleitet diese melodische Bewegung nun mit reinen dreistimmigen Achtelakkord-Repetitionen im Diskant, also ohne den lang gehaltenen Leitton darüber. Vor allem aber: Sie sind nun in Moll-Harmonik gebettet, eine Rückung von h-Moll nach fis-Moll, und das ist auch bei der Melodik auf den Worten des zweiten Verses der Fall. Grieg antizipiert wohl mit dieser Anmutung von leichter klanglicher Schmerzlichkeit das Faktum, das allererst im vierten Vers lyrisch-sprachlich zum Ausdruck kommt: Das „Verhauchen und Verklingen“ des Blumenblühens und Vogelsangs. Bei „so hold sie“, im zweiten Vers also, setzt die melodische Linie erneut mit einer Tonrepetition auf der tonalen Fis-Ebene ein und beschreibt auch den Sekundfall in tiefer Lage mit anschließendem vermindertem Sextsprung wie dort. Sogar der Quintfall am Ende ist der gleiche, nur dass er dieses Mal in gedehnter Weise direkt erfolgt, also nicht in Terzschritten wie am Ende des ersten Verses. Und der Grund ist ein textlicher: Das Wort „singen“ ist nur zweisilbig.
Bei den Worten „nun auch“ zu Anfang des dritten Verses setzt die melodische Linie mit einem Sextsprung ein, der wieder von der tonalen Fis-Ebene aus erfolgt. Grieg hat dieser ganz offensichtlich eine Leitton-Funktion zugewiesen, und dies aus besagten intentional-kompositorischen Gründen. Die melodische Linie entfaltet sich nun auf den Worten „Nun auch mit ihrem Duft und Schall“ in dreimaligem sprunghaftem Auf und Ab über das große Intervall einer Septe mit einer Tonrepetition oben und einem Einzelton unten, wobei sich die tonale Ebene des Sprunggeschehens um eine Sekunde absenkt. Das Klavier begleitet nun wieder mit bitonalen Achtelakkord-Repetitionen mit lang gehaltenem Leitton darüber, und die Harmonik ist vom vorangehenden Moll zum Tongeschlecht Dur überwechselt. Auf diese Weise, mit dem Sprung-Gestus der Melodik und ihrer Dur-Harmonisierung, bringt die Liedmusik die unabänderliche Faktizität des Geschehens zum Ausdruck. Und diese Harmonisierung bleibt auch erhalten, in Gestalt einer Rückung nach Cis- und Fis-Dur allerdings, bei dem sie in tiefe Lage führenden und mit der Vortragsanweisung „espress. ritard.“ versehenen Sekundfall der melodischen Linie auf den Worten „verhauchen und verklingen“.
Vor der Wiederholung der Liedmusik auf der zweiten und der vierten Strophe erklingt ein zweitaktiges Zwischenspiel aus von einer Terz in unterer Lage aufsteigenden Terzen im Diskant, die in Auf und Ab im Intervall einer Sekunde übergehen, wobei sich im Bass ein Fall von punktierten Vierteln über das große Intervall einer Duodezime ereignet. Der Liedschluss besteht aus einer Wiederholung der Worte des letzten Verses. Die Melodik, die Grieg nun auf sie gelegt hat, stellt das absolute Gegenbild zu dem Sekundfall dar, den sie gerade beschrieben hat.
Nun beschreibt sie nach einem auftaktigen Sekundschritt auf „stiller“ einen in Fis-Dur harmonisierten verminderten und leicht gedehnten Sekundanstieg, der in einen Terzfall übergeht. Diesen wiederholt sie auf dem „A“ von Abendfrieden noch einmal setzt aber danach ihre Aufwärtsbewegung auf der Silbe „bend-“ über eine Terz fort, um sich nun auf der damit erreichten tonalen Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage einer sehr langen, bis in den nächsten Takt sich erstreckenden Dehnung zu überlassen und an deren Ende schließlich auf der Silbe „-den“ einen Sekundschritt abwärts zu einer kleinen Dehnung auf der Ebene des Grundtons „H“ zu vollziehen. Das Klavier begleitet diese Schlussmelodik mit den Figuren des Zwischenspiels, wobei allerdings das Auf und Ab in Sekundintervallen, das während der langen Dehnung im Diskant erklingt, nun am Ende in einen Anstieg von Achteln in hohe Lage übergeht und am Ende der Dehnung in arpeggierten Fis-Dominantseptakkord mündet, dem ein vierstimmiger H-Dur-Akkord auf der Silbe „den“ nachfolgt. Derweilen sind Achtel aus tiefer in hohe Basslage aufgestiegen.
Das ist ein hochgradig emphatischer Liedschluss, der dem lyrischen Bild vom „stillen Abendfrieden“ eine starke und in ihrer Klanglichkeit affektiv positive und darin das das lyrische Potential steigernde Akzentuierung verleiht. Das ist bemerkenswert, denn es lässt erkennen, dass Grieg darin dem Autor Munch folgt und sich einer Rezeption der semantischen Ambivalenz des Wortes „Abendfrieden“ im Sinn von „stillem Lebensende“ verweigert.
Im fünftaktigen Nachspiel senken sich vier- und fünfstimmige H-Dur-Akkorden aus dem Diskant in die Tiefe des Basses, darin von repetierenden Quinten begleitet, und sie klingen in einem lang gehaltenen Tremolo im Pianissimo aus. Eine beeindruckende klangliche Evokation von in die Stille übergehendem Abendfrieden. -
„Solvejgs Lied“, op. 23
Der Winter mag scheiden, der Frühling vergehn,
Der Sommer mag verwelken, das Jahr verwehn,
Du kehrest mir zurücke, gewiß, du wirst mein,
Ich hab es versprochen, ich harre treulich dein.
Gott helfe dir, wenn du die Sonne noch siehst,
Gott segne dich, wenn du zu Füßen ihm kniest,
Ich will deiner harren, bis du mir nah,
Und harrest du dort oben, so treffen wir uns da!
(Henrik Ibsen, Deutsch von W. Henzen)
Henrik Ibsen entschloss sich 1867, sein dramatisches Gedicht „Peer Gynt“ zu einer szenischen Aufführung in Kristiana zu gestalten und wandte sich deshalb an Edvard Grieg mit der Bitte, dafür eine Musik zu komponieren. Dieser ging sofort darauf ein, und so entstand die berühmt gewordene „Bühnenmusik zu Peer Gynt op. 23“, die allerdings später in den Jahren 1874/75 in vielfältiger Weise revidiert wurde. Zu dieser Zeit wurden auch die „Drei Lieder aus <Peer Gynt“ in der Fassung mit Klavierbegleitung als Opus 23 publiziert: „Peer Gynts serenade“, „Solveigs sang“ und „Solveigs vuggewise“ (Wiegenlied). Dem zentralen Thema von „Solveigs Lied“ kommt eine Art Leitthema-Funktion in der Peer Gynt-Musik zu. Es erklingt schon im Vorspiel zum ersten Akt und danach erneut im vierten und fünften.
„Solveigs Lied“ (2. Peer Gynt-Suite, Nr. 4) erlangte Weltberühmtheit, dies allerdings in der orchestrierten Originalfassung, die Fassung für Singstimme mit Klavierbegleitung dürfte nur den Liebhabern des Kunstliedes bekannt sein. In diesem Lied bringt Solveig, mit dem Spinnrad vor der Waldhütte sitzend, gesanglich ihre Sehnsucht nach Peer Gynt zum Ausdruck und bekundet ihre Treue ihm gegenüber. Diese hat sie ihm versprochen, will deshalb seiner harren in der Gewissheit, dass er zu ihr zurückkehren werde. Die Treue dieser in ihrer menschlichen Größe und mädchenhaften Anmut so faszinierenden poetischen Gestalt ist so unverbrüchlich, dass sie bis in die Sphären des Jenseits reicht. Die Tatsache, dass es Grieg gelungen ist, eine Liedmusik zu schaffen, die in ihrer wesenhaften klanglichen Einfachheit, Schlichtheit und der Eindeutigkeit in der Aussage wie die vollkommene Inkorporation dieser Gestalt anmutet, dürfte die Erklärung für ihre wahrlich singuläre Weltberühmtheit sein.
Auch wenn Grieg hinsichtlich der Peer Gynt-Lieder der Meinung war, wie er sich 1905 gegenüber Henry Finck äußerte, „dass die musikalischen Intentionen erst bei der Bühnenaufführung klar herauskommen“, höre ich „Solveigs Sang“ und Solveigs Vuggewise“ doch lieber in der Fassung mit Klavierbegleitung. Nicht etwa deshalb, weil ich Klavierliedliebhaber bin, sondern weil ich dabei eher Solveig vor mir sehe und deutlicher die Melodik ihres Gesangs vernehme, der ja doch ein wesenhaft monologischer war.
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„Solvejgs Lied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein neuntaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme voraus, die darin am Ende auftaktig einsetzt. C-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, ein Viervierteltakt liegt zugrunde, und die Tempo-, bzw. Vortragsanweisung lautet „Un pco Andante“. Innerhalb eines lang gehaltenen erst Legato-Sekundanstiegs, dann eines in hohe Lage führenden über eine Sexte erklingt im Diskant ein vierschrittiger Achtelaufstieg, der im ersten Fall über einen Sechzehntelvorschlag in ein lang gehaltenes „G“, im zweiten nach einem Terzfall mit einem Quartsprung in ein wiederum lang gehaltenes „E“ in hoher Lage mündet. Die Dynamik steigert sich dabei in einem Crescendo vom Piano ins Forte. Die Harmonik vollzieht eine Rückung von a-Moll nach C-Dur, und beim Quartsprung nach E-Dur. Ein einsamer, in eine Dehnung übergehender Quartsprung in tiefer Lage folgt nach, anschließend, nun im Piano, ein Quart-Anstieg von Oktaven im Bass. Nach einer Viertelpause erklingt ein lang gehaltener vierstimmiger E-Due-Akkord, nach einer weiteren Viertelpause folgt eine viermalige, von Viertelpausen unterbrochene und jeweils von Quinten im Bass auftaktig eingeleitete a-Moll-Akkordrepetition. Das ist auch die Begleitung der Melodik auf den Worten der ersten beiden Verse.
Man kann - jedenfalls empfinde ich das so - dieses Vorspiel als eindrucksvolle musikalische Evokation des dem Lied zugrundliegenden Bildes einer einsam vor ihrer Hütte sitzenden und die Gedanken und Gefühle sehnsüchtig-wehmütig in die Ferne schweifenden und dann stockend zurückkehrenden Solveig auffassen und verstehen. Auf jeden Fall aber entwirft es den ländlichen Raum und die Verlassenheit und Einsamkeit atmende Atmosphäre, in der dieses lyrische Ich sein Singen ausbringt.
Es ist ein in seinem die Worte der ersten beiden Verse umfassenden ersten Teil wesenhaft wehmütiges, wie aus tiefer Seele kommendes Singen. Die melodische Linie beschreibt im Piano eine weit gespannte, im Intervall eine ganze Oktave einnehmende bogenförmige Linie. Es ist ein behutsam-tastend anmutender Anstieg, der sich, auf der Ebene eines „E“ in tiefer Lage ansetzend, auf den Worten „Der Winter mag scheiden“ ereignet, dies deshalb, weil er nach einem auftaktigen Quartsprung in der Aufeinanderfolge von deklamatorischen Schritten im Wert eines Achtels eines Viertels über das Intervall einer Sekunde erfolgt. Bei dem Wort „der“ hält die melodische Linie auf der tonalen Ebene eines nun hohen „E“ in einer Achtel-Repetition kurz inne, denn schon auf der ersten Silbe von „Frühling“ geht sie in einen Legato-Sekundfall über hält auf der zweiten Silbe noch einmal in einer Repetition kurz inne, um dann bei „vergehn“ ihren Weg nach unten weiter fortzusetzen, nun allerdings über zwei Terzintervalle.
Die a-Moll-Harmonik, die bei der Aufgipfelung dieser Bogenbewegung für einen Augenblick zu E-Dur übergegangen war, hat sich längst wieder durchgesetzt. Sie ist, zusammen mit dem Übergang des behutsamen Anstiegs in einen markanteren Fall, maßgeblich für den Eindruck verantwortlich, dass sich hier ein lyrisches Ich im Spannungsfeld zwischen Hoffen und Klage monologisch verhalten und leise melodisch ausspricht. Und dass dabei die Klage sich vordrängt, bedingt durch die Abwesenheit des Geliebten, kommt darin zum Ausdruck, dass die Fallbewegung in Gestalt einer Wiederholung der Worte „der Frühling vergeht“ eine Fortsetzung erfährt. Dies mit einem auftaktigen Terzsprung auf „der“ und, anders als beim ersten Mal, zwar anfänglich in E-Dur Harmonisierung, nun aber auf zögerliche, weil in Gestalt von repetitiven Sekund- und Terzschritten abwärts erfolgende Art und Weise. Aber am Ende, bei der auf der zweiten Silbe von „vergehn“ in eine Dehnung übergehenden Repetition auf der Ebene eines „E“ in tiefer Lage, schlägt die Harmonik wieder in ein a-Moll um, und das Klavier bekräftigt das, indem es einen lang gehaltenen achtstimmigen a-Moll erklingen lässt.
Auf den Worten „der Sommer mag verwelken, das Jahr verwehn“ wiederholt sich das mit identischer Melodik und in seiner Aufeinanderfolge von lang gehaltenem, nun Einzelton, im Bass und Viertel-Akkord im Diskant strukturell ähnlichem Klaviersatz noch einmal. Nun aber geht die Harmonik nach einem anfänglichen a-Moll bei der Aufgipfelung der melodischen Linie in ein G-Dur über und beschreibt anschließend eine Rückung nach C-Dur und F-Dur nach G7.Tonalität, um bei der Schlussdehnung auf der Silbe „-wehn“ in vom Klavier mit seinem achtstimmigen Akkord nun bekräftigten C-Dur zu enden.
Man darf das wohl so verstehen, dass Grieg in den Worten des zweiten Verses einen Umschlag in der ambivalenten seelischen Befindlichkeit von Solveig in Richtung Hoffnung vernommen hat, darin die absolute Gewissheit des „du wirst mein“ beinhaltende Aussage des dritten Verses gleichsam antizipierend. -
„Solvejgs Lied“ (II)
Den auf dem tiefen „E“ ansetzenden Anstiegs-Gestus behält die melodische Linie auch bei „Du kehrest mir zurücke“, den Worten des dritten Verses also, bei, auf der hoffnungsvollen, ja Gewissheit atmenden und darin sogar wiederholten Äußerung „gewiss, zu wirst mein“ geht sie zu einer neuen Entfaltung über. Zweimal, dabei sich um eine Sekunde absenkend, beschreibt sie einen Fall über eine kleine Sekunde und eine Terz, die in einer Rückung erst von D- nach Ais-Dur, dann von A- nach Dis-Dur harmonisiert ist.
Das ist eine bemerkenswerte melodische Figur, der man in Griegs Musik, auch in der zu „Peer Gynt“ immer wieder einmal begegnet. Der zweite Satz der Peer Gynt-Suite 1 lebt geradezu davon. Sie ist aus norwegischen Volksweisen entnommen, wird in der Literatur als „Griegmotiv“ bezeichnet und soll wohl an dieser Stelle des Liedes die elegisch gestimmte Sehnsucht Solveigs auf besonders markante Weise zum Ausdruck bringen. Die Harmonik, aber auch der von seiner bisherigen Gestalt abweichende, nun aus fallend angelegten Viertelakkord-Folgen bestehende Klaviersatz tragen beide wesentlich zur Herausgehobenheit dieser Melodik-Passage bei.
Das gilt auch für die Melodik auf der Wiederholung dieser Worte. Nun ereignet sich kein in Moll-Harmonisierung endender Fall mehr, wie am Ende der Melodiezeile auf den ersten beiden Versen, vielmehr senkt sich die melodische Linie, nun in D-Dur harmonisiert, nach einem auftaktigen Quartsprung zwar in einem Legato-Schritt um eine Sekunde ab, hält dort aber in Gestalt einer Repetition kurz inne, um bei „wirst mein“ nach einem weiteren Sekundfall einen emphatischen, mit einer harmonischen Rückung nach E-Dur einhergehenden und in eine lange, weil mit einer Fermate versehenen Dehnung auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage mündenden Quintsprung zu vollziehen.
Das Wort „mein“ erfährt auf diese Weise eine starke Akzentuierung, und Grieg will auf diese Weise wohl die seelisch starke, wesenhaft optimistische Grundhaltung Solveigs, so wie er diese literarische Figur Ibsens versteht, zum Ausdruck bringen.
Dieses sein Verständnis lassen auch die Anlage der Melodik auf den Worten des letzten Verses der ersten Strophe, deren Harmonisierung und der ihr zugeordnete Klaviersatz erkennen. Auf den Worten „ich hab es versprochen“ wieder eine Anstiegsbewegung aus der tonalen Ebene des tiefen „E“, nun aber nur noch dreischrittig und nach einem Terzfall in einen ausdrucksstarken Quintsprung zur Ebene eines hohen „E“ übergehend, wobei die E-Dur-Harmonisierung eine, wohl die seelische Innigkeit zum Ausdruck bringend kurze Zwischenrückung nach a-Moll aufweist und das Klavier diesen deutlich markanteren Anstiegs-Gestus der Melodik in Gestalt von zwei- und dreischrittigen Akkorden und einer Oktave mitvollzieht. Bei „ich harre treulich dein“ beschreibt die melodische Linie, nun in einer Rückung von F-Dur über D- und A-Dur nach C-Dur harmonisiert, zweimal einen aus hoher Lage um eine Sekunde sich absenkenden und in eine Dehnung auf mittlerer Lagen mündenden Sekundfall.
In die Melodik der Wiederholung dieser Worte „ ich harre treulich dein“ hat Grieg dann aber, weil er in ihnen wieder die Treue bis in den Tod beinhaltende Wesensart dieser Solveig-Gestalt vernimmt, ein großes affektives Potential integriert. Nach einem auftaktigen Quartsprung beschreibt die melodische Linie bei „harre“ einen gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage, geht bei „treulich“ in einen mit einem melismatischen Sechzehntelvorschlag in einen gedehnten Sekundfall über, und die lange Dehnung auf der Ebene eines „A“ in mittlerer Lage wird ebenfalls mit einem solchen Melisma eingeleitet. Das Klavier begleitet diese Melodik mit einem lang gehaltenen Dominantsept-E-Dur-Akkord, der legato in einen ebenfalls lang gehaltenen a-Moll-Akkord übergeht. Und nach einer Viertelpause lässt die Singstimme „vor sich hinsummend“, so die Anweisung, im Pianissimo ein mit einer Fermate versehenes „E“ in hoher Lage erklingen. -
„Solvejgs Lied“ (III)
Dieses hohe „E“ leitet eine im Dreivierteltakt stehende und im permanenten Wechsel von der Grundtonart A-Dur zur Dominante harmonisierte tänzerische Passage des Liedes ein, in der die Singstimme in einem „Allegretto con moto“ wortlos eine beschwingte und überaus eingängige Melodik „vor sich hinsummt“, die, vom Klavier in einem Wechsel von sechsstimmigen Akkorden im Wert von halben und Vierteln begleitet wird, der die tänzerische Rhythmik, die der Melodik selbst schon eigen ist, noch intensiviert. Denn diese besteht aus einer Folge von punktierten Achteln und Sechzehnteln, die in hoher Lage zwei Mal eine in eine Dehnung mündende wellenartige Bewegung beschreiben, die anschließend einen ebenfalls wellartig angelegten und sich über sechs Takte erstreckenden Fall übergeht, der am Ende in eine dreimalige triolische Figur von über eine Terz ansteigenden Achteln mündet. Diese wird vom Klavier mit einem sich über zwei Takte erstreckenden E7-Akkord begleitet, denn diese Passage schließt mit einem Oktavsprung der Melodik ab, der in eine lange, ebenfalls zwei Takte einnehmende Dehnung auf der Ebene eines „A“ in hoher Lage übergeht, wobei das Klavier einen durch Legato-Viertel gebundenen Anstieg von A-Dur-Akkorden aus dem Bass in extrem hohe Diskantlage erklingen lässt.
Danach wiederholt sich alles noch einmal: Solveig singt ihr Lied, summt anschließend ihre norwegisch-tänzerische Volksweise, und zuletzt, als Abschluss der Liedmusik, erklingen die beiden Achtelfiguren des Vorspiels, nach einer Viertelpause ein in eine Dehnung mündender einsamer Quartsprung, noch einmal der gleiche in Gestalt von Oktaven im tiefen Bass, und am Ende im Pianissimo ein sechsstimmiger, mit einer Fermate versehener a-Moll-Akkord.
Und damit zeigt sich dieses so berühmt gewordene Lied in der ihm zugrundeliegenden kompositorischen Intention. Es ist eine wesenhaft szenisch angelegte Präsentation der literarischen Solveig-Figur, dies in Gestalt eines liedhaft-melodischen und eines tänzerischen Auftritts, und sie speist sich aus drei melodischen, norwegischen Volksmusik-Geist atmenden Figuren: Der aus der zweiten Peer Gynt-Suite genommenen Achtel-Figur des Vor- und Nachspiels, der Liedmelodik des Solveig-Gesangs und der tänzerisch-rhythmisierten Figur der Springtanz-Passage.
Und wie sehr hinter all dem die Intention Griegs steht, norwegisch-lebensweltlichen Geist in Gestalt der Solveig-Figur musikalisch zu präsentieren, das zeigt sich darin, dass die Liedmelodie Ähnlichkeiten zeigt mit dem norwegischen Volkslied „Jeg lagte mig sa sildig“ (Ich legte mich am Abend) in Lindemanns Sammlung von Volksweisen. -
„Solvejgs Wiegenlied“, op. 23
Schlaf, du teuerster Knabe mein!
Ich will wiegen mein Kind und wachen.
Still mir im Schoße hat´s gelauscht dem Sang,
Mit mir hat gespielt es all sein Lebtage lang.
An seiner Mutter Brust mag gern es sein
All sein Lebtage lang, Gott segne es fein!
An meinem Herzen laß ich´s gerne ruhn
All sein Lebtage lang; so müd ist es nun.
Schlaf, du teuerster Knabe mein! Schlaf!
Schlaf! Ich will wiegen mein Kind und wachen.
Schlaf! Schlaf! Ich will wiegen mein Kund und wachen,
Schlaf, du teuerster Knabe mein!
(Henrik Ibsen, Deutsch von W. Henzen)
Am Anfang des Notentextes heißt es: „Mit diesem Liede singt Solvejg (Mutter und Geliebte in einer Gestalt) den nach langen Irrfahrten heimkehrenden Peer Gynt zur ewigen Ruh“: In ihm, das im Original den Titel „Solveigs Vuggewise“ trägt, gelangt die Peer Gynt-Musik an ihr Ende. Zuvor erklingt das vierstimmig a cappella vorgetragene Pfingstlied „O Morgenstunde“. Peer kommt zur Hütte, wird von Solveig willkommen geheißen und findet in ihren Armen zu sich selbst. Das Schlaflied begleitet ihn darin. Solveigs Gesang kommt aus der Rolle der Mutter, als die sich dabei empfindet. Sie will wiegen und wachen für ihr Kind, den „teuersten Knaben“, und verbindet mit Wort „schlaf“ den Wunsch und die Hoffnung, dass es Gottes Segen finden werde. Herzensgute mütterliche Fürsorglichkeit und Frömmigkeit gehören zu dieser von Ibsen als Inkorporation der positiven Wesenszüge norwegischer Fraulichkeit literarisch entworfenen Solveig-Figur.
Und Grieg hat sie alle auf treffende und hoch eindrückliche Weise musikalisch eingefangen und damit erfahrbar und erlebbar gemacht. Hier schlägt sich Solveigs Wesen in der tiefen Ruhe und der klanglichen Helligkeit nieder, die die Liedmusik ausstrahlt. Sie reflektiert darin das vollkommene In-sich-Ruhen und die Wesensklarheit dieser Frau. Schon das lange, sechzehn Takte einnehmende Vorspiel lässt das vernehmen. D-Dur liegt ihm, wie dem ganzen Lied, als Grundtonart zugrunde, und „Lento“ lautet die Vortragsanweisung. Das „sempre pianissimo“, das sich am Anfang des Notentextes findet, gilt, obwohl man das ja für ein „Schlaflied“ erwarten würde, keineswegs für die ganze Liedmusik. Die Worte kommen aus dem Herzen Solveigs, und die Emotionen, die Grieg in ihnen wahrnahm, nötigten ihn, die Liedmusik in ihrer Dynamik auf differenzierte Weise anzulegen, mit vielerlei Crescendi und Decrescendi zu versehen, und dies bis zu einem Ausbruch aus dem sich ins Dreifache zurückgenommenen Piano ins kurzzeitige Forte. -
„Solvejgs Wiegenlied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Im Vorspiel erklingt ein in extrem hoher Diskantlage ansetzender, aus einer Einbettung von einem Auf und Ab von Viertel- und Achtelfiguren in lang gehaltenen zwei- und dreistimmigen Akkorden bestehender und über vierzehn Takte bis hinunter in tiefe Lage sich erstreckender Fall, der in Basso-Ostinato-Manier mit lang gehaltenen zweistimmigen Akkorden in Violinschlüssel-Lage begleitet wird, woraus sich die helle Klanglichkeit ergibt. Er ist in der Tonika D-Dur mit Rückungen zu den beiden Dominanten harmonisiert und nimmt in der Grundfigur, in der er sich entfaltet, die Melodik voraus, die auf den Worten „Schlaf, du teuerster Knabe mein!“ liegt. Dieses langsame, aus hoher, sich über zwei Oktaven in tiefe Lage erstreckende Sich-Absenken der Vorspiel-Liedmusik mündet in eine Aufeinanderfolge von Viertel-Akkorden in Gestalt von Terzen und Oktaven, die die Grundstruktur des Klaviersatzes darstellt, mit dem die melodische Linie der Singstimme nicht durchgehend, aber zum größten Teil begleitet wird. Man kann das Vorspiel als klangliche Evokation des Vorgangs vernehmen und verstehen, der sich in diesem Lied ereignet: Das langsame zur ewigen Ruhe Finden Peer Gynts unter dem Schlaflied-Gesang Solveigs.
Dessen Melodik weist in ihrer große Ruhe ausstrahlenden Eingängigkeit das klangliche Potential auf, dieses zu bewirken. Dies zu einem wesentlichen Teil dadurch, dass die repetitiv angelegten melodischen Figuren, in denen der in den Schlaf wiegende Gesang einsetzt, sich bis zum Ende der ersten Strophe auf wechselnder tonaler Ebene wiederholen. Diese Figuren sind allesamt anfänglich strukturell gleich angelegt und entfalten suggestive Kraft, weil sich die melodische Linie in bogenförmiger Manier mit zur zwei Sekundschritten von der jeweiligen tonalen Ebene erhebt und am Ende bei der ersten und der dritten Zeile auf dieser Ebene in eine Dehnung mündet, bei der zweiten und vierten aber in eine Fallbewegung übergeht. Die Harmonik verbleibt dabei durchweg im Dur-Bereich, vollzieht aber, anders als im Vorspiel, keine Rückungen zur Subdominante, dafür aber neben der Dominante auch solche zur Doppeldominante E-Dur, was nicht unwesentlich zur suggestiven Eindringlichkeit der Melodik beiträgt.
Die von relativ langen, einen ganzen Takt einnehmenden und auch darin den Eindruck von Ruhe bewirkenden Melodiezeilen beinhalten jeweils einen Vers. An der ersten und zweiten sei die typische, sich im dritten und vierten Vers wiederholende Struktur aufgezeigt. Auf den Worten „Schlaf, du teuerster Knabe mein!“ setzt die melodische Linie mit einer anfänglich leicht gedehnten und damit das imperativische „schlaf“ akzentuierenden Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage ein, beschreibt bei „teuerster Knabe“ einen mit einer harmonischen Rückung zur Dominante A-Dur einhergehenden Anstieg und Fall in Sekundschritten, und endet in einer in eine Dehnung mündenden Tonrepetition auf eben der tonalen Ebene des „A“, auf dem sie einsetzte.
Ein eintaktiges Zwischenspiel in Gestalt eines klanglich lieblich anmutenden, in einer Rückung von der Dominante zur Tonika harmonierten akkordischen Falls erklingt. Auf den Worten des zweiten Verses setzt die melodische Linie erneut mit einer deklamatorischen Tonrepetition ein, nun aber auf einer um eine Quarte abgesenkten tiefen Lage. Bei „wiegen mein Kind“ beschreibt sie nun aber nicht einen bogenförmigen Anstieg und Fall, sondern einen zweimaligen Sprung erst über eine kleine Sekunde, dann über eine verminderte Terz, wobei die Harmonik eine Rückung nach E-Dur vollzieht. Bei „und wachen“ kehrt sie aber nach einer Tonrepetition über einen Sekundfall wieder zur tonalen Ebene ihres Einsatzes zurück. -
„Solvejgs Wiegenlied“ (II)
Mit der doppelten, im verminderten Intervall sich um eine Sekunde erweiternden Sprungbewegung bringt die melodische Linie das affektive Potential der Worte „mein Kind“ zum Ausdruck. Deshalb wiederholt sich das nicht auf der strukturell gleich angelegten, also wieder mit einer - nun dieses Mal wortbedingt vierschrittigen Tonrepetition einsetzenden melodischen Linie auf den Worten des Schlussverses „Mit mir hat gespielt es all sein Lebtage lang“. Er erklingt nach einer mit der ersten Zeile identischen Melodik auf den Worten des dritten Verses. Nun beschreibt die melodische Linie wieder ihre Bogenbewegung in einem allerdings partiell verminderten Sekundschritt, und weil es um Ausklang geht, geht sie am Ende erst nach einem Terzfall in tiefe Lage zur Dehnung auf der tonalen Ausgangsebene zurück.
„Poco animato“ soll die Melodik auf den Worten des ersten Verses der zweiten Strophe vorgetragen werden. Sie ist in e-Moll gebettet und wird vom Klavier erst mit einem harmonisch entsprechenden, den ganzen Takt ausfüllenden dreistimmigen, dann aber mit einem ebenso lang gehaltenen arpeggierten Akkord begleitet. Die melodische Linie beschreibt bei den Worten „An seiner Mutter Brust mag gern es sein“ ein in der tonalen Ebene ansteigendes ausdrucksstarkes Auf und Ab in Terzintervallen, das sich bei den Worten der nachfolgenden Verse bis zum Ende der Strophe fortsetzt. Nun allerdings wird diese Bewegung der melodischen Linie, für die weiter das „animato“ gilt, von kurzen Pausen unterbrochen, ist in A-Dur harmonisiert und wird vom Klavier mit der Folge von Terz- und Oktavakkorden begleitet, die die Grundstruktur des Klaviersatzes in diesem Lied bilden. Aber nicht durchgehend ist das so.
Die ohnehin schon klanglich lieblich und beseelt anmutende Melodik erfährt darin noch eine Steigerung, indem sie bei den Worten „An meinem Herzen laß ich´s“ erneut mit einem lang gehaltenen e-Moll-Akkord begleitet wird und der zweimalige Terzfall auf „gerne ruhn“ mit einem arpeggierten G-Dur-Akkord, aus dem sich Achtel und Viertel lösen, um die Fallbewegung der melodischen Linie mitzuvollziehen.
Die Melodik dieser zweiten Strophe ist deshalb so tief beeindruckend, weil sie in ihrer wellenartigen Entfaltung nicht nur seelenvoll-zärtlichen Muttergefühle zum Ausdruck zu bringen vermag, sondern darüber hinaus auch noch, wie bei den zweimaligen Terzfall-Bewegungen auf Worten „All sein Lebtage lang; so müd ist es nun“ vernehmlich wird, den innigen Wunsch Solveigs, dass Peer Gynt zur tiefen Ruhe finden möge.
Dieser erfährt eine eindrückliche Intensivierung auf den Worten „Schlaf, du teuerster Knabe mein! Schlaf!“, mit denen die dritte und letzte Strophe einsetzt. Hier geht die melodische Linie wieder zu dem deklamatorischen Gestus über, den sie in der ersten Strophe eingenommen hat, wo es ja ebenfalls um die suggestive Einrede des zum Schlaf Findens ging. Auch hier also wieder der repetitive Einsatz, das bogenförmige sich Erheben und wieder Absenken in partiell verminderten Sekundschritten zur tonalen Ausgangsebene des „A“ in mittlerer Lage, und das Enden in einer in de-Moll gebetteten Dehnung auf derselben. Dem „A“ in mittlerer kommt in diesem Lied ganz offensichtlich eine zentrale Funktion zu, dies im Sinn eines Zentrums, zu dem die Melodik von all ihren Entfaltungs-Schritten wieder zurückkehren und zur Ruhe finden kann. Und so ist denn in allen Fällen das Wort „Schlaf“ auf eben dieser tonalen Ebene des „A“ in mittlerer Lage angesiedelt.
Das ist auch bei dem appellativen „Schlaf!“ der Fall, das im zweiten Vers den Worten „ Ich will wiegen mein Kind und wachen“ vorausgeht. Grieg hat es in seiner in d-Moll gebetteten relativ langen Dehnung auf der A-Ebene durch eine Einhegung in halbtaktige Pausen in eine exponierte Position versetzt. Auch bei dem „Schlaf!“ ist das so, mit dem der dritte Vers einsetzt. Bei der Wiederholung, die sich lyrisch-sprachlich hier ereignet, ist das gedehnte „A“ nun allerdings in Dominantseptharmonik in der Tonart „D“ gebettet, und das hat damit zu tun, dass Solveig hier ihren Entschluss, ihr Kind wiegen zu wollen, noch einmal mit den gleichen Worten bekräftigt, in denen sie es gerade zuvor getan hat. Auf den Worten „Ich will wiegen mein Kind und wachen“ beschreibt die melodische Linie einen d-Moll harmonisierten, aus einer dreimaligen Tonrepetition auf der tonalen Ebene des „A“ in mittlerer Lage einsetzenden partiell verminderten zweischrittigen Sekundanstieg, setzt aber bei „Kind“ mit einem Quartsprung von dieser Ebene aus erneut an, um anschließend, nun in A-Dur harmonisiert, in einen Fall überzugehen, der bei „Schlaf“ wieder auf dieses „A“-Ebene endet. -
„Solvejgs Wiegenlied“ (III)
Bei der Wiederholung dieser Worte vollzieht die melodische Linie dann die strukturell gleiche Bewegung, dieses Mal aber auf einer um eine Sekunde angehobenen Ebene, in G-Dur mit Rückung nach D-Dur harmonisiert, und vom Klavier mit einem lag gehaltenen arpeggierten Akkord begleitet, der legato in einen wiederum lang gehaltenen fünfstimmigen D-Dur-Akkord übergeht.
Wenn im ersten Fall der Melodik durch die d-Moll-Harmonisierung noch ein Anflug von wehmütiger Innigkeit innewohnt, so drückt sie im zweiten Entschiedenheit und Entschlossenheit aus. Und diese Haltung vermeint man auch in der sich unmittelbar, also ohne Pause anschließenden Melodik auf den Schlussworten „Schlaf, du teuerster Knabe mein!“ zu vernehmen, gepaart allerdings nun mit seelenvoller Innigkeit.
Wieder liegt die - nun kleinere - Dehnung bei „schlaf“ auf der tonalen „A“-Ebene, und sie wird vom Klavier mit einem arpeggierten D-Du-Akkord begleitet, der wie bei dem vorangehenden „ich will“ über einen harmonischen Zwischenschritt legato in eine andere Tonart übergeht. Das ist bei dem zweischrittigen Sekundanstieg, der sich auf „teuerster“ ereignet, aber nicht wieder die Dominante, also ein A-Dur, sondern die Doppeldominante E-Dur. In diese ist der in hoher Lage einsetzende Sekundfall auf dem Wort „Knabe“ gebettet, und das verleiht in seiner klanglichen Helligkeit diesem Wort, auch weil die melodische Linie, nun aber in die Tonika D-Dur gebettet, bei „mein“ in Gestalt einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene verbleibt, eine starke Anmutung von seelischer Innigkeit.
Das Wiegenlied Solveigs mündet in das Bekenntnis ihrer liebevollen Fürsorge für den als ihr Kind empfundenen Peer Gynt, sich ausdrückend in den Worten „Ich will wiegen mein Kind und wachen“. Und die Melodik, die auf ihnen liegt, wird auch von den von arpeggierten Akkorden im Bass begleiteten Oktaven gebildet, die erst in hoher, dann in tiefer Diskantlage im fünftaktigen Nachspiel erklingen.
Es bringt also noch einmal die menschlich so große und tief anrührende Grundhaltung Solveigs zum Ausdruck.
In zwei arpeggierten Akkorden, einer in A7-Tonalität, der andere in der Grundtonart D-Dur, klingt diese so faszinierende Liedmusik im Pianissimo aus. -
„Spielmannslied“, op. 25, Nr. 1
Nach ihr nur stand mein Verlangen
Jede sommerhelle Nacht;
Da hat durch tauig Gebüsche
Mich zum Strome mein Weg gebracht.
Hei! Kennst du Gesang und Schauern,
Kannst du bannen der Wonnigen Sinn,
Daß in weite Hallen und Säle
Sie wähnt dir zu folgen dahin?
Mich lehrte der Neck in der Tiefe;
Er war´s, der von Gott mich vertrieb;
Doch da ich war worden sein Meister,
War sie des Bruders Lieb.
In große Hallen und Säle
Mich selber spielt ich dahin,
Des Sturmes Gesang und Schauern
Wich nie mir aus dem Sinn.
(Henrik Ibsen, Deutsch von W. Henzen)
Das ist das erste der insgesamt sechs Lieder auf Gedichte von Henrik Ibsen, die 1876 entstanden und als Opus 25 publiziert wurden. Der lakonische Stil von Ibsens lyrischer Sprache hatte zur Folge, dass Griegs Melodik eine starke Ausrichtung auf das Erfassen des der Sprache jeweils innewohnenden Gestus und ihrer Rhythmik erfuhr, wodurch sie eine Steigerung ihrer musikalischen Plastizität erhielt. Hier zeigt sich nun allerdings die Unterlegung der Liedmusik durch eine Übersetzung in eine andere Sprache in ihrer ganzen Problematik. Die Genese der Melodik aus der norwegischen Sprache und ihre daraus sich ergebende Struktur ist für mich nicht wirklich nachvollziehbar. Mehr noch als bei diesem „Spielmannslied“ ist das beim nachfolgenden „Der Schwan“ ein für die Besprechung gravierender und sie hochgradig problematisch machender Sachverhalt.
Ibsens Gedicht, das im Original den Titel „Spillemaend“ trägt, hat das Thema musikalische Kunst zum Gegenstand. Der Spielmann will durch den „Neck aus der Tiefe“, den norwegischen Wassergeist, in der Kunst des Gesanges unterrichtet, auf dass er mit dem ihr eigenen Zauber seine Geliebte für sich gewinnen kann. Darin bringt er es auch zur Meisterschaft. Aber als er diese errungen hat, ist sie seines Bruders „Lieb“ geworden. Er selbst vermag sich nun zwar mit seiner Kunst „in große Hallen und Säle“ spielen, der Gesang des Sturmes und sein „Schauern“, womit wohl der seelische gemeint ist, will aber nie aus seinem Sinn weichen.
Griegs Liedmusik, die in C-Dur als Grundtonart steht, einen Viervierteltakt aufweist und „Lentamente“ vorgetragen werden soll, besticht durch die Binnenspannung zwischen dem ruhigen, am Ende in der letzten Strophe erneut erklingenden, leicht wehmütig angehauchten narrativen Balladenton am Anfang und der sich in dramatische Höhen steigernden Liedmusik auf den Worten der zweiten und dritten Strophe. Das ist die erwähnte eminente Wortgebundenheit und daraus ihre spezifische kompositorische Faktur und ihre musikalische Aussage gewinnende Liedsprache Griegs, die aus der Begegnung mit Ibsens wesenhaft balladesker Lyrik hervorgegangen ist. -
„Spielmannslied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ohne Vorspiel setzt die Melodik auftaktig ein, - Indiz dafür, dass es hier nicht um das musikalische Aufgreifen des evokativen Potentials von Lyrik geht, sondern um wesenhaft narrativen, ein Geschehen beinhaltenden Text. Gleichwohl spricht das lyrische Ich in der ersten Strophe von seinem liebevollen Verlangen nach einem Du, und das hat Grieg bewogen, auf die Worte „Nach ihr nur stand mein Verlangen / Jede sommerhelle Nacht“ eine zart sich entfaltende und einen Anflug von klanglicher Lieblichkeit aufweisende Melodik zu legen. Sie ist, wie das in dieser und der letzten Strophe durchweg der Fall ist, in durch Pausen eingehegte Zeilen untergliedert, die jeweils einen Vers beinhalten. Die erste ist, in C-Dur harmonisiert, durch zwei mit einem Quint-, bzw. einem Terzsprung einsetzende Fallbewegungen geprägt.
Das Klavier, für das die Anweisung „p dolce“ gilt, vollzieht diese Bewegung im Diskant und im Bass in Gestalt von Achteln mit, wobei dies im Diskant auf der Grundlage von lang gehaltenen Terzen geschieht, die der melodischen Linie gleichsam ein sanftes klangliches Bett bereiten. Bei den Worten „Jede sommerhelle Nacht“ verharrt diese dann allerdings nach einem auftaktigen Sekundanstieg in deklamatorischen Repetitionen auf mittlerer tonaler Ebene, um bei „Nacht“ dort in eine Dehnung überzugehen. Nun begleitet das Klavier sie mit vierstimmigen Akkorden, und die C-Dur-Harmonisierung weist eine kurze Rückung zur Dominante auf.
Griegs Liebäugeln mit dem Geist des Volksliedes zeigt sich hier wieder einmal darin, dass er auf das zweite Verspaar der ersten Strophe, die Worte „Da hat durch taug Gebüsche / Mich zum Strome mein Weg gebracht“ also, die gleiche Melodik und den gleichen Klaviersatz gelegt hat. Dass es aber nur ein Liebäugeln, kein wirkliches Aufgehen und Sich-Erschöpfen in diesem Geist ist, wird daraus ersichtlich, dass er die Harmonisierung nun nach As-Dur verlegt und die Dynamik vom Piano ins Pianissimo zurücknimmt. Darin schlägt sich der lyrisch-sprachliche Sachverhalt nieder, dass das lyrische Ich nicht mehr von seiner Liebe spricht, vielmehr von seinem, durch diese offenbar bedingten, Weg hin zum „Strom“, an dem er, wie man aus diesem Text erschließen muss, die Begegnung mit dem Wassergeist sucht. Da dieser im sprachlichen Imperfekt angelegt ist, weiß das lyrische Ich hier schon, was aus dieser Begegnung geworden ist. Deshalb die Zurücknahme der Liedmusik ins Pianissimo und die dunklere, durch die Absenkung der tonalen Ebene und das As-Dur bedingte Klanglichkeit durch Grieg.
Schon nach dem Ausklingen der melodischen Dehnung auf der zweiten Silbe von „gebracht“ tritt ein deutlicher Umschlag in die Klanglichkeit der Liedmusik. Ein Tremolo im Bass erklingt, und dies auf vielsagende Weise in dem As-Dur, in das die Harmonik beim zweiten Verspaar der ersten Strophe gerückt war. „fpp più mosso“ lautet hier die Anweisung für den Klaviersatz. Dramatische Klanglichkeit tritt in die Liedmusik, und sie steigert sich im Folgenden noch darin, dass die Tremoli in der zweiten Hälfte der zweiten und in der dritten Strophe in der Begleitung der melodischen Linie mit permanent repetierenden Zweiunddreißigstel- Oktavsprüngen im Diskant abwechseln. Der Einbruch von dramatischem Geist ereignet sich auch in der Melodik, dergestalt, dass sie sich nun, anders als in der ersten Strophe, in rezitativisch-deklamatorischer Weise entfaltet. „Recitando“ lautet ausdrücklich die Anweisung am Beginn der zweiten Strophe. -
„Spielmannslied“ (II)
Auf dem Anruf „Hei!“ liegt nur ein kurzer deklamatorischer Achtelschritt, und nach einer kurzen Pause setzt die melodische Linie bei den Worten „kennst du Gesang“ ihre Bewegung in Gestalt von raschen Sechzehntel-Repetitionen auf der gleichen tonalen Ebene fort. Bei „und Schauern“ erheben diese sich in der tonalen Ebene um ein kleine Sekunde, um auf der letzten Silbe von „Schauern“ wieder auf die Ausgangsebene zurückzufallen. Das ist eine Melodik von starker rezitativischer Eindringlichkeit, und in diesem Gestus und dieser setzt sie sich auf den Worten „Kannst du bannen der Wonnigen Sinn“ auch fort. Auf „Wonne“ liegt allerdings eine Dehnung um eine Terz höher, die Dehnung auf dem Wort „Sinn“ erfolgt aber erneut auf der Ausgangsebene. Beim zweiten Verspaar der zweiten Strophe, den Worten „Daß in weite Hallen und Säle / Sie wähnt dir zu folgen dahin?“ also, verfährt Grieg so, wie er das schon einmal in der ersten Strophe tat: Die melodische Linie beschreibt noch einmal die gleiche Bewegung wie auf dem ersten Verspaar, von wortbedingten Abweichungen in der Zahl der repetitiven Schritte einmal abgesehen, nur dass sie sich dieses Mal auf einer um eine kleine Sekunde angehobenen tonalen Ebene ereignen und die harmonischen Rückungen nun nicht von Es-Dur nach As-Dur, sondern von As-Dur nach Es-Dur erfolgen.
Selbst auf dem ersten Verspaar der dritten Strophe behält die melodische Linie diesen Gestus der Entfaltung auf strukturell gleiche Weise bei, und nun wird deutlich, warum und wozu Grieg dieses kompositorische Verfahren beisetzt. Es ist ein höchst wirksames Mittel zur Steigerung der ihr innewohnenden Dramatik. Auf der tonalen Ebene eineinhalb Töne höher ereignen sich nun diese raschen kurzschrittigen Repetitionen, und nun sind sie in der vom vorangehenden As-Dur und dem kurzzeitig aufklingenden Fes-Dur weitab liegenden Tonart G-Dur harmonisiert. Die lange Schlussdehnung auf der letzten Silbe von „vertrieb“ ereignet sich nun also auf einer um eine ganze Quarte abgehobenen tonalen Ebene als die erste auf dem Wort „Sinn“ am Ende des ersten Verspaares der gleichen Strophe. Dort war sie in Es-Dur gebettet, diese ist in G-Dur harmonisiert.
Wie nicht anders zu erwarten, behält Grieg diese Methode bei. Auf den Worten des zweiten Verspaares entfaltet sich die Melodik noch einmal in gleicher Weise, dieses Mal aber in der tonalen Ebene nicht nur um eineinhalb, sondern zwei Töne angehoben, nun in es-Moll mit Rückung nach B-Dur harmonisiert und in der Dynamik sich nun „sempre cresc.“ ins Forte steigernd. Auf dem Wort „Lieb“ liegt dann eine lange Dehnung in hoher Lage, die, weil im Fortissimo vorzutragen, hohe Expressivität entfaltet und darin im Prozess kontinuierlicher Steigerung der Dramatik einer Melodik die sich in den Strophen zwei und drei auf strukturell identische, aber in der tonalen Ebene ansteigender Weise entfaltet, einen eindrucksvollen Schlusspunkt setzt. Auf diese Weise findet das eine gewisse Tragik beinhaltende Geschehen, von dem das lyrische Ich in den beiden Strophen in dem für Ibsen typischen sprachlich trockenen Gestus berichtet, im wesenhaft deklamatorisch-rezitativischen Gestus der Melodik angemessenen und hochexpressiven Ausdruck. -
„Spielmannslied“ (III)
Auf den Worten „In große Hallen und Säle“ beschreibt die melodische Linie noch einmal die gleiche Bewegung wie auf dem ersten Vers der ersten Strophe, nun aber auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene, in einer Rückung von F-Dur über a-Moll nach G-Dur harmonisiert und vom Klavier, anders als dort, mit sechs- bis siebenstimmigen Akkorden in Basslage begleitet. Beim zweiten Vers, also den Worten „Mich selber spielt ich dahin“, senkt sie sich aber nach einer auftaktig mit einem Quartsprung eingeleiteten Tonrepetition über einen Terz- und einen Sekundfall in tiefe Lage ab, um dort, in a-Moll gebettet, in eine Dehnung überzugehen. Das lyrische Ich ist, so wie Grieg den lyrischen Text aufgefasst hat, tief getroffen von der Erfahrung, die es mit seiner Wassergeist-Unternehmung gemacht hat.
Das bringt auch die Melodik auf den Worten der letzten beiden Verse zum Ausdruck. Auf den Worten „Des Sturmes Gesang und Schauern“ beschreibt die melodische Linie nach einem auftaktigen Quartsprung eine triolische Tonrepetition auf unterer tonaler Ebene, geht anschließend dort auf der zweiten Silbe von „Gesang“ in eine Dehnung über und vollzieht auf dem Wort „Schauern“ sforzato einen ausdrucksstarken, sie aus mittlerer in tiefe Lage führenden Oktavfall. Harmonisiert ist diese melodische Bewegung in einer Rückung von d-Moll nach a-Moll, und begleitet wird sie vom Klavier in lang gehaltenen sechs- bis siebenstimmigen Akkorden, die vom Piano-Pianissimo ins Forte übergehen und danach wieder in ein Decrescendo. Bei den Worten „Wich nie mir aus dem Sinn“ verharrt die melodische Linie, nun aber in B-Dur harmonisiert, in weiteren Repetitionen auf der gleichen tonalen Ebene und vollzieht bei „Sinn“ einen Terzsprung, der in eine forte auszuführende Dehnung in mittlerer Lage übergeht, die sich aber um einen Halbton absenkt, wobei die Harmonik in Gestalt der diese Absenkung begleitenden Akkorde die ausdrucksstarke Rückung von A-Dur nach As-Dur vollzieht. Das Forte geht dabei in ein Crescendo über.
Grieg lässt die Worte des letzten Verses noch einmal deklamieren. Die tiefe existenzielle Betroffenheit des lyrischen Ichs soll auf diese Weise angemessenen Ausdruck finden. Dabei greift er zu hochexpressiven kompositorischen Mitteln. Auf „nie mir“ liegt ein stark gedehnter, in zwei Halbton-Schritten erfolgender verminderter Sekundfall in mittlerer Lage, der im dreifachen Forte vorzutragen ist und vom Klavier mit einem ebenfalls „fff“ auszuführenden Des-Dur-Tremolo begleitet wird. In der nachfolgenden Viertelpause erklingt im Piano ein den ganzen Takt ausfüllender G-Dur-Akkord, in dem auf den Worten „aus dem Sinn“ eine dreischrittige Repetition auf der tonalen Ebene einsetzt, auf der der verminderte Sekundfall bei „nie mir“ endete. Sie besteht aus einem Halbtonschritt, einem im Wert eines Viertels und einer seht langen, ganze zwei Takte einnehmenden Schlussdehnung auf dem Wort „Sinn“.
Das Klavier begleitet diese starke, von einem Piano ins Pianissimo übergehende melodische Dehnung nicht akkordisch, sondern mit einem in extrem tiefer Basslage einsetzenden triolischen Anstieg von Vierteln über große Intervalle bis hoch in obere Basslage. Sie mündet in einen siebenstimmigen Pianissimo-C-Dur-Akkord in tiefer Lage.
Dieses Lied-Ende mutet an, als würde sich das lyrische Ich in seine aus den Erfahrungen hervorgehende existenzielle Befindlichkeit schicksalsergeben einfinden. -
„Ein Schwan“, op. 25, Nr. 2
Du stiller Schwimmer
im weißen Gefieder,
deine wonnigen Lieder
verrietest du nimmer.
Allzeit ferne der
andern Geleise
zogst zu einsam und
stumm deine Kreise.
Und dennoch zwangst du
umsonst dich zum Schweigen
in sterbendem Neigen,
im Tode da sangst du!
Du schlossest singend
die irdische Bahn doch,
du schiedest verklingend;
du warst ein Schwan doch!
(Henrik Ibsen, Deutsch von Hans Schmidt)
Ibsen hat mit diesem Gedicht die alte Legende vom stummen Schwan aufgegriffen, der erst im Tod zu singen beginnt. Ihre symbolische Ebene ist das Verständnis von Kunst, die mit ihrer Macht Leiden, Tod und Vergänglichkeit zu transzendieren und zu überwinden vermag.
Ich habe hier nicht die weit verbreitete und auch meinem Notentext zugrundeliegende Übertragung ins Deutsche durch W. Henzen wiedergegeben, sondern eine von Hans Schmidt, auf die ich zufällig gestoßen bin. Sie kommt, so scheint mir, dem Original näher.
Ich werde allerdings bei meiner analytischen Betrachtung auf den Originaltext Bezug nehmen:
Min hvide svane
du stumme, du stille,
hverken slag eller trille
lod sangrøst ane.
Angst beskyttende
alfen, som sover,
altid lyttende
gled du henover.
Men sidste mødet,
da eder og øjne
var lønlige løgne,
ja da, da lød det!
I toners føden
du slutted din bane.
Du sang i døden;
du var dog en svane!
Gerade bei diesem Gedicht wird das Problem der Übersetzung des Originaltextes in eine andere Sprache, das vorangehend beim „Spielmannslied“ ja schon angesprochen wurde, auf besonders gravierende Weise sinnfällig. Es bewog die Grieg-Biographin Hella Brock zu der Anmerkung:
„Gerade dieses Lied verliert in der gedruckten deutschen Fassung einen wesentlichen Teil seiner Wirkung, so daß vor deutschsprachigem Publikum eine Darbietung in der Originalsprache bei gleichzeitiger schriftlicher Vorlage einer Prosaübersetzung vorzuziehen wäre.“
Die norwegischen Grieg-Biographen Finn Benestad und Dag Schjelderup betonten, dass für Grieg, „der gegenüber der Wortkunst derart empfindsam war, (…) die dichterische Qualität herausragende Bedeutung hatte.“
In dem bereits mehrfach erwähnten Essay für den amerikanischen Biographen Henry Theophilus Finck nimmt Grieg auch auf sein Lied „Ein Schwan“ Bezug und hebt das Gedicht Ibsens in seiner hohen sprachlichen Qualität und seinem dunklen und schweren Gehalt hervor.
Das Lied „Ein Schwan“ ist eines der bedeutendsten und eindrucksvollsten Werke in Griegs liedkompositorischem Schaffen. Grieg setzte es oft in seine Konzertprogramme, vor allem dann, wenn es seine Frau Nina vortrug. Allemal hatte er damit großen Erfolg beim Publikum. Diesbezüglich findet sich in einem an Frants Beyer gerichteten Brief vom 19. 3. 1884 eine vielsagende Bemerkung:
„Gestern Abend waren wir bei Ross in einer Gesellschaft zusammen mit Ibsen. Nina sang eine Menge, u. a. fast alle meine Lieder zu Ibsens Gedichten, und denk Dir, (…) besonders nach >Stammbuchsreim< und >Ein Schwan< schmolz der Eisklumpen und er kam mit Tränen in den Augen zum Klavier, wo wir waren, drückte unsere Hände, ohne etwas sagen zu können.“ -
„Ein Schwan“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Der Liedmusik liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, sie steht in F-Dur als Grundtonart, und für ihren Vortrag ist die Anweisung „Andante ben tenuto“ vorgegeben. Nur zwei Akkorde erklingen, bevor die melodische Linie darin auftaktig einsetzt. Es ist ein F-Dur- Akkord im Wert eines Viertels, und einer in B-Dur in dem einer halben Note. Der Tonika folgt also die Subdominante als Schwerpunkt. Auf die Folgen dieses Sachverhalts für die Aussage der Liedmusik wird noch einzugehen sein. Im Diskant sind beide terzenbetont, aber weil ihnen im Bass ein drei- und ein zweistimmiger Akkord zugeordnet sind, handelt es sich hierbei um Septakkorde. Das ist die Struktur des Klaviersatzes in Begleitung der Melodik auf den ersten beiden Versen der ersten Strophe. Bei den Worten des zweiten Verses ereignet sich aber Bemerkenswertes: Die untere Terz des B-Dur-Akkordes wird zu einer verminderten, was zur Folge hat, dass er klanglich in Moll-Harmonik umschlägt.
Damit wird der melodischen Aussage des zweiten Verses eine Akzentuierung von Schmerzlichkeit verliehen. Welchen Sinn das hat, das erschließt sich allerdings nur aus dem Originaltext, in keiner Weise aus den deutschen Übersetzungen. Auf den Worten „Min hvide svane“ (mein weißer Schwan) geht die melodische Linie nach einem auftaktigen Terzsprung in mittlerer Lage bei „svane“ in eine kleine Dehnung über, vollzieht danach den gleichen Terzsprung noch einmal und danach in einen Legato-Fall wieder über eine Terz, so dass sie in dieser ersten kleinen, in eine fast ganztaktige Pause mündenden Melodiezeile auf der tonalen Ausgangsebene endet. Inhaltlich und im melodischen Gestus ist das in ihrer Dur-Harmonisierung eine gleichsam sachlich-konstatierende, von affektiver Konnotation unbelastete Anrede.
Bei der nach einer - von der in die Mollharmonik umschlagenden Akkordfolge gefüllten - Fünfachtelpause einsetzenden Melodik auf den Worten des zweiten Verses ist das nicht mehr der Fall. Sie lauten im Original „du stumme, du stille“. Nun beschreibt die melodische Linie nach dem gleichen Terzsprung-Auftakt auf „stumme“ einen triolischen Sekundfall zurück auf die Ausgangsebene, auf „stille“ aber wieder den Legato-Terzfall wie am Ende der ersten Melodiezeile. Der ist nun aber in Moll-Harmonik gebettet. Der deklamatorische Anrede-Gestus wird lyrisch-sprachlich beibehalten, das lyrische Ich bringt dieses Mal in der Liedmusik seine Emotionen in ihn ein, wie sie sich beim Anblick des Schwanes bei ihm einstellen. Er ist ja doch ein wesenhaft stummer. Die harmonische Akzentuierung durch den lang gehaltenen verminderten Septimakkord liegt aber auf „stille“.
Melodik und Klaviersatz bilden beim ersten Verspaar eine musikalische Einheit und insinuieren in ihrer Rhythmisierung auf der Grundlage des Dreivierteltaktes das lyrische Bild vom Dahingleiten des Schwans auf dem Wasser. Mit dem dritten und vierten Vers bringt das lyrische Ich für Grieg noch stärker, als das im zweiten der Fall ist, seine Emotionen in die Anrede an den Schwan ein. Deshalb beschreibt die melodische Linie auf den Worten „hverken slag eller trille“, vom Klavier mit je einem arpeggierten Akkord am Taktanfang begleitet, einen Anstieg über eine Terz und eine Quarte bis zur tonalen Ebene eines F“ in hoher Lage, geht danach in einen zweischrittigen Sekundfall über, aber nur, um danach erneu einen Sekundfall in hoher Lage beschreiben.
Harmonisiert ist diese melodische Bewegung in F-Dur mit kurzen Zwischenrückungen nach einem dissonanten Akkord und nach C-Dur. Und auch die Melodik auf den Worten „lod sangrøst ane“ ist von Fallbewegungen geprägt: Einem jeweils auftaktig mit einem Quart- und einem Terzsprung eingeleiteten Sekundfall in hoher und einem weiteren in unterer Mittellage. In die G-Dur und C-Dur-Harmonisierung tritt dabei wieder Chromatik in Gestalt eines dissonanten Arpeggio-Akkordes und eines kurze a-Molls, den affektiv-schmerzlichen Gehalt der lyrischen Aussage aufklingen lassend. Das Klavier begleitet hier zwar weiterhin mit arpeggierten Akkorden im Diskant, im Bass aber sinken kontinuierlich Viertel und Achtel in die Tiefe ab.
Bemerkenswert ist, dass im zweiten Verspaar der ersten Strophe der Klaviersatz durch seine Chromatisierung in einen Gegensatz zur diatonischen Anlage der Melodik tritt. Das war im ersten Verspaar zwar schon angelegt durch die verminderten Terzen in den vierstimmigen Akkorden des Diskants, hier aber ist es nun viel stärker ausgeprägt. Auf diese Weise will Grieg den klagenden Grundton der Liedmusik, der sich am Anfang nur andeutete, auf markantere Weise hervortreten lassen, verkörpert er doch die Grundhaltung des lyrischen Ichs in seiner Begegnung mit dem Schwan und den affektiven Gehalt der daraus hervorgehenden lyrischen Aussagen. -
„Ein Schwan“ (II)
Ein zweitaktiges Zwischenspiel folgt nach, das mit seinem partiell triolisch angelegten Bogen aus Achteln, einem Sechzehntel und Vierteln im Diskant klanglich lieblich anmutet. „Dolce“ und „poco animato“ lautet hier die Vortragsanweisung. In der zweiten Strophe wird der Schwan als einsames Wesen geschildert, das abseits von den Andern stumm seine Kreise zieht. Die Melodik reflektiert das, indem sie auf den Worten „Angst beskyttende / alfen, som sover, nun in g-Moll gebettet, zwei Mal, anfänglich aus einer dreischrittigen Tonrepetition hervorgehende lebhaftere, weil vorwiegend aus deklamatorischen Achtelschritten bestehende und sie beide Male zur tonalen Ebene eines tiefen „D“ führende Fallbewegungen beschreibt. Das Klavier begleitet hier mit lang gehaltenen, den ganzen Takt ausfüllenden g-Moll-Akkorden. Die Melodik setzt ihre Entfaltung auf dem zweiten Verspaar nicht unmittelbar danach fort. Ein eintaktiges Zwischenspiel unterbricht sie, in dem im Diskant die Fallbewegung auf den Worten „gled du henover“ aufklingt, im Bass aber Achtel aus tiefer in extrem hohe Lage aufsteigen.
Grieg will die Emotionen, die sich beim lyrischen Ich in Betrachtung des Schwans einstellen, im Klaviersatz noch einmal musikalisch konkretisieren und akzentuieren. Und in dieser kompositorischen Absicht steigert er sich noch, indem er auf die Worte des zweiten Verspaares, auf „„altid lyttende / gled du henover““ also, die gleiche, und wiederum von den siebenstimmigen g-Moll-Akkorden begleitete Melodik legt, nur dieses Mal auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und mit einem „Crescendo“ versehen. Und sogar das Zwischenspiel erklingt in identischer Gestalt nun als Nachspiel vor der Melodik auf den Worten der dritten Strophe.
Und diese setzt nun wieder mit den gleichen Repetitionen wie beim zweiten Verspaar der zweiten Strophe ein, nun aber auf einer um eine weitere Terz angehobenen tonalen Ebene und versehen mit der Anweisung „f agitato“. Und sie ist auch nicht mehr in Moll-Harmonik gebettet, sondern wird vom Klavier bis zum dritten Vers einschließlich mit taktlang gehaltenen und forte angeschlagenen achtstimmigen G-Dur-Akkorden begleitet. Die melodische Linie entfaltet sich nach den anfänglichen vierschrittigen Tonrepetitionen in einer viermaligen Folge von Fallbewegungen über je eine Sekunde und eine Quarte, wobei die erste und die dritte triolische sind. In dieser im Forte-Agitato auf Steigerung der Expressivität angelegten Entfaltung, Harmonisierung und Klavierbegleitung bringt die Melodik die Empfindungen zum Ausdruck, die sich angesichts des erschütternden Gedankens einstellen, dass sich da ein Schwan sich lebenslang zum Schweigen gezwungen hat, um dann im Sterben ins Singen überzugehen.
Davon spricht der vierte Vers in den Worten „ja da, da lød det!“. Und die Liedmusik erreicht in diesem von Ibsen mit einem Ausrufezeichen versehenen und das Zentrum des Gedichts bildenden Ausruf „Da, da sangst du!“ zu Recht den Höhepunkt ihrer Expressivität. Die melodische Linie setzt mit einem ausdrucksstarken, im Fortissimo ausgeführten auftaktigen Quintsprung zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage ein. Ein ebenfalls fortissimo ausgeführter fünftaktiger und lang gehaltener f-Moll-Akkord begleitet sie dabei. Von dort aus beschreibt sie einen in eine kleine Dehnung mündenden Sekundfall. Auf den Worten „da sangst du“ vollzieht sie, nun eine Terz tiefer einsetzend, erneut eine Sprungbewegung, nun sogar über das Intervall einer Sexte, aber in einem Ritardando, wobei die Harmonik zur Dominantseptversion der Tonart „C“ rückt. Auf „du“ liegt dann eine lange Dehnung auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene. Das ist (als „C“) die Quinte zur Tonika und in der C7-Harmonisierung ein offenes Ende. Das lyrische Ich hat noch etwas zu sagen dazu.
Das geschieht nach einer Fünfachtelpause, in der das Klavier „pp tranquillo“ erst einen F-Dur, dann einen lang gehaltenen B-Dur erklingen lässt, in der Melodik auf den Worten des letzten Verses, und diese hebt sich schon formal dadurch von der vorangehenden ab, dass sie in versgebundene Zeilen untergliedert ist, die sich durch Pausen voneinander abheben, wobei die erste davon wieder fünf Achtel einnimmt, die übrigen aber Achtelpause darstellen. Allen kommt aber dadurch ein starkes Aussagegewicht zu, und dem entspricht der Klaviersatz, indem er nun durchgehend rein akkordisch angelegt ist, in Gestalt einer dem Dreivierteltakt entsprechenden Folge von Akkorden im Wert eines Viertels und einer halben Note pro Takt. -
„Ein Schwan“ (III)
Grieg versteht die lyrische Aussage der letzten Strophe als monologisch-introvertierten Kommentar zu dem von ihm selbst, und deshalb im sprachlichen Imperfekt dargestellten, aber es tief berührenden Geschehen des Singens im Sterben. Deshalb verbleibt die Melodik fast durchweg im Pianissimo. Aber weil die Betroffenheit durch das Geschehen so tief war, klingt sie nach. Das drückt sich in der Melodik darin aus, dass sie aus der anfänglichen Entfaltung in kleinen Intervallen so einer solchen in größeren übergeht, sich im Ambitus also ausweitet und einmal sogar mit einem Crescendo ins Piano übergeht. Auf vielsagende Weise geschieht das bei den Worten „Du sang i døden“, also in dem Augenblick, in dem das Erlebnis sich beim lyrischen Ich in der Erinnerung noch einmal unmittelbar vergegenwärtigt.
Die melodische Linie, die auf dem vorangehenden Vers „du slutted din bane“ („du schlossest deine Bahn“, - die irdische) zwei Mal eine mit einem Terzsprung einsetzende, auf dem gleichen „A“ in mittlerer Lage einsetzende, im ersten Fall aber triolische Fallbewegung beschreibt, die in einer Rückung von F-Dur in die Verminderung harmonisiert ist, vollzieht diese Bewegung nun noch einmal. Dies nun aber auf einer um eine verminderte Terz angehobenen tonalen Ebene und in das im Quintenzirkel weitab liegende Des-Dur gebettet, das das Klavier in Gestalt eines lang gehaltenen, den ganzen Takt ausfüllenden arpeggierten Akkordes erklingen lässt. Auch der Klaviersatz fällt hier aus dem Rahmen. Erst auf dem Sekundfall auf dem Wort „døden“, der dieses Mal ein verminderter ist, bei dem die Harmonik eine Rückung aus der Verminderung nach Des-Dur vollzieht, folgen wieder in der üblichen Weise die zwei Akkorde aufeinander.
Bei den Worten des letzten Verses, „du var dog en svane!“ also, die Ibsen erneut mit einem Ausrufezeichen versehen hat, vollzieht die melodische Linie diese Bewegung vom zweiten und dritten Vers in ihrer Grundstruktur noch einmal, die sogar auf einer erneut um eine Terz angehobenen tonalen Ebene, aber sie kehrt dabei ins Pianissimo zurück und verlässt in ihrer Harmonisierung das dunkle, dem Tod zugehörige Des-Dur. Sie ist nun in einen taktlang gehaltenen arpeggierten F-Dur-Akkord gebettet. Der Sekundfall auf „en svane“ ist nun kein verminderter und in Dissonanz harmonisierter mehr, sondern ein großer, bei dem die Harmonik eine Rückung von G-Dur nach der Grundtonart F-Dur vollzieht.
Nach einer Achtelpause erklingt eine Folge von einem auftaktigen Achtel und zwei arpeggierten Akkorden in G-, bzw. F-Dur, die die melodische Figur auf „en svane“ nachvollzieht. Das Lied könnte hier Zu Ende sein, ist es aber nicht. Grieg lässt nach einer Achtelpause diese melodische Figur mit ihrem Legato-Sekundfall auf der tonalen Ebene eines „F“ in tiefer Lage noch einmal deklamieren und sie „lento“ und mit einem Decrescendo im Pianissimo ausklingen.
Er will die lyrische Aussage „Du warst ein Schwan doch!“ („du var dog en svane!“) mit einer besonderen Hervorhebung versehen. Und das zeigt seine tiefgreifende, Ibsens poetische Aussag-Absicht erfassende Rezeption des Gedichts.
Im Sterben bekundet und behauptet der Schwan das Wesen seiner Existenz. In seinem Singen ereignet sich das, - über und durch das Medium musikalische Kunst. -
„Mit einer Wasserlilie“, op. 25, Nr. 4
Sieh, Marie, was ich dir bringe:
Blume mit der weißen Schwinge,
auf des Stromes stillen Wogen
kam sie träumerisch gezogen.
Wenn sie deinen Buse schmückte,
kehrte heimwärts die Beglückte,
denn auf stillem Wellenthrohne
ruhte selig ihre Krone.
Hüte dich, am Strom zu träumen,
furchtbar können Fluten schäumen!
Neck ist still, als wenn er schliefe;
Lilien spielen ob der Tiefe.
Gleich der See dein Busen klar ist,
wo ein jeder Traum Gefahr ist;
Lillien ob der Tiefe,
Neck ist still, als ob er schliefe.
(Henrik Ibsen, Deutsch von W. Henzen)
Nicht so recht verständlich bleibt dieses Ibsen-Gedicht, wenn man es nicht in der Originalsprache lesen kann. Macht der Konjunktiv das, was die beiden ersten Strophen zu sagen haben, zum Traum?
Setzen die beiden anderen Strophen daran an, in dem Sinn, dass Träumen allemal eine Gefahr darstellt, weil man sich dem „Neck in der Tiefe“, dem wesenhaft triebhaft chaotischen Unterbewusstsein ausliefert?
Dann stünde die Wasserlilie für Reinheit und gehörte darin der als „Marie“ angesprochenen Geliebten zu. Das lyrische Ich träumt davon, dass er sie der als „Marie“ angesprochenen Geliebten schenkt, auf dass sie ihren Busen damit wie mit einer Krone schmückte, der ausdrücklich als „klar“, also frei von dem ist, was sich in der „Tiefe“ abspielt, über der „Lilien spielen“. Auf der Geliebten Busen aber ruhte diese Wasserlilie nicht wie über den „schäumenden Fluten“ des Stromes, sondern „auf stillem Wellenthrone“.
Das Gedicht wäre also als Lobpreis einer Geliebten zu verstehen, der sich träumerisch in der Metaphorik in der Bipolarität von Reinheit verkörpernder „Wasserlilie“ und der existenziellen Gefährdung durch den „Neck“ in der Tiefe der Selle ereignet.
Dass Grieg diese Verse so - oder so ähnlich - rezipiert und verstanden haben dürfte, lässt sich daraus hörend entnehmen, dass sich seine Komposition auf sie fast ausschließlich aus einem einzigen musikalischen Motiv speist. Es klingt gleich im zweitaktigen Vorspiel und in der Melodik auf den Worten des ersten Verses auf, und es erweist sich, als wesenhaft wellenartig, als musikalische Verkörperung der Metaphorik des Ibsen-Gedichts, die sich auf der Grundlage von ruhendem („Gleich der See dein Busen klar ist“) und wellenartig gefährlich auftretendem Wasser („furchtbar können Fluten schäumen“) entfaltet und darin ihre poetische Aussage generiert.
Dass in der Melodik der dritten und vierten Strophe eine andere melodische Figur in die Liedmusik tritt, Grieg aber dann die erste Strophe wieder holt, ist ein klarer Beleg für diese seine Rezeption der Grieg-Verse.