Tristan und Isolde - Wagners visionäre Oper

  • Brangäne spricht zuvor von Zaubertränken und die Wirkung des Tranks wird wie folgt beschrieben:


    Beide, von Schauder erfasst, blicken sich mit höchster Aufregung, doch mit starrer Haltung, unverwandt in die Augen, in deren Ausdruck der Todestrotz bald der Liebesglut weicht.

    Zittern ergreift sie. Sie fassen sich krampfhaft an das Herz und führen die Hand wieder an die Stirn. Dann suchen sie sich wieder mit dem Blick, senken ihn verwirrt und heften ihn wieder mit steigender Sehnsucht aufeinander.

    Das ist ja das romantische Blickmotiv. Beim ersten Mal wirkt der Blick auch ohne den Trank als märchenhaftem Helfer - warum denn jetzt nicht? Das erklärt sich also nicht einfach von selbst.

  • Übrigens ist dieser letzte Abschnitt ihrer Rede, den man auf den ersten Blick für überflüssig weil redundant halten kann, der sich aber bei näherem Hinsehen als sehr feine psychologische Beobachtung erweist (vor allem, wenn man zuhört), einer der vielen Punkte, an denen sich ablesen lässt, was für ein genialer Dramatiker Wagner war und welch ein immenses Theaterverständnis er hatte. Unter den deutschen Dramatikern des 19. Jahrhunderts sind nur sehr, sehr wenige, die ihm da das Wasser reichen können.


    Ich habe schon mehrere Anläufe zu Wagner unternommen, bin aber immer am Bombast und am Ernst der Musik gescheitert. Sich ihm über den Text zu nähern, finde ich immerhin interessant, aber ich habe auch hier noch das Problem, dass man gleich versteht, warum dieses Raunen missbraucht worden ist. Aber das blende ich jetzt mal aus.

    Ob Wagner tatsächlich so ein großer Dramatiker ist? Wahrscheinlich, denn er gehört ja in den Kanon und davor habe ich Respekt. Aber diese Stelle mit dem Zaubertrank ist nun auch bei genauem Lesen so eindeutig nicht, wie Du meinst, und ich bin mir noch unsicher, ob das eine Qualität ist oder etwas anderes. Jedenfalls hat er hier in Kauf genommen, missverstanden zu werden, denn nicht jeder ist so ein strenger Dramaturg wie Du. Und so ein eigentlich absehbares Missverstehen (dass „genesen“ hier meint „sterben“) ist für mich noch kein Zeichen von Größe. Ich weiß aber noch nicht, was es ist und lese weiter im Libretto und höre dann die Musik.

  • Ja, dann verstehe ich vermutlich nicht genug von der Sache. Immerhin scheint mir vollkommen klar, dass er mit »ganz genesen« nur »sterben« meinen kann. Wie sonst sollte er dem entkommen? Übrigens meine ich keineswegs und habe es auch nicht einmal angedeutet, das sich Wagners Genialität als Theatermann in diesem Wort zeigt. Sie zeigt sich im genialen dramaturgischen Aufbau des ganzen Stücks und jeder einzelnen Situation und jedes einzelnen Dialogs. Dass man Missverständnissen unterliegen kann, wenn man nicht genau hinsieht, kann man der Sache, die man missversteht, kaum zum Vorwurf machen.

  • Wenn ich Wagner - Oper und Drama - beim Wort nehme, muss die Handlungsmotivation immer verständlich sein. Der Zaubertank ist ein Märchenmotiv. Wagner Ernst genommen ist hier also das Märchenmotiv für das Verständnis der Handlung notwendig, um die Handlungsmotivation zu verstehen. Nur damit habe ich auch bis heute gewisse Schwierigkeiten...

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  • Wagners Dramaturgie (siehe Oper und Drama) ist allerdings, dass die Handlungsmotive für jeden Theaterbesucher unmittelbar verständlich sein müssen - also kein "Expertenwissen" benötigen. Daran, an diesem selbst gesetzten Anspruch, darf man seine Stücke also auch messen.


    Das Märchenmotiv gehört erst einmal zu einer Ästhetik des Wunderbaren. Auch die muss aber rational verständlich sein nach Wagner. Warum also der Zaubertrank?


    Ein möglicher Erklärungs- und Deutungsversuch:


    Erstens: Es kommt mit der Vertauschung des Giftes mit dem Liebestrank die Kontingenz, der Zufall, ins Spiel, d.h. das menschliche Handeln erweist sich als nicht planbar. Die menschlichen Pläne werden durchkreuzt (Isoldes Intention, Tristan zu vergiften). Im romantischen Kontext zeigt dies, dass menschliches Handeln einem übergeordneten Schicksal ausgeliefert ist.


    Zweitens spielt bei der Vertauschung der Säfte das Mitleidsmotiv die entscheidende Rolle. Das zeigt die Skepsis selbst gegenüber der Macht der Liebe, den Hass doch nicht "aus eigener Kraft" überwinden zu können. Das Mitleid muss der Liebe zu Hilfe kommen.

  • Zweifelsohne hast Du in dieser Sache ein hohes Expertenwissen und das weißt Du auch ;-)

    Ohne Zweifel. Allerdings glaube ich nicht, dass man das braucht, um mit dem Stück zurande zu kommen. Man muss nur genau hinsehen und hinhören. (Und das Urteil über seine Qualität als Theaterstück, für das man tatsächlich so einiges an Spezialwissen braucht, ist ja nicht so besonders wichtig.) Freilich verstehe ich nicht, warum Du nach gewissen Punkten des Stücks fragst, wenn Du die Antwort ohnehin schon weißt. Mir scheint, das ist Zeitverschwendung. Ich zumindest pflege nur nach Dingen zu fragen, die ich nicht weiß, und dann dem Antwortenden auch nicht mit meinem Wissen ins Wort zu fallen.


    Wenn ich Wagner - Oper und Drama - beim Wort nehme, muss die Handlungsmotivation immer verständlich sein.

    Wenn Du Wagner ernst nehmen würdest, würdest Du sein Stück lesen und Deine Schlussfolgerungen darauf aufbauen und nicht auf dem, was Du auch ohne diese Lektüre zu wissen Dir einbildest.


    Übrigens hat niemand gesagt, dass der Trank für die Handlung bedeutungslos ist. Das wäre er, wenn Brangäne und die Motivation ihres Handelns bedeutungslos wären. Das ist aber natürlich nicht der Fall.

  • Freilich verstehe ich nicht, warum Du nach gewissen Punkten des Stücks fragst, wenn Du die Antwort ohnehin schon weißt. Mir scheint, das ist Zeitverschwendung. Ich zumindest pflege nur nach Dingen zu fragen, die ich nicht weiß, und dann dem Antwortenden auch nicht mit meinem Wissen ins Wort zu fallen.

    Haha, Du scheinst grundsätzlich ja echt übler Laune zu sein. Ich habe gesagt, dass ich kein Wagner-Spezialist bin, ich habe Frage gestellt, Vermutungen geäußert und Deinen Antworten gerne zugehört. Und ich habe gesagt, dass ich weiter das Libretto lese, wie sollte ich also schon Antworten haben?

  • Wenn Du Wagner ernst nehmen würdest, würdest Du sein Stück lesen und Deine Schlussfolgerungen darauf aufbauen und nicht auf dem, was Du auch ohne diese Lektüre zu wissen Dir einbildest.

    Ich lese das Stück und bilde mir auch nichts ein. Ich versuche mir nur eine Erklärung zu geben für etwas, womit ich ein Erklärungsproblem habe. Der "Tristan" ist für mich eine unfertige Baustelle. Und das ist glaube ich nachvollziehbar, dass es eine Frage ist, warum das Blickmotiv nicht reicht sondern das Märchenmotiv zusätzlich eingefügt wird. Da ist es nicht hilfreich, zu raunen, dass man für alles eine Erklärung hat oder gar zu behaupten, es gäbe kein Problem. So eine "Diskussion" ist für mich schlicht uninteressant und bringt Niemandem etwas.

    Übrigens hat niemand gesagt, dass der Trank für die Handlung bedeutungslos ist. Das wäre er, wenn Brangäne und die Motivation ihres Handelns bedeutungslos wären. Das ist aber natürlich nicht der Fall.

    Wäre, wäre? Lauter hypothetische Formulierungen. Und was ist denn die Erklärung für die Bedeutung? Zu sagen, der Zaubertrank könnte auch Wasser sein - Thomas Mann in Ehren - ist keine Erklärung, sondern eine Ausflucht und fehlende Antwort auf die Frage, was der Sinn der Einfügung eines solchen Märchenmotivs ist. Wenn es hätte auch Wasser sein können, warum hat Wagner dann nicht Wasser genommen? Die Antwort ist so sinnvoll wie die: Warum hat er einen Mercedes gekauft? Antwort: Er wollte ein Auto kaufen, es hätte auch ein VW-Golf sein können. Auf diesem Niveau macht eine Diskussion schlicht keinen Sinn.

  • Was soll denn die hypothetische Formulierung sein? Der Trank ist für die Handlung nicht unbedeutend, für die Entwicklung von Tristan und Isolde ist allerdings nicht von Bedeutung, was in der Schale ist, sondern nur., was sie glauben, dass dar in sei.- Das ist keine Hypothese, sondern steht so im Stück. Von Bedeutung ist er für Brangäne (und später die Marke). Man muss nur den Versuch unternehmen, sich auszudenken, welche Alternativen Brangäne hat, dann sieht man sofort, dass ihr keine andere zu Gebote stand, als die Tränke so auszutauschen. Da ist keine Baustelle. Das ist mit größter Konsequenz dramaturgisch durchgearbeitet. Das habe ich gezeigt. Wenn das nicht stimmt, wüsste ich gern, an welcher Stelle es nicht stimmt. »Ach, nö, seh ich nich so«, scheint mir da ein bisschen wenig.

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  • Ich denke, dass unser Problem mit dem Tristan ist, dass wir ihn nicht richtig kategorisieren können. Das mag daran liegen, dass sich die Zeit und vielleicht auch der Blick auf die Liebe gewandelt haben, es mag daran liegen, dass Wagner einfach eine etwas verquere Sicht auf die Liebe hatte.

    Wir können es für mein Empfinden nicht richtig einordnen, weil es für uns doch vor allem zwei Wege gibt: Drama/Tragödie oder Happy-End. "Love Story" oder "Pretty Woman". Aber was tun, wenn wir eine große Liebesgeschichte haben, und am Ende beide tot sind. Ok, dann haben wir klassischerweise "Romeo und Julia" - oder eben auch "Tristan und Isolde".

    Doch während Shakespeares Protagonisten keinen anderen Ausweg sehen und Verzweiflung ihr Motiv zum Sterben ist, scheinen Wagners Liebende den Tod - noch in Ergänzung zu den feindlichen Umständen (Marke zB) - nahezu herbeizusehnen. Und noch verrückter: Sie sehen diesen Tod offenbar als logische Konsequenz, wenn nicht als einzige Form ihrer absoluten Liebe.

    Hm.

    So ein wenig erinnert mich das an einen Satz von Max Frisch, demzufolge (sinngemäß) die Liebe stirbt, wenn das Liebespaar zusammenzieht und Alltag teilt. Das fand ich ich auch schon immer etwas schräg, scheint mir aber in eine immerhin ähnliche Richtung zu gehen.

    Ich habe mir den Tristan holzschnittartig immer so vorgestellt, dass Wagner (s. Mathilde Wesendonck) der Liebe ein Denkmal setzen wollte. Einer Liebe, die so groß ist, dass sie im Leben nicht existieren kann, die so groß ist, dass man lieber den Tod wählt, als ohne sie zu sein. Und so ist der Tristan für mich eine überlebensgroße Liebesgeschichte, die mich in ihrer Absolutheit jedes Mal erschüttert. Ich hatte immer großes Verständnis für Christian Thielemann, der ja sinngemäß sagt, dass er Angst vor dem Tristan habe, und ihn deshalb nur alle paar Jahre dirigiere.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • ch habe mir den Tristan holzschnittartig immer so vorgestellt, dass Wagner (s. Mathilde Wesendonck) der Liebe ein Denkmal setzen wollte. Einer Liebe, die so groß ist, dass sie im Leben nicht existieren kann, die so groß ist, dass man lieber den Tod wählt, als ohne sie zu sein.

    Werter lohengrins , vielen Dank für Deinen Beitrag. Er motiviert mich, mir die Oper doch bald mal anzuschauen ...


    So ein wenig erinnert mich das an einen Satz von Max Frisch, demzufolge (sinngemäß) die Liebe stirbt, wenn das Liebespaar zusammenzieht und Alltag teilt.


    Es gibt ein altes Gedicht von Kurt Tucholsky, dass wohl auf einfache Art diesen Gedanken entwickelt :)


  • Mir scheint, die Oper ist ein bisschen zu lang und zu aufwendig, als dass sie nichts weiter beinhalten würde als als eine solche Banalität. Das ginge auch in einem Einakter von einer knappen Stunde.


    Was mich wirklich wundert, ist, dass die wirklich wahren und echten Freunde der Oper immer die Tendenz haben, ihren abgöttisch verehrten Komponisten und den Heiligen Werken ans Bein zu pinkeln, indem sie mit dem Blick mit herablassendem Grinsen bekunden, dass die großen Meister ziemlich viuel Blödsinn getrieben haben. (Bei Wagner geht es ja noch, bei Verdi ist das noch erheblich ausgeprägter.)


    Aber das muss vielleicht so sein. In Bezug auf dieses Stück ist die Sache noch seltsamer. Denn es handelt sich um ein Drama, das vorführt, wie es gelingen kann, dioe engen Grenzen, in die uns unser angelerntes Denken und Weltverstehen setzt, sozusagen die Grenzen des gesunden Menschenverstands, zu sprengen und sich zu befreien. Das ist wohl etwa das, was mit der berühmten und tausendfach kommentierten Anekdote, in der Bodhidharma dem König Wu von Liang auf die Frage, welches der höchste Sinn der Heiligen Wahrheit sei, antwortet: »Offene Weite. Da ist nichts Heiliges.« Das erinnert mit Sicherheit nicht zufällig an die »ungemessnen« Räume, von denen im zweiten Akt die Rede ist (auch wenn Wagner diese Geschichte kaum gekannt haben kann).


    Seltsam ist nun, dass die Interpreten (seien es solche, die sich als Verteidiger und Hüter der Heiligen Werke ausgeben oder nicht), die Aufforderung und das Angebot des Stücks zu dieser befreienden Grenzüberschreitung konsequent ignorieren und sich eifrig bemühen, es wieder in die Schächtelchen des gesunden Menschenverstands zurückzustopfen. Und dabei noch munter von Werktreue und der Verpflichtung auf die Intentionen des Autors schwatzen.


    Übrigens kann man das natürlich machen. Man muss das Angebot zur Horizonterweiterung nicht annehmen, man muss auch die Mühe, die es bereitet, dieses Angebot anzunehmen, nicht auf sich nehmen. Man kann selbstverständlich in seinem Kirchspiel bleiben und sich an der kuschligen Wärme in der Enge ergötzen. Man schadet sich dabei ja nur selbst, und das steht selbstverständlich jedem frei.

  • Mir scheint, die Oper ist ein bisschen zu lang und zu aufwendig, als dass sie nichts weiter beinhalten würde als als eine solche Banalität. Das ginge auch in einem Einakter von einer knappen Stunde.

    Wenn Du den von mir zitierten Text des Kollegen lohengrins meinst, ist der Text meines Erachtens nicht als Ersatz für die Oper gedacht. Ich finde den Gedanken aber interessant und keineswegs banal.


    Was mich wirklich wundert, ist, dass die wirklich wahren und echten Freunde der Oper immer die Tendenz haben, ihren abgöttisch verehrten Komponisten und den Heiligen Werken ans Bein zu pinkeln, indem sie mit dem Blick mit herablassendem Grinsen bekunden, dass die großen Meister ziemlich viuel Blödsinn getrieben haben. (Bei Wagner geht es ja noch, bei Verdi ist das noch erheblich ausgeprägter.)

    Hier weiß ich nicht, worauf Du Dich beziehst. Ich habe gesagt, dass ich mit Wagners Texten, inklusive des Tristan, ziemliche Probleme habe, bin aber sicher das Gegenteil eines Wagner-Anhängers, und versuche mithilfe der Diskussion einen kleinen roten Faden durch den für mich unverständlichen Text zu bekommen.


    Mir ist selbstverständlich klar, dass alles das nicht die Rezeption der Oper ersetzt.



    Übrigens kann man das natürlich machen. Man muss das Angebot zur Horizonterweiterung nicht annehmen, man muss auch die Mühe, die es bereitet, dieses Angebot anzunehmen, nicht auf sich nehmen. Man kann selbstverständlich in seinem Kirchspiel bleiben und sich an der kuschligen Wärme in der Enge ergötzen. Man schadet sich dabei ja nur selbst, und das steht selbstverständlich jedem frei.

    Ich für meinen Teil strenge mich an, einen Blick für den Text zu bekommen. Ich versuche auch einen Blick für die von Dir behaupteten dramatischen Qualitäten des Textes zu bekommen, stehe da aber noch etwas auf dem Schlauch.


    Ich sehe hier keinen, der es sich leicht machen will. Es ist Dir aufgrund Deiner Tätigkeit vielleicht nicht klar, an welchen Stellen der einfache Zuschauer scheitern kann.

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  • Es geht wirklich nicht darum, dass der Trank ausgetauscht wird, sondern dass der Liebestrank ein Zaubertrank ist, d.h. ein Wunder vollbringt. Das widerspricht im Prinzip dem Sinn eines Dramas, dem von Aristoteles formulierten Grundsatz der "Wahrscheinlichkeit" der Handlung. Ein Wunder, also das ganz und gar Unwahrscheinliche und Übernatürliche, hat im Drama im Prinzip nichts zu suchen. Das weiß natürlich auch Wagner. Deswegen gilt es zu zeigen, dass das vermeintliche Wunder kein bloßes Wunder ist, also nicht gänzlich unwahrscheinlich, sondern wahrscheinlich, d.h. darin ein verständliches Handlungsmitiv wirksam ist.

  • Hallo Holger,


    niemand muss ja heutzutage rechtliche Probleme befürchten, weil er in seiner eigenen Ehe untreu ist oder weil er von außen eine bestehende Ehe stört – allenfalls noch als Vorgesetzter oder bei der Bundeswehr.


    Gesellschaftlich ist das sowieso kein Thema mehr, allenfalls die Klatschpresse braucht Stoff.


    Das war zu Wagners Zeit noch ganz anders.


    Seine Liaison mit Mathilde Wesendonck hat er in der "Handlung in 3 Akten" phantasievoll und dramatisierend verarbeitet, was diesem Stoff mMn gerade auch diese Frische und Lebendigkeit verleiht.


    Das Überschreiten gesellschaftlicher Akzeptanz, Regeln und Gesetze im Hinblick auf Untreue und Ehebruch wird bei uns zwischenzeitlich nicht mal mehr mit einem Achselzucken quittiert. Deshalb:


    Die Botschaft der Handlung hat ihren Glanz verloren, übrig geblieben ist die geniale Musik.


    Es grüßt


    Karl

  • dass der Liebestrank ein Zaubertrank ist, d.h. ein Wunder vollbringt

    Ich habe den Mann'schen Ausspruch immer so verstanden, dass es des Wunders nicht bedurfte, weil das "Wunder" (die Liebe zwischen T und I) ja schon vorher eintrat (als sie ihn pflegte) und das Aufflammen durch das Wiedertreffen erfolgte. Insofern bedurfte es keines magischen Getränks - es hätte eben auch Wasser gereicht.

    Deswegen gilt es zu zeigen, dass das vermeintliche Wunder kein bloßes Wunder ist, also nicht gänzlich unwahrscheinlich, sondern wahrscheinlich, d.h. darin ein verständliches Handlungsmitiv wirksam ist.

    Tut mir leid, verstehe ich nicht (doppelte Verneinungen bringen sowieso immer verlässlich raus). Ist die Liebe dieses Handlungsmotiv?

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Ich habe den Mann'schen Ausspruch immer so verstanden, dass es des Wunders nicht bedurfte, weil das "Wunder" (die Liebe zwischen T und I) ja schon vorher eintrat (als sie ihn pflegte)

    Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann. Denn von Liebe ist im Zusammenhang mit der ersten Begegnung nicht die Rede. »Seines Elendes jammerte mich« heißt doch nicht, dass sie sich verliebt hat, sondern dass sie Mitleid mit ihm hatte. Aus Mitleid kann zwar Liebe entstehen, aber das wird an keiner Stelle erwähnt oder auch nur angedeutet. Wenn es denn so wäre, wäre die ganze Geschichte auf dem Schiff sehr übertrieben lang und hätte außerdem keinen nennenswerten Effekt.


    Ich weiß auch nicht, warum es besser ist, auf alle mögliche Art herumzurätseln, wo doch im zweiten Akt mit aller nur denkbaren Deutlichkeit gesagt wird, was vorgegangen ist und warum der falsche Trank diese Wirkung erzielt hat. Es gibt nach meiner Erinnerung keine Stelle im Stück, wo diesen Aussagen widersprochen wird, und es gibt auch keine Stelle, die zu ihnen im Widerspruch steht. Es gibt also keinen Grund, Tristan nicht zu glauben oder anzunehmen, dass er sich bei seiner Deutung des Vorgangs irrt. (Wenn das der Fall wäre, müsste es deutlich ausgesprochen oder vorgeführt wird, was aber nicht geschieht.)


    Ich wiederhole mich nur ungern, aber manchmal muss es sein: Es ist nicht empfehlenswert, die Dinge unnötig zu komplizieren. Wenn es eine einfache Erklärung gibt, sollte man die wählen, bis sich herausstellt, dass sie nicht genügen kann. Es gibt aber keine Stelle, an der sich Tristans Erklärung des Vorgangs als nicht ausreichend erweist. Ergo...


    Abgesehen davon passt sie nahtlos in die gedankliche Entwicklung, die das Stück vorführt und zu der es einlädt.


    Im Übrigen ist es ja immer möglich, diesen Weg erst einmal mitzugehen und zu prüfen, ob sich dabei etwas Sinnvolles ergibt. Dabei kann ja nichts kaputt gehen. Stellt man dann fest, dass das wirklich nicht geht, verwirft man diesen Gedanken und sucht einen neuen Anfang. Das ist die normale Art und Weise der Stückanalyse (wobei die Methode natürlich nicht auf diese beschränkt ist, aber es geht hier nun mal um sie.)


    Der nächste Schritt, wenn sich der Gedanke als möglicherweise tragfähig erweist, ist dann, dass man nach vorn und hinten prüft, ob er sich am weiteren Verlauf des Stücks bewährt. Ist das irgendwo nicht der Fall, muss man ihn verwerfen, gibt es aber nichts, was ihn als inakzeptabel erweist, kann man ihn vorläufig als einen guten Kandidaten für eine tragfähige Deutung nehmen, während man andere, die sich noch anbieten, auf dieselbe Weise prüft.


    Wenn man das eine Weile lang begtreibt, hat man eine gewisse Menge an Deutungsmöglichkeiten für gewisse Vorgänge und kann langsam anfangen, zu prüfen, welche wie zusammenpassen und welche Effekte sie für die übrigen Vorgänge des Stücks haben, die man ebenso gründlich prüft. Und am Ende kann man einige Deutungen definitiv verwerfen und einige als akzeptabel markieren. Dann bleibt noch die letzte Auswahl, bei der man jeden der möglichen Ansätze am Stückverlauf prüft und den behält, gegen den das Stück den geringsten Widerstand leistet.

  • Das Überschreiten gesellschaftlicher Akzeptanz, Regeln und Gesetze im Hinblick auf Untreue und Ehebruch wird bei uns zwischenzeitlich nicht mal mehr mit einem Achselzucken quittiert. Deshalb:


    Die Botschaft der Handlung hat ihren Glanz verloren, übrig geblieben ist die geniale Musik.

    Ich frage mich schon, ob mit dieser Botschaft der Handlung nicht etwas zu kurz geschlossen wird. Ich hatte jetzt gerade bei einer Faust-Inszenierung auch den Eindruck, wenn man zuviel Gewicht auf das gesellschaftliche Schicksal Gretchens und ihres unehelichen Kindes setzt, die Handlung heute sogar etwas ungewollt Lustiges bekommt, was sicher nicht intendiert war.


    Man muss IMO an dieser Stelle schon den damaligen gesellschaftlichen Rahmen transzendieren und die Thematik abstrakter sehen, so es gehen sollte ...

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  • Dazu wäre noch zu sagen, dass man die Thematik kaum abstrakter sehen kann, als sie im »Tristan« dargestellt wird. Außerdem war das höfische Leben des Mittelalters zu Wagners Zeit kaum aktueller als zu unserer. Es ist höchst seltsam anzunehmen, er habe dieses Stück geschrieben, um sich damit zu befassen. Andererseits... Wenn man sich den Famulus Wagner zum Vorbild nimmt und vor allem sehen will wir herrlich weit wir es gebracht haben...


    Im Ernst: Ich verstehe dieses Kleben am Stoff nicht, statt dass man das Kunstwerk betrachtet. Ist die »Odyssee« überholt, weil wir nicht mehr an die Götter glauben, die dort das Geschehen bestimmen? Oder die »Göttliche Komödie«, weil wir nicht mehr an Hölle, Fegefeuer und Paradies glauben, ganz zu schweigen von den gesellschaftlichen Konventionen, die Francesca da Rimini ins Unglück stürzen? Dieselbe Frage könnte man an »Romeo und Julia« stellen. Und was machen wir mit dem »Faust«, wenn wir nicht daran glauben, dass Gott und der Teufel einen Pakt schließen können? Ist die Gretchen-Tragödie ernstlich überholt, weil sie heute nicht mehr so stattfinden könnte? Dann sind gut 99,9% der Kunst früherer Zeiten überholt. Sicher: Der genannte Famulus würde sofort zustimmen. Ist das erstrebenswert?

  • Es geht wirklich nicht darum, dass der Trank ausgetauscht wird, sondern dass der Liebestrank ein Zaubertrank ist, d.h. ein Wunder vollbringt. Das widerspricht im Prinzip dem Sinn eines Dramas, dem von Aristoteles formulierten Grundsatz der "Wahrscheinlichkeit" der Handlung.

    Sorry, wenn ich mich mittendrin zu Wort melde. Wagner hat ja gerne gesellschaftlich unmögöliche Liebeskonstellationen, wahrscheinlich, weil er selbst im damaligen geselschaftlichen Verständnis in Bezug auf Ehe, Sex und Liebe höchst unmoralisch war. Um dies illegitimen Verhältnisse dennoch halbwegs legitim auf die Bühne zu kriegen arbeite er mit Tricks. Wie kann Siegfried Bünnhilde vergessen? Ein Zaubertrank war's, quasi der Begrüßungstrunk bei Siegfrieds Ankunft, der Siegfried Brünnhilde nicht nur vergessen lässt, nein, er soll sie auch noch für Gunther klar machen. Darüber müsste man empört die Hände vors Gesicht schlagen, wäre da nicht eben dieser Trank, der den guten Siegfried ausnockt.


    Und so ähnlich ist's bei Tristan. Der Zaubertrank verleiht dem Illegitimen immerhin eine gewisse Scheinlegitimität, ohne den Trank hätten wir es mit dreistem Ehebruch und Freundesverrat oder Verrat gegenüber dem Lehensgeber, dem man zu Treue und Gefolgschaft verpflichtet ist zu tun.


    Man kann das natürlich als die Macht der Liebe ansehen, die gesellschaftliche Ketten sprengt, mit Blick auf Wagners eigene Biographie wohl eher als von schönen Ideen verbrämte unverholene Lüsternheit. Und auch das Scheitern an der eigenen lustvollen und nicht beherrschbaren Sexualität (wen hätten wir da noch: Tannhäuser, Klingsor, Amfortas, Siegmund und Sieglinde, hier kommt's wirklich dicke: Inzest, Ehebruch Verstoß gegen das Gastrecht).


    In der Inszenierung von Katharina Wagner ist Isolde ganz mit ihrem sterbenden Tristan vereint, wird dann aber von Marke mit nach Hause geführt.


    Liebe Grüße vom Thomas:hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    astewes schreibt:

    Man muss IMO an dieser Stelle schon den damaligen gesellschaftlichen Rahmen transzendieren und die Thematik abstrakter sehen, so es gehen sollte ...


    Es hat noch nie geschadet, die Dinge von verschiedenen Standpunkten zu betrachten.


    Wenn du das nun näher erläutern könntest...

  • Es ist nur seltsam, dass im Stück diese Alibi-Funktion keine Rolle spielt. Ganz im Gegenteil. Wenn Marke Tristan fragt, warum das geschehen ist, könnte er, wenn es so wäre antworten, dass der Trank schuld ist. Das tut er aber nicht. Er sagt vielmehr, dass er es nicht sagen kann, und dass der König es nie erfahren (was hier nur »erleben« bedeuten kann, wenn man nicht eine krasse Redundanz annehmen will) kann. Warum tut er das, wenn die Antwort so leicht ist? Ich kann keine Erklärung dafür finden. Daraus würde ich entnehmen, dass es nicht so leicht ist. Auch wäre zu fragen, warum er die Wirkung des Trankes vorher so ganz anders darstellt. Will er Isolde belügen, die doch genauso gut wie er weiß, was geschehen ist?

  • Ich kann keine Erklärung dafür finden.

    Das würde voraussetzen, daß Tristan um die Wirkung des Trankes wissen würde (was dann als Entschuldigung auch wieder fahl wäre). Wenn ich die Oper richtig im Kopf habe offenbart letztlich Brangäne die Geschichte mit dem vertauschten Trank.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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  • Es hat noch nie geschadet, die Dinge von verschiedenen Standpunkten zu betrachten.


    Wenn du das nun näher erläutern könntest...

    Ich könnte das tatsächlich nur bei Faust, was aber hier nicht so passen würde. Es war bei mir Analogiedenken. Wenn der Faust durch die Betonung der Probleme gesellschaftlicher Moral unfreiwillig komisch wird, könnte man natürlich sagen, das war's mit diesem Drama. Ich kenne aber Umdeutungen, besser Abstrahierungen der Thematik, die wieder ein spannendes Drama erlauben.


    Bei T&I erwischt Du mich auf dem falschen Fuße. Da sehe ich selbst noch nicht klar.

  • Das würde voraussetzen, daß Tristan um die Wirkung des Trankes wissen würde

    Zu dem Zeitpunkt weiß er das längst. Er weiß es schon am Ende des ersten Akts, denn man kann getrost annehmen, dass ihm aufgefallen ist, dass er noch lebt. Und da er nicht taub ist, hört er natürlich auch, was Isolde fragt und Brangäne antwortet. Dass er Brangänes Antwort gehört hat (also nicht taub ist) ergibt sich auch aus seiner Reaktion aus Isoldes letzte Worte im ersten Akt. Wenn er nicht wüsste, worauf sie sich beziehen (auf Brangändes Mitteilung nämlich), würde er nachfragen, was sie denn hat, statt eine dann sehr allgemeine und ziemlich inhaltslose Bemerkung zu machen. Er muss aber nicht nachfragen, weil er sofort versteht, was sie meint. Was man übrigens auch an seinen auf den Trank bezüglichen Worten im zweiten Akt mehr als deutlich erkennen kann (wenn das wirklich noch nötig ist). Mir scheint, da gibt es nicht die kleinste Unklarheit und nicht die kleinste Möglichkeit für irgendeinen Zweifel an diesen Abläufen.

  • Ich habe den Mann'schen Ausspruch immer so verstanden, dass es des Wunders nicht bedurfte, weil das "Wunder" (die Liebe zwischen T und I) ja schon vorher eintrat (als sie ihn pflegte) und das Aufflammen durch das Wiedertreffen erfolgte. Insofern bedurfte es keines magischen Getränks - es hätte eben auch Wasser gereicht.

    Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann. Denn von Liebe ist im Zusammenhang mit der ersten Begegnung nicht die Rede. »Seines Elendes jammerte mich« heißt doch nicht, dass sie sich verliebt hat, sondern dass sie Mitleid mit ihm hatte. Aus Mitleid kann zwar Liebe entstehen, aber das wird an keiner Stelle erwähnt oder auch nur angedeutet.

    Thomas Mann scheint die Tristan-Rezeption in diesem Punkt in eine falsche Richtung gelenkt zu haben - tatsächlich wird das Geschehen in den mir verfügbaren Opernführern so dargestellt wie hier von lohengrins wiedergegeben.

  • Ich lese die Stücke, nicht den Opernführer. Und Thomas Mann hat das mit Sicherheit auch so gehalten. Das ist natürlich falsch, denn was im Stück vorgeht, erfährt man nicht aus dem Stück, sondern aus dem Opernführer. Und wenn es da Differenzen gibt, hat natürlich immer der Opernführer recht.

  • Und wenn es da Differenzen gibt, hat natürlich immer der Opernführer recht.

    Nein, natürlich nicht. Ich habe Deine Sicht auch gar nicht in Frage gestellt - auch wenn Du grundsätzlich davon ausgehst, dass man Deine Meinung nicht teilt -, sondern einfach nur mit Verwunderung festgestellt, dass die Tristan-Rezeption durch Thomas Mann - so wie ihn lohengrins wiedergibt - offenbar in eine schiefe Richtung gelenkt wurde. Was dann die Openführer aufgegriffen zu haben scheinen. Wobei solch eine Lektüre bei TM wirklich schwer erklärlich ist, dafür müsste ich ihn jetzt auch erst einmal wieder lesen...

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