Ich lese es so, dass sich Tristan und Isolde durch die Behandlung nahe gekommen sind und dass Tristan ihr zu Dank verpflichtet ist, statt dessen führt er sie aber Marke als Braut zu, was Isolde als Verrat empfindet und zur Konsequenz hat, dass sie auf Rache sinnt. Heute würde man sagen, dass das Verhältnis durch eine gewisse Spannung aufgeladen ist. Und durch Brangäne wird diese Spannung in eine Richtung gelenkt, die ihr bereits innewohnt, so dass dies ganz folgerichtig erscheint. Viel unlogischer wäre es meines Erachtens, eine bereits vorhandene, einander bestätigte Liebe durch den Zaubertrank noch einmal zu aktivieren.
Das ist einfach nicht stimmig für mein Dafürhalten. Bloßen Dank (der bleibt im Prinzip unverbindlich) kann man nämlich nicht "verraten", sondern nur einen Eid und Schwur, der so etwas wie einen verbindlichen Vertrag darstellt, den man geschlossen hat. Ein Mann schwört einer Frau die Treue - was soll da anderes zugrunde liegen als die Liebe? Zum anderen wird ohne das Liebesmotiv unverständlich, warum die Tagwelt als eine Welt der Lüge charakterisiert wird. Das Motiv der Welterlösung und Weltflucht ist ein sehr starkes Motiv, es wird deshalb auch nur verständlich, wenn die Figuren an einem unversöhnlichen Identitätskonflikt leiden. "Spannung" ist da eine ziemliche Verharmlosung. Spannungen sind ein sehr schwaches Motiv, die gibt es in jeder normalen Ehe und keiner reicht deswegen gleich die Scheidung ein, sucht also die Flucht aus der Institution Ehe..
In der originale Tristan-Legende trinken Tristan und Isolde ganz bewusst den Liebestrank. Da fehlt schlicht und einfach das Blickmotiv. Wagner ist ein Kind des 19. Jhd. und im Hintergrund steht die Romantik. Die Liebe ist für die Romantiker nichts Übernatürliches, sondern menschliche Natur. Deshalb hat Wagner das Blickmotiv eingeführt, das in der originalen Legende fehlt. Der Liebestrank kann deshalb nur im Zusammenhang mit dem Blickmotiv verstanden werden. Alles andere wäre finde ich unplausibel. Das ist der Unterschied zur Legende. Das Märchenmotiv wird so verwendet, dass es nicht nur ein "Wunder" bedeutet, sondern eine Art "List des Schicksals" ist, welche Tristan und Isolde zur Wahrhaftigkeit zwingt, dem Liebesblick nicht auszuweichen. (Wie schon erwähnt würde das auch dem Sinn des Dramas widersprechen, dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit der Handlung.) Der Trank fesselt beide in den Blick, dem sie sich nicht mehr entziehen können, so steht es klar und deutlich im Text. Das ist seine Wirkung.
Der von Lohengrins zitierte Wagner-Brief ist eigentlich ziemlich eindeutig und der Versuch, das Liebesmotiv aus der Handlung gleichsam herauszuoperieren, enthüllt sich von daher als ziemlich künstlich um nicht zu sagen: als Krampf.