Tristan und Isolde - Wagners visionäre Oper

  • Ich lese es so, dass sich Tristan und Isolde durch die Behandlung nahe gekommen sind und dass Tristan ihr zu Dank verpflichtet ist, statt dessen führt er sie aber Marke als Braut zu, was Isolde als Verrat empfindet und zur Konsequenz hat, dass sie auf Rache sinnt. Heute würde man sagen, dass das Verhältnis durch eine gewisse Spannung aufgeladen ist. Und durch Brangäne wird diese Spannung in eine Richtung gelenkt, die ihr bereits innewohnt, so dass dies ganz folgerichtig erscheint. Viel unlogischer wäre es meines Erachtens, eine bereits vorhandene, einander bestätigte Liebe durch den Zaubertrank noch einmal zu aktivieren.

    Das ist einfach nicht stimmig für mein Dafürhalten. Bloßen Dank (der bleibt im Prinzip unverbindlich) kann man nämlich nicht "verraten", sondern nur einen Eid und Schwur, der so etwas wie einen verbindlichen Vertrag darstellt, den man geschlossen hat. Ein Mann schwört einer Frau die Treue - was soll da anderes zugrunde liegen als die Liebe? Zum anderen wird ohne das Liebesmotiv unverständlich, warum die Tagwelt als eine Welt der Lüge charakterisiert wird. Das Motiv der Welterlösung und Weltflucht ist ein sehr starkes Motiv, es wird deshalb auch nur verständlich, wenn die Figuren an einem unversöhnlichen Identitätskonflikt leiden. "Spannung" ist da eine ziemliche Verharmlosung. Spannungen sind ein sehr schwaches Motiv, die gibt es in jeder normalen Ehe und keiner reicht deswegen gleich die Scheidung ein, sucht also die Flucht aus der Institution Ehe.. :D


    In der originale Tristan-Legende trinken Tristan und Isolde ganz bewusst den Liebestrank. Da fehlt schlicht und einfach das Blickmotiv. Wagner ist ein Kind des 19. Jhd. und im Hintergrund steht die Romantik. Die Liebe ist für die Romantiker nichts Übernatürliches, sondern menschliche Natur. Deshalb hat Wagner das Blickmotiv eingeführt, das in der originalen Legende fehlt. Der Liebestrank kann deshalb nur im Zusammenhang mit dem Blickmotiv verstanden werden. Alles andere wäre finde ich unplausibel. Das ist der Unterschied zur Legende. Das Märchenmotiv wird so verwendet, dass es nicht nur ein "Wunder" bedeutet, sondern eine Art "List des Schicksals" ist, welche Tristan und Isolde zur Wahrhaftigkeit zwingt, dem Liebesblick nicht auszuweichen. (Wie schon erwähnt würde das auch dem Sinn des Dramas widersprechen, dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit der Handlung.) Der Trank fesselt beide in den Blick, dem sie sich nicht mehr entziehen können, so steht es klar und deutlich im Text. Das ist seine Wirkung.


    Der von Lohengrins zitierte Wagner-Brief ist eigentlich ziemlich eindeutig und der Versuch, das Liebesmotiv aus der Handlung gleichsam herauszuoperieren, enthüllt sich von daher als ziemlich künstlich um nicht zu sagen: als Krampf. :D :hello:

  • Wenn man feststellt, dass Isolde nicht in Liebe zu Tristan gefallen ist, als er sie angesehen hat, sagt man nicht, dass das nicht später geschehen sein kann. Dass Tristan sich in diesem Moment in Isolde verliebt hat, kann man wohl ausschließen. Wenn er sie liebt, ohne – nach des Meisters Worten – sich das einzugestehen, wir diese Liebe wohl später aufgekeimt sein. Wir erfahren nichts darüber, wann und wie das passiert ist. Aber dass beide nie miteinander und nicht einmal mit sich selbst darüber gesprochen haben, zeigt ihr Verhalten im ersten Akt mit vollkommen ausreichender Deutlichkeit.


    Isolde ist beleidigt, und sie hat ausreichend Grund dafür. Denn indem sie Tristan nicht erschlägt und auch nicht anzeigt, wagt sie sehr viel. Eigentlich macht sie sich damit gesellschaftlich unmöglich, wenn es herauskommt. Darum kann sie das keinem sagen. Tristan seinerseits begeht Verrat an ihr, so muss sie es verstehen. Nicht, weil er nicht zurückkommt, um sie zu ehelichen (eine Ehe zwischen der Königstochter und dem Vasallen des Königs beiden dürfte nur im absoluten Aufnahmefall denkbar sein, den Marke dann gekommen sieht), sondern weil er, ihre Hilflosigkeit ausnutzend, sie, die Königin von Irland, für den zinspflichtigen (also gesellschaftlich unter ihr stehenden) König von Cornwall wirbt. Es handelt sich also um eine doppelte Demütigung: Nicht nur, dass er nicht honoriert, dass sie für ihn das Äußerste gewagt hat, er nutzt es auch noch aus, dass sie sich damit endgültig schutzlos gemacht hat und sorgt dafür, dass sie eine Ehe eingehen muss, mit der sie sich lächerlich macht.

    Tristan sieht das anders. Er ist Markes treuer Vasall und will dem traurigen alten Mann etwas Gutes tun: Ihm eine Frau beschaffen, von der alle sagen, dass sie überaus schön und gut ist. (Er hat sie noch nicht gesehen, ehe er als Werber kommt.) Ihm ist dabei durchaus bewusst, dass das für Isolde ein Abstieg ist. Er selbst hält sich noch einigermaßen an die Regeln des höfischen Benehmens, wenn auch hart an der Grenze und gelegentlich kurz jenseits dieser Grenze. Deutlicher sieht man es am Verhalten seines Knappen, der sich den beiden Frauen gegenüber ein Benehmen herausnimmt, das er nicht wagen würde, wenn er nicht meinen würde, das Isolde nicht besonders viel Respekt verdient hat. Isolde hat also durchaus recht, sich beleidigt zu fühlen.


    Wenn wir übrigens annehmen, dass die beiden schon wissen, dass sie lieben und geliebt werden und gar eine gemeinsame Liebesnacht hatten, wird Tristan endgültig und unwiderruflich zum Ungeheuer. Dann können wir den Vorhang gleich fallen lassen. Aber das nimmt nicht einmal Isolde an.


    Das nimmt sie nicht an, weil sie selbst nicht weiß, was mit ihr los ist. Und sie weiß es nicht, weil sie ganz in der höfischen Welt lebt, weil ihr Isoldes, der Königstochter Ehre über alles geht, wie Tristan die Ehre des Ritters über alles geht. Die gesellschaftliche Konvention ist so stark, dass die beiden glauben, ihre gesellschaftliche Rolle sei ihre Person, oder sagen wir vorübergehend ihr »Wesen«. In dem Moment, da sie dem Tod gegenüberstehen, also kein äußerer Zwang mehr auf sie ausgeübt werden kann, bemerken sie, dass sie gar nicht die Königstochter und der Ritter sind, dass die Bedeutung, die sie ihrer Ehre beigemessen haben, eine Illusion (sie sagen Traum) war. Die falsche Rüstung fällt ab, die Bewegungen werden leichter und weicher (das ist sehr deutlich und überaus rührend komponiert), die Königstochter ist verschwunden, der Ritter ist verschwunden, zum ersten Mal sieht Isolde Isolde, zum ersten Mal seht Tristan Tristan, und zum ersten Mal sehen die beiden einander.


    Dafür bedarf es keines Liebestranks, es ist lediglich nötig, dass die beiden zu sterben glauben. Das ist es, was im zweiten Akt über diese Situation gesagt wird. Ich sehe nicht den geringsten Grund, warum das unglaubhaft sein sollte. Vielmehr scheint mir einleuchtend, dass es eben dieser Dreh ist, der Wagner an der Geschichte interessiert hat, weil sie dadurch von einer Ehebruchsgeschichte wie viele andere, wo die gute Sitte notdürftig durch den durchschaubaren Trick des Liebestranks eben noch gerettet wird, zu einer Geschichte wird, die alle Grenzen sprengt und eben zuerst und vor allem die der guten Sitte. Das erst ermöglicht es, in der alten Geschichte die kosmische Dimension aufzufinden, die sie in diesem Stück hat.


    Man könnte noch darüber diskutieren, ob es trotzdem besser ist, die gute Sitte zu retten und dem Trank die Bedeutung zurückzugeben, die er bei Gottfried und anderen hatte, um so den äußerst subversiven Charakter des Stücks (Wagner meinte bekanntlich, es müsste verboten werden, nur mittelmäßige Aufführungen könnten ihn retten) zu verwischen. Da kann man vielleicht unterschiedlicher Meinung sein. Man kommt dann aber nicht darum herum zu erklären, warum die Sache im Stück selbst so ganz anders dargestellt wird. Dazu liest man auch in den Teilen der Literatur, die diesen Schritt vollziehen nichts. (Ich vermute, weil die betreffenden Autoren so froh sind über diese gelungene Domestizierung des wilden Stücks, dass ihnen dieser Punkt gar nicht auffällt.)


    Vielen Dank übrigens, Herr Doktor für diesen neuen Strohmann, wenn er auch ziemlich missglückt ist. Ich kenne keinen, der versucht, das Liebesmotiv aus dem Stück herauszuoperieren. Wenn doch, würde mich interessieren, an welcher Stelle ich das geäußert habe.

  • Zum romantischen Verständnis von Liebe gehört es, dass sie die gesellschaftlichen Regeln außer Kraft setzt. Deshalb müssen sich die Liebenden Liebestreue doch erst schwören, weil vom gesellschaftlichen Verständnis her die Liebe über die gesellschaftliche Rolle zu stellen unmöglich ist. Deswegen ist der Verrat auch nur der Verrat an der ewigen Liebe und Liebestreue, die man sich geschworen hat,


    Zu behaupten, bis zum Liebestrank, den Tristan und Isolde unwissentlich trinken (in der Legende tun sie das bezeichnend ganz bewusst) spiele die Liebe keine Rolle und das Liebesmotiv komme erst da ins Spiel, ist nichts anderes als ein krampfhafter Versuch, das Liebesmotiv herauszuoperieren.


    Ich lese im übrigen sehr genau das Stück. Es ist eben nur so, dass es Voraussetzungen gibt, die für das Verständnis erforderlich sind, die man nicht einfach nur der Textlektüre entnehmen kann. Es gibt im übrigen hermeneutisch keine voraussetzungslose Lektüre. Das zu beanspruchen, ist nur naiv und unkritisch.

  • Es gibt die Liebe auf den ersten Blick, es gibt die Liebe aus einer längeren Vertrautheit heraus, es gibt ...


    Klaus Lage singt in 1000 und 1 Nacht:


    Du wolltest dir bloß den Abend vertreiben

    Und nicht grad allein geh'n

    Und riefst bei mir an

    Wir waren nur Freunde

    Und wollten's auch bleiben

    Ich dacht nicht im Traum, dass was passieren kann

    Ich weiß nicht wie ewig

    Wir zwei uns schon kennen

    Deine Eltern sind mit meinen damals Kegeln gefahr'n

    Wir blieben zu Haus

    Du schliefst ein vorm Fernsehen

    Wir war'n wie Geschwister in all den Jahr'n

    Tausendmal berührt

    Tausendmal ist nix passiert

    Tausend und eine Nacht

    Und es hat Zoom gemacht


    Alles war so vertraut
    Und jetzt ist alles neu
    Jetzt ist alles neu



    Natürlich gefällt mir Thomas Manns Deutung durchaus, denn damit wird ja eine allgemeingültige Aussage getroffen, nach der mit dem Wegfall aller anerzogener Vorbehalte und Denkweisen der Mensch zur Freiheit für sich findet.

  • Bloßen Dank (der bleibt im Prinzip unverbindlich) kann man nämlich nicht "verraten", sondern nur einen Eid und Schwur, der so etwas wie einen verbindlichen Vertrag darstellt, den man geschlossen hat. Ein Mann schwört einer Frau die Treue - was soll da anderes zugrunde liegen als die Liebe?

    Lieber Holger,


    Du magst das ja so sehen, aber der erste Akt gibt das nicht her. Tristan wahrt Distanz und verärgert damit Isolde. Wenn, dann kann man in ihren Verhalten Emotionen wahrnehmen, aber vor allem Enttäuschung und Ärger:


    ISOLDE
    deren Blick sogleich Tristan fand und starr auf ihn geheftet blieb, dumpf für sich
    Mir erkoren,
    mir verloren,
    hehr und heil,
    kühn und feig!
    Todgeweihtes Haupt!
    Todgeweihtes Herz!

    Zu Brangäne, unheimlich lachend
    Was hältst du von dem Knechte?

    BRANGÄNE
    ihrem Blicke folgend
    Wen meinst du?

    ISOLDE
    Dort den Helden,
    der meinem Blick
    den seinen birgt,
    in Scham und Scheue
    abwärts schaut.
    Sag, wie dünkt er dich?


    weiter:


    Er schwur mit tausend Eiden
    mir ew'gen Dank und Treue!
    Nun hör, wie ein Held
    Eide hält!

    (Hvm)


    Und schließlich


    Fluch dir, Verruchter!
    Fluch deinem Haupt!
    Rache! Tod!
    Tod uns beiden!


    Also hier spricht jemand voller Ärger und Zorn, darunter mag es Emotionen geben - aber (enttäuschte) Liebe? Das ist hier nicht erzählt. In Isoldes heftigem Zorn wird mE spürbar, dass sie durchaus etwas für ihn empfindet. Aber dieses Gefühl hat sich noch nicht ausgeprägt.


    Viele Grüße, Christian

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  • Es gibt eine ganze Menge. Vor allem aber hier relevant, dass es einige Prinzipien der Dramenanalyse gibt. Diese hat vor allem der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es im Drama, anders als in der erzählenden Dichtung, keinen Autorenkommentar gibt. Die Möglichkeit, die der Romanautor hat, z. B. zu sagen oder durchblicken zu lassen, dass das, was eine Figur sagt, nicht den Tatsachen entspricht, hat er im Drama nicht. Es ist also zwingend, dass man als gegeben hinnimmt, was die Figuren sagen, vor allem, wenn es sich um die Vorgeschichte handelt. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass eine Figur solche Ereignisse bewusst oder unbewusst falsch darstellt. Dann muss das aber aus dem Zusammenhang oder dem weiteren Verlauf des Dramas unmissverständlich hervorgehen. Ist das nicht der Fall, bleibt es bei dem, was die jeweilige Figur sagt.


    In diesem Falle ist die Sache einfach: Isolde erzählt, dass sie in dem Moment, wo sie Tristan töten wollte, Mitleid mit ihm empfunden hat, dass sie ihn darum nicht töten konnte und nun alles daran gesetzt hat, dass er so schnell wie möglich abreist.


    Dass in der Zeit, die bis dahin vergangen ist, eine emotionale Entwicklung stattgefunden hat, können wir vermuten. Aber einen Beleg dafür haben wir erst, nachdem die beiden das vermeintliche Gift getrunken haben.


    Alles andere ist freischwebende Spekulation und durch nichts gedeckt, muss also draußen bleiben, wenn es um eine Analyse des Stücks geht. Wenn es darum geht, sich in Erfindungen, was da noch so alles im Spiel sein könnte, zu übertreffen, gilt das selbstverständlich nicht. Man kann natürlich frei über den Stoff des Stücks phantasieren und sich ausdenken, was man will. Man soll nur nicht so tun, als habe man diese Geschichten dem Stück entnommen.


    Du magst das ja so sehen, aber der erste Akt gibt das nicht her. Tristan wahrt Distanz und verärgert damit Isolde. Wenn, dann kann man in ihren Verhalten Emotionen wahrnehmen, aber vor allem Enttäuschung und Ärger:

    Hinzu kommt noch die Demütigung. Tristan wirbt für Marke um sie. Marke ist Irland tributpflichtig. Da Morold tot ist, hat Irland aber erheblich an Macht verloren. Das – meint Isolde – nutzt Tristan aus, um sie kleinzumachen. Sein unbotmäßiges Verhalten ihr gegenüber, sein Trotz im Gespräch mit ihr macht überdeutlich, dass er sie ihre gesellschaftliche Unterlegenheit spüren lässt. Und Kurwenal setzt dem ganzen dann die Krone auf, was Tristan zwar schwach abzuwehren versucht, dann aber geschehen lässt. Und es ist ja klar, dass Kurwenal gar nicht auf die Idee kommen würde, überhaupt den Mund aufzumachen, geschweige denn dieses Spottlied zu singen, wenn er nicht auf Tristans Zustimmung rechnen würde.


    Dieser Punkt der Demütigung ist so wichtig, dass das Stück, genau damit beginnt, wenn der Vorhang aufgeht und bevor eine der Hauptfiguren auch nur ein Wort gesagt hat. Und der erste Satz Isoldes ist dann die Klage über diese Frechheit. Und nicht etwa über die enttäuschte Liebe, von der erst viel später in einer schwachen Andeutung und erst kurz vor Schluss des Akts mit großer Deutlichkeit die Rede ist.

  • Lieber Christian,


    Ich finde unsere Diskussion ja im Prinzip sehr spannend, weil es um etwas Grundsätzlich geht: Wie konkret muss ein Dichter bzw. eine Dichtung - hier eine dramatisch - sein? Die Geschehnisse aus der Vergangenheit, die Isolde berichtet, sind nicht Teil der dramatischen Handlung, aber zugleich deren Voraussetzung. Aber anders als ein Botenbericht belässt es Wagner bei vagen Andeutungen mit sehr vielen Unbestimmtheitsstellen, die der Leser bzw. Zuschauer dann ausdeuten muss. So ähnlich wie bei Kafka - wer ist eigentlich dieser K.? - ist die Frage: Wie weit soll die Konkretisation solcher Unbestimmtheitsstellen gehen oder andersherum soll nicht eine gewisse Unbestimmtheit bestehen bleiben? Wagner hat sich auf Andeutungen beschränkt, insofern sollte man ihren Andeutungscharakter auch nicht einfach eliminieren sondern berücksichtigen bei der Interpretation. Man kann allerdings davon ausgehen, dass Wagner die Motive so weit angedeutet hat, dass die Handlungsmotivation der Figuren verständlich wird - voll und ganz verständlich, muss man mit Wagner sagen. Denn Wagner, der verrückte Theatromane durch und durch, wollte alles auf die Bühne bringen, vertritt das Prinzip der uneingeschränkten szenischen Präsenz. Geheimnisse gibt es bei Wagner insofern nicht. Deshalb ist es schon bemerkenswert, dass die beiden Motive, die Isoldes Verhältnis zu Tristan bestimmen, das Mitleid und die Liebe, in ihrem Verhältnis so unbestimmt und uneindeutig angedeutet bleiben.


    Es gibt aber noch einen wichtigen Aspekt, der hier zu berücksichtigen ist - und das ist Wagners Dramentheorie. "Tristan und Isolde" soll ja nach Wagner die Verwirklichung seiner theoretischen Prinzipien sein, die er in "Oper und Drama" aufgestellt hat. Wagner, das zeigt sich dort, ist der Antipode zu Friedrich Schiller. Schiller betont mit Blick auf den Zuschauer und das Geschehen auf der Bühne die ästhetische Distanz: Der Zuschauer darf durch das, was er auf der Bühne sieht, nicht selbst voll und ganz ergriffen werden. Ganz anders Richard Wagners antiklassizistische Deutung des Verhältnis von Bühnengeschehen und Zuschauer: Er betont die Distanzlosigkeit der vollkommenen Identifikation des Zuschauers mit dem Helden auf der Bühne. Da geht es um heftigste Sympathie und Antipathie, der Zuschauer soll so etwas wie Liebe und Hass zu den Bühnengestalten empfinden. Wenn man das berücksichtigt, bekommt die Zweideutigkei der Motivation bei Isolde zwischen Liebe und Mitleid doch einen anderen Sinn. Wagner lässt das Liebesmotiv immer mitspielen, denn nur so kann sich der Zuschauer mit den beiden Hauptfiguren identifizieren. Dafür reicht das Mitleidsmotiv alleine eben nicht.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Holger,


    ich finde die Diskussion auch bereichernd und habe kein Problem mit anderen Meinungen.

    Hier bin ich drangeblieben, weil ich die Funktion des Liebestranks nie begriffen habe.

    Dank Werner Hintze erfährt das Libretto nun endlich die nötige Aufmerksamkeit.

    Anfangs fand ich die Lektüre mühsam, aber das vergeht und die Sprache ist erstaunlich dicht.


    Und dann entdeckt man Stellen, die sehr besonders sind:


    Isolde (kurz bevor Brangäne den Trank zubereitet)

    ...

    als dein messender Blick

    mein Bild sich stahl,

    ob ich Herrn Marke

    taug' als Gemahl:

    ...


    Das ist auch sprachlich eine Perle! Da steckt auf wenigen Zeilen alles drin.


    Viele Grüße

    Christian

  • Das ist auch eine meiner Lieblingsstellen. Auch und vor allem, weil dieser Sarkasmus so herrlich komisch auskomponiert ist. Wenn man das als Hinweis darazf nimmt, dass das Stück vielleicht doch nicht so humorlos ist, wie allgemein angenommen wird, und dann ein wenig sucht, kann man erstaunliche Entdeckungen machen. (Oder eigentlich nicht so erstaunlich: Wagner kann nicht ohne Humor, aber doch überraschend, weil darüber so wenig geschrieben und gesprochen wird. Und in den Inszenierungen kommt Humor in der Regel nicht einmal in homöopathischen Dosen vor.)


    Sehr schön ist übrigens auch die Fortsetzung mit ihrer schneidenden Logik und der witzigen Einladung als Pointe:


    Das Schwert – da ließ ich’s sinken.

    Nun lass’ uns Sühne trinken.

  • Es gibt aber noch einen wichtigen Aspekt, der hier zu berücksichtigen ist - und das ist Wagners Dramentheorie. "Tristan und Isolde" soll ja nach Wagner die Verwirklichung seiner theoretischen Prinzipien sein, die er in "Oper und Drama" aufgestellt hat. Wagner, das zeigt sich dort, ist der Antipode zu Friedrich Schiller. Schiller betont mit Blick auf den Zuschauer und das Geschehen auf der Bühne die ästhetische Distanz: Der Zuschauer darf durch das, was er auf der Bühne sieht, nicht selbst voll und ganz ergriffen werden. Ganz anders Richard Wagners antiklassizistische Deutung des Verhältnis von Bühnengeschehen und Zuschauer: Er betont die Distanzlosigkeit der vollkommenen Identifikation des Zuschauers mit dem Helden auf der Bühne. Da geht es um heftigste Sympathie und Antipathie, der Zuschauer soll so etwas wie Liebe und Hass zu den Bühnengestalten empfinden. Wenn man das berücksichtigt, bekommt die Zweideutigkei der Motivation bei Isolde zwischen Liebe und Mitleid doch einen anderen Sinn. Wagner lässt das Liebesmotiv immer mitspielen, denn nur so kann sich der Zuschauer mit den beiden Hauptfiguren identifizieren.

    Hallo und guten Tag,

    Schön wenn es Wagners Wunsch war!
    Bei mir funktioniert er prima. Ich reagiere recht heftig in dieser Oper

    Das ist aber allein Meins und meiner Meinung nach, durch Herrn Wagner nicht bestimmbar. Viele seiner Aussagen halte ich für Werbung zur Förderung seiner Opern.
    Es gibt sehr viele Opern die mich aufregen. Madama Butterfly, die Figur Benjamin Franklin Pinkerton kann ich im Opernhaus nicht ansehen, da raste ich aus.

    Mit freundlichen Grüßen

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  • Es gibt sehr viele Opern die mich aufregen. Madama Butterfly, die Figur Benjamin Franklin Pinkerton kann ich im Opernhaus nicht ansehen, da raste ich aus.

    Es mag auch von der Inszenierung abhängen, aber aus heutiger Sicht ist es tatsächlich erstaunlich, dass die Oper noch nicht angefeindet wurde. Dabei hat gerade diese Figur die Indie-Band Weezer zu ihrem anspruchsvollsten und mE bestem Album inspiriert:


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  • Du musst nicht staunen. Das ist längst passiert. Nicht so heftig wie andere Sachen, was sicher daran liegt, dass die Schichten, aus denen die neuen Sitten-Wächter stammen, nicht so viel mit dem am Hut haben, was sie verächtlich »Hochkultur« nennen. Aber natürlich stand das Stück schon auf der Speisekarte. Wie auch »Land des Lächelns« oder das Möhrchen im »Rosenkavalier«. Da wird doch nichts ausgelassen! Wäre ja noch schöner...

  • "Tristan und Isolde" soll ja nach Wagner die Verwirklichung seiner theoretischen Prinzipien sein, die er in "Oper und Drama" aufgestellt hat.

    Oho! Da wäre mir ja fast eine sehr wichtige Information entgangen. Darf ich fragen, wann und wo Wagner das geäußert hat?

  • Leider erst jetzt gelesen, deshalb der Rückgriff.

    Ich lese es so, dass sich Tristan und Isolde durch die Behandlung nahe gekommen sind und dass Tristan ihr zu Dank verpflichtet ist

    Sie hat ihm das Leben gerettet. Ich finde "zu Dank verpflichtet" ist da ein bisschen schwach.

    statt dessen führt er sie aber Marke als Braut zu, was Isolde als Verrat empfindet und zur Konsequenz hat, dass sie auf Rache sinnt.

    Seine "Undankbarkeit" empfindet sie als "Verrat", die sie auf Rache sinnen lässt? - das ist dann allerdings eine übertrieben heftige Reaktion.

    Heute würde man sagen, dass das Verhältnis durch eine gewisse Spannung aufgeladen ist.

    Eine gewisse Spannung? Tristan hat Morold umgebracht (wahlweise Isoldes Bruder, hier - sogar - ihr Bräutigam). Und dann soll sie unter Tristans Mitwirkung mit dem ungeliebten König Marke verheiratet werden. Spannung?

    wird diese Spannung in eine Richtung gelenkt, die ihr bereits innewohnt,

    Wohnt da vielleicht Liebe inne?

    Viel unlogischer wäre es meines Erachtens, eine bereits vorhandene, einander bestätigte Liebe durch den Zaubertrank noch einmal zu aktivieren.

    Wagner offenkundig nicht. In dem Brief an Mathilde Wesendonck schreibt er davon, dass der Trank die Liebe der beiden heftig "auflodern" lasse.

    Außerdem: Meiner Lebenserfahrung (und dem Studium einschlägiger Bücher und Filme;)) zufolge kann Liebe sehr wohl vorhanden sein, wenn sie "einander" noch nicht "bestätigt" wurde. Ich glaube ehrlich gesagt, dass das immer so ist.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Wagner offenkundig nicht. In dem Brief an Mathilde Wesendonck schreibt er davon, dass der Trank die Liebe der beiden heftig "auflodern" lasse.

    So meinte ich es auch: Es scheinen sich zwischen den beiden inmitten der spannungsgeladenen (ich finde das Wort nicht so falsch, man könnte vielleicht auch „konfliktreichen“ sagen) Konstellation Gefühle entwickelt zu haben. Aber ausgelebt und erkundet wurden diese Gefühle noch nicht. Das passiert dann erst durch den Trank, der sie auflodern lässt.

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  • Die ganze Geschichte mit dem Trank wäre prekär, wenn Wagner nicht auf diesen Dreh gekommen wäre: Aus dem Mitleid und der ersten Dankbarkeit keimt nach und nach Liebe. Die sich aber beide nicht eingestehen können und wollen, weil sie die gesellschaftlichen Konventionen, die dem entgegenstehen, so tief verinnerlicht haben, dass sie sie für ihr Wesen halten. Was immer sich in ihnen abgespielt haben mag, sie wissen es nicht. Und es wäre am besten, wenn es auch der Zuschauer nicht wüsste, sondern an der entsprechenden Stelle ebenso überrascht ist wie die beiden. Das ist nicht leicht zu verwirklichen, aber das ist der Sinn des dramaturgischen Verlaufs. Denn wenn von Anfang an alles klar ist, dauert es wirklich einfach nur arg lange, bis vorgeführt wird, was alle schon wissen.

  • Zu Wagners Zeiten gab es noch keine Spielfilme, die die Thematik in allen möglichen Varianten aufzeigen.


    Deshalb darf es nicht wundern, dass es heutzutage den Zuschauern bei Tristan und Isolde oft einfach viel zu lange dauert, da sie anderes gewohnt sind.

  • Hallo und guten Tag,

    im 3. Aufzug 1.S., Hier hänge ich ein wenig in der Luft.

    Tristan war schon im Reich des Tode (mit seinem göttlich Urvergessen). …..Das Tor war schon zu….Er erwacht und erfahre ich später vom ihm: „Isolde lebt und wacht, sie rief mich aus der Nacht“


    Jetzt hadere ich ein wenig: Wenn er Tod war kann er nicht denken und auch nicht auferstehen. Oder ist dies sein „ERLEBEN“ der TODESNÄHE

    wie kann man mir da helfen?

    Mit freundlichen Grüßen

  • Zu Wagners Zeiten gab es noch keine Spielfilme, die die Thematik in allen möglichen Varianten aufzeigen.

    Ja, die Ärmsten damals. Wie ich gehört habe, gab es auch nicht mal Smartphones. Wie gut, dass wir es nun so herrlich weit gebracht haben.


    Und dass die Entwicklungen bei Wagner immer lange dauern, weil er die Segnungen unserer Zeit nicht kannte, sieht man ja am »Fliegenden Holländer«. Da dauert es von der ersten Begegnung der beiden Liebenden bis zum katastrophalen Ende sage und schreibe 50 Minuten! Das ist wirklich extrem langsam. Aber so war das damals eben.

  • Das ist wirklich extrem langsam. Aber so war das damals eben.

    nicht zum Thema, aber :thumbup::thumbup::thumbup:

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

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  • Der 3. Aufzug so finde ich sehr gut.

    Wagner schaut hier auch beim „Sterbeprozess“ sehr genau hin. Vieles davon habe ich bei Sterbebegleitungen so ähnlich wahrgenommen. Dieses hin und her Wogen, Verschmelzen von Wachen und Unwirklichem, vom Leben und frühster Kindheit, das „nicht gehen zu können“

    Und der Sänger muss das Singen. Ganz schön lang. Beeindruckt mich schon.


    mit freundlichen Grüßen

  • Der 3. Aufzug so finde ich sehr gut.

    Wagner schaut hier auch beim „Sterbeprozess“ sehr genau hin. Vieles davon habe ich bei Sterbebegleitungen so ähnlich wahrgenommen. Dieses hin und her Wogen, Verschmelzen von Wachen und Unwirklichem, vom Leben und frühster Kindheit, das „nicht gehen zu können“

    Und der Sänger muss das Singen. Ganz schön lang. Beeindruckt mich schon.


    mit freundlichen Grüßen

    Da kann ich jedes Wort aus meiner Erfahrung im Vikariat unterschreiben!

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Werte Kollegen, ich habe den Teil zur Kompetenz und Inkompetenz der Gesprächspartner einfach gelöscht, weil er wenig zur Erhellung von Wagners Libretto beiträgt. Ansonsten kann natürlich jeder fragen, was ihm zum Thema beliebt und jeder andere ist auch frei zu antworten.


    Schlüsse auf Kompetenz und Inkompetenz kann jeder Kollege privat ziehen, sind aber nicht Gegenstand des Threads. astewes als mod.

  • Die ganze Geschichte mit dem Trank wäre prekär, wenn Wagner nicht auf diesen Dreh gekommen wäre: Aus dem Mitleid und der ersten Dankbarkeit keimt nach und nach Liebe. Die sich aber beide nicht eingestehen können und wollen, weil sie die gesellschaftlichen Konventionen, die dem entgegenstehen, so tief verinnerlicht haben, dass sie sie für ihr Wesen halten. Was immer sich in ihnen abgespielt haben mag, sie wissen es nicht. Und es wäre am besten, wenn es auch der Zuschauer nicht wüsste, sondern an der entsprechenden Stelle ebenso überrascht ist wie die beiden. Das ist nicht leicht zu verwirklichen, aber das ist der Sinn des dramaturgischen Verlaufs. Denn wenn von Anfang an alles klar ist, dauert es wirklich einfach nur arg lange, bis vorgeführt wird, was alle schon wissen.

    Überraschungen in einem Drama? Das finde ich mit meinem literaturwissenschaftlichen Verständnis im Hintergrund nur merkwürdig. Denn für Überraschungen ist das Drama schlicht die falsche Literaturgattung. Ein Drama ist schließlich keine Novelle. Es geht darum im Drama, die Notwendigkeit einzusehen, die so und nicht anders zum tragischen Schluss als Ziel der Handlung führt und führen muss. Notwendigkeit und Zufall schließen sich aus. Im Drama werden keine Überraschungen präsentiert, sondern nur Konsequenzen.


    Zudem bleiben solche Aussagen, wie die Liebe in Tristan und Isolde keimt und sich eventuell entwickelt, spekulativ. Im Text finden sich dafür keine Angaltspunkte. Gerade hier hilft eine Rezeption der Sekundärliteratur weiter, welche einholt, welche literarischen Quellen für Wagner maßgebend waren. Welche Treue ist denn genau gemeint, die Tristan geschworen hat? Nur wenn man das einigermaßen geklärt hat, versteht man, warum sich Isolde verraten fühlt.


    Letztlich geht es darum, die Gewichtungen zu verstehen: Was wirkt wann und warum schwerer, die Liebe oder der Hass? Dazu finde ich ist es nicht notwendig zu wissen, wie die Liebesgeschichte zwischen beiden verlaufen ist. Das konnte Wagner weglassen, weil man es für das Verständnis der Handlung nicht braucht.

  • Überraschungen in einem Drama? Das finde ich mit meinem literaturwissenschaftlichen Verständnis im Hintergrund nur merkwürdig. Denn für Überraschungen ist das Drama schlicht die falsche Literaturgattung. Ein Drama ist schließlich keine Novelle.

    Ich fand diesen Gedanken mit der Überraschung allerdings sehr gut. Es ist doch ein auffallendes Thema bei der Rezeption, dass das Werk nicht immer erlebt wird.


    Die ganzen "Diskussionen" zum RT, der Blick in die Noten, was auch immer, es scheint so zu sein, dass eine gewisse Vorbildung, wenn sie bei der Rezeption nicht ausgeblendet werden kann, dem ästhetischen Erleben abträglich sein kann.


    In diesem Sinne wäre es doch sehr schön, könnte man ein Kunstwerk immer wieder neu erleben.

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  • Überraschungen in einem Drama? Das finde ich mit meinem literaturwissenschaftlichen Verständnis im Hintergrund nur merkwürdig.

    So, so. Wie ist es dann mit den Werken analytischer Dramaturgie? Oder wie ist es mit Kriminalstücken? Oder wie ist es mit Komödien? Mit Konversationsstücken mit ständig klappenden Türen? Oder um bei Wagner zu bleiben: »Lohengrin« mit dem Knalleffekt kurz vor Schluss... Oder die Meistersinger mit der ganz überraschenden Reaktion der Meister auf Stolzings Gesang auf der Festwiese? Oder gehen wir weiter zurück: »Antigone« mit Kreons plötzlichem Entschluss, Antigone zu begnadigen und der ebenso plötzlichen wie überraschenden Erkenntnis, dass es schon zu spät ist... Oder »Mutter Courage«, mit der Pointe, dass die Titelheldin trotzdem weiter vom Krieg profitieren will, obwohl sie durch ihn alles verloren hat... Sind das alles keine Dramen?


    Noch ein Wort zu der Behauptung, Tristan und Isolde solle »nach Wagner die Verwirklichung seiner theoretischen Prinzipien sein, die er in Oper und Drama aufgestellt hat«, diesmal im Ernst: Ich lasse mich gern durch entsprechende Nachweise vom Gegenteil überzeugen, aber bis dahin bleibe ich überzeugt, dass Wagner so etwas nie geäußert haben kann. Und zwar zum einen, weil ich es für ausgeschlossen halte, dass er jemals eins seiner Werke als Verwirklichung von theoretischen Prinzipien entworfen oder benannt haben kann. Zum anderen, weil ich es für ausgeschlossen halte, dass er zur Zeit des Tristan noch daran interessiert war, die theoretischen Prinzipien, die er in Oper und Drama aufgestellt hat, zu verwirklichen. Da hatte er längst andere Ideen.


    Als Hinweis darauf mag genügen, welche zentrale Rolle in Oper und Drama die Ausführungen zur Sprachgestalt des Dramas und insbesondere zur absoluten Untauglichkeit des Endreims für selbiges spielen. Wenn Wagner geäußert haben soll, der Tristan sei die Verwirklichung dieser ästhetischen Printzpien, muss ihm wohl entgangen sein, dass der Endreim im Tristan-Libretto eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Da ich nicht glaube, dass er das nicht bemerkt hat, halte ich es für ausgeschlossen., dass er sich so geäußert hat.


    Aber wie gesagt: Ich lasse mich durch entsprechende Belege gern vom Gegenteil überzeugen. Aber – ich sage es gleich, um Irrtümern vorzubeugen – nur durch solche. Machtworte oder Autoritätsbeweise beeindrucken mich nicht.

  • Ich fand diesen Gedanken mit der Überraschung allerdings sehr gut. Es ist doch ein auffallendes Thema bei der Rezeption, dass das Werk nicht immer erlebt wird.


    Die ganzen "Diskussionen" zum RT, der Blick in die Noten, was auch immer, es scheint so zu sein, dass eine gewisse Vorbildung, wenn sie bei der Rezeption nicht ausgeblendet werden kann, dem ästhetischen Erleben abträglich sein kann.


    In diesem Sinne wäre es doch sehr schön, könnte man ein Kunstwerk immer wieder neu erleben.

    Ja, ich hatte ja auch angedeutet, dass man bei Wagner das romantische Schicksalsverständnis wohl voraussetzen darf. Von daher ist das Zufällige immer nur ein scheinbar Zufälliges, in dem sich eine tiefere Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit verbirgt. Das gilt gerade für die Szene der Vertauschung des Tranks und der Unwissenheit der Beteiligten davon, dass der Liebestrank ein Liebestrank ist.


    In "Oper und Drama" betont Wagner sehr rationalistisch die Verstehbarkeit der Handlung. Die wird gewährleistet durch den Motivationszusammenhang, der immer einsichtig sein muss. Auch von daher kann es keine Zufälle und Überraschungen geben. Das Überraschende ist somit immer nur ein scheinbar Überraschendes, weil es immer auch dramatisch durch die Handlung motiviert und also nicht völlig unmotiviert erscheint. Das Dramatische an der Überraschung ist also gerade das nicht Überraschende an ihr.


    Man kann das auch sehr gut verstehen, wenn man die Entwicklung der Novelle zu einem existenziellen Drama seit dem 19. Jhd. betrachtet. Das dramatische Moment ist, dass das scheinbar Kontingente und singulär Ereignishafte so überraschend letztlich nicht ist, sondern eine Vorgeschichte hat, deren dramatische Konsequenz es ist. So z.B. bei Thomas Mann. Die dramatische Geschichte, die erzählt wird, zeigt, dass der novellistisch überraschende Tod in Venedig eigentlich gar keine wirkliche Überraschung ist, sondern eine "bewusst vorbereitete Überraschung" (die Formulierung stammt von Roman Ingarden). Im Drama kann natürlich mitunter mit Zufällen gespielt werden, nur betreffen sie dann entweder nicht die tragende Handlung oder aber sie sind nur scheinbare Zufälle, die dramatisch eben nicht völlig unvorbereitet kommen, sondern dramatisch sehr gut vorbereitet sind. Das ganz und gar Zufällige und Überraschende wäre gleichbedeutend mit einem Unwahrscheinlichen, und das würde dem dramatischen Grundprinzip der Wahrscheinlichkeit der Handlung widersprechen.


    In der Literatur wird natürlich diskutiert, ob und wie weit die Prinzipien von "Oper und Drama" im "Tristan" sich wiederfinden. Wagners Schreibstil ist sehr romanhaft und sein theoretisches Werk entsprechend ein kleiner Roman. Es ist klar, dass nicht alles, was da steht, auf den "Tristan" beziehbar ist. Nur ist es eben durchaus angebracht, Bezüge herzustellen, wo sie klar einsehbar sind.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich finde eure Diskussion interessant. Nur glaube ich nicht, daß desserntwegen irgendein Mensch den Tristan besucht. Ich glaube, es ist die Musik, die fasziniert und nicht philosopische oder historische Grundlagen.

    Leider wird hier über die Musik kaum diskutiert. Ich liebe Wagner und auch den Tristan rein aus musikalischen Gründen und muß das auch nicht begründen.

    Nichtsdestotrotz sind viele Beiträge hier interessant, wenn auch in meinen Augen etwas abgehoben. Was solls, jeder kann sagen, was er denkt, auch ich.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Nur glaube ich nicht, daß desserntwegen irgendein Mensch den Tristan besucht. Ich glaube, es ist die Musik, die fasziniert und nicht philosopische oder historische Grundlagen.

    Da wäre ich keineswegs sicher. Die Musik höre ich mir, wenn es mich interessiert, auf einer leider neu zu kaufenden Kleiber CD an. Ich habe bisher nur die Platten. Mich interessiert hier die ganze Diskussion ungemein, um das Drama zu verstehen .... Und das ist ja schließlich das, was da auf der Bühne passiert :)

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