Tristan und Isolde - Wagners visionäre Oper

  • Wozu braucht ein Komponist, Dichter oder Maler eine ästhetische Theorie?

    Wozu brauchst Du eine solche Behauptung, die weder allgemeingültig noch allgemein verifizierbar ist. Hatte Sophokles eine ästhetische Theorie? Wenn ja, woher weißt Du das? Hatte Shakespeare eine? Händel? Feydeau? Die Autoren der »Reise in den Westen«? Usw. Die Antwort ist klar. Deine Frage ist sinnlos, weil sie eine falsche Prämisse zum Ausgangspunkt macht. Welchen Zweck verfolgst Du damit?

    Sicher ist, dass manche Künstler sich eine Theorie schaffen, weil sie die brauchen oder zu brauchen glauben. Ebenso sicher ist, dass es sehr viele gibt, auf die das nicht zutrifft. Und noch viel mehr, über die in dieser Hinsicht nichts bekannt ist, zum Beispiel weil nicht einmal sicher ist, wer sie waren.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Wozu braucht ein Komponist, Dichter oder Maler eine ästhetische Theorie? Die Antwort: Immer dann, wenn er nicht einfach Opern oder Romane schreiben oder Bilder malen will in einer Tradition, sondern mit seinen Werken eine ganz neue Art von Kunst schaffen will, braucht er dafür eine philosophisch-ästhetische Begründung. Wagner ist einer der Wegbereiter moderner Kunst, für die der revolutionäre Anspruch der Erneuerung aller bisherigen Kunst prägend ist. Wagner sprach vom "Kunstwerk der Zukunft". Die bisherige Kunst wird deshalb einer radikalen Kritik unterzogen und damit die Nowendigkeit eines Neuanfangs betont.


    Wagner

    Hallo und guten Tag,

    Ich beziehe mich nur auf deine Einleitung.
    deine Aussage, ist der einseitig verwässerte Blick als Wissenschaftler.
    Neben Wagner und nach Wagner haben viele „nur Opern“ geschrieben. Du sprichst diesen Operschaffenden, nicht nur jeglichen Kompetenz ab, sondern Entscheidest dann auch noch über die Qualität, wie sie ihre Oper geschaffen haben.
    ich hoffe, dich richtig verstanden zu haben. verstehe mich nicht falsch, für einen Dilettanten ist es manchmal schwer Texte im Sinne des Senders zu erfassen.
    Mit freundlichen Grüßen

  • Warum sollte er das primär wollen?

    Mein Eindruck ist doch eher, dass der Künstler in dem Bereich, in dem er tätig ist, etwas ausdrücken möchte, etwas "sagen" möchte, das er nur in dieser Form machen kann. Der primäre Wille des Künstlers scheint mir in dieser Aussage zu liegen. Hier ist auch die kreative Kraft zu finden. Selbstverständlich trägt ihn auch die Kraft, dass man die Aussage nicht an jeder Ecke finden kann revolutionieren. Dass am Ende so etwas herauskommen kann, ist natürlich nicht ausgeschlossen, und dass manche Künstler so denken, selbstverständlich auch nicht. Nur scheint es mir so zu sein, wenn der Wille zu revolutionieren, die künstlerische Aussage überdeckt, die Wahrscheinlichkeit ästhetischer Schwächen ansteigt.

    Das ist wohl richtig gesehen, ist ein sachlich berechtigter Einwand. Man kann das an dem revolutionären Prozess erkennen, der von der Zweiten Wiener Schule eingeleitet worden ist. Hinter diesem steht primär der Wille eine musikalische Sprache zu finden, die das auszusagen vermag, was der Komponist als seine spezifische Aussage intendierte. Die Revolution der musikalischen Sprache war also nicht der primäre Impuls, sondern ein sekundärer Begleiteffekt. Schönbergs Kompositionen werden gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer kürzer. Zuvor hatte er in der spätromantischen Tradition stehend episch lange Instrumentalwerke publiziert. Bei den "Fünf Orchesterstücken op. 16" oder den "Sechs kleinen Klavierstücken op. 19" nehmen die Sätze nur noch wenige Minuten, später sogar nur noch eine Minute ein. Schönberg war auf der Suche nach einer neue Musiksprache, ohne dabei die Musik revolutionieren zu wollen. Dahinter stand allein sein subjektiver Ausdruckswille.


    So ist das auch beim Prozess der Emanzipation der Dissonanz. Bezeichnend ist, dass sich die Schönberg-Schule gegen den Begriff "Atonalität" wehrte mit dem Argument, dieser Begriff sei von der Musikkritik erfunden worden "in der Absicht, herabzusetzen". Man wehrte sich also gegen die Einbindung in ein musiktheoretisches Konzept, weil es dem Schönberg-Kreis primär nicht um eine neue Theorie ging, sondern um die Befreiung von traditionellen kompositorischen Konzepten, soweit diese der Absicht entgegenstanden, musikalische "Wahrheit" zu erschaffen.

    Ähnlich wie bei Kandinsky, der die Kunst vom "Überflüssigen" zugunsten des "Wesentlichen" und "Wahren" befreien wollte, suchte man nach einem musikalischen Ausdruckskern, der das "Wahre" verkörperte: Deshalb musste man die Emanzipation der Dissonanz in Kauf nehmen, nicht deshalb, weil man die Musik revolutionieren wollte.


  • Lieber Holger, ich muss hier nur kurz von der Seitenlinie einwerfen, dass es völlig außer Frage steht, dass das von Shakespeare mitbegründete moderne Drama natürlich von seinen Wendungen lebt. Ob die überraschend sind, mag auch immer vom Erfahrungshorizont des Zuschauers abhängen, aber es wäre wirklich arg verbohrt, so etwas abzustreiten. Diese Wendungen sind immer aus den Figuren entwickelt, wobei der Zuschauer die Motivation zuweilen erst nachgeliefert bekommt, so entsteht ein Überraschungsmoment. Wallenstein ist voll davon!
    Und in unserem Fall sprichst Du inzwischen ja selber von Brangänes "Schauder" (der im Libretto steht), also passiert hier etwas Unerwartetes, Überraschendes. Wie der Regisseur das dann inszeniert, ob er einen Effekt daraus macht, ist natürlich eine völlig andere Frage. Aber dass sich die Handlung an dieser Stelle (mehr oder minder überraschend) wendet, sollte anerkannt werden. Zu Beginn der Diskussion gingen hier ja noch alle (auch Du) davon aus, dass die beiden schon tief verliebt sind und manche (wie ich) haben sich gefragt, wofür der Trank überhaupt sein soll. Du könntest vielleicht doch auch einmal anerkennen, dass dem nun eine viel differenzierte Sichtweise gewichen ist. Diese Wortklauberei und Besserwisserei hier ist zuweilen schon sehr albern.


    Viele Grüße, Christian

    Ich weiß nicht, lieber Christan, ob Du gelesen hast, was ich geschrieben habe. Zugegeben, meine Argumentation mag manchmal etwas schwer nachvollziehbar zu sein, wenn man bestimmte Hintergründe nicht kennt. Aber es ist eben etwas Anderes, ob eine Überraschung in einer Novelle, einem Roman oder einem Drama auftaucht. Da hat sie jeweils eine ganz andere Bedeutung. In der Novelle hat die Überraschung eine formkunstituierende Funktion, im Drama eben nicht. Ich hatte das an einer Stelle so ausgedrückt, dass das Dramatische einer Überraschung (also im Drama) gerade das nicht Überraschende an ihr ist.


    Ich weiß auch nicht, was der Schauder mit einer Überraschung zu tun haben soll. Der Schauder ist schlicht keine Überraschung, sondern der Ausdruck eines Entsetzens. Und genau deshalb ist es auch ein großes Missverständnis, das als einen Überraschungsmoment zu Inszenieren. Die Überraschung ist ein Effekt, eine Wirkung. Bei Wagner steht nämlich die romantische Gefühlsästhetik im Hintergrund, entsprechend ist auch die Rezeptionshaltung eine ganz andere. Es geht bei Wagner nicht darum, eine Wirkung beim Zuschauer zu erzielen wie für die Empfindsamkeit des 18. Jhd. Ein solches effekthascherisches Zielen auf Wirkung, was Wagner Meyerbeer vorhält, verhindert gerade das, was der Zuschauer und Zuhörer im Sinne von Wagners Gefühls- und Ausdrucksästhetik hier soll: Es geht um die Einfühlung, das Sich-Einfühlen in den Ausdruckssinn, hier den des Entsetzens.


    Im übrigen versuche ich auch nur, den ersten Teil des Tristan immer besser zu verstehen. Ich habe zwischenzeitlich eine interessante fremdsprachige Publikation entdeckt. Daraus geht hervor, dass Wagner Schlegels Skandalroman Lucinde gelesen und offenbar Motive daraus übernommen hat. Von daher wird einiges finde ich klarer verständlich. Ich habe im Moment aber leider weder einen Computer noch meine Bibliothek zur Verfügung, sondern nur das Handy zur Hand, so dass ich das nicht komplett nachlesen kann.


    Dazu später vielleicht mehr.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Helmut Hoffmann,


    in Bezug auf Schönberg ist es sicher richtig, dass er im Grunde konservativ war und kein Revolutionär sein wollte. Er wollte im Grunde so komponieren wie Johannes Brahms, nur musste er sich dafür die geeignete Grammatik schaffen. Aber das "Erneuerungspathos" ist typisch für die Zeit. Ferruccio Busoni schrieb eine Programmschrift mit dem Titel "Versuch einer neuen Ästhetik der Tonkunst". Der Expressionismus suchte nach dem "neuen Menschen". Kandinsky ging es um eine Verfeinerung der Sinne, die die abstrakte Malerei erreichen sollte, also eine ganz neue Dimension der Wahrnehmung von und durch Kunst. Sogar Edmund Husserl schrieb in den 1920iger Jahren philosophische Beiträge für die japanische Zeitschrift "The Kaizo" - deutsch "Erneuerung".


    Mir ging es nur darum zu zeigen, dass die Einbettung der ästhetischen Reflexion in das Kunstschaffen daraus resultiert, dass der Künstler mit seinem Werk zugleich ein neues und sehr eigenes Konzept von Kunst erschaffen will. Das gilt schon für die Romantik.


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Ich weiß nicht, lieber Christan, ob Du gelesen hast, was ich geschrieben habe.

    Aber es ist eben etwas Anderes, ob eine Überraschung in einer Novelle, einem Roman oder einem Drama auftaucht.

    Ja, ich habe natürlich gelesen, was Du geschrieben hast und wir reden vor allem über eine Oper Wagners, der Du abgesprochen hast, dass sie eine überraschende Wendungen im ersten Akt enthält und dass solche Kniffe - überspitzt formuliert - nur ins Effekt- oder Bouelvardtheater gehören. Eine gelungene Wendung erfordert sehr viel Könnerschaft, gerade damit sie nicht einem Effekt gleicht. Und das ist Wagner hier finde ich hier gelungen, indem er die alte Sage neu gedeutet hat und Brangäne eigenmächtig handeln lässt (was Isolde aber später umdeutet!). Brangäne ist ohnehin fast die interessanteste Figur, finde ich. Allein dafür hat sich die Auseinandersetzung mit dem Text gelohnt.


    So werden wir hier wohl nicht zusammenkommen, macht aber auch nichts.


    Ich habe Tristan vor allem durch die Lektüre des Libettos etwas besser verstanden, sehr vieles finde ich persönlich befremdlich, vor allem dieses Ineinander von Liebe und Todessehnsucht in der Nacht im zweiten Akt. Darüber zu sprechen hätte vielleicht noch interessant werden können.


    Aber ich habe jetzt erst einmal genug Wagner gehört und werde mich wieder anderen Themen zuwenden.

  • Ich habe zwischenzeitlich eine interessante fremdsprachige Publikation entdeckt. Daraus geht hervor, dass Wagner Schlegels Skandalroman Lucinde gelesen und offenbar Motive daraus übernommen hat.

    Das ist wirklich eine tolle Entdeckung. Das kann man jeder populären Einführung in das Werk entnehmen. Und wenn Du »Lucinde« gelesen hättest, wäre es Dir auch selbst aufgefallen. Ich erwarte mit Spannung die Entdeckung, dass auch Novalisʼ »Hymnen an die Nacht« eine Rolle spielen.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • ... sehr vieles finde ich persönlich befremdlich, vor allem dieses Ineinander von Liebe und Todessehnsucht in der Nacht im zweiten Akt.

    Wir können getrost annehmen, dass Wagner sich des Befremdlichen sehr wohl bewusst war. Man muss wohl annehmen, dass er genau das gewollt hat. Wenn man sich also nicht mehr bemüht, das Befremden zu beseitigen, indem man das, was einen beftemdet, in den Bereich zieht, in dem man sich zu Hause fühlt, sondern viel mehr darum, in den Bereich zu gelangen, in dem das einfach nicht befremdlich ist, kommt man der Sache näher. Das setzt allerdings eine genaue Lektüre (nicht etwa nur des Librettos) voraus. Und die Bereitschaft alle scheinbaren Gewissheiten aufzugeben. Da wäre also die Frage zu stellen, ob worüber von Todessehnsucht die Rede ist. Wenn man genau und vourteilsfrei das liest, was dasteht und nicht das, was man schon weiß, findet man schnell heraus, dass es nicht so ist. Man muss sich nur entschließen, den auf den ersten Blick grotesk wirkenden Aussagen ein paar mehr Blicke zu schenken und anzunehmen, wie es bei der Lektüre eines Dramas unabdingbar notwendig ist, dass das, was die Figuren sagen, wahr ist, wenn es nichts gibt (im Stück, nicht in irgendeinem anderen Text), was dem widerspricht.


    Wenn man sich daran hält und genau liest, kommt man ziemlich schnell dazu, dass zwar vieles, was da gesagt wird, zwar dem gesunden Menschenverstand paradox erscheint, aber nur, weil eben die Sprengung der Grenzen des gesunden Menschenverstands der Sinn der Sache ist. Darauf muss man sich einlassen, wenn man der Sache gerecht werden will. (Wenn nicht, natürlich nicht. Das steht jedem frei.)

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Allgemein gesagt, bzw. festgestellt, denn ich nenne hier einfach die Fakten, nicht meine Meinung:


    Ein Kunstwerk erschließt sich ausschließlich aus dem Werk. So ist es vom Künstler gedacht. Irgendwelche Theorien (egal ob vom Künstler an anderer Stelle geäußert, oder von irgendwelchen Philosophen) sind für das Werkverständnis komplett irrelevant.


    Im Falle einer Oper: Libretto und Partitur. Und sonst gar nichts. Außer der Künstler gibt noch eine Art "Gebrauchsanleitung" konkret zum Werk, was aber extrem selten ist (Haydn machte das zu seinem "Orlando Paladino" per Handzettel, indem er die Beziehungen der einzelnen Personen zueinander skizzierte).


    Für den Normal-Operngänger heißt das: Libretto lesen, gern auch mehrfach. Und sonst nichts. Weil es vom Künstler genau so vorgesehen ist.


    Man muss nur beachten, dass der Künstler natürlich eine gewisse Vorbildung voraussetzt. Z.B. erwartet Verdi italienische Sprachkenntnisse. Falls nicht vorhanden, muss man sich einer Übersetzung bedienen. Auch werden implizit gewisse Kenntnisse der Operngeschichte vorausgesetzt, da die Komponisten ja nicht bei Null beginnen. Dazu muss man aber keine Bücher lesen, das kommt so nach und nach.


    Unabhängig davon ist es natürlich nicht verboten, einen Opernführer zu lesen. Zur Vertiefung kann das durchaus beitragen. Aber diese Informationen sind bereits gefiltert. Und nochmal: Die Komponisten gehen niemals davon aus, dass ihr Publikum einen Opernführer liest. Sie ewarten lediglich, dass das Publikum auf dem "aktuellen Stand" ist.


    Zum Kollegen Hintze:

    Er muss natürlich tiefer einsteigen, da er an Opernproduktionen beteiligt ist. Aber auch er hält sich vorzugsweise an Text und Musik. Er stellt keine Theorien über das Werk auf. Er analysiert nur genauer.


    Zum Kollegen Kaletha:

    Er ist in einer ganz anderen Branche tätig. Da darf er gerne alle möglichen Theorien aufstellen. Diese sind für das Werkverständnis aber völlig irrelevant.


    Praktisches Beispiel:

    Kundry im Parsifal. Könnte theoretisch eine Jüdin sein. Dazu gibt es aber nur Daten, die außerhalb des Werks stehen. In der Oper selbst gibt es null Hinweise dazu. Daher ist Kundry mit absoluter Sicherheit keine Jüdin. Sie ist das, was sie in der Oper ist, und nichts anderes. Ihre Religion bzw. "Rasse" ist komplett irrelevant. Wenn es anders wäre, hätte der Künstler das im Werk irgendwie thematisiert. Hat er aber aber nicht. Absichtlich nicht.


    Fazit:

    Haltet euch ans Werk, und nicht an irgendwelche Deutungen. Damit seid ihr vollkommen ausgelastet. Zumindest bei Werken von bedeutenden Künstlern.

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  • Lieber thdeck,


    der Ausgangspunkt des Verständnisses ist auch für mich immer das Werk und das man sich bemüht, das Werk aus sich selbst zu verstehen. Nur ist dann die Frage, wie weit man damit kommt.


    Ich gebe Dir mal ein Beispiel: Thomas Mann. Die Frage ist letztlich, für welches Publikum ein Autor schreibt. Bei Thomas Mann war es das Bildungsbürgertum. Heute ist es so, dass wir zwar theoretisch Zeit haben, faktisch uns aber die Zeit geklaut wird durch die verlockenden Angebote der Interhaltungsindustrie, das Internet. Das Bildungsbürgertum damals hatte viel Zeit, hat sehr viel gelesen, kannte seinen Goethe, Schiller. Auch Philosophie gehörte dazu. Schopenhauer wurde gelesen und sehr schnell zum Modephilosophen, später Nietzsche. Selbst ich als studierter Germanist kann Thomas Manns "Doctor Faustus" nicht lesen, ohne den gelehrten Kommentar des Herausgebers hinzuzuziehen. Der Text ist geradezu überfrachtet mit literarischen Anspielungen, die nur ein Leser realisieren kann, der diese Literatur auch kennt. Heute schreibt keiner mehr so wie Thomas Mann, weil es dieses Bildungsbürgertum nicht mehr gibt.


    Ein Werk ist also nicht so etwas wie eine verschlossene Keksdose, wo dann der Sinn einfach drinsteckt wie die Kekse, so dass man nur den Deckel öffnen und die Kekse herausnehmen könnte. Nein, es ist eine Art Kristallisationspunkt für eine ganze Fülle von Sinnverweisungen auf verschiedene Kontexte, die man einholen muss, um den Sinn zu verstehen. Dazu gehört andere Literatur und Musik und eben auch die Philosophie. Man kann schlicht ohne Schopenhauer als Hintergrund "Tristan und Isolde" nicht verstehen. Wenn Du den Versuch machen willst, Wagner verstehen zu wollen ohne diese Kontexte einzuholen, wirst Du schlicht und einfach scheitern.


    Wagner selbst war übrigens gar nicht der Meinung, dass man ein Kunstwerk quasi voraussetzungslos aus sich selber verstehen könne. Im Gegenteil. Er hat das für völlig unmöglich gehalten. Er schreibt, dass das Kunstwerk ein soziales Prudukt sei und nur aus dem sozialen Milieu, dem es seine Entstehung verdankt, überhaupt verstehbar ist. Weil sich das Leben aber ständig weiter entwickelt und auch soziale Milieu historisch ist und irgendwann verschwindet, sind Werke nach Wagner auch nicht zeitlos, sondern vergänglich, weil sie mit dem Lauf der Zeit Niemand mehr versteht und verstehen kann. Der Künstler hat deshalb nur die Möglichkeit, immer neue Kunstwerke zu schaffen.


    Der Witz ist aber, dass wir Werke, die hundert oder zweihundert Jahre alt sind, immer noch meinen verstehen zu können. Da bleibt uns dann nichts anderes übrig, als uns die Kontexte, die sein Verstehen ermöglichen, wieder zu vergegenwärtigen. Sonst nämlich glauben wir nur, ein Werk verstanden zu haben, was wir aber in Wahrheit gar nicht verstanden haben.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Das ist wirklich eine tolle Entdeckung. Das kann man jeder populären Einführung in das Werk entnehmen. Und wenn Du »Lucinde« gelesen hättest, wäre es Dir auch selbst aufgefallen. Ich erwarte mit Spannung die Entdeckung, dass auch Novalisʼ »Hymnen an die Nacht« eine Rolle spielen.

    Wagners Stil ist die Motivverschmelzung. Er hat verschiedene Quellen und benutzt Motive mit einer Kongruenz mit Motiven aus anderen Quellen, so dass man sie kaum eindeutig nur einer Quelle zuordnen kann. Vermuten kann man vieles, welche Quellen er verwendet hat. Es ist z.B. wahrscheinlich, dass er Karl Marx gelesen hat. Nur im Falle von Marx kann man das nicht belegen. Belegen kann man es aber im Falle von Lucinde, da kennt man die Bibliothek, in der er das Buch nachweislich gefunden hat. Bei den Kongruenzen und Ähhnlichkeiten der Motive ist dann aber die Frage, ob man den Verweis auf Schlegel wirklich braucht zum Verstehen. Genau diese Frage beantworten "populäre Einführungen" letztlich nicht.

  • Man kann schlicht ohne Schopenhauer als Hintergrund "Tristan und Isolde" nicht verstehen.

    Was Dr. Holger Kaletha hinsichtlich der Voraussetzungen zum Verständnis eines der Vergangenheit entstammenden, also historischen Kunstwerkes am Beispiel Thomas Manns ausführt, ist zweifellos zutreffend. Es gilt für die Rezeption aller solcher historischer Kunstwerke. Man kann sie in ihrer künstlerischen Aussage nicht wirklich verstehen, wenn man das kulturelle, das geistige, aber auch das lebensweltliche Umfeld nicht kennt, in dem sie entstanden sind. Ich bin sogar der Meinung, dass man die Biographie, speziell den geistigen Teil derselben, des jeweiligen Autors kennen sollte, um zu einem wirklich tiefgreifenden Verständnis des jeweiligen Werkes kommen zu können. Ich selbst habe, wenn ich mir diese persönliche Bemerkung erlauben darf, diese Erfahrung immer wieder aufs Neue bei meiner Beschäftigung mit dem liedkompositorischen Werk einzelner Komponisten gemacht. Im Fall von Wolfgang Rihm etwa war dies ganz besonders ergiebig.


    Als ich den Beitrag von Dr. Kaletha las, kam mir diese Bemerkung von Christian B. in den Sinn:

    Ich habe Tristan vor allem durch die Lektüre des Librettos etwas besser verstanden, sehr vieles finde ich persönlich befremdlich, vor allem dieses Ineinander von Liebe und Todessehnsucht in der Nacht im zweiten Akt. Darüber zu sprechen hätte vielleicht noch interessant werden können.

    Ein schöner Beleg für die sachliche Berechtigung von Dr. Kalethas Ausführungen. Karol Berger stellt zu dem von Christian B. angesprochenen "Ineinander von Liebe und Todessehnsucht" fest:

    "Eros treibt die Liebenden zur Transzendenz, lässt sie die Endlichkeit der Tagesexistenz verlassen und in die unendliche Nacht eintreten; aber die Nacht bietet ihnen Nichts. Solange man nicht fähig ist, diesen kompromisslosen Schopenhauer´schen Pessimismus ernst zu nehmen, solange man nicht ernstlich glaubt, dass Nichts besser ist als Etwas, bleiben Zweifel an der endgültigen Bedeutung von Wagners Werk an diesem Punkt bestehen: Der Tristan scheint nicht mehr als nur eine weitere romantische Verherrlichung des nihilistischen Todeswunsches zu sein - sicherlich hinreißend und erhaben, aber umso verderblicher in seiner Erhabenheit."


    Und wenn man jetzt anfängt, über diesen Sachverhalt nachzudenken, muss man hinzunehmen, dass am Ende des Werkes der "Tristanakkord" eine Auflösung erfährt. Das legt nahe, das als finale Verklärung, als Triumph der Liebenden zu verstehen.

    Und die Frage taucht auf: Präsentiert uns Wagner hier einen verlogenen Trost?

  • Ich meine den Kern deiner Sache zu verstehen. Was mir gefällt: Du machst deutlich, dass die Begegnung mit "Tristan und Isolde" von Rezipient zu Rezipient ganz unterschiedlich ausfällt.

    Um es mal pointiert zu sagen: Ich muss den "Tristan" überhaupt nicht verstehen, wenn ich es nicht drauf anlege. Ich kann z.B. eine theatralische Vorstellung (oder meinetwegen auch das Hören auf CD oder das Lesen des Librettos) zu meiner eigenen Sache machen. Ich kann Dinge herauspicken, die mir gefallen, ich kann Schönklang genießen, ich kann mich an das halten, was mir bruchstückhaft Freude macht. So oder so ähnlich wird es wohl den meisten Opernbesuchern gehen. In der Begegnung mit Kunst steckt immer ein Akt der Selbstverständigung, die mehr, aber auch weniger reflektiert ausfallen kann. Wer darin ein Defizit ausmacht, würde sich nach meiner Auffassung dafür aussprechen, den Opernbetrieb gleich einzustellen. Denn ich bin ja nicht blöd: Müsste ich wirklich noch zweimal das Libretto vorher lesen, um etwas vom Theater für mich erwarten zu können, würde ich in der Regel zu Hause bleiben. Nur in seltenen Fällen bereite ich mich aus Zeitgründen auf Konzerte, Opernbesuche, Ausstellungen usw. vor. Und ich lasse mir von niemandem die Sinnhaftigkeit einer relativ voraussetzungslosen Begegnung mit Kunst absprechen, wenn ich einen wie auch immer gearteten Gewinn daraus zu ziehen meine.

    Und um das Ganze noch subjektivistischer zu akzentuieren: Was Künstler für die Rezeption ihres Geschaffenen "vorgesehen" haben, kann natürlich interessant sein - muss mich aber im Zweifelsfall überhaupt nicht bekümmern. Denn es geht um meine Begegnung mit Kunst, und die gestalte ich selbstbestimmt und frei.

    Insofern: Ich stimme dir voll und ganz zu, wenn du betonst, dass die Unmittelbarkeit der Kunsterfahrung das "Normale" ist. Ich finde allerdings schon den Gedanken der "Erschließung" eines Kunstwerks diskutabel bzw. fragwürdig. Kunstinterpreten, -analysten, -gestaltende werden wohl grundsätzlich um fundierte "Lesarten" bemüht sein, weil die Sinnhaftigkeit ihres Tuns wohl auch von so etwas wie "Überzeugungskraft" abhängt. Dem Großteil der "Tristan"-Besucher beim nächsten Opernereignis aber mitzugeben, es solle um die "Erschließung" dessen gehen, was zu sehen und zu hören ist, empfände ich schon als Versuch einer Gängelung zur Freudlosigkeit. Antennen ausfahren, bereit sein, wach sein, empfindsam und (dialog-)offen sein: Das wären Formulierungen, die mir besser gefallen. Und dann sehen, was alles passiert bzw. passieren kann.

  • Was Dr. Holger Kaletha hinsichtlich der Voraussetzungen zum Verständnis eines der Vergangenheit entstammenden, also historischen Kunstwerkes am Beispiel Thomas Manns ausführt, ist zweifellos zutreffend.

    Nein, das ist einfach Unfug. Das würde nämlcih bedeuten, dass der Künstler wissentlich ein unverständliches Werk veröffentlichen würde.


    Um es genau zu sagen: Kunst hat einen Sender und einen Empfänger. Real existent ist aber nur das, was beim Empfänger ankommt. Wenn Wagner z.B. Instrumente vorgeschrieben hätte, deren Töne wir nicht hören können, würde die Musik gar nicht existieren. Sie würde zwar in der Phantasie Wagners existieren. Aber nicht für den Opernbesucher. Sie wäre de facto inexistent.


    Entsprechend verhält es sich mit einem Sinn, der nur über Schopenhauer zugänglich ist. Da ca. 99,9 % der Opernbesucher Schopenhauer nicht gelesen haben, ist dieser Sinn für 99,9 % der Rezipienten inexistent.


    Willst du ernsthaft behaupten, Wagner treibt so einen Aufwand, um vielleicht 1 von 1000 Leuten etwas mitzuteilen???



    Das bedeutet übrigens nicht, dass es nicht sinnvoll sein kann, sich zusätzliche Informationen zu besorgen. Ich sage nur: Es ist vom Künstler so nicht vorgesehen. Weder von Wagner noch von sonst wem.



    PS: Man kann übrigens diskutieren, wie das mit der Textverständlichkeit ist. Wagner wusste natürlich, dass sein Publikum in einer Aufführung dem Text nicht lückenlos folgen kann. Aber er hat ja seine Werke nicht für eine einzige Aufführung komponiert. Er konnte davon ausgehen, dass interessierte Leute den Text halt später nachlesen und/oder im Laufe der Jahre mehrere Aufführungen besuchen. Aber Kenntnis von Schopenhauer hat er nicht vorausgesetzt. Ganz sicher nicht. Das ist vollkommen ausgeschlossen.

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  • Er konnte davon ausgehen, dass interessierte Leute den Text halt später nachlesen und/oder im Laufe der Jahre mehrere Aufführungen besuchen. Aber Kenntnis von Schopenhauer hat er nicht vorausgesetzt. Ganz sicher nicht. Das ist vollkommen ausgeschlossen.

    Kennst Du Wagners Publikum?

  • Um es mal pointiert zu sagen: Ich muss den "Tristan" überhaupt nicht verstehen, wenn ich es nicht drauf anlege.

    Richtig. Umgekehrt kannst du auch einen Riesenaufwand betreiben, alle möglichen Hintergrundinfos einholen, etc.


    Ich sage nur, was der Künstler voraussetzt:

    - Grundsätzliche Vertrautheit mit der "Sprache" (also Musik und Text)

    - Passender kultureller Hintergrund


    Beispiel aus der Malerei:

    Bei einer Kreuzigungsszene geht der Maler davon aus, dass verstanden wird, was dargestellt ist. Also keine antike Hinrichtung, sondern der christliche Hintergrund. Auch die beteiligten Personen (Maria, Johannes, etc.) werden als bekannt vorausgesetzt, samt deren theologischer Bedeutung.

    Der Maler setzt aber ganz sicher nicht voraus, dass man seine eigenen familiären Verhältnisse kennt, oder dass man weiß, mit welchen Philosophen er sich beschäftigt hat.

    Ja, der Maler lässt möglicherweise ganz viel Wissen, das er sich im Laufe der Jahrzehnte erworden hat, in das Werk einfließen. Aber was davon beim Rezipienten ankommen soll, legt er unabhängig davon fest. Was beim Rezipienten ankommen soll, steckt er direkt in das Werk. Was nicht im Werk selbst enthalten ist, braucht der Rezipient nicht zu wissen. Jedenfalls aus Sicht des Künstlers.


    Kunsthistoriker dürfen das anders sehen. Ich gebe hier nur die Sicht des Künstlers wieder.

  • Ich gebe hier nur die Sicht des Künstlers wieder.

    Sicher nicht.

    ^^

    Künstler verwendeten oft Anspielungen, die der heutige Betrachter in der Regel nicht versteht. Bspw. in einer Passion um 1520 eine Biene, die einen Hund nervt - spielt auf 2 Orden an, die einander damals nicht so mochten. Der Hund ist eine Verballhornung der "Domini-Canes". Die Biene steht, glaube ich, für die Benediktiner?

  • .... spielt auf 2 Orden an, die einander damals nicht so mochten. Der Hund ist eine Verballhornung der "Domini-Canes". Die Biene steht, glaube ich, für die Benediktiner?

    Statt Benediktiner sind es eher Zisterzienser.

    Der Hl. Bernhard von Clairvaux war berühmt für seine Redegabe. „Doctor mellifluus“ lautet daher sein lateinischer Beiname, „honigfließender Gelehrter“, weil seine Predigten so wohl taten wie Honig.

    Bilder und Skulpturen erinnern noch heute an den Zisterzienser und seine Redegabe, etwa der berühmte Honigschlecker im Münster von Kloster Salem oder der im Kloster Birnau.

    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Honigschlecker

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Nein, das ist einfach Unfug. Das würde nämlcih bedeuten, dass der Künstler wissentlich ein unverständliches Werk veröffentlichen würde.

    Ja, das ist gerade bei Wagner schwer vorstellbar. Und es wäre auch nicht besonders sinnvoll. Es gibt tatsächlich durchaus Künstler, die so etwas versucht oder überlegt haben: In Heiner Müllers »Traktor« gibt es den bemerkenswerten Satz: »Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu.« Allerdings steht der in einem ganz bestimmten Zusammenhang, und Heiner Müller hat diesem Bedürfnis bekanntlich nicht nachgegeben. Anders Joyce mit »Finnegans Wake«. Das ist ein bemerkenswertes Projekt und hat sicher auf ähnliche Weise seinen Sinn wie so manche monochrome Fläche als Gemälde oder Cages Stück Stille als Musik. Als das Testen der äußersten Grenzen ist das gut, aber als Rezipient hat man nicht viel davon.


    Aber hier geht es ja auch nicht um solche Extremfälle. Für das Drama, um das es hier geht, ist die Sache so ziemlich klar: Es ist für das Theater bestimmt und muss will im Theater wirken. Anders als bei der Lektüre eines Romans oder eines Gedichts hat der Rezipient da keine Möglichkeit, komplexen Verweisen nachzugehen und sie zu recherchieren. Wenn so etwas in einem Drama vorkommt, sollte der Dramatiker also darauf achten, dass das Stück auch funktioniert, wenn man diese Bezüge nicht erfasst.


    Aber auch das sind Sonderfälle. Das Drama, das im Theater wirken soll, kann keine Forderungen an das Vorwissen der Zuschauer stellen, die über die allgemeine Bildung, die man für das Publikum, für das es gedacht ist, hinausgehen. Da stimme ich thdeck zu 100% zu, auch in dem Punkt, dass das bedeutet, dass man den vorliegenden Text zu analysieren muss, nicht irgendwelche anderen, die vielleicht auch ganz gut dazu passen. Denn diese können für das Drama, wenn es an dem Ort, für den es bestimmt ist, sich entfaltet, nicht Wirklichkeit werden.


    Nun gibt es natürlich keinen Menschen, der irgendetwas ganz voraussetzungslos betrachtet, und der Grad des Vorwissens, das man getrost voraussetzen kann, hängt davon ab, an welche Publikumsschicht man sich wendet. Das wird bei denen, die sich einen »Tristan« zumuten, anders sein als bei denen, die ausschließlich Boulevard-Stücke sehen wollen, wobei auch diese ein gewisses Vorwissen brauchen, nur ein anderes als die »Tristan«-Besucher, denen dieses möglicherweise abgeht.


    Um noch ein abschließendes Wort zum »Tristan« zu sagen: Die Behauptung, man könne das Stück nur verstehen, wenn man Schopenhauer studiert hat, ist tatsächlich unsinnig und wäre außerdem ein sehr negatives Urteil über das Stück. Dass ein Drama alle Voraussetzungen in sich haben muss, kann man schon bei Aristoteles nachlesen, und natürlich auch bei Wagner und man findet es in allen großen Dramen bestätigt. (Die hier genannte Passage, über die Notwendigkeit, die jeweiligen Hintergründe zu kennen und die daraus geschlossene Unmöglichkeit, alte Stücke zu verstehen, ist aus dem Zusammenhang gerissen und hat im Zusammenhang einen anderen Sinn.)


    Dennoch kann es nützlich sein, z.B. Schopenhauer zu lesen. Nicht nur für den »Tristan« natürlich. Das ganze Schopenhauer-Wissen nützt aber gar nichts, wenn sich nicht am Stück nachweisen lässt, dass es in diesem tatsächlich entfaltet wird. Ist dies der Fall, kann die Schopenhauer-Lektüre helfen, das schneller aufzufinden, ist aber keineswegs dafür nötig, eben weil diese Gedanken im Stück entfaltet werden. Nun wird die Entwicklung des Gedankengangs im »Tristan« so klar vorgeführt, dass man dem nur zu folgen braucht. Dabei hilft es eigentlich gar nichts, wenn man weiß, dass da auch Gedanken eines gewissen Schopenhauer vorhanden sind, denn von wem die Gedanken sind, ändert überhaupt nichts an den Gedanken und ihrer Überzeugungskraft. (Jedenfalls nicht bei Leuten, die nicht auf Autoritätsbeweise fliegen.)


    Übrigens kann man auch in die Irre geführt werden, wenn man der Behauptung glaubt, man könne das Stück nicht ohne Schopenhauer verstehen. Bekanntlich hat Wagner sehr selektiv gelesen und aus jedem Philosophen oder politischen Schriftsteller immer nur das entnommen, was seine schon vorhandenen oder gerade in der Entfaltung befindlichen Gedanken bestätigte. Auf ganz neue Gedanken hat er sich nur äußerst selten bringen lassen (wenn die auftreten, hat er sie in aller Regel selbst entwickelt) und ältere hat er noch viel seltener fallen lassen, sondern vielmehr in seinem eklektischen Gedankengebäude aufbewahrt. (Das ist kein Einwand gegen ihn. Er war Künstler, nicht Philosoph und hat die Philosophen als Künstler rezipiert. Alles, was ihm in seiner künstlerischen Entwicklung half, ist gut, und seien die Gedanken – objektiv betrachtet – auch noch so kurios, wie nicht wenige in seinen ästhetischen Schriften.) Wie bedenklich z.B. seine Schopenhauer-Lektüre war, zeigt sich sehr schön darin, dass er dem Philosophen bekanntlich einen Vorschlag unterbreiten wollte (ob er den Brief abgeschickt hat, ist meines Wissens nicht geklärt), wie eine Lücke, die er in Schopenhauers System gefunden zu haben glaubte, zu füllen wäre. Was er tatsächlich (und sicherlich unabsichtlich) vorschlägt, ist eine Mesalliance von Schopenhauer und Feuerbach, die Dynamit am Fundament des Systems des letzteren wäre. Er hat eben immer, wenn er etwas Fremdes gelesen hat, sein Eigenes gelesen.


    Und seine eigenen Ideen, die in sein Stück eingegangen sind, findet man am besten, indem man sein Stück liest. Das scheint mir selbstverständlich. Der Nachteil (wenn man das als einen solchen empfindet, was erstaunlich häufig der Fall ist) ist, dass sich das geheimnisvolle Halbdunkel um das große Werk lichtet und die Sachen schnell ziemlich einfach und sehr klar und übersichtlich werden, wie in diesem Falle. Man muss sich dann mit der unerfreulichen Tatsache abfinden, dass man nicht mehr zu einem exklusiven Kreis von Eingeweihten gehört, sondern lediglich gefunden hat, was auch jeder andere finden kann – wenn er die Mühe auf sich nimmt.


    Damit ist mein missionarischer Eifer zu diesem Thema erschöpft. Ich wünsche noch viel Spaß.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

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  • Nein, das ist einfach Unfug.

    Ja wenn das so ist, kann ich mir ja ein näheres Eingehen auf diesen Beitrag ersparen (das u.a. darin bestanden hätte, die Untauglichkeit des in der Ästhetik deshalb längst nicht mehr verwendeten informationstheoretischen Theorems aufzuzeigen).

  • die Untauglichkeit des in der Ästhetik deshalb längst nicht mehr verwendeten informationstheoretischen Theorems

    Oha.


    Ich bin gerade im Urlaub und komme deshalb leider weniger zum Mittun hier. Ich habe aber die Zeit auch genutzt, den Tristan wiederholt zu hören und dabei auch den Text aufmerksamer als zuvor zu lesen. Da der Anstoß dazu hier erfolgte: Vielen Dank an alle Beteiligten!


    Aber.

    Wozu braucht ein Komponist, Dichter oder Maler eine ästhetische Theorie? Die Antwort: Immer dann, wenn er nicht einfach Opern oder Romane schreiben oder Bilder malen will in einer Tradition, sondern mit seinen Werken eine ganz neue Art von Kunst schaffen will, braucht er dafür eine philosophisch-ästhetische Begründung.

    Erst mal muss ich schon schlucken, wenn ich lese, dass jemand "einfach" Opern oder Romane schreibt oder Bilder malt. Einfach? Mal so? Und nein, das wird auch nicht dadurch besser, dass von "einer Tradition" geredet wird. Was für eine Anmaßung!

    Grundsätzlich denke ich, dass für die "ästhetische Theorie" am Ende die Wissenschaft zuständig ist. Wie weit es beispielsweise um das wissenschaftliche Vermögen, eher den wissenschaftlichen Anspruch Wagners bestellt war, hat Werner sehr schön dargelegt.

    Mir bringt es doch gar nichts, wenn ein Künstler ein sehr überzeugendes Konzept seiner Arbeit formuliert hat - mich seine Arbeit aber in keiner Weise berührt.


    Um zum Thema zurückzukommen: Natürlich kann ich Schopenhauer, Buddhismus und sonst noch was in die Waagschale werfen, um den Tristan einordnen zu wollen. Nur: Mir nutzt all das Wissen herzlich wenig, wenn mich "O sink hernieder, Nacht der Liebe" nicht bewegt.

    Es gilt für die Rezeption aller solcher historischer Kunstwerke. Man kann sie in ihrer künstlerischen Aussage nicht wirklich verstehen, wenn man das kulturelle, das geistige, aber auch das lebensweltliche Umfeld nicht kennt, in dem sie entstanden sind. Ich bin sogar der Meinung, dass man die Biographie, speziell den geistigen Teil derselben, des jeweiligen Autors kennen sollte, um zu einem wirklich tiefgreifenden Verständnis des jeweiligen Werkes kommen zu können.

    Ich bin ja schon sehr skeptisch, wenn jemand damit hantiert, dass es darum gehe, ein Kunstwerk zu "verstehen". Da bin ich eigentlich schon raus. Das maße ich mir gar nicht an.

    Mir geht es darum, dass das Werk etwas mit mir macht, in mir auslöst. Dass es mich etwas (mit)fühlen lässt, an etwas erinnert, mich nachdenken lässt, mich bereichert.

    Muss ich ein Werk zwingen in seinen zeit- oder kunsthistorischen Kontext einordnen? Bin ich überwältigter vom Liebestod, wenn ich Schopenhauer mitdenke?


    Aber es geht ja um den Tristan. Und da stellte Helmut eine doch wirklich spannende Frage, die sich daran festmacht, dass der Tristan-Akkord am Ende des Werkes doch aufgelöst wird.

    Das legt nahe, das als finale Verklärung, als Triumph der Liebenden zu verstehen.

    Und die Frage taucht auf: Präsentiert uns Wagner hier einen verlogenen Trost?

    Ich frage mich, was du mit "verlogenem Trost" meinst. Bezweifelst du den Triumph der Liebenden? Spoiler: ich nicht.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Mir geht es darum, dass das Werk etwas mit mir macht, in mir auslöst. Dass es mich etwas (mit)fühlen lässt, an etwas erinnert, mich nachdenken lässt, mich bereichert.


    Das ist der hier von vielen im Forum vertretene absolute Subjektivismus in der Rezeption von klassischer Musik. Diese Grundhaltung hat natürlich ihre unbezweifelbare Berechtigung.


    Es hat keinen Sinn, sich kritisch-argumentativ damit auseinanderzusetzen. Denn die Argumente kämen ja aus einer sich fundamental davon unterscheidenden Grundhaltung in Sachen Rezeption, bestehend in ihrem Kern darin, dass der Rezipient, wie auch der Interpret (der Dirigent, der Regisseur, der musizierende Künstler) sich der Anforderung und möglicherweise auch Verpflichtung gegenübergestellt sieht, die künstlerische Aussage des jeweiligen Werkes zu erfassen und gegebenenfalls zum Ausdruck zu bringen.


    Das sind zwei gleichsam weltanschauliche Grundhaltungen, die hier im Forum schon seit langem einander gegenüber stehen und zuweilen, wie hier eben gerade, hart und ergebnislos aufeinanderprallen.

    Sie können zusammen nicht kommen, das Wasser ist viel zu tief.

    Sorry, lohengrins!

  • Hallo und guten Tag,

    Ich habe „ für Mein Verstehen von T&I „ viel von dir gelernt und danke dir: Mission erfüllt - over ✔️

    Mit freundlichen Grüßen

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  • Sicher nicht.

    ^^

    Künstler verwendeten oft Anspielungen, die der heutige Betrachter in der Regel nicht versteht. Bspw. in einer Passion um 1520 eine Biene, die einen Hund nervt - spielt auf 2 Orden an, die einander damals nicht so mochten. Der Hund ist eine Verballhornung der "Domini-Canes". Die Biene steht, glaube ich, für die Benediktiner?

    Genau das habe ich ausführlich erklärt.

    Und es sind auch keine "Anspielungen", das ist schlichtweg die Bildersprache zur Zeit der Entstehung des Werks. Dessen Kenntnis setzt der Künstler natürlich voraus, genauso wie Wagner die Kenntnis der deutschen Sprache voraussetzt.


    Es bleibt dabei: Der Künstler macht eine Aussage, und er hat dringendes Interesse daran, dass die Aussage verstanden wird. Sonst könnte er sich nämlich die Mühe sparen.


    Ja, die Aussage muss nicht von "allen" verstanden werden. Aber doch zumindest von denen, die dem Künstler wichtig sind. Und das sind bei Wagner ganz sicher nicht die Schopenhauer-Experten. Ganz sicher nicht.

  • Und die Frage taucht auf: Präsentiert uns Wagner hier einen verlogenen Trost?

    Ich finde es schon schwer zu greifen, was im zweiten Aufzug passiert und wie es zu verstehen ist.


    Zunächst scheinen die beiden die Nacht zu feiern, in der sie glaubten, dem Tode nahe zu sein:


    TRISTAN

    In deiner Hand

    den süssen Tod,

    als ich ihn erkannt,

    den sie mir bot;

    als mir die Ahnung

    hehr und gewiss

    zeigte, was mir

    die Sühne verhiess:

    da erdämmerte mild

    erhabner Macht

    im Busen mir die Nacht;

    mein Tag war da vollbracht.


    ISOLDE

    Doch ach, dich täuschte

    der falsche Trank,

    dass dir von neuem

    die Nacht versank;

    dem einzig am Tode lag,

    den gab er wieder dem Tag!

    ...


    TRISTAN

    O, nun waren wir

    Nacht-Geweihte!

    Der tückische Tag,

    der Neid-bereite,

    trennen konnt' uns sein Trug,

    doch nicht mehr täuschen sein Lug!

    ...


    BEIDE

    O sink hernieder,

    Nacht der Liebe,

    gib Vergessen,

    dass ich lebe;

    nimm mich auf

    in deinen Schoss,

    löse von

    der Welt mich los!



    Doch dann nimmt das Geschehen nach Brangänes Warnung, dass die Nacht 'bald entweicht', noch einmal eine gedankliche Wendung.

    Hier finde ich es sehr schwer, Wagner zu folgen, auch sprachlich.


    Schon der Konjunktiv II von sterben ist nicht so gebräuchlich, hinzukommt jedoch eine rätselhafte intransitive Verwendung:


    ISOLDE

    Doch unsre Liebe,

    heisst sie nicht Tristan

    und --- Isolde?

    Dies süsse Wörtlein: und,

    was es bindet,

    der Liebe Bund,

    wenn Tristan stürb',

    zerstört' es nicht der Tod?


    TRISTAN

    sehr ruhig

    Was stürbe dem Tod,

    als was uns stört,

    was Tristan wehrt,

    Isolde immer zu lieben,

    ewig ihr nur zu leben?

    (Hvm)


    Vielleicht kann ja ein Kenner des Werkes noch diese Hervorhebung erläutern, auch grammatikalisch, ich verstehe sie nicht.

  • Falls du das auch mit einem Seitenblick auf mein heutiges Posting geschrieben hast: Es ist mir wichtig zu betonen, dass ich hier keinen "absoluten Subjektivismus" propagiere. Ich wollte festhalten, dass jeder Rezipient faktisch die Möglichkeit hat, sich völlig subjektivistisch z.B. zu einer "Tristan"-Aufführung zu verhalten, und betrachte das als schlichte Tatsache.

    Ferner habe die Rolle von Interpreten/Kunstschaffenden davon aus guten Gründen abgegrenzt - obwohl auch diese prinzipiell frei sind in ihrem Tun. Und auch das ist nichts weltanschaulich Propagiertes, sondern Realität.

    Dass man sowohl als Rezipient als auch als Kunstschaffender Verpflichtungen spüren kann bzw. sich diese selbst auferlegt, ist kein Widerspruch dazu. Und ich will es nochmal sagen: Wer z.B. Werner Hintze unterstellt, er würde in seinem beruflichen Wirken einem "absoluten" oder "willkürlichen" Subjektivismus gefrönt haben, der hat entscheidende Ausführungen (und wohl auch die Ergebnisse seiner Arbeit) von ihm ignoriert und ist übelst unverschämt.

    Ich als Rezipient kann vor meinem "Tristan"-Besuch alles Mögliche lesen, hören, analysieren, vergleichen usw. und mir für die Aufführung auferlegen, jede Kleinigkeit wahrnehmen zu wollen, um sie in einen konsistenten Gesamtzusammenhang bringen zu können, sodass ich nach dem Stück eine in sich geschlossene Auffassung des Rezipierten ins Tamino-Forum stellen kann. Das allerdings dürfte für die allermeisten Opernbesucher kaum realistisch sein. Und es ist ebenfalls nichts, was ich als "Idealvorstellung" propagieren würde.

    Die Realität ist vielgestaltig. Aber in der Regel werden wir keine umfassendst informierten Kenner des "Tristan" und seines gesamten werkhistorischen Hinterlandes sein. Und wir werden im Opernhaus auch keine konsistente und rein verkopfte ästhetische Erfahrung machen. Wahrscheinlich werden wir Dinge verstanden haben und andere nicht. Wir werden uns über bestimmte bruchstückhafte Highlights freuen und im gleichen Zuge -zig Einzelfragen in uns bewegen. Wenn es hoch kommt, sind wir sogar erschüttert, haben eine Art Katharsis durchlebt, haben einen neuen Blick auf uns und die Welt gewonnen, uns unsterblich in eine Arie oder eine Figur verliebt... Es gibt so viele Möglichkeiten, was ein Opernbesuch alles sein und bewirken kann. Ich lasse mir aber sicherlich nicht einreden, es ginge zwangsläufig darum herauszufinden, was Wagner wohl für "eine künstlerische Aussage" mit dem "Tristan" loswerden wollte und inwiefern der böse Regisseur mir den Weg dazu verbaut hat.

  • Der Tod ist der Tod der Körper, die Liebe stirbt aber nicht für den Tod (als Opfer), der Tod kann nur die Körper beherrschen.

    Steht das da wirklich? Ich lese eher: Dem Tod stirbt das, was sie stört oder hindert, sich für immer zu lieben. Dem Tod soll etwas sterben? Dann wäre der Tod die Liebe, weil alles andere, was die Liebe hindert, gestorben ist. Es ist sehr seltsam formuliert, dabei finde ich das Libretto, wenn man sich darauf eingelassen hat, sonst überraschend luzide und durchaus auch poinitert.

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