Tristan und Isolde - Wagners visionäre Oper


  • Läsest Du die Beiträge der anderen Kollegen mit mehr Freude, würdest Du erkennen, dass es sich durchaus schon herumgesprochen hat.


    Ich bin nicht sicher (auch wenn ich keinen sinnvollen Gegenvorschlag vorbringen kann), ob »wissenschaftlich« wirklich der geeignete Begriff ist, um die Abgrenzung zu leisten, die Du haben willst. Die Methode des Vorgehens, die Du beschreibst, ist tatsächlich sinnvoll, und es gibt sicher nur weniger Möglichkeiten, andere als sinnvoller zu bezeichnen. Sie ist aber durchaus auch n Bereichen anwendbar, die nicht eigentlich wissenschaftlich sind. (Schuhmacherei zum Beispiel ;))

    Es geht hier um eine Methode und nicht um den Zweck der Erkenntnis.


    3. Dass ein Kunstwerk eine unausschöpfliche Sinnfülle hat und perspektivenreich ist, das ist eigentlich so etwas wie ein Gemeinplatz unter Werktheorikern und auch ich habe danit im Prinzip keine Probleme. Nur sollte das über die Notwendigkeit der Werkanalyse nicht hinwegtäuschen, deren Aufgabe es ist herauszufinden, wo die Sinnkonstanten liegen und wo die Variablen.

    Du verwechselt hier IMO die Rolle des Philosophen mit der des Rezipienten. Da mag bei Dir auch eine Prädestination vorliegen. Aber das sicher berechtigte Interesse an einer Werkanalyse erscheint in erster Linie dem Philosophen notwendig.


    Dein Satz über die "unausschöpfliche Sinnfülle" legt übrigens auch schon Grenzen fest, dass eine solche Analyse nur Aspekte aufdecken kann. Das würde aber in unserer Runde sicher keiner bezweifeln.


    4. Natürlich ist die Grundlage der Deutung immer der Text. Nur zweierlei gehört dazu: Es gibt keinTextverständnis ohne voraussetzungsreiche Deutung. Allerdings sollte sich die Deutung immer auf die Gegebenheiten des Textes beziehen und darauf bezogen bleiben. Bei Isoldes Liebestod gibt es einen Perspektivenwechsel. Sie verliert nämlich Tristan mehr und mehr aus dem Blick und ist am Ende nur noch umgeben von einem anonymen Schwall vom Empindungen. Entpersonalisierte reine Lust. Das Individuum hat aufgehört zu existieren.


    Angesichts der "unausschöpflichen Sinnfülle" des Kunstwerks sollte man mit apodiktischen Bemerkungen vorsichtig sein. Aber der Perspektivwechsel ist ein Beitrag, über den es sich zu diskutieren lohnt, ebenso, wie die Auflösung der individuellen Wahrnehmungsperspektive.


    Man müsste jetzt schauen, ob das der Text hergibt. Ich hatte das noch nicht gesehen.

  • Du verwechselt hier IMO die Rolle des Philosophen mit der des Rezipienten. Da mag bei Dir auch eine Prädestination vorliegen. Aber das sicher berechtigte Interesse an einer Werkanalyse erscheint in erster Linie dem Philosophen notwendig.

    Das würde ich gerne differenzieren. Wenn es so etwas wie "professionelle Aufgabenverteilung" gibt, dann kümmert sich der Philosoph nicht um Werkanalysen, sondern um allgemeine ästhetische Fragen - zielt also auf Wesentliches von "Kunst" ab und nicht auf die Analyse / Interpretation des einzelnen Kunstwerks. Die Werkanalyse von "Tristan und Isolde" ist ein Fall für den Musikwissenschaftler, der allerdings die Erkenntnisse des Philosophen methodisch, begrifflich und inhaltlich einbeziehen kann.

    Für den Rezipienten - da bin ich völlig bei dir - besteht überhaupt keine "Notwendigkeit" einer Werkanalyse. In den allermeisten Fällen wäre er damit auch völlig überfordert. Und weil ich es erst einmal gesagt habe: Das ist keine Feststellung eines Defizits. Er ist DER "Kunstadressat" schlechthin, und zwar "so wie er ist".

    Nichtsdestotrotz schließt die Tätigkeit der Analyse natürlich niemanden von vornherein aus. Der kompetente Rezipient kann natürlich ohne Nachweis eines musikwissenschaftlichen Studiums o.Ä. eine gute Werkanalyse anfertigen (siehe Helmut Hofmann). Und der Philosoph auch. Beide würden damit das Gebiet eines Musikwissenschaftlers betreten, was aber grundsätzlich jedem offensteht.

    Habe ich alles eben kurz gegoogelt.

  • Wenn es so etwas wie "professionelle Aufgabenverteilung" gibt, dann kümmert sich der Philosoph nicht um Werkanalysen, sondern um allgemeine ästhetische Fragen - zielt also auf Wesentliches von "Kunst" ab und nicht auf die Analyse / Interpretation des einzelnen Kunstwerks.

    Das ist, nach Faktenlage, nicht ganz zutreffend, lieber Leiermann. Viele Philosophen haben sich auch mit der "Interpretation des einzelnen Kunstwerkes" befasst.

    Ich darf erinnern an Heidegger, Hölderlin oder van Gogh oder die attische Tragödie betreffend, Adorno, der sowohl Lyrik also auch viele musikalische Werke interpretierte, oder Gadamer, der sich (tiefschürfend) mit der Lyrik Paul Celans auseinandersetzte.

    Der Existenzphilosoph Bollnow beschäftigte sich, weil es ihm um das Problem der wesenhaften Einheit von Leben und Tod ging, mit Rilke, und dabei kam er zu Erkenntnissen, im Hinblick auf diesen Thread von großer Bedeutung sein könnten.

    Aber darauf möchte ich hier nicht eingehen, - angesichts des Unbehagens und der Aversion, die hier hinsichtlich der Einbeziehung von Kategorien der philosophischen Ästhetik in die Interpretation von musikalischen Kunstwerken bestehen.

  • Das ist, nach Faktenlage, nicht ganz zutreffend, lieber Leiermann. Viele Philosophen haben sich auch mit der "Interpretation des einzelnen Kunstwerkes" befasst.

    Ich darf erinnern an Heidegger, Hölderlin oder van Gogh oder die attische Tragödie betreffend, Adorno, der sowohl Lyrik also auch viele musikalische Werke interpretierte, oder Gadamer, der sich (tiefschürfend) mit der Lyrik Paul Celans auseinandersetzte.

    Der Existenzphilosoph Bollnow beschäftigte sich, weil es ihm um das Problem der wesenhaften Einheit von Leben und Tod ging, mit Rilke, und dabei kam er zu Erkenntnissen, im Hinblick auf diesen Thread von großer Bedeutung sein könnten.

    Aber darauf möchte ich hier nicht eingehen, - angesichts des Unbehagens und der Aversion, die hier hinsichtlich der Einbeziehung von Kategorien der philosophischen Ästhetik in die Interpretation von musikalischen Kunstwerken bestehen.

    Möglicherweise ist das einfach ein Missverständnis, Helmut. Natürlich gab und gibt es Philosophen, die einzelne Werke interpretiert resp. analysiert haben. Und dies kann auch im Rahmen ihres philosophischen Tuns von ihnen als notwendig erachtet werden, denn philosophisch-ästhetische Erkenntnisse entstehen ja nicht im luftleeren Raum, sondern basieren auf konkreten künstlerischen Ausprägungen.

    Du benennst das Beispiel von Bollnow und bringst genau diesen Zusammenhang damit zum Ausdruck. Das Ziel des philosophischen Denkens ist die allgemeine Abstraktion. Damit diese aber plausibel, überzeugend, "gesichert" erscheint, muss sie sich an den Einzelerscheinungen "bewahrheiten". Wenn der Philosoph das alles selber leisten kann - auch gut. Seine Profession aber zielt auf die Veröffentlichung philosophischer Texte ab, nicht auf die Veröffentlichung von Werkanalysen. Dieses Gebiet nämlich wäre in unserem Fall musikwissenschaftlich bestimmt.

  • Holger, wenn du jemals aus deiner Blase herauskommen würdest, wäre das ein echter Gewinn. Vor allem für dich selbst.


    Ich gehe aber gerne auf deine Philiosophensicht ein.


    Zunächst aber Punkt 1:

    Wir sind hier nicht in deiner Philosophen-Blase. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Inzwischen hat sich zusätzliches Wissen angesammelt. Daher gilt:

    ####

    Die Wissenschaft ist ein System der Erkenntnisse über die wesentlichen Eigenschaften, kausalen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Natur, Technik, Gesellschaft und des Denkens, das in Form von Begriffen, Kategorien, Maßbestimmungen, Gesetzen, Theorien und Hypothesen fixiert wird.

    ###

    Genau das macht der Schuster, wenn er sich in Bereiche vorwagt, die er noch nicht kennt. Das gilt also nicht für jeden Schuster. Es gilt nur für die Schuster, die verstehen wollen, wie alles zusammenhängt.


    Und so kommen wir zu Punkt 2, der Sache mit techne vs. episteme:

    Diese Differenzierung mag unter manchen Gesichtspunkten hilfreich sein, hier ist sie es nicht. Der Schuster in meinem Beispiel würde nämlich auch dann genau dieselben Überlegungen anstellen, wenn er gar keinen neuen Schuh entwickeln wollte. Er will einfach verstehen, wie alles zusammenhängt.

    Oder nimm jemanden, der von der Tarte Tatin fasziniert ist. Das kann ein Konditor sein, der sie perfektionieren will. Oder ein Gourmet, der einfach wissen will, wie man Apfel, Butter und Zucker so genial kombinieren kann. Aber die Umsetzung gern dem Konditor überlässt.


    Oder nehmen wir deinen Fall: Ja, deine Bestrebungen haben keinen materiellen Hintergrund. Und doch verfolgst du einen nicht-philosophischen Zweck: Du arbeitest an deiner Reputation. Mit welchem Erfolg, sei dahingestellt. Aber du bist näher an der "techne", als du wahrhaben willst.


    Unabhängig von den beiden Punkten gilt, ich wiederhole mich:

    Um zu validen Erkenntnissen zu kommen (egal ob episteme oder techne), musst du wissenschaftlich arbeiten. Also nicht eine spezielle Sichtweise voraussetzen und nur noch die Daten sammeln, die zu dieser Sichtweise passen. Ansonsten taugt weder dein Schuh noch deine "Erkenntnis" zu irgendwas.

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    Deine "Bekehrungsbemühungen" finde ich ja durchaus rührend (das meine ich jetzt nicht ironisch) ^^ , aber Dir ist offensichtlich nicht klar, dass es z. B. das Universitätsfach "Wissenschaftstheorie" gibt. Das sind eigens eingerichtete Lehrstühle mit allem was dazu gehört, mit Doktoranden usw. Dazu kommen die einzelnen Fächer, wo Erkenntnistheorie und die Schulung in wissenschaftlichen Methoden mit zum Lehrplan gehören. Da bin ich sehr gut im Bilde, nicht zuletzt, weil ich nämlich interdisziplinär arbeite. Empfehlen kann ich die von den Spezialisten geschriebenen Einführungsbände, u.a. gibt es sehr gute vom Junius-Verlag, da kannst Du Dich auf den aktuellen Stand bringen. Da wirst Du dann auch lernen, dass es grundlegende erkenntnistheoretische Einsichten gibt, die unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Erkenntnis, also auch im 21. Jhd., verbindlich gelten und was speziell im 21. Jhd. neu diskutiert wird, das ist etwa aktuell der "neue Realismus". Ich kann Dir nur sagen, dass nichts davon die hier relevanten Fragen überhaupt betrifft. Was ich bei Dir lese, sind alles freischwebende, vage Allgemeinplätze ohne Bezug auf solche Diskussionen, womit Du keinen Spezialisten aus den Fächern hinter dem Ofen hervorholen wirst.


    Wenn man z.B. wie ich auch das Fach Pädagogik studiert hat, weiß man, dass "Pädagogik" eine Abkürzung ist von griech. "paidagogike techne". Die Pädagogik war also traditionell gar keine "episteme", keine Wissenschaft. Die Forderung, dass die Pädagogik eine Wissenschaft werden soll, hat zuallererst Immanuel Kant aufgestellt in seinen Vorlesungen über Pädagogik. Eine Wissenschaft wurde sie dann im Laufe des 19. Jhd. Man kann nun heute nach dem Grenzen einer solchen Verwissenschaftlichung der Pädagogik fragen, ob sie nicht auch den Charakter einer techne in gewissem Sinne behalten muss. Solche methodischen Fragen sind aber immer nur fachspezifisch im Hinblick auf die konkrete Aufgabenstellung zu beantworten. Da helfen keine Allgemeinplätze wie die, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer ergebnisoffen sein müssten. Nein, das müssen sie nicht. Es hängt vom Gegenstand und der Aufgabenstellung der jeweiligen Wissenschaft ab. Auch in der theoretischen Physik gibt es zum großen Teil Erkenntnisse, die nicht ergebnisoffen sind und sein können. 😉


    @asteweses Leiermann


    Helmut Hofmann hat sehr richtig hingewiesen u.a. auf Heideggers Beschäftigung mit Hölderlin. Bei Hölderlin nimmt die Philosophie die Form der Dichtung an. Insofern wird sie dann auch von Philosophen interpretiert.


    Und sowohl die Kunstwissenschaften als auch die Ästhetik haben eine Vermittlungsfunktion, also Erkenntnisse auch außerhalb wissenschaftlicher Fachdiskussionen zu vermitteln, die zum besseren Verständnis des ästhetischen Gegenstandes beitragen. Deswegen werden Bücher geschrieben von Musikwissenschaftlern oder auch von Philosophen, die einen wissenschaftlichen Anspruch behalten aber auch von Laien mit Gewinn gelesen werden können.


    In der Ästhetik geht es um eine Erfahrung. Theorie macht nur Sinn, wenn sie Erfahrungen reflektiert, die sie dann natürlich auf den Begriff bringt. Dietrich Fischer-Dieskau z.B. hat gesagt, dass er auch nach hunderten Aufführungen nicht ausschöpfen kann, was in Schuberts "Winterreise" steckt. Die Theorie klärt dann diese vorwissenschaftliche ästhetische Erfahrung begrifflich, bezieht sich aber darauf. Sie erfindet also nicht einfach etwas. 😄

  • Zwischenruf

    Der Thread ist – mal wieder – auf Abwege geraten. Dabei ist nicht recht verständlich, warum dies geschah. „Wissenschaftlichkeit“, d. h. das Arbeiten mit der Terminologie und der Methodik einer wissenschaftlichen Disziplin, ist beim Erstellen von Beiträgen zur Musik in diesem Forum nicht erforderlich. Und der Grund dafür ist ein ganz einfacher:

    „Musik will und soll sich selbst erklären, nur indem man sie hört.“ „Tatsächlich lässt sich die ästhetische Schönheit und Größe von Musik nicht (oder nur sehr begrenzt) durch die beschreibende und erklärende Sprache plausibel machen: Die Musik will und kann das nur durch sich selber tun“.

    Und wer sagt das?
    Ein Musikwissenschaftler, der hochgescheite Hans Heinrich Eggebrecht, der eine Fülle von tiefschürfenden analytischen Betrachtungen von Werken der klassischen Musik vorgelegt hat. Aber nicht, weil diese zum Verstehen derselben erforderlich wären, sondern allein deshalb, weil sie dazu dienen können, das ohnehin vorhandene Verständnis dieser Werke zu erhellen, zu erklären und zu vertiefen.
    Er unterscheidet zwischen „ästhetischem Verstehen“ und „erkennendem Verstehen“. Das „ästhetische Verstehen“, das aufmerksame Hören von Musik ist vollkommen hinreichend für ein Verstehen derselben. Das „erkennende Verstehen“ vermag nur einen erhellenden und vertiefenden Beitrag dazu zu leisten.

    Einen schönen Beleg für die Berechtigung dieser Thesen liefert – und nun komme ich endlich wieder zum Thema dieses Threads – der Nicht-Musikwissenschaftler Thomas Mann. In seinem – damals einen regelrechten Skandal auslösenden – Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“ von 1933. Darin bemerkt er zu Wagners „Tristan“:

    „Schopenhauers System ist eine Willensphilosophie von erotischem Grundcharakter, und ebensofern sie das ist, ist der Tristan erfüllt, durchtränkt von ihr … Wagner ist im Tristan nicht weniger Mythopoet als im Ring: auch in dem Liebesdrama handelt es sich um einen Weltentstehungsmythos. „Sehnsüchtig“, schrieb er 1860 aus Paris an Mathilde Wesendonck, „blicke ich oft nach dem Lande Nirwana. Doch Nirwana wird mir schnell wieder Tristan; sie kennen die buddhistische Weltentstehungstheorie. Ein Hauch trübt die Himmelsklarheit …([hier notierte Wagner die chromatisch, vom Tristan-Akkord ausgehende Melodielinie, die in ihrem aufsteigenden und unaufgelösten Charakter Klang gewordene Sehnsucht darstellt) … das schwillt an, verdichtet sich und in undurchdringlicher Massenhaftigkeit steht endlich die ganze Welt wieder vor mir.“ Es ist der symbolhafte Tongedanke, den man als „Sehnsuchtsmotiv“ zu bezeichnen pflegt, und der in der Kosmogonie des Tristan den Anfang aller Dinge bedeutet … Es (das Sehnsuchtsmotiv) ist Schopenhauers „Wille“, repräsentiert durch das, was Schopenhauer den „Brennpunkt des Willens“ nannte, das Liebesverlangen. Und diese mythische Gleichsetzung des süßleidig-weltschöpferischen Prinzips, das zuerst die Himmelsklarheit des Nichts trübte, mit dem sexuellen Begehren ist dermaßen schopenhauerisch, dass die Ableugnung der Adepten zum wunderlichen Eigensinn wird.“

    Bemerkenswert ist auch Thomas Manns Feststellung, dass es sich bei „Tristan und Isolde“ – er bezeichnete es als „opus metaphysicum“ – um ein vollkommen areligiöses Werk handele:
    „Es ist übrigens von großem Interesse, wie in dem Drama der Liebesmythus geistig festgehalten wird und von jeder historisch-religiösen Trübung oder Störung bewahrt bleibt … Es gibt kein Christentum, das doch als historisch-atmosphärisch gegeben wäre. Es gibt überhaupt keine Religion. Es gibt keinen Gott, - niemand nennt ihn, ruft ihn an. Es gibt ausschließlich erotische Philosophie, atheistische Metaphysik, den kosmogonischen Mythos, in dem das Sehnsuchtsmotiv die Welt hervorruft.“

    Thomas Mann hat also die inneren Bezüge, die zwischen dem Tristan und der Philosophie Schopenhauers bestehen, „erkannt“. Dieser Erkenntnis ging ein „erkennendes“, ein analytisches Hören voraus, das eine Kenntnis der Schopenhauer-Philosophie zur Voraussetzung hatte.
    All das aber war bei ihm nicht – als conditio sine qua non gleichsam – erforderlich für das Verstehen der Tristan-Musik beim erstmaligen Hören derselben, einem rein „ästhetischen Hören“, das bei ihm wahre Begeisterung auslöste.
    Erst im Zusammenhang mit einer reflexiv-kritischen Auseinandersetzung mit dem musikalischen Werk Richard Wagners, das auf ein Erfassen von dessen spezifischer Eigenart, seiner Größe und seiner Problematik abzielte, war für ihn ein vertieftes, ein analytisches, erkennendes Hören erforderlich.
    Aber nur deshalb.

  • Er unterscheidet zwischen „ästhetischem Verstehen“ und „erkennendem Verstehen“. Das „ästhetische Verstehen“, das aufmerksame Hören von Musik ist vollkommen hinreichend für ein Verstehen derselben. Das „erkennende Verstehen“ vermag nur einen erhellenden und vertiefenden Beitrag dazu zu leisten.

    Ich würde gerne auf die Unterscheidung Eggebrechts eingehen.


    Meine eigene bescheidene Wahrnehmung zu dem Thema scheint sich auf das ästhetische Verstehen zu beschränken, weil ich wohl Jahrzehnte kaum etwas anderes getan habe. Bis auf wenige Ausnahmen habe ich nicht einmal Booklets gelesen, weil ich sie meistens für mein Hören unerheblich fand.


    Die Meinung hat sich bei mir geändert, nicht zuletzt auch durch Beiträge im Forum. Wobei ich allerdings für mich feststelle, dass die Analyse am Notentext (nach Kontext eben auch Dramentext) im ersten Schritt das meiste bringt. Es lenkt Verstandes- und Sinnesorgane auf bisher Unerhörtes oder Nicht-Wahrgenommenes und ändert damit auch die ästhetische Rezeption. An der Stelle versagt in meinen Augen (und Ohren) ein weitergehender philosophischer Ansatz.


    Allerdings stelle ich mittlerweile fest, dass mich historische Betrachtungen und am Ende auch philosophische oder musikwissenschaftliche Einordnungsversuche langfristig bei vergleichendem Hören weiterbringen.


    Eine grundlegende Voraussetzung für diese Ansätze ist aber IMO immer, dass man nie apodiktisch vorgeht, sondern immer bereit ist, sich umzuhören :)


    Ich erlaube mir hier die Perspektive des einfachen Rezipienten in den Vordergrund zu stellen, denn ich sehe das so wie der werte Kollege Leiermann, dass Kunst im Wesen eine Auseinandersetzung zwischen Künstler (ich lasse hier ganz bewusst weg welchen ich meine) und Rezipient ist.


    Selbtverständlich sind Ansätze philosophischer, musikwissenschaftlicher oder auch soziologischer Art berechtigt und können, wie oben von mir bemerkt, auch bei der Rezeption helfen. Für diesen letzten Zweck sollte man dann aber soweit gehen, zu zeigen, inwieweit die Begriffe auf den Fall der Rezeption anwendbar sind und damit dann auch die Ergebnisse in diesem Kontext helfen.


    Erst im Zusammenhang mit einer reflexiv-kritischen Auseinandersetzung mit dem musikalischen Werk Richard Wagners, das auf ein Erfassen von dessen spezifischer Eigenart, seiner Größe und seiner Problematik abzielte, war für ihn ein vertieftes, ein analytisches, erkennendes Hören erforderlich.
    Aber nur deshalb.

    Hier darf man, wie Du am Ende ja auch sagst, nicht vergessen, dass Mann ein sich durch Sprache äußernder Künstler ist und kein reiner Rezipient.

  • Ich verstrhr ehrlich gesagt nicht, wie ein und dieselbe Person quasi in einem Atemzug zustimmend zitieren kann: »Musik will und soll sich selbst erklären, nur indem man sie hört« und erklärt: »ohne Schopenhauer kann man nicht verstehen, was der ›Tristan‹ zu sagen hat.« Mir scheint, beides kann nicht gleichermaßen wahr sein. Auch scheint mir, dass der erste Standpunkt dem Wagners und auch dem der Künstler entspricht, die unermüdlich erklären, dass sie ihr Kunstwerk nicht geschaffen hätten, wenn sie hätten sagen können, was es enthält.


    Dieser Widerspruch scheint ein sehr großes Rätsel zu sein. Aber wenn man ein wenig hinschaut, löst es sich von selbst.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Er unterscheidet zwischen „ästhetischem Verstehen“ und „erkennendem Verstehen“. Das „ästhetische Verstehen“, das aufmerksame Hören von Musik ist vollkommen hinreichend für ein Verstehen derselben. Das „erkennende Verstehen“ vermag nur einen erhellenden und vertiefenden Beitrag dazu zu leisten.

    Lieber Helmut,


    herzlichen Dank erst einmal für Deinen erhellenden Beitrag!


    Ich kenne zwar einiges von Eggebrecht (u.a. sein wirklich hervorragendes Mahler-Buch), aber die Unterscheidung von ihm ist mir nicht geläufig. Wo macht er sie denn?


    Ich verstehe das so ungefähr - aber auch nicht wirklich ganz. Erst einmal redet er in beiden Fällen von "Verstehen". Das ist die Terminologie von Wilhelm Dilthey, dessen Unterscheidung von "Verstehen" und "Erklären", was der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften zugrunde liegt. Das Verstehen ist immer das Verstehen eines Sinnes und eines Sinnzusammenhanges. Demnach meint Eggebrecht, dass auch das ästhetische Verstehen ein Verstehen eines Sinnzusammenhangs ist, also nicht nur einfach hermeneutisch blind ist. Meint er damit, dass ich z.B. grob verstehe, was eine Fuge ist, aber die wirkliche Kunst der Fuge bei Bach zu realisieren dann ein (analytisches) "erkennendes Verstehen" voraussetzt? Das ist ja faktisch bei den meisten Hörern der Fall. Nur warum das dann bei einer wirklich komplexen Fuge von Bach wirklich ein ästhetisches "Verstehen" ist, was auch noch vollkommen ausreichend sein soll, verstehe ich eher weniger. Man könnte ja auch sagen, das ist nur ein vages Vorverständnis und (noch) kein wirkliches Verstehen. Wenn das "ästhetische Verstehen" jedoch letztlich nur ein solches vage bleibendes Vorverständnis ist, dann kann es allerdings nicht "vollkommen ausreichend" für das Sinnverständnis sein.

    Thomas Mann hat also die inneren Bezüge, die zwischen dem Tristan und der Philosophie Schopenhauers bestehen, „erkannt“. Dieser Erkenntnis ging ein „erkennendes“, ein analytisches Hören voraus, das eine Kenntnis der Schopenhauer-Philosophie zur Voraussetzung hatte.
    All das aber war bei ihm nicht – als conditio sine qua non gleichsam – erforderlich für das Verstehen der Tristan-Musik beim erstmaligen Hören derselben, einem rein „ästhetischen Hören“, das bei ihm wahre Begeisterung auslöste.

    Die Ausführungen von Thomas Mann finde ich wirklich ungemein erhellend. Nur vermute ich, dass Eggebrecht die Unterscheidung von zwei Arten des Verstehens wohl auf die reine Instrumentalmusik bezogen hat und gar nicht auf das Verhältnis von Musik und Text - wir sprechen hier ja von einer Oper!? Du schreibst ja auch, dass es bei Thomas Mann zunächst nur um die "Tristan-Musik" geht beim ersten Hören. Aber kann man das "ästhetische Verstehen" nur der Musik des "Tristan" auch ein "ästhetisches Verstehen" der Oper nennen (den Text eingeschlossen)? Da ist mir die Unterscheidung unklar. Wie soll man einen Text (!) wirklich "verstehen" ohne die Bedeutung zu "erkennen" (Erkennen jetzt verstanden im Sinne der Bedeutungserfassung)?


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Aber kann man das "ästhetische Verstehen" nur der Musik des "Tristan" auch ein "ästhetisches Verstehen" der Oper nennen (den Text eingeschlossen)? Da ist mir die Unterscheidung unklar. Wie soll man einen Text (!) wirklich "verstehen" ohne die Bedeutung zu "erkennen" (Erkennen jetzt verstanden im Sinne der Bedeutungserfassung)?

    Ich gebe mal wieder, lieber Holger, was er zu dem Begriff "ästhetisches Verstehen" näher ausführt. Das Wort "ästhetisch" verwendet er im ursprünglich griechischen Wortsinn von "aisthánomai", also mit den Sinnen wahrnehmen. Und seine zentrale These lautet: "Musik will und soll sich selbst erklären, nur indem man sie hört". Er hätte, meine ich, eigentlich noch das Wort "kann" hinzufügen sollen. Sie will und soll nicht nur, sie kann sich auch "selbst" erklären.

    Und dann fährt er fort:
    "Sie definiert ihren Sinn durch sich selbst: durch ihre Form, ihre Strukturierung, das Spiel ihrer Elemente, das als Spiel in sich selbst sinnvoll ist und das, wenn wir zuhören, unsere Sinne in dieses Spiel hinüber- und hineinzieht, so daß wir - jenseits aller Begriffe, allen begrifflichen Erkennens - das Spiel verstehen lernen und zu Mitspielern werden."

    Eine Einschränkung in den Gattungen nimmt er bei dem Begriff "Musik" nicht vor. Die These gilt für alle Formen von Musik, also auch die Oper. Und das ja wohl zu Recht: Schließlich ist der Text ja doch auch in der unmittelbaren ästhetischen Rezeption verständlich, so dass sich ein "Verstehen " eines Sinnzusammenhangs ereignen kann.

  • Ich gebe mal wieder, lieber Holger, was er zu dem Begriff "ästhetisches Verstehen" näher ausführt. Das Wort "ästhetisch" verwendet er im ursprünglich griechischen Wortsinn von "aisthánomai", also mit den Sinnen wahrnehmen. Und seine zentrale These lautet: "Musik will und soll sich selbst erklären, nur indem man sie hört". Er hätte, meine ich, eigentlich noch das Wort "kann" hinzufügen sollen. Sie will und soll nicht nur, sie kann sich auch "selbst" erklären.

    Und dann fährt er fort:
    "Sie definiert ihren Sinn durch sich selbst: durch ihre Form, ihre Strukturierung, das Spiel ihrer Elemente, das als Spiel in sich selbst sinnvoll ist und das, wenn wir zuhören, unsere Sinne in dieses Spiel hinüber- und hineinzieht, so daß wir - jenseits aller Begriffe, allen begrifflichen Erkennens - das Spiel verstehen lernen und zu Mitspielern werden."

    Eine Einschränkung in den Gattungen nimmt er bei dem Begriff "Musik" nicht vor. Die These gilt für alle Formen von Musik, also auch die Oper. Und das ja wohl zu Recht: Schließlich ist der Text ja doch auch in der unmittelbaren ästhetischen Rezeption verständlich, so dass sich ein "Verstehen " eines Sinnzusammenhangs ereignen kann.

    Lieber Helmut Hofmann,


    vielen Dank für Deine Mühe mit der Erläuterung und den Hinweis! :) Ich werde mir das alles noch einmal genauer anschauen.


    So viel kann ich sagen: Eggebrecht denkt in diesem Sinne "intuitionistisch" - das "ästhetische Verstehen" als intuitives, vorbegriffliches Verstehen. Das steht einerseits der Phänomenologie nahe. Allerdings bin ich in einem Punkt doch etwas vorsichtig. Dass man bei der Beschreibung von Musik sich an das halten soll, was tatsächlich auch zur ästhetischen Wahrnehmung gehört, gestehe ich als Phänomenologe sofort zu. Nur Eggebrechts Zuspitzung, dass die Musik sich selber erklärt, nur indem man sie hört, finde ich dann doch etwas problematisch. Man braucht ja nur an außereuropäische Musik zu denken. Auch da gehören die Strukturen zum Wahrgenommenen. Nur weil wir als Europäer diesen kulturellen Verstehenshorizont nicht haben, können wir diese Strukturen letztlich doch nicht so einfach intuitiv erfassen. Da braucht man dann schon den Umweg über einen Begriff, um das fehlende intuitive Verständnis zu kompensieren. Und ist diese intuitive Verstehensmöglichkeit nicht historisch gebunden? Auch was mittelalterliche Musik angeht finde ich die These vom unmittelbaren intuitiven Zugang zur Musik doch etwas gewagt. Was Eggebrecht ein bisschen außer Acht zu lassen scheint, ist die Korrelation von Wahrnehmen und Wahrgenommenem, Verstehen und Verstandenem. Beides gehört zusammen. Etwas kann zum Wahrgenommenen gehören. Es erschließt sich aber nun doch nicht einfach quasi automatisch mit der Wahrnehmung, wenn eben der Wahrnehmende den Verstehenshorizont nicht immer schon mitbringt, um das Wahrgenommene wirklich zu verstehen. Aber das muss ich mir wie gesagt noch anschauen. Bei ihm spielt ja offensichtlich auch noch ein spieltheoretischer Ansatz hinein.


    Dazu ist in der Musiktheorie durchaus strittig, was überhaupt zur ästhetischen Rezeption gehört und was nicht. Und gerade bei der Literatur stellt sich die Frage, ob zum Verständnis von Literatur nicht doch mehr erforderlich als nur eine "unmittelbare ästhetische Rezeption", also die reine Wahrnehmung:


    "... unbewusst

    höchste Lust."


    am Ende das Tristan. Ist das nicht die Formulierung einer Erkenntnis auf einer höheren Reflexionsebene als die sinnliche Wahrnehmung?


    Jedenfalls noch einmal herzlichen Dank! :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Nächsten Sonntag (10.11.) werde ich den Tristan in Berlin in der Deutschen Oper sehen. Daher habe ich in den letzten Tagen mal wieder das Libretto gelesen und die Musik gehört. Es ergaben sich die folgenden Erkenntnisse:


    (1) Es handelt sich um Musiktheater. Daher muss auch dieses Werk so angelegt sein wie alle anderen Opern: Es muss bühnentauglich sein. Das bedeutet, dass der Theaterbesucher es verstehen muss, ohne irgendwelche Sekundärliteratur heranzuziehen. Also nix Schopenhauer und dergleichen. Auch keine Diskussion über die Verbform "stürben" bzw. "starben". Der Tristan ist bühnentauglich. Sonst hätte er nicht diesen Erfolg.


    (2) Hauptthema beim Tristan ist wie in fast allen Opern die Liebe. Bei den wenigen anderen (z.B. Elektra) sind es zumindest "starke Gefühle" (Hass, Rache, etc.). Beim Tristan gibt es aber eine Besonderheit, die ich von keiner anderen Oper so kenne: Die Liebe wird durchgehend als "real unmöglich" dargestellt. In allen anderen Opern, die ich kenne, gibt es eine Hoffnung, dass es irgendwie klappen könnte. Es scheitert dann an Intrigen, sozialen Umständen, Krankheit, oder was auch immer. Aber zumindest theoretisch könnte es ein "gutes Ende" nehmen. Der Zuschauer fiebert mit, auch wenn er weiß, wie es ausgehen wird. Beim Tristan ist es anders: Diese Liebe kann in der realen Welt nicht existieren. Sie ist einfach zu immens. Sie würde sozusagen unter ihrer eigenen Last zusammenbrechen. Tristan und Isolde als Ehepaar: Unvorstellbar. Daher gibt es auch keine Pläne, zu fliehen, oder mit Marke zu reden, oder seinen Tod abzuwarten. Das würde nichts bringen.


    (3) Der "Liebestod" ist dann einfach die logische Konsequenz. Dabei handelt es sich zunächst um den biologischen Tod, das ist den beiden völlig klar. Gleichzeitig sind sie aber davon überzeugt, dass mit diesem „Tod“ nicht Schluss ist. Was damit wirklich gemeint ist, bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. Vergleichbar mit dem christlichen „Himmelreich“.


    (4) Noch kurz zu der diskutierten Stelle „So stürben wir, um ungetrennt, ...“ Diese Version findet man überraschend häufig, obwohl es ihm Original „starben“ heißt. Das liegt daran, dass Wagner eigentlich „stürben“ meint. Das ergibt sich aus dem Kontext: Die beiden Protagonisten reden schon die ganze Zeit im Konjunktiv, genauer: Konjunktiv II, der sich in diesem Fall auf die Zukunft bezieht. Plötzlich dann der Umschwung zum Indikativ. Das ändert aber nichts an dem Zeitpunkt, von dem sie reden! Er liegt nach wie vor in der Zukunft. Sie reden die ganze Zeit von derselben Sache: Dem Liebestod. Zunächst als Möglichkeit („Stürb’ ich nun ihr, der so gern ich sterbe“), dann als Fakt („So starben wir, um ungetrennt“). Die beiden Protagonisten haben einfach ihr Koordinatensystem gewechselt. Am Anfang des Dialogs befinden sie sich in der Gegenwart, da liegt der Liebestod in der Zukunft, daher Konjunktiv. Dann wechseln sie in die Zeit danach, dadurch liegt der Liebestod in der Vergangenheit und ist nicht mehr Möglichkeit, sondern Fakt, daher Indikativ Präteritum. Oder dramaturgisch ausgedrückt: Die Möglichkeit wird immer mehr zur Gewissheit. Naturwissenschaftlich betrachtet, hätten sie beim Konjunktiv bleiben müssen. Dramaturgisch waren sie aber schon beim Indikativ und zeitlich gesehen nach dem Liebestod.


    Fazit: Suchen sie den Tod? Ja. Aber sie verstehen unter "Tod" etwas ganz anderes als wir!

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  • Hallo Thdeck,


    das ist mal eine tolle Interpretation, der ich allumfassend zustimme, aber niemals so prägnant hätte schreiben können !

    Bravo und Danke !

    Dirk