"Kernbotschaften" bei Wagner und Verdi: Unterschiede/Gemeinsamkeiten

  • Neulich meinte ich auf die Schnelle feststellen zu können:

    • Bei Verdi gehe es meistens um ein einzelnes starkes Gefühl, und die Handlung läuft unerbittlich auf die tragische Konsequenzen dieses Gefühls zu.
    • Bei Wagner gehe es mehr um einen Dualismus, also zwei einander widersprechende Gefühle bzw. Weltsichten, und bei deren Aufeinanderprallen passieren dann tragische Dinge.

    So einfach ist es aber nicht. Dennoch beschreibe ich erst mal, wie es zu meinem Schnellschuss kam:

    Ganz am Anfang meiner "Opernkarriere" (frühe 80er Jahre) betrachtete ich die Opernhandlung wie eine Filmhandlung. Damit kam ich eine Zeit lang gut zurecht. Mir war klar, dass in der Oper oft "übertrieben" wird, aber die einzelnen Personen handelten halbwegs logisch. Zauberflöte, Figaro, Rosenkavalier, Walküre, Fidelio, Carmen, Aida, Holländer.

    Dann kam Rigoletto, und diese Oper machte mich richtig ärgerlich. Wie kann sich eine Gilda so unrealistisch verhalten! Kurz danach Otello: So blöd (wie Otello) kann doch keiner sein!


    Irgendwann kapierte ich aber, dass insbesondere bei Verdi sich die Figuren der jeweiligen "Kernbotschaft" unterzuordnen haben. Es wird ein starkes Gefühl vorgestellt, und die Oper zeigt erbarmungslos, was passiert, wenn dieses Gefühl überhand nimmt.

    Rigoletto: Wunsch nach Rache

    Otello: Eifersucht

    Il Trovatore: Hass


    Bei Wagner sind es eher zwei "Welten" die aufeinandertreffen.

    Holländer: bürgerliches Leben vs. idealistische Liebe zwecks Erlösung

    Ring: freier Wille vs. Gebundenheit durch Verträge

    Tannhäuser: himmlische vs. irdische Liebe


    Allerdings passt diese Unterscheidung zwischen Verdi und Wagner längst nicht auf alle deren Opern. In diesem Thread würde ich gerne diskutieren, wo es passt und wo nicht. Oder gern auch generell, ob man gewisse prinzipielle Unterschiede zwischen den beiden Komponisten sehen kann.


    Es soll hier vor allem um die Handlung gehen, weniger um die Musik.


    Man kann auch anders fragen:

    Wäre Wagner bereit gewesen, ein Libretto von Verdi zu vertonen?

    Wäre Verdi bereit gewesen, ein Libretto von Wagner zu vertonen?


    Wenn ja, in welchen Fällen? Wenn nein, warum nicht?

  • Fangen wir mit Verdi an.


    Nabucco: Keine klare Aussage möglich. Ist wohl noch zu früh dafür.

    Rigoletto: Klarer Fall für "starkes Gefühl (hier Rachsucht) und dessen Konsequenzen"

    Il Trovatore: analog, nur dass es hier um "Hass" geht

    La Traviata: Hier sehe ich eher einen Dualismus, Liebe vs. gesellschaftliche Verpflichtungen

    Un ballo in maschera: Eher monothematisch, Hass, und alles läuft auf das unausweichliche Ende zu

    Don Carlo: Eher Dualismus

    Aida: Passt nicht in die Reihe. Könnte auch ein Kinofilm sein.

    Otello: Klarer Fall für "starkes Gefühl (hier Eifersucht) und dessen Konsequenzen"

    Falstaff: Eher Dualismus, d.h. Falstaff gegen den Rest der Welt. Wobei die Rolle des Falstaff wesentlich gewichtiger als die der anderen.


    Verdi scheint sich entweder auf ein Thema oder zumindest auf eine Figur zu fokussieren. Die Unterlegenen sind dann in der Regel schwach (als Person, natürlich nicht musikalisch).

  • Wagner:


    Der fliegende Holländer: Dualismus "bürgerliches Leben vs. idealistische Liebe". Der bürgerliche Teil mit schwachen Figuren, dafür zwei ebenbürtige und starke Figuren im idealistischen Teil.

    Tannhäuser: Dualismus "himmlische vs. irdische Liebe". Wobei ich Elisabeth für Wagner-Verhältnisse als eher schwach empfinde.

    Lohengrin: 2 Welten im Konflikt miteinander.

    Tristan: Überraschend (für Wagner) monothematisch: Todessehnsucht. Jaja, man wird auch einen Dualismus finden. Aber die Todessehnsucht überstrahlt alles.

    Meistersinger: Klarer Fall von Dualismus.

    Ring: Klarer Fall von Dualismus. Wobei die einzelnenen Gegner meist ebenbürtig sind.

    Parsifal: Eher monothematisch (Erlösung durch Mitleid). Dafür mit extrem gewichtiger Kundry, die den Titelhelden eigentlich in den Schatten stellt.


    Fazit:

    - Wagner neigt eher zum Dualismus.

    - Wager hat oft sehr starke Frauenfiguren.

    - Die "Bösen" haben bei Wagner oft ein ähnlich starkes Gewicht wie die "Guten".


    Der Ausgang steht bei Wagner meist auf des Messers Schneide, während er bei Verdi oft (absichtlich) voraussehbar ist.

  • Otello: Klarer Fall für "starkes Gefühl (hier Eifersucht) und dessen Konsequenzen"

    Richtig. Aber ich frage mich immer wieder, warum Desdemona ständig diese Eifersucht schürt, indem sie Cassio immer wieder verteidigt?

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Vielleicht weil sie ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen und so die Eifersucht dämpfen will?

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

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  • Hallo und guten Tag,

    Vielleicht zur Ergänzung bei der Aida:

    Ist ein Drama, das die Konflikte zwischen Liebe, Pflicht und Verrat aufzeigt. Dualismus!?

    Und die Oper hätte Wagner auch übernommen und so ähnlich komponiert.

  • Hallo und guten Tag,

    Vielleicht zur Ergänzung bei der Aida:

    Ist ein Drama, das die Konflikte zwischen Liebe, Pflicht und Verrat aufzeigt. Dualismus!?

    Und die Oper hätte Wagner auch übernommen und so ähnlich komponiert.

    Aida ist jedenfalls näher am Kino als die meisten anderen Verdi-Opern.

    Ich stimme zu, dass Wagner das Libretto hätte übernehmen können, aber komponiert hätte er natürlich anders...

  • Vielleicht weil sie ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen und so die Eifersucht dämpfen will?

    Desdemona handelt auf alle Fälle konsistent. Und doch meine ich, dass ihre Rolle darauf ausgerichtet ist, den unausweichlichen Niedergang Otellos zu "begleiten", so wie allen anderen Protagonisten auch.


    Eigentlich hätten die "Guten", inkl. Desdemona, relativ bald bemerken müssen, was da gespielt wird. Aber sie "durften" nicht. Dass sie dennoch alle konsistent handelten, sagt viel über die Qualität des Librettos aus.


    Wagners "Opfer" haben meistens zumindest eine theoretische Überlebensmöglichkeit. Bei Verdi ist eigentlich von Anfang an klar, dass sie dem Tod geweiht sind.

  • Otello: Klarer Fall für "starkes Gefühl (hier Eifersucht) und dessen Konsequenzen"

    Ist der Fall wirklich so klar? Für mich ist Verdis "Otello" kein Eifersuchtsdrama schlechthin. Der Hintetgrund der Handlung ist das Scheitern eines sehr erfolgreichen Mohren in einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Das macht den weitsichtligen Stoff so brennend aktuell. Verdi hat den Rassismus bei Shakespeare etwas gemildert, aber nicht eleminiert. Die politische Korrektheit verlangt es inzwischen, Otello nicht mehr mit dunkler Hautfarbe auf die Bühne zu bringen - mit der Konsequenz, dass Jago kein Rassist mehr ist. Shakespeare aber zeichnet ihn als rassistischen Urtyp in der Literatur. Ich empfehle die Übersetzung von Frank Günther, wenn man des Englischen nicht absolut perfekt mächtig ist.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Die hast Recht, Eifersucht ist hier wirklich zu monokausal. Allerdings steht auch der Rassismus nicht im Vordergrund. Das kann nämlich jedem passieren, der als "nicht zugehörig" empfunden wird. Falsche Herkunft, falscher Akzent, falsche Weltanschauung. Oder der pure Neid. "Dem gelingt alles, und er muss sich nicht mal anstrengen." (was in 99,9% der Fälle Blödsinn ist)


    Was steht also im Vordergrund: Nicht die Eifersucht, sondern die unaufhaltsame Vernichtung einer Existenz. Alles andere (Rassismuns, Eifersucht, Neid, Schwäche) sind nur Mittel zum Zweck.


    Man hat bei Verdi meistens den Eindruck, die Leute hätten nie eine Chance gehabt, ihrem Schicksal zu entkommen.


    Wobei in Einzelfällen auch der Zufall eine Rolle spielt, z.B. im Trovatore oder in Aida. Der Zufall scheint da die Aufgabe zu haben, die Sache ins Rollen zu bringen. Ab da gibt es dann auch keinen Ausweg mehr.


    Der Sinn könnte sein, dass der Zuschauer nicht abgelenkt sein soll durch irgendwelche Überlegungen wie "Warum handelt er so und nicht anders?", "Wird er/sie überleben?", "Gibt es einen Ausweg?"

    Der Zuschauer soll sich auf das (erwartbare) Geschehen und dessen Schilderung durch Spiel+Musik konzentrieren.

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  • Und was hätte er dann davon? Ist die Mitteilung, dass eben nun mal geschieht, was geschieht, so wichtig, dass man sich mehrfach stundenlang ins Theater setzt, um immer wieder zu erfahren, was man schon weiß?

    Nebenbei: Ich sehe nicht, dass das Geschehen z. B. in Aida unausweichlich zu diesem Ausgang führen muss.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Und was hätte er dann davon? Ist die Mitteilung, dass eben nun mal geschieht, was geschieht, so wichtig, dass man sich mehrfach stundenlang ins Theater setzt, um immer wieder zu erfahren, was man schon weiß?

    Jaja, natürlich weiß man bei der Oper generell, wie es ausgeht, man muss also auch bei einer "Tosca" nicht abgelenkt sein von der Spannung.

    Dennoch meine ich, dass zumindest beim Otello oder beim Rigoletto das Werk auf einen unerbittlichen Ablauf hin fokussiert ist.


    Aida ist in der Tat etwas anders:

    Nebenbei: Ich sehe nicht, dass das Geschehen z. B. in Aida unausweichlich zu diesem Ausgang führen muss.

    Stimmt, man könnte hoffen, dass der Umschwung von Amneris noch etwas bewirkt. Auch bei der Traviata könnte man sich der Illusion hingeben, dass sich noch etwas ändern wird. Beim Falstaff wiederum nicht. Und beim Trovatore? Zumindest ahnt man, dass sich Luna nicht ändern wird.


    Zur Erinnerung:

    Ich möchte eigentlich nur herausfinden, ob es prinzipielle Unterschiede zwischen den Libretti von Wagner und Verdi gibt. Ich meine immer noch, die gibt es. Kann sie nur nicht klar formulieren.


    Noch ein Versuch:

    Bei Wagner gibt es immer Kräfte, die den "geplanten" Ausgang verhindern wollen. Bei Verdi sehe ich das in der Regel nicht. Oder wenn doch (wie beim Rigoletto durch den Titelhelden selbst), wird das quasi "mit der Brechstange" unterbunden.

  • Ich glaube nicht, dass man den Unterschieden der Dramaturgie auf dieser Ebene beikommt. Der auffälligste Unterschied ist technischer Art. Die Stücke sind einfach vollkommen anders gebaut, die Architektur ist vollkommen anders beschaffen. Im Vergleich zu Wagners Stücken wirken die meisten von Verdi höchst »unlogisch«. Und zwar nicht, weil Verdi und seine Librettisten das niht bemerkt hätten, sondern weil das Gewicht einfach ganz woanders liegt. Darum wäre es es auch vollkommen unmöglich, dass Verdi ein Libretto von Wagner oder dieser eins von Verdi vertont. Sie würden auch ihren musikalischen Stil vollkommen umstellen müssen. Wenn man von der technischen Seite aus herangeht, klären sich die Unterschiede ziemlich schnell, auch die inhaltlichen. Anders herum kommt man nicht so gut voran.


    (Ein kleiner Tip, den Du nach Belieben bedenken oder ignorieren kannst: Ich glaube nicht daran, dass die Kategorisierung von Stücken nach gewissen Handlungselementen etwas einbringt. Nach meiner Erfahrung ist es immer gut, jedes Stück als Unikat zu betrachten, also seine jeweiligen Eigenheiten aufzusuchen, und sich von diesen nicht ablenken zu lassen. Ich meine das ganz grundsätzlich, egal, ob es sich um Wagner, Verdi, Mozart, »Land des Lächelns« oder »Pension Schöller« handelt.)

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    Susan Sontag

  • Darum wäre es es auch vollkommen unmöglich, dass Verdi ein Libretto von Wagner oder dieser eins von Verdi vertont.

    Diese "Ahnung" habe ich auch.

    Aber was wäre, wenn eine unbekannte Macht Verdi dazu zwingen würde, ein Libretto von Wagner zu vertonen, und Wagner, eines von Verdi? Für welches würden sie sich jeweils entscheiden?


    Wagner: Zur Not Not würde er La Traviata oder Aida nehmen.

    Verdi: Den Holländer, aber mit Bauchschmerzen. Oder die Meistersinger, aber mit ganz anderen Schwerpunkten, und immer noch mit Bauchschmerzen.

  • Ich glaube, sie würden lieber gar nichts machen, als ein Libretto zu vertonen, mit dem sie nur krachend scheitern könnten. Es gibt da einfach gar keine Anknüpfungspunkte für ihren jeweiligen Stil. Es kann gar keine höhere Macht geben, die das erzwingen kann. Jedenfalls nicht, wenn sie daran interessiert ist, dass etwas wenigstens halbwegs Sinnvolles entsteht.

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