Dissonanzen und andere harmonische Kuriositäten in der klassischen Literatur

  • Da dieser funktionale Zusammenhang bei der diskutierten Stelle bei Beethoven fehlt, wirkt der Akkord m. E. auch nicht dissonant, sondern lediglich wie ein aufgemotzter Tonika-Dreiklang.

    Sehe ich nicht so, die dissonante Wirkung entsteht doch nicht im Nachhinein durch die Auflösung sondern hier durch das unvorbereitete Auftreten des Akkords.


    Jetzt habe ich eine Harmonielehre gefunden, die gegen die Dissonanz-Zuordnung ist: Ernst Friedrich Richter: Lehrbuch der Harmonie (Vierte Auflage 1862) S. 142.

    https://www.google.at/books/ed…kkord&printsec=frontcover

  • Sehe ich nicht so, die dissonante Wirkung entsteht doch nicht im Nachhinein durch die Auflösung sondern hier durch das unvorbereitete Auftreten des Akkords.


    Die eigentliche "Schockwirkung" des Akkordes besteht ja darin, dass auf den A-Dur-Schluss des Kopfsatzes auf einmal ein a-moll-Akkord reinknallt, der quasi das Tor zu einer anderen Welt aufstößt. Mit der Quinte im Bass (also im zweiten Horn) hat das m. E. wenig zu tun - die Wirkung wäre ohne diesen Ton vermutlich ziemlich ähnlich, nur würde der Akkord halt etwas dünner klingen.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Insgesamt fällt bei diesem Akkord im zweiten Satz der Siebten auf, dass die Quinte e sehr prominent vertreten ist - wenn ich es mir richtig gemerkt habe in der ersten Oboe (als Oberstimme), der zweiten Klarinette und in beiden Hörnern. Das Tongeschlecht-gebende c findet sich hingegen nur in der zweiten Oboe und im ersten Fagott, der Grundton a nur in der ersten Klarinette und im zweiten Fagott. Beethoven wollte also offensichtlich der Quinte einen besonderen Wumms verleihen.

    Genau, das ist offenbar das Gegenteil von dem in der Klassik üblichen harmonisch stabilen Ausgangspunkt, aus dem dann die Form dynamisch erwächst.

  • Genau, das ist offenbar das Gegenteil von dem in der Klassik üblichen harmonisch stabilen Ausgangspunkt, aus dem dann die Form dynamisch erwächst.


    Darauf können wir uns gerne verständigen. Mit dieser überdeutlich betonten Quinte gerät der Akkord demnach sozusagen aus der Balance, er ist zwar tonikal, wirkt aber trotzdem nicht vollkommen stabil. Ich assoziiere damit (wie gesagt) eine Art Tor, das aufgestoßen wird und das in ein unbekanntes Land führt. Mit dem erneuten Auftreten des Akkordes am Ende des Satzes schließt sich dieses Tor wieder. Nur: Für diesen instabilen Charakter ist es m. E. nicht wesentlich entscheidend, dass die Bassquinte eine vermeintliche Quart-Dissonanz zum zweiten Fagott produziert. Vielleicht siehst Du letzteres ja anders.


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  • Vielleicht siehst Du letzteres ja anders.

    Ich kann das schwer beurteilen, da ich viel zu spät geboren wurde.


    Mal weg von den Harmonielehren zur Literatur zur 7.:


    Wolfgang Osthoff: Zum Vorstellungsgehalt des Allegretto in Beethovens 7. Symphonie
    Archiv für Musikwissenschaft , 1977, 34. Jahrg., H. 3. (1977), S. 159-179

    bezeichnet den Akkord als "unaufgelöst" und bemerkt, dass am Ende noch die "schneidende Dissonanz der 1. Violinen hinzutritt". Er meint dann, dass durch die entfernte Tonart des Scherzos die Auflösung verzögert wird und erst im Finale erfolgt.

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  • Grove Music Online hebt zur 7. Sinfonie hervor im Sinne von "reached new horizons": Die "expanding introduction", die Quartsextakkorde am Anfang und Ende des Allegrettos, die "rolling ostinatos" am Ende der Ecksätze und die "rhythmic preoccupation throughout".


    Diesen Quartsextakkorden wird also viel Aufmerksamkeit gewidmet.

  • Wolfgang Osthoff: Zum Vorstellungsgehalt des Allegretto in Beethovens 7. Symphonie
    Archiv für Musikwissenschaft , 1977, 34. Jahrg., H. 3. (1977), S. 159-179

    bezeichnet den Akkord als "unaufgelöst" und bemerkt, dass am Ende noch die "schneidende Dissonanz der 1. Violinen hinzutritt". Er meint dann, dass durch die entfernte Tonart des Scherzos die Auflösung verzögert wird und erst im Finale erfolgt.


    Na ja, die "schneidende Dissonanz der 1. Violinen" ist im Prinzip ein schwerer Durchgang, und wenn ein in a-moll stehender Satz auf a-moll endet, ist das nicht gerade eine verweigerte Auflösung. Die "entfernte Tonart des Scherzos" ist IIRC F-Dur, was in a-moll der Tonika-Gegenklang wäre, also auch nicht übermäßig entfernt erscheint. Dass die Sinfonie erst im Finale wieder zu A-Dur zurückfindet, ist natürlich unbestritten.


    Ich bestreite überhaupt nicht, dass dieser Anfangs- und Schlussakkord des zweiten Satzes (obwohl er tonikal ist) einen irgendwie "offenen" Charakter hat, nur frage ich mich, durch welche Mittel Beethoven diesen Effekt erzielt. Die Quintlage hilft hierbei sicherlich, vermutlich auch die starke Betonung der Quinte innerhalb des Akkordes, aber ist es wirklich gerade dieses Horn-e im Bass, dass hierbei die magische Würze ausmacht? Das erscheint mir nicht so recht plausibel.


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  • Doch, weil der Quartsextakkord eine Dissonanz ist, und das als Abschluss geht nunmal gar nicht.


    Damit drehen wir uns im Kreis. Dass das ein Quartsextakkord ist, kommt wie gesagt durch einen Ton in einem Instrument zustande (e im zweiten Horn), und meine Frage (an die anderen Diskutanten, aber durchaus auch an mich selbst) ist, wie wichtig dieser eine Ton für die Gesamtwirkung des Akkordes beim Hören desselben ist.


    Ich habe kein Problem mit der Überlegung, dass das formale (!) Auftreten eines Quartsextakkords (gerade aufgrund des Charakters der Quarte als Auffassungsdissonanz) hier mit der Semantik des Unabgeschlossenen, "Offenen" assoziiert werden kann. Das ist wie gesagt nicht der Punkt, sondern der Punkt ist die besagte Frage, welches Gewicht dieser formalen Feststellung beim Hören und somit der sinnlichen Erfahrung des Akkordes zukommt.


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  • Sehe ich nicht so, die dissonante Wirkung entsteht doch nicht im Nachhinein durch die Auflösung sondern hier durch das unvorbereitete Auftreten des Akkords.

    Es ist doch gerade das Wesen der Funktionstheorie, dass Akkorde ihre Funktion nicht für sich haben sondern erst im Zusammenhang bekommen. Ausnahmen sind nur die sogenannten "charakteristischen Dissonanzen" kleine Septim (zum Dur-Dreiklang) und große Sext (zum Dur- oder Moll-Dreiklang), also z.B. der Anfang von Beethovens erster Symphonie mit dem D7. Das Beispiel, das Du aus dem Riemann-Buch zitierst, stammt aus dem Kapitel "Vorhaltsdissonanzen" und beschreibt ausdrücklich den Vorhaltsquartsextakkord, der natürlich immer dissonant ist, der aber hier bei Beethoven gerade nicht vorliegt. Dass dieser Akkord in der Siebten trotzdem eine gewisse Spannung hat, weil das Fundament des Grundtons zunächst fehlt (bzw. am Ende wegbricht), hatte ich ja bestätigt. "Konsonanz" und "Dissonanz" sind ursprünglich Klassen von Intervallen bzw. Intervallcharakteren, nicht von Akkorden. Das bedeutet aber, dass bei der Auflösung "dissonanter" Akkorde in "konsonante" Intervallschritte stattfinden, was hier bei Beethoven nicht der Fall ist. Genau mit solchen Schritten beschäftigt sich Hugo Riemann in dem o.g. Kapitel seines Buches.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

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  • Damit drehen wir uns im Kreis. Dass das ein Quartsextakkord ist, kommt wie gesagt durch einen Ton in einem Instrument zustande (e im zweiten Horn), und meine Frage (an die anderen Diskutanten, aber durchaus auch an mich selbst) ist, wie wichtig dieser eine Ton für die Gesamtwirkung des Akkordes beim Hören desselben ist.


    Ich habe kein Problem mit der Überlegung, dass das formale (!) Auftreten eines Quartsextakkords (gerade aufgrund des Charakters der Quarte als Auffassungsdissonanz) hier mit der Semantik des Unabgeschlossenen, "Offenen" assoziiert werden kann. Das ist wie gesagt nicht der Punkt, sondern der Punkt ist die besagte Frage, welches Gewicht dieser formalen Feststellung beim Hören und somit der sinnlichen Erfahrung des Akkordes zukommt.

    Wahrscheinlich ein großes, weil man mit dem Hörerlebnis "Quartsextakkord" Unabgeschlossenheit assoziiert, eventuell auch die Position vor der Kadenz (im Sinne der solistischen Aktion). Unser Problem ist eher, dass wir die 7. von Beethoven zu oft gehört haben, sodass uns gar nicht auffällt, dass hier zweimal der "falsche" mehr oder weniger dissonante Akkord steht.

  • Es ist doch gerade das Wesen der Funktionstheorie, dass Akkorde ihre Funktion nicht für sich haben sondern erst im Zusammenhang bekommen. Ausnahmen sind nur die sogenannten "charakteristischen Dissonanzen" kleine Septim (zum Dur-Dreiklang) und große Sext (zum Dur- oder Moll-Dreiklang), also z.B. der Anfang von Beethovens erster Symphonie mit dem D7. Das Beispiel, das Du aus dem Riemann-Buch zitierst, stammt aus dem Kapitel "Vorhaltsdissonanzen" und beschreibt ausdrücklich den Vorhaltsquartsextakkord, der natürlich immer dissonant ist, der aber hier bei Beethoven gerade nicht vorliegt.

    Der Quartsextakkord muss ja immer vorsichtig behandelt werden ... entweder unbetont mit schrittweiser Bassbewegung oder betont als Vorhalt. Die Dissonanz ist die Ursache für die Stimmführungsregel nicht die Folge der Stimmführung. Deshalb kann ein unaufgelöster Quartsextakkord auf schwerer Taktzeit nicht einfach wegen fehlender Auflösung als konsonant gedeutet werden, denke ich. Wir haben sozusagen einen Vorhaltsquartsextakkord, der aber nicht aufgelöst sondern umgedeutet wird. Dafür gibt es keine Bezeichnung, weil das so selten vorkommt.

  • Ich höre in diesem Zusammenhang die Hervorhebung der Quint (in den Außenstimmen 1. Oboe und Hörner) zusammen mit dem Decrescendo als melodische Vorbereitung des Themas, das ja (in den Bratschen) auf eben dieser Quint beginnt und sie als Zentralton beibehält, aber nicht oder kaum als harmonisches Spannungselement. Am Ende finde ich es noch klarer, weil da der Akkord zunächst vollständig, mit dem forte gespielten Grundton in den tiefen Streichern erklingt und dann lediglich die Bläser im Decrescendo übrig bleiben. Das ist für meine Ohren ein Akkord in Grundstellung mit Reminiszenz an den offeneren Anfang und das quintbasierte Thema. Insofern bin ich bei Werner, der geschrieben hat:

    mir schien immer, dass da zu viel Lärm und fast nichts gemacht wird. Vor allem schien mir der Begriff »Dissonanz« im Verhältnis zu dem, was man hört, um einige Grade zu heftig.

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  • Ich höre in diesem Zusammenhang die Hervorhebung der Quint (in den Außenstimmen 1. Oboe und Hörner) zusammen mit dem Decrescendo als melodische Vorbereitung des Themas, das ja (in den Bratschen) auf eben dieser Quint beginnt und sie als Zentralton beibehält, aber nicht oder kaum als harmonisches Spannungselement. Am Ende finde ich es noch klarer, weil da der Akkord zunächst vollständig, mit dem forte gespielten Grundton in den tiefen Streichern erklingt und dann lediglich die Bläser im Decrescendo übrig bleiben. Das ist für meine Ohren ein Akkord in Grundstellung mit Reminiszenz an den offeneren Anfang und das quintbasierte Thema.


    Das finde ich sehr plausibel, vielen Dank!


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  • Dass das hervorgehobene E die Melodie vorbereitet, steht ja nicht zur Diskussion. Die Frage ist, warum der Bass fehlt. Dass am Schluss der Durchgang in der ersten Violine verschoben ist und damit die Dissonanzen verschärft werden, im Zusammenhang mit dem Dissonanzcharakter des Bläserakkords zu sehen, finde ich nicht abwegig. Ich gehe davon aus, dass die Zeitgenossen das alles als ziemlich "schräg" wahrgenommen haben.

  • Der tiefste Ton ist im 2. Horn.

    Naja gut. Optisch jedenfalls hat das Fagott (trotz originaler Schreibweise im Tenorschlüssel) den tiefsten Ton. Der Akkord klingt eben nicht „geerdet“, was wohl m. E. eher die Absicht war, als eine Dissonanz zu produzieren: der Akkord schwebt ein bisschen haltlos in der Gegend herum, produziert Neugierde, vielleicht etwas Verwirrung (Desorientierung). Ob das wirklich jedem Hörer so auffällt, wage ich zu bezweifeln.

    „Vielleicht werden Stockhausen und Boulez für uns mal so sein wie Brahms und Beethoven, aber zum Glück lebe ich dann nicht mehr.“
    (David Oistrach)

  • Optisch jedenfalls hat das Fagott (trotz originaler Schreibweise im Tenorschlüssel) den tiefsten Ton.


    Ist das so etwas ähnliches wie die "gefühlte Temperatur"? ;)


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  • Jedenfalls ist unser heutiges Empfinden für die Frage, ob Beethovens Umgang mit dem Akkord an dieser Stelle revolutionär war, völlig irrelevant.

    Den Satz kann man allerdings auch umkehren: Ob die Verwendung dieses Akkordes seinerzeit revolutionär war, ist für "unser heutiges Empfinden" irrelevant.

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    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ist das so etwas ähnliches wie die "gefühlte Temperatur"?

    Wenn du die notierte Temperatur als optische Täuschung auffasst, vielleicht. 8-)

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    (David Oistrach)

  • Den Satz kann man allerdings auch umkehren: Ob die Verwendung dieses Akkordes seinerzeit revolutionär war, ist für "unser heutiges Empfinden" irrelevant.

    Ja, man kann nur versuchen, das nachzuempfinden, muss man aber natürlich nicht.

  • Ja, man kann nur versuchen, das nachzuempfinden, muss man aber natürlich nicht.

    Das kann man versuchen, aber ich teile eher die Skepsis von Goethes Faust, der seinem Diener Wagner erklärt:


    "Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit

    Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.

    Was ihr den Geist der Zeiten heißt,

    Das ist im Grund der Herren eigner Geist,

    In dem die Zeiten sich bespiegeln."


    Glenn Gould hat mal bei einer allseits bekannten Beethoven-Sonate versucht (und das so erklärt), die Wirkung eines ursprünglich überraschenden und schockierenden subito piano dadurch wiederherzustellen, dass er statt des (nunmehr von allen erwarteten) piano forte spielte. Da war zwar, wie immer bei ihm, eine gute Portion Provokation dabei, aber der Grundgedanke ist schon richtig.

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  • Ich bin völlig bei Dir, dass man die Irritation, die das anfangs verursacht haben mag, heute auch nach hartem Training nicht nachempfinden wird können. Aber wenn man längere Zeit nur ältere Musik hört, kann es wohl schon gelingen, das zumindest als eigenartig/neuartig zu empfinden.

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