Die 1990er: Großmäuligkeit sucht Stille

  • Nein, das soll jetzt kein Faden über ein grenzwertiges Jahrzehnt werden. Wenn ich die 1990er mit einem Wort überschreiben sollte: großmäulig. Nun, die Großmäuligkeit ist geblieben, hinzugekommen über die Jahrzehnte ist eine grassierende Egomanie und Selbstsucht, Hedonismus und grenzenlose Verlogenheit, eine Gesellschaft vorm Kollaps. Aber darum geht es nicht.


    In den 1990ern waren die Deutschen außer Rand und Band, selbstbesoffen, alles schien möglich, alles wurde laut, die Pop-Musik erreichte eine ersten Höhepunkt an austauschbarer Beliebigkeit. Gleichzeitig tauchte ein Phänomen auf, das dem Zeitgeist ein Innehalten abringen konnte.


    Denn in den Plattengeschäften standen plötzlich seltsame Platten und fanden ein breites Publikum.


    Da war die "Sinfonie der Klagelieder", die 3. Sinfonie des polnischen Komponisten Hendrik Gorecki, und ich poste jetzt tatsächlich nicht meine Aufnahme, sondern die in jedem Plattengeschäft im Gorecki-Fach stand:


    ich weiß, es gab in den 80er Jahren um dieses Werk einen kurzlebigen Hype, wie man neudeutsch sagt.

    Hier vertut sich Rüdiger meiner Erinnerung nach, die Hype war in den 1990er Jahren. Das Werk ist ergreifend, gewiss auch traurig, sicherlich aber eines, das Stille erzeugt. Der geschaffene musikalische Raum ist Stille, ist Innehalten. Ein Einzelfall? Mitnichten.


    Kurz später taten sich die Hilliards mit dem Saxofonisten Jan Garbarek zusammen und veröffentlichten eine Platte, die noch heute auf Bestsellerlisten steht "Officium". Die Basis sind spätmittelalterliche Choräle, gregorianisch oder polyphone, die von den Klängen des Saxophons umspielt werden. Gregorianik und frühe Polyphonie waren damals nichts Gängiges, eher -wie auch heute wieder- etwas für Spezialisten und Liebhaber. Und plötzlich wollte das ein Millionenpublikum hören. Ich habe mir damals noch weitere Platten von Jan Garbarek gekauft, und die machten den Unterschied zu "Officium" deutlich: "Officium" ist eine stille Platte.



    Und noch eine dritte Platte stach weit aus dem Mainstream heraus und erreichte dennoch ein breites Publikum: "Gesänge der Ekstase" der Hildgard von Bingen, aufgenommen von dem fabelhaften Ensempble "Sequentia" um die wundervolle Barbara Thornton. Die nahmen ohnehin das Werk der Heiligen vom Rhein auf, aber, wie das meiste auf dem Sektor der alten Musik, eher für Eingeweihte. Aber diese ein Platte fand sich plötzlich in den Charts wieder.



    Ich habe aus der Zeit deutlich mehr Pärt Alben (auch Alina) als ich wirklich höre. Das war so eine Mode zu der Zeit .... :)

    Das stimmt, auch er gehört dazu. Seine bekannteste Platte aus der Zeit dürfte wohl diese gewesen sein:



    Und Vieles, was dann folgte. Ich will den Pärt jetzt nicht mit Rosamunde Pilcher vergleichen, aber war es nicht so, dass diese Frau seit Jahrzehnten Bücher schrieb, die in Deutschland niemand kannte, und dann kam "Muschelsucher" auf den Buchmarkt. Mit einem derartigen Erfolg, das flugs das ganze opus pilcheri übersetzt wurde, die Bücher alle im gleichen Design, hier wohl eher einem Bedürfnis nach heiler Welt geschuldet? Das Originalharcover-Buch ist nicht mehr zu finden, das TB hat aber das Design der Bücher übernommen, anders als die vielen Nachdrucke.



    Woran mag's gelegen haben? Gehe ich zurück zu Gorecki, dann haben wir es mit einem Werk zu tun, das 1976 als Auftragsarbeit des SWR entstanden ist und in dem Jahr auch aufgeführt wurde. Das Werk hat sich in den Jahren bis 1992 nicht verändert, trotztem wurde es genau in der Zeit populär. Also unterstelle ich, dass der Zeitgeist, oder sagen wir besser, das Unbehagen an den Zeitläuften das Bedürfnis nach Stille und Rückzug, einer frühen Form von Cocooning den plötzlichen Erfolg dieser Platten (und nicht nur dieser) ausmachte.


    Ganz sicher ist die Erfindung der CD mitverantwortlich für den Erfolg der genannten Platten. Der erste Satz von Goreckis Sinfonie ist 30 min und stellenweise sehr basslastig, das wäre in guter Qualität mit einer LP nicht möglich gewesen. Und die beiden anderen Platten hatten beide vorzügliche Tonmeister. Dieser "Klang der Stille" kann wohl nur entstehen, wenn der Tonträger einen geeigneten musikalischen Raum erzeugen kann.


    Ich schreibe die Vermutung, dass der Erfolg solcher Platten eine Reaktion auf eine Zeit, die sich drastisch veränderte (im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor) auf, ohne dass mir eine Altersstatistik der damaligen Käufer vorläge. Die Wahrnehmung der 1990er als "Großmäulig" habe ich als 1963 Geborener, der in den unruhig-ruhigen 1970ern bürgerlich sozialisiert wurde. Aus der Rückschau war für mich die Wiedervereinigung die Büchse der Pandora, die das ganze Menschenchaos in Gang setzte, jemand, der 10 Jahre jünger ist, dürfte das wahrscheinlich anders sehen.


    Zeitgeist erzeugt Bedürfnis nach Stille, das wäre die These, mit der ich Reaktionen auf den Geist der 1990er überschreiben würde.


    Habt ihr ähnliche Wahrnehmungen oder zu benennende Stücke, Buchgenres, Filmgenres etc?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Thomas Pape

    Hat das Thema freigeschaltet
  • Thomas Pape

    Hat den Titel des Themas von „Die 1990er Großmäuligkeit sucht Stille“ zu „Die 1990er: Großmäuligkeit sucht Stille“ geändert.
  • Wenn ich die 1990er mit einem Wort überschreiben sollte: großmäulig.


    Das sehe ich (ca. 13 Jahre jünger als Du) anders. Wenn ich ein Wort für diese Zeit wählen sollte, so wäre es wahrscheinlich "vielgestaltig". Lebensgefühl und Kultur waren von einer Vielzahl an Strömungen gekennzeichnet, eine Hauptlinie lässt sich schwer ausmachen.


    die Pop-Musik erreichte eine ersten Höhepunkt an austauschbarer Beliebigkeit


    Auch das sehe ich anders. Die 1990er Jahre waren m. E. die letzte Blütezeit der Popmusik, auch wenn deren Qualität gegen Ende des Jahrzehnts nachließ. So kann man das Jahr 1991 als goldenes Jahr des Pop bezeichnen (ich zähle die entschiedenden Alben dieses Jahres bei Bedarf gerne auf). Wo ich Dir zustimmen würde: In den 90er Jahren wurde (erneut: insbesondere gegen Ende des Jahrzehnts) der dudelige Radiohit ohne merkliche stilistische Bindung an die Zeit kultiviert. Leider sind wir diese "Errungenschaft" bis heute nicht wirklich losgeworden...


    Das stimmt, auch er gehört dazu. Seine bekannteste Platte aus der Zeit dürfte wohl diese gewesen sein:



    Also, so grausam waren die 90er Jahre nun wirklich nicht, dass man Pärt mit ihnen verknüpfen muss... ^^:untertauch:


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Als Datum würde ich 1975 nehmen.

    1977 Pärt: Tintinnabuli-Stil

    1976 Hamel: „Durch Musik zum Selbst“

    1968 Stockhausen: Stimmung

    1977 Feldman: Wiederholung und Veränderung von Klangmustern als Basis einer stillen Musik

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Beginn der Blüte einer meditativen „stillen“ Musik bzw. generell als Markierung, ab wann die musikalische „Postmoderne“ die Hauptrolle einnimmt (siehe Handbuch der Musik im 20. Jahrhunderts)

  • Beginn der Blüte einer meditativen „stillen“ Musik bzw. generell als Markierung, ab wann die musikalische „Postmoderne“ die Hauptrolle einnimmt (siehe Handbuch der Musik im 20. Jahrhunderts)


    Ah, ok. Übrigens ist der Button mit den Tüddelchen am Ende eines Beitrags dazu da, ein Zitat in den eigenen Beitrag einzufügen. Das ist zur Verständnis des Zusammenhangs einer Aussage mitunter recht nützlich... ;):untertauch:


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Mein Danke geht an Thomas Pape,


    ich kann seine Gedanken gut nach voll ziehen. Und natürlich hatte ich damals auch die genannte Gorecki CD gekauft. Und ich habe auch die Garbarek CD. " Officium" ist eine stille Platte." Das ist ja nicht negativ - oder ? Und Arvo Pärt hatte auch den Weg zu mir gefunden, alle schon lange nicht mehr gehört - und ich weiß auch nicht ob mir einmal wieder danach der Sinn stehen wird.

  • Als Datum würde ich 1975 nehmen.

    Mit Blick auf die Entstehungsdaten einzelner Kompositionen gebe ich Dir natürlich recht. Aber das waren alles Sachen, die keine breite Wahrnehmung erfahren haben. Gorecki wäre da das Beispiel, das mich auf die Threadidee gebracht hat: das Werk entstand 1976, wurde aber erst nach 1992 ein großer Erfolg. Gleiches gilt für Sequentia oder die Zusammenarbeit der Hilliards mit Garbarek. Die Platten wurde auch jenseits der Klassik-Bubble verkauft, alle drei. Dein Datum scheint auch einen eigenen Thread herzugeben, denn da scheint es sich ja um eine interessante Aufspaltung oder Verzweigung zu handeln. Hier allerdings ging es mir um die Akzeptanz einer bestimmten Form von Musik (bei Sequenzia und Hilliard/Garbarek handelt es sich sogar um sehr alte Musik, die plötzlich modern wirkt).


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Beginn der Blüte einer meditativen „stillen“ Musik bzw. generell als Markierung, ab wann die musikalische „Postmoderne“ die Hauptrolle einnimmt (siehe Handbuch der Musik im 20. Jahrhunderts)


    Dein Datum scheint auch einen eigenen Thread herzugeben, denn da scheint es sich ja um eine interessante Aufspaltung oder Verzweigung zu handeln.

    Das sehe ich auch so. Wäre das nicht etwas für das Forum für Zeitgenössisches? Der Beginn der Postmoderne und ihre Verzweigungen. Interessant, dass sich Stockhausen da wiederfindet :)


    Ich habe mich in der Mitte der Siebziger brav mit Serialismus auseinandergesetzt - setzen müssen ;). Da sieht man, dass meine Schule damals der Zeit hinterherlief ...

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Also, so grausam waren die 90er Jahre nun wirklich nicht, dass man Pärt mit ihnen verknüpfen muss... ^^:untertauch:

    Stimmt, aber Gorecki ist auch nicht besser. Ich musste vor einiger Zeit eine junge Geigerin auf den Wieniawski-Wettbewerb vorbereiten und dabei das Pflichtstück von Gorecki mit ihr spielen. Die größte und einzige interpretatorische Aufgabe bestand darin, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Ich bin gescheitert.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Kancheli ist wohl eher einem kleineren Publikum begegnet? Ich habe mich in den 90ern nicht so mit Fragen der Reichweite beschäftigt

    Gyula Kancheli ist mir über das Label ECM bekannt, aber erst nach 2010. Was die Rezeption der Platten betrifft: in sden 1990ern gab's entweder den Bielefelder oder den gut sortierten Plattenladen, in Köln waren das Tonger oder Kaufhaus Ludwig Beck. Was die in den Schaufenster, der Auslage, auf dem Empfehlungstisch hatten, daß waren die Platten, die sich auch gut verkauften. Ich glaube auch nicht, dass sich aus diesen Erfolgen zusätzliche Fangruppen für Sequentia, die Hilliards (die ja immerhin für die Pärt-Platten gesetzt waren) oder Gorecki entstanden sind.


    Pärt wurde wohl mit der "Tabula Rasa" Platte bekannt, danach entstand wohl alles Neue von ihm zunächst für ECM, ein für mich nach wie vor besonderes Label.


    Bei den anderen (Sequentia und Officium) galt das Interesse eher Hildegard von Bingen oder gregorianischen Chorälen. Das erreichte auch Kreise jenseits des Klassikpublikums. Naxos war da clever: damals ohnhin ein Budget-Label brachten die eine Drei-CD- Box raus mit Wwerken von, genau, Hildgard von Bingen, Josquin de Pres und Gregorianiaschen Gesängen.


    Geschenkt bekam ich die von Freunden -beides Banker- die mit dieser Musik eher nichts zu tun hatten, ihnen aber aufgefallen war. 1998 war das.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Banner Trailer Gelbe Rose