Franz Schubert. Die Mignon-Lieder, vorgestellt und betrachtet unter Einbeziehung weiterer Vertonungen der lyrischen Texte

  • Hugo Wolf: „Mignon“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das achttaktige Vorspiel führt unmittelbar in die hohe musikalische Expressivität des Liedes ein. Mit seinen chromatisch fallenden Oktaven und den Akkordrepetitionen im Bass nimmt es die melodische Linie vorweg, mit der die Singstimme einsetzt, und zugleich bringen diese aus zwei Achteln und einem punktierten Viertel bestehenden Akkordrepetitionen eine insistierend drängende Rhythmik in das Lied, die sich im weiteren Verlauf noch steigert und den Höhepunkt bei jenen Versen erreicht, bei denen die Bekenntnisse des lyrischen Ichs in einem Schmerzensschrei kulminieren: „Es schwindelt mir, es brennt / Mein Eingeweide“. Hier steigert sich auch die Dynamik des Liedes, die sich bis dahin im Piano-Bereich bewegte, ins Forte, und die Sprungbewegungen der Oktaven im hohen Diskant wirken zusammen mit den extremen harmonischen Rückungen wie außer Rand und Band geraten. Hier wirkt das Lied klanglich erschreckend.

    In „innig“ (Anweisung) klagendem Ton setzt die melodische Linie der Singstimme ein. Sie macht bei den ersten beiden Versen eine chromatische Fallbewegung in großen und kleinen Sekunden von einem „c“ in mittlerer Lage herunter zu einem tiefen „des“, und die Oktaven im Klavierdiskant begleiten sie dabei. Mit den beiden folgenden Versen setzt aber bereits die „immer gesteigerte“ (Anweisung) Expressivität ein. Die Worte „allein und“ werden noch silbengetreu auf einem tiefen „es“ deklamiert, wobei eine harmonische Rückung bereits einen Schub in Richtung größerer musikalischer Ausdrucksstärke mit sich bringt. Danach bewegt sich die melodische Linie in lebhafterer und mit einem Crescendo versehener Weise zu höheren Lagen hinauf und gipfelt bei dem Wort „Freude“ auf einem hohen „f“ auf, wobei sie aber auf der zweiten Silbe des Wortes einen ausdrucksstarken verminderten Septfall macht, der klanglich sagen will, dass es „Freude“ für dieses lyrische Ich nicht gibt.

    Bei dem Vers „Seh ich ans Firmament“ setzt die melodische Linie zwar in der gleichen Weise ein wie am Liedanfang, aber sie wirkt von den lebhaften Bewegungen der Oktaven im Klaviersatz wie bedrängt, bewegt sich ihrerseits also ebenfalls immer lebhafter und steigt in kleinen und großen Terzsprüngen wieder zu jenem hohen „f“ empor, das bei dem Wort „Seite“ in Gestalt einer Dehnung gehalten wird, - dieses Mal aber von einem Sekundfall gefolgt. Die Dynamik hat hier erstmals den Forte-Bereich erreicht, und in der viertaktigen Pause der Singstimme wirken die heftigen oktavischen Bewegungen im Klaviersatz zusammen mit den Akkordrepetitionen so, als würde in ihnen die Erregung der Singstimme fort- und langsam ausklingen. Jedenfalls fällt die Dynamik in einem Decrescendo bis ins Pianissimo zurück, und ein fermatierter Akkord bringt ein kurzes Innehalten in das Lied.

    Es ist aber wirklich nur ein kurzes. Denn mit dem einleitenden „Ach“ des nächsten Verses, das auf einem von Achtelpausen eingegrenzten tiefen „es“ deklamiert wird, setzt in der melodischen Linie der Singstimme die Steigerung der inneren Erregung schon wieder ein. In raschem chromatischem Anstieg schwingt sie sich zu einer neuerlichen Dehnung mit dem schon bekannten verminderten Terzfall zu einem hohen „f“ bei dem Wort „Weite“ auf. Danach kommt es zu einer geradezu exzessiven Steigerung der Expressivität bei den Versen, die vom inneren „Schwindel“ und vom „Brennen der Eingeweide“ sprechen. Die melodische Linie steigt zu noch höheren Lagen empor und vollzieht von dort aus extreme Fallbewegungen. Das gilt auch für die Bewegung der Oktaven im Klavierdiskant, und dies bei zur Heftigkeit gesteigerter Repetition der Achtel im Bass und geradezu schroff wirkenden harmonischen Modulationen. Auch hier setzt sich die Erregung der Melodik in einem – dieses Mal noch längeren, nämlich zwölftaktigen – Zwischenspiel fort, „allmählich ruhiger werdend“ und ins Piano ausklingend.

    Die Wiederholung der beiden Anfangsverse auf anfänglich identischer melodischer Linie wirkt wie ein Erschöpfung ausdrückender Nachklang. Bei den Worten „was ich leide“ fällt die Vokallinie aber nicht weiter ab, wie das am Liedanfang der Fall war, sondern sie macht einen Quartsprung mit nachfolgendem Sekundfall, der auf einem „a“ in mittlerer Lage endet. Das ist ein melodisch offenes Ende des Liedes, - genauso wie der im dreifachen Piano artikulierte Akkord auf der Dominante, der am Ende des Nachspiels aufklingt.
    Für das Leiden Mignons gibt es keine Erlösung.

  • Robert Schumann: „Mignon“. Nur wer die Sehnsucht kennt“

    Schumanns Vertonung findet sich als drittes Lied in seinem 1849 erschienen Opus 98a (Lieder und Gesänge aus Goethes Wilhelm Meister“). Es weist einen Dreiviertelakt auf, und die Vortragsanweisung lautet „Langsam, sehr gehalten“. Die zugrundeliegende Tonart ist g-Moll, der klangliche Reiz des Liedes besteht aber in einem ständigen Pendeln der Harmonik zwischen diesem g-Moll und der Paralleltonart B-Dur. Dieses wiederum ist wiederum gleichsam der harmonische Niederschlag eines phasenweise sich ereignenden Ausbruchs der melodischen Linie aus dem wehmütig-innigen Grundton, mit dem das Lied einsetzt, in eine expressivere Artikulation des seelischen Leidens. Damit einher geht auch der mehrfach erfolgende Wechsel in Tempo und Dynamik.

    Schumann hat, um alle seelischen Regungen Mignons, wie sie sich hier lyrisch artikulieren, mit musikalischen Mitteln erfassen und zum Ausdruck bringen zu können, in umfangreicher Weise zum Mittel der Textwiederholung gegriffen. Er fügt der melodischen Linie, die auf den beiden letzten Versen des Gedichts liegt (die ja selbst schon eine Wiederholung der Anfangsverse sind) und die wegen der sie prägenden Oktavsprünge und ihrer Dynamik recht expressiv wirkt, eine ausführliche Reprise an, die, ohne eine Wiederholung der vorangegangenen Melodik zu sein, dennoch Motive derselben aufgreift. Der lyrische Text, der dem zugrunde liegt, lautet: „Nur wer die Sehnsucht kennt, / allein und abgetrennt von aller Freude, / seh ich ans Firmament nach jeder Seite! / Ach, der mich liebt und kennt, ist in der Weite, / nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.“

    Schumann hat, wie man von ihm selbst weiß, Goethes „Wilhelm Meister“ dreimal gelesen. Er ist – wie Hugo Wolf – ein literarisch ausgerichteter und inspirierter Liedkomponist, - allerdings einer, der – vorwiegend mit den Mitteln der Melodik – darauf aus ist, die literarische Gestalt „Mignon“, so wie sie ihm im erzählerischen Text begegnet in Musik zu setzen, und nicht – wie Hugo Wolf – sie mit allen zur Verfügung stehenden klanglichen Mitteln bis in den letzten Winkel ihrer Psyche auszuleuchten und zu präsentieren. Deshalb wiederholt er lyrischen Text, - eben um Mignon singend ihre seelischen Regungen zum Ausdruck bringen zu lassen. Das geschieht zumeist in melodisch ruhigen Schritten, wie am Liedanfang. Es finden sich in dieser Melodik aber auch expressive Sprung- und Fallbewegungen, dann vor allem, wenn das seelische Leid zum Ausdruck gebracht werden soll, wie etwa bei den Versen „Allein und abgetrennt von aller Freude“ oder – besonders eindrucksvoll – bei den Worten „es brennt mein Eingeweide“ mit dem verminderten Sextsprung und der sich über einem aufgelösten Neapolitaner sich ereignenden Fallbewegung über mehr als eine ganze Oktave.


  • Carl Loewe, „Mignon, Nur wer die Sehnsucht kennt“

    Loewe geht mit der für ihn typischen kompositorischen Grundhaltung und Intention an Goethes Gedicht heran. Auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen: Er bringt eine musikalische Dramatisierung in das Lied, die – wie ich finde - dem Gedicht nicht ganz angemessen ist. Mit seiner Vertonung dieser Mignon-Verse der lyrischen Aussage nicht voll gerecht, weil er die Liedmusik nicht auf deren Zentrum ausrichtet. Alle lyrischen Bilder sind der zentralen Aussage des Leidens in und an der Sehnsucht zugeordnet. Ein Komponist, der sprachlich-lyrisch denkt, sollte dies eigentlich beachten und nicht der Versuchung erliegen, die besonders expressiven Bilder mit einem musikalischen Übergewicht zu versehen, weil andernfalls das Zentrum der lyrischen Aussage verloren geht. Genau dieses ist aber aus meiner Sicht bei der Vertonung durch Loewe geschehen.

    Loewes Lied wurde vermutlich 1818 komponiert. Veröffentlicht wurde es 1828. Es steht im Viervierteltakt, und die Vortragsanweisung lautet: „Nach und nach immer schneller“. Damit ist ein deutlicher Hinweis auf die für die kompositorische Aussage wichtige Steigerung der dynamischen Expressivität gegeben. Als zugrundeliegende Tonart wird c-Moll angegeben. Zu den spezifischen Eigenarten des Liedes gehört jedoch, dass sich diese Tonart erst im zweiten Teil herausbildet und verfestigt.


  • Loewe, „Mignon, Nur wer die Sehnsucht kennt“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Man kann bei diesem Lied tatsächlich eine Gliederung in zwei Teile feststellen: Der erste umfasst die Verse eins bis sechs, der zweite die Verse sieben bis zwölf. Diese Teile heben sich vor allem durch die Struktur der melodischen Linie der Singstimme voneinander ab. Der Klaviersatz besteht hingegen durchgehend aus Viertel- und Achtelakkorden im Diskant, die allerdings durch die Elemente des Basses rhythmisch und melodisch unterschiedlich akzentuiert werden.
    Festzustellen ist aber: Die Tatsache der Zweiteilung des Liedes nimmt sich angesichts der Tatsache, dass das Gedicht als lyrische Aussage aus einem Zentrum heraus eine Einheit bildet, als eine bemerkenswerte Tatsache aus.

    Im ersten Teil setzt sich die Vokallinie aus kleinen Melodiezeilen zusammen, die genau den Versen entsprechen. Klanglich wirkt ihre Abfolge wie eine knappe Skizze der lyrischen Ausgangssituation: Es ist ein Auf und Ab von Achteln, das durch Achtelpausen oder melodische Längen (punktierte Viertel am Ende) voneinander abgehoben ist.
    Allerdings ist hier schon hörbar, dass die Bewegung der melodischen Linie die Aussage des lyrischen Textes reflektiert. So wird das Bild des „Abgetrennt-Seins von aller Freude“ in seinem emotionalen Gehalt dadurch musikalisch verstärkt, dass ein Sextsprung und ein verminderter Sextsprung aufeinanderfolgen. Und beim lyrischen Bild des Blicks zum Firmament kommt eine lange Dehnung in die bislang sich recht rasch bewegende melodische Linie. In kleinen Sekunden steigt die Vokallinie im Wert von halben Noten bei den Silben „Fir“, „ma“ und „ment“ nach oben und verharrt bei der letzten Silbe forte auf einem hohen „des“. Bei den Worten „nach jeder Seite“ beschreibt sie dann einen expressiven melodischen Bogen in hoher Lage.

    Mit Vers sieben kommt ein anderer Ton in das Lied. Er wird schon durch das dreitaktige Klaviervorspiel mit synkopierten Akkorden eingeleitet. Hatte sich im ersten Teil des Liedes die Vokallinie in chromatisch fallender Linie durch mehrere Tonarten bewegt, so vollzieht sich ihre Bewegung nun durchweg in c-Moll. Und vor allem: Sie ist nicht mehr fallend, sondern durch große Intervallsprünge in hohe Lagen und eingelagerte melodische Dehnungen geprägt.
    So ereignet sich schon vor dem Wort „liebt“ ein Oktavsprung hoch zu einem „g“, das in Form einer halben Note lange gehalten wird. Noch höher hinauf geht es – ganz der Semantik gemäß – bei dem Wort „Weite“. Auch hier wieder ein melodischer Bogen mit Dehnung. Auch bei den Versen 9 und 10 („Es schwindelt mir…“) schlägt sich die lyrische Aussage in der Faktur der melodischen Linie und des Klaviersatzes nieder. Auf einen verminderten Septfall folgt nach einer kurzen Pause ein hektisches Abfallen der melodischen Linie in tiefe Lage (Bei „es brennt mein Eingeweide“). Das Klavier begleitet mit nervösen Staccato-Akkorden im Diskant, und im Bass steigt bogenförmig eine melodische Linie auf und ab. Das wirkt klanglich überaus dramatisch.

    Bei den beiden letzten Versen weicht Loewe vom lyrischen Text ab. Das Wort „weiß“ wird zweimal wiederholt, jeweils in hoher Lage und in Form einer halben Note mit nachfolgender Pause, und auf diese Weise musikalisch stark hervorgehoben. Das letzte Wort „leide“ wird ebenfalls musikalisch deutlich akzentuiert: Auf der Silbe „lei-„ liegt ein hohes „c“ in Form einer ganzen Note, und danach erklingt in der Vokallinie ein ebenfalls lang gedehntes bogenförmiges Melisma.

    Es ist unüberhörbar und aus der Faktur ablesbar, dass der Schwerpunkt des Liedes auf dem zweiten Teil liegt. Er hebt sich vom ersten durch eine große Steigerung der musikalischen Expressivität im Sinne einer Dramatisierung ab. Der lyrische Text, der als Bekenntnis des lyrischen Ichs sozusagen aus einem subjektiv-emotionalen Zentrum kommt und insofern eine innere Einheit aufweist, lässt aber eigentlich eine solche kompositorische Zweiteilung nicht zu.

  • Franz Schubert: „Mignon, Heiß mich nicht reden“ , op. 62, Nr. 2 (D 877)

    Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
    Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;
    Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,
    Allein das Schicksal will es nicht.

    Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
    Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen;
    Der harte Fels schließt seinen Busen auf,
    Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.

    Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
    Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen;
    Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu
    Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.

    Diese Mignon-Verse beschließen das sechzehnte Kapitel des fünften Buchs des Romans. Dort heißt es vorangehend:
    „Und so lassen wird unsern Freund unter tausend Gedanken und Empfindungen seine Reise antreten und zeichnen hier noch zum Schlusse ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einigemal rezitiert hatte, und das wir früher mitzuteilen durch den Drang so mancher sonderbaren Ereignisse verhindert wurden.“

    „Mit großem Ausdruck“ hat Mignon diese Verse mehrmals rezitiert, also nicht gesungen. Nur auf diese Weise, mittels gesprochenem oder gesungenem lyrischen Text, ist sie in der Lage, sich über ihre existenzielle und seelische Befindlichkeit mitzuteilen. Und das muss eben deshalb zwangsläufig dunkel bleiben und über die Andeutung nicht hinauskommen. Wilhelm Meister bemerkt einmal: „Wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schein sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Innerstes aufschließen und mitteilen konnte“.
    Wenn sie in diesem Zusammenhang in diesem lyrischen Text den Menschen in ihrer Lebenswelt, wozu auch Meister gehört, auffordert „heiß mich schweigen, / Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“ so stellt dieses Wort „Pflicht“ eine Verinnerlichung des Geheimnisses ihrer Herkunft dar, der Tatsache nämlich, dass ihr die Zirkusartisten den Tod androhten für den Fall, dass sie über ihre Entführung sprechen würde. Sie ist zur Sprachlosigkeit verdammt, was sie hier auf nüchtern konstatierende Weise in dem Bild „ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ zum Ausdruck bringt.

    Aber in diesen Versen hat sie noch mehr zu sagen. In der zweiten Strophe ergeht sie sich in metaphorischen Imaginationen, die wie die Hoffnung auf Erlösung aus ihrer als „Schicksal“ empfundenen existenziellen Gefangenschaft anmuten. Die Bilder dazu nimmt sie aus der Natur, weil dort eine dem menschlichen Zugriff entzogene Gesetzlichkeit herrscht: Die Sonne erhellt jeden Tag aufs Neue die finstere Nach und selbst der harte Fels missgönnt nicht den tief verborgenen Quellen das Hervortreten. Gerade dieses Bild lässt in seiner metaphorischen Parallelität zu dem der „zugedrückten Lippen“ den Geist der Hoffnung erkennen, dem sich Mignon hier hingibt.

    Aber nur für einen Augenblick. Die Beschwörung der Freundschaft, die die Möglichkeit bietet, sich seiner Klagen zu entledigen, indem man sie ausspricht, wird in den letzten Versen auf geradezu schroffe, nämlich konstatierende Weise als Möglichkeit für Mignon ausgeschlossen. Nur ein überirdisches Wesen, ein „Gott“ nämlich, vermöchte ihre Lippen aufzuschließen. Für Mignon gibt es nur eine einzige Möglichkeit der Erlösung aus der Gefangenschaft ihrer leibhaftigen Existenz. Das ist der Tod.


  • Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Von Schuberts Umsetzung dieser Mignon-Verse in Liedmusik liegen zwei Fassungen vor. Die erste entstand im April 1821 (D 726), die zweite im Januar 1826 als Teil der „Gesänge aus Wilhelm Meister op. 62“. Auf die Unterschiede soll hier wie in allen Fällen nicht eingegangen werden, weil es ja nicht um das Wesen Schubertscher Liedkomposition geht, sondern um das der literarischen Figur „Mignon“. Die nachfolgende Besprechung bezieht sich auf die zweite Fassung. So viel ist allerdings zu dieser grundsätzlich anzumerken: Ihr liegt ein völlig neues liedkompositorisches Konzept zugrunde. Nur der Grundrhythmus bleibt erhalten, aber selbst dieser ist hier deutlich fließender angelegt. Das zeigt, wie intensiv Schubert sich mit dieser literarischen Figur „Mignon“ auseinandergesetzt hat, wie wichtig für ihn das Anliegen war, ihre Worte und ihr Wesen auf adäquate Weise liedmusikalisch zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen.

    „Langsam“ soll die Liedmusik vorgetragen werden, die in e-Moll, bzw. der Dur-Parallele G-Dur als Grundtonart steht. Im viertaktigen Vorspiel erklingt die als Schlüsselfigur fungierende Melodik der Anfangsworte „Heiß mich nicht reden“ in akkordischer Gestalt, um in eine bogenförmige Legato-Fallbewegung überzugehen, der sich eine Folge von drei Akkorden anschließt bei der die Harmonik eine kurze Zwischenrückung nach a-Moll vollzieht. Die melodische Figur auf den Worten „Heiß mich nicht reden“, die mit „heiß mich schweigen“ eine Einheit bildet, ist in ihrer Schlichtheit, ja gerade durch sie, von hoher Eindrücklichkeit. Nach einer Tonrepetition geht sie in einen dreischrittigen Sekundfall über, wobei die Harmonik eine Rückung von e-Moll zur Dur-Dominante H-Dur vollzieht. In dieser Harmonisierung verbleibt die Melodik auch bei dem Legato Sekundanstieg auf dem Wort „heiß“, der diesem eine leichte Akzentuierung verschafft. Auf dem Wort „schweigen“ liegt dann ein einfacher Sekundfall, bei dem die Harmonik wieder zur Tonika e-Moll zurückkehrt.

    Das alles spielt sich in ruhigen deklamatorischen Schritten im Wert einer Viertelnote im Wechsel mit solchen im Wert eines Achtels im kleinen Ambitus einer Quarte in mittlerer Lage ab, vom Klavier im Diskant mittels dreistimmiger Akkorde mitvollzogen. Es weist, darin Schubertschen Geist atmend, eine Anmutung von volksliedhafter Schlichtheit auf und vermag als Ausdruck des menschlichen Wesens der dem einfachen Volk zugehörigen Mignon aufgenommen und verstanden werden. Diesen deklamatorischen Gestus behält die Melodik die ganze erste Strophe über bei, wobei sich am Ende, bedingt durch sie lyrische Aussage, ein Ausbruch in gesteigerte Expressivität ereignet. Der der Bewegung der melodischen Linie innewohnende Pavanen-Rhythmus bleibt dabei aber unverändert erhalten. Schubert verwendet ihn häufig, und das ist hier vielsagend, als Ausdruck unveränderbarer Schicksalhaftigkeit des Geschehens.

    Bei den Worten „Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“ beschreibt die melodische Linie eine Bewegung, die wie eine Fortsetzung derjenigen anmutet, in der sie auf den Worten des ersten Verses eingesetzt hat, nur dass sie sich nun in ihrer anfänglichen Tonrepetition auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ereignet und in ihrer Harmonisierung bei dem leicht gedehnten Sekundfall auf der zweiten und dritten Silbe von „Geheimnis“ eine Rückung nach Moll aufweist. Aber am Ende kehrt sie wieder zur ihrem tonalen Ausgangspunkt des „G“ in tiefer Lage zurück. Nun allerdings in G-Dur gebettet und von einem lang gehaltenen fünfstimmigen G-Dur-Akkord begleitet. Das Wort „Pflicht“ fordert in seinem semantischen und seinem affektiven Gehalt diesen Übergang zum Tongeschlecht Dur.

    Die Steigerung in melodische Expressivität ereignet sich auf den Worten „das Schicksal will es nicht“. Zuvor hat sich die melodische Linie in der gleichen Weise entfaltet wie auf den Worten des ersten Verses, was wiederum den Eindruck volksliedhafter Strophenhaftigkeit erzeugt. Dass Schubert am Ende der Strophe vom Gestus volksliedhafter Entfaltung der Melodik abweicht, ist der lyrischen Aussage geschuldet, denn in ihr artikuliert sich das Selbstverständnis Mignons als in verhängnisvolle Schicksalhaftigkeit geworfene Existenz, was ihm von seiner Lektüre des Goethe-Romans natürlich sehr wohl bewusst war. Und so lässt er denn die melodische Linie einen anfangs gedehnten dreischrittigen Legato-Anstieg bis zur tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage beschreiben, danach in einen Fall in Sekundschritten zur Ebene eines „Dis“ übergehen, auf dass sich von dort über einen melismatischen Sechzehntelvorschlag und einen verminderten Sekundschritt wieder einen zweischrittigen Sekundanstieg vollzieht. Das alles geschieht, in kleinen Achtel- und Sechzehntelschritten, ist auf komplexe Weise in einer Rückung von G-Dur über a-Moll und H-Dur nach e-Moll harmonisiert und wird vom Klavier, wie üblich in der ersten Strophe, mit einer Folge von Viertelakkorden im Diskant begleitet.

  • Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“ (II)

    Die zweite Strophe hebt sich von der ersten dadurch ab, dass das lyrische Ich nun nicht von sich selbst spricht, sondern sich in sprachlich-konstatierendem Gestus in Naturbildern ergeht. Das bringt einen markanten Wandel in der Liedsprache mit sich. Sie ist nun bis auf eine einmalige kleine Rückung ausschließlich im Tongeschlecht Dur harmonisiert (C-Dur, F-Dur, G-Dur), und die Melodik entfaltet sich auf den Worten der beiden Verspaare in strukturell ähnlicher Weise. Sie steigt in drei Anläufen von Sekundschritten bis zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage auf und senkt sich danach, wiederum in drei Phasen in tiefe Lage ab, wobei sie dann allerdings beim letzten Vers am Ende eine neue Gestalt annimmt. Das Bild von den „tief verborgnen Quellen“ erfordert es. Während die melodische Linie bei den Worten „und sie muss sich erhellen“ eine einfache zweimalige Fallbewegung in Terzen und Sekunden beschreibt, senkt sich der Fall nun in drei Quart- und Terzschritten bis zur Ebene eines „C“ in tiefer Lage ab, um danach sofort einen ausdrucksstarken Oktavsprung zu vollziehen, dem bei Quellen“ ein legato-kleinschrittig eingeleiteter und dann gedehnter Terzfall zur Ebene eines „E“ in tiefer Lage nachfolgt.

    Die Melodik ist in der zweiten Strophe, darin den Gehalt und sie sprachliche Gestalt des lyrischen Textes reflektierend, in ihrer Struktur deskriptiv angelegt, und darin so weit gehend, dass sie den semantischen Gehalt der Worte „tief verborgene Quelle“ strukturell abbildet. Auch im Klaviersatz unterscheidet sich die zweite Strophe von der ersten. Während dort Im Diskant Akkorde im Wert eines Viertels dominieren, kombiniert mit Oktavfolgen im Bass, was wesentlich zur Anmutung von Ruhe beiträgt, die die Melodik dort aufweist, folgt das Klavier nun der lebhafteren Bewegung der melodischen Linie mit Achtel- und sogar partiell Sechzehntel-Akkorden in Diskant und Bass. Und lässt im eintaktigen Zwischenspiel vor der Melodik auf dem zweiten Verspaar sogar eine lebhafte Sechzehntelfigur erklingen. Die lyrischen Bilder der zweiten Strophe weisen viel affektiv positive innere Bewegtheit auf, und Schuberts Liedmusik reflektiert das in der Struktur ihrer Melodik, deren Dur-Harmonisierung und im Klaviersatz.

    Aber das auf den Ruhe ausstrahlenden und in einer typischen Kadenzrückung Rückung von G7- nach C-Dur harmonisierten Terzfall in tiefer Lage auf dem Wort „Quellen“ folgende Nach- und Zwischenspiel deutet einen Wandel im Geist der nachfolgenden Liedmusik an. Moll-Harmonik tritt wieder in sie. Zwei Figuren aus erst ansteigenden, dann fallenden Sechzehnteln gebildet, folgen aufeinander, wobei die Harmonik eine Rückung von verminderter A-Tonalität über G-Dur und a-Moll nach H-Dur vollzieht, letzteres als Überleitung zur in der Tonika E-Dur einsetzenden Melodik auf den Worten der dritten Strophe.

    Auf den Worten „Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh“ beschreibt die melodische Linie, darin vom Klavier pianissimo mit dreistimmigen Akkorden im Diskant begleitet, ein Auf und Ab in mittlerer Lage, wobei die für das lyrische Ich Mignon bedeutsamen Worte „sucht“ und „Ruh“ eine Hervorhebung durch einen gedehnten Sekundfall erfahren, obwohl sie doch einsilbig sind. Die um das Wort „Klagen“ kreisende Aussage des nachfolgenden Verses bringt eben deshalb gesteigerte Expressivität in die Melodik. Sie greift nun mit Legato-Sprungbewegungen bis zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage aus, wobei sich bei den Worten „die Brust“ erstmals wieder das Tongeschlecht Moll in die Harmonisierung drängt. Das aber ist nur die Vorstufe für den Einbruch hochgradiger Chromatik in sie, wie sie sich bei den Worten „Klagen sich ergießen“ ereignet. Die melodische Linie beschreibt auf dem Wort „Klagen“ einen gedehnten verminderten Sekundfall in hoher Lage, der in Dissonanz gebettet ist. Bei „sich“ ereignet sich ein verminderter Quintfall in cis-Moll-Harmonik, und auf dem Wort „ergießen“ liegt ein auf der Ebene eines „C“ in mittlerer Lage ansetzender silbengetreuer Sekundfall, bei dem die Harmonik eine Rückung von cis-Moll nach fis-Moll vollzieht. Die Akkorde, die diese Bewegung im Diskant mitvollziehen, erfahren im Bass eine Akzentuierung durch einen Anstieg von Achteln und Sechzehnteln.

    Der affektive Gehalt dieser Äußerung Mignons erfährt auf diese Weise starken Ausdruck. Aber weil sie aus deren tiefem seelischen Leid kommen, belässt es Schubert nicht dabei. Er greift zum Mittel der Wiederholung in Gestalt einer Melodik, die eine kleinschrittige, mittels deklamatorischer Legato-Sechzehntel-Figuren erfolgende und nun im Tongeschlecht Dur (H- und E-Dur) harmonisierte Fallbewegung aus der tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage bis zu der eines „Gis“ in tiefer sich erstreckt. Das Wort „ergießen“ erfährt dabei eine Akzentuierung in Gestalt eines gedehnten verminderten Sekundfalls. Auch hier setzt Schubert wieder eine gegenläufige Achtel-Sechzehntel-Figur als die Melodik in ihrem Ausdruck akzentuierendes kompositorisches Mittel ein. Auf beeindruckende Weise vernimmt man, wie tief er sich in die Seele von Mignon eingefühlt hat.

  • Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“ (III)

    Den Worten „Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ kommt eine Schlüsselfunktion zu, das Wesen Mignons und ihres Verhaltens betreffend. Schubert greift diesen Sachverhalt mit einer Melodik auf, die sich nach einem einleitenden, auf eine Repetition folgenden Terzfall in Gestalt von zwei dreischrittigen, bei zweiten Mal eine Quarte tiefer ansetzenden und in tiefe Lage führenden Fallbewegungen entfaltet, die bei „zu“ mit einem ausdrucksstarken Sextsprung in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage übergeht. Und er lässt diese Melodik, darin abweichend vom bisherigen Klaviersatz, mit einer markanten Folge von Diskant und Bass übergreifenden Lang gehaltenen sechsstimmigen Viertelakkorden begleiten. Die Harmonik vollzieht dabei, nach einer einleitenden Rückung von e-Moll nach G-Dur, eine Rückung von C-Dur über C7-Dur nach F-Dur bei der das Wort „zu“ akzentuierenden Dehnung am Ende.

    Bei den Worten des Schlussverses geht die melodische zur Entfaltung in deklamatorischen Tonrepetitionen über. Darin reflektiert sie den konstatierenden Gestus der diesen Worten innewohnt, Auf „Nur ein Gott“ beschreibt sie einen Quartsprung in hoher Lage, der nach einem Sekundfall bei „Gott“ in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „E“ übergeht. Hier lässt das Klavier, und das ist bemerkenswert, sforzato einen lang gehaltenen Akkord in verminderter A-Harmonik erklingen. Es handelt sich um einen Neapolitaner, in der musikalischen Tradition Ausdruck von Leid und Schmerz.
    Warum hat Schubert diese Harmonisierung des Wortes „Gott“ vorgenommen? Möglicherweise wollte er damit andeuten, dass für Mignon, so wie er diese Aussage verstanden hat, dieser „Gott“ für sie nicht die Erlösung bringen wird. Hoffnungslosigkeit also. Und das bringt ja auch die Melodik zum Ausdruck, die nach einer dreimaligen Tonrepetition in mittlerer Lage mit einem Quintsprung bei dem Wort „aufzuschließen“ in einen lang gedehnten silbengetreuen Fall in Sekundschritten und eine Terz zur Ebene eines „Gis“ in tiefer Lage übergeht. Die Harmonik vollzieht hier nach einem vorangehenden e-Moll und A-Dur eine Rückung von H-Dur zur Dominantseptversion der Tonart „Cis“. Es ist eine Fortsetzung der Liedmusik zu erwarten.

    Und die ereignet sich auch. Schubert lässt die Worte der beiden letzten Verse noch einmal deklamieren, ohne das einleitende „allein“ allerdings. Nun nimmt die melodische Linie einen energisch konstatierenden Gestus an. Partiell in Tonrepetitionen beschreibt sie, begleitet wieder von lang gehaltenen Akkorden und in F-Dur mit Zwischenrückung in verminderter H-Harmonik, einen Anstieg zu einer Dehnung auf „zu“, vollzieht danach bei „nur ein Gott“ eine Fall- und Anstiegsbewegung in hoher Lage, bei der die Worte „ein Gott“ noch wiederholt werden und das Klavier mit seinen lang gehaltenen H-Dur-Akkorden zum Fortissimo übergeht. Und nach einem regelrechten Sturz abwärts über das große Intervall einer Septe bei „vermag“ beschreibt sie einen Anstieg nun sogar über eine Oktave, um von der Ebene eines „G“ in hoher Lage bei dem Wort „aufzuschließen“ nun wieder in einen lang gestreckten und in e-Moll gebetteten Fall überzugehen, der bei dem Wortteil „schließen“ eine lang dehnende melismatische Figur aus vermindertem Sekundfall, Sechzehntelvorschlag und dann Wiederanstieg über einen Sechzehntel- und einen Sekundschritt zur Ebene eines „E“ in hoher Lage aufweist. Das e-Moll geht dabei in ein die Melodik beschließendes E-Dur über.

    Dieses hochexpressive Ende der Liedmusik lässt in der Struktur der Melodik und ihrer Harmonisierung vernehmen und erkennen, warum Schubert diese Wiederholung vorgenommen hat. Die in eine durch den Schlussakkord des Nachspiels unterstrichene E-Dur-Harmonisierung der nun in hoher Lage sich ereignende und mit einem Melisma versehene Fallbewegung auf dem Wort „aufzuschließen“ will sagen:
    Mignon hat, so wie Schubert sie verstanden hat, doch noch eine Hoffnung auf Erlösung durch einen Gott. Wenigstens einen Funken davon.

  • Hugo Wolf: „Mignon, Heiß mich nicht reden“

    „Sehr getragen“ soll dieses Lied interpretiert werden. Es weist zwar einen Viervierteltakt auf, dieser wird aber durch die rhythmische Diskrepanz zwischen Singstimme und Klaviersatz so überspielt, dass er klanglich nicht zur Geltung kommen kann. Die Komposition ist dreiteilig angelegt: Erste und dritte Strophe sind in ihrer Faktur einander ähnlich, die zweite weicht deutlich davon ab. Und eben dieser Rahmen aus Bekenntnissen des lyrischen Ichs, in den die gleichsam metaphorisch objektivierte zweite Strophe eingebettet ist, ist geprägt von jener rhythmischen Spannung zwischen einem daktylisch strukturierten Klaviersatz und einer Melodik, die sich synkopisch entfaltet. Man möchte diesen Eigensinn der melodischen Linie der Singstimme, wie er sich auf der Grundlage des Klaviersatzes darstellt, als musikalischen Ausdruck der Wesensart von Mignon verstehen, die sich in den Worten verdichtet: „Ein Schwur drückt mir die Lippen zu“.

    Kommt dieser „Schwur“, der diese geheimnisvolle Gestalt „Mignon“ gleichsam auf sich selbst zurückwirft und ihr die Lippen verschließt, auch in dem forte artikulierten und lang gehaltenen Akkord in der Moll-Subdominante zum Ausdruck, der ebenfalls so etwas wie einen Rahmen des Liedes bildet, weil er am Anfang von Vor- und Nachspiel aufklingt? Man möchte das meinen. Ansonsten entfaltet der Klaviersatz vor allem in der zweiten Strophe eine stark ausgeprägte eigene Expressivität, wohingegen er sich in der ersten und der dritten darauf beschränkt, in Gestalt von Akkordfolgen dem Lied seinen daktylischen Rhythmus zu verleihen und der melodischen Linie der Singstimme die vielen harmonischen Rückungen aufzunötigen, die sie durchlaufen muss, um zum Ausdruck zu bringen, was das lyrische Ich zu sagen hat.


  • Hugo Wolf: „Mignon, Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein melodisches Ausdrucksmittel, das in diesem Lied auffällig stark zum Einsatz kommt, ist die Tonrepetition. In allen drei Strophen stößt man auf sie und empfindet sie als musikalischen Ausdruck der Verschlossenheit des lyrischen Ichs, des Zurückgeworfen-Seins auf sich selbst, das eine gewisse Starre in der dialogischen Äußerung zur Folge hat, - und zugleich eine große Eindringlichkeit. Das vernimmt man in der Melodik dieses Liedes. Alle vier Verse der ersten Strophe werden jeweils im wesentlichen auf nur einer tonalen Ebene deklamiert, allerdings, und das ist typisch für die Melodik dieses Liedes und Reflex der Seelenlage des lyrischen Ichs, mit gleichsam abrupten Ausbrüchen nach oben und nach unten. Man begegnet ihnen allenthalben: In dem verminderten Sextsprung bei dem Wort „Pflicht“, der mit einer Rückung in die Dissonanz eines verminderten Akkords gekoppelt ist, in dem verminderten Septfall, der sich nach der Aufgipfelung der melodischen Linie bei dem Wort „zeigen“ ereignet, um dem Wort „allein“ den gehörigen Nachdruck zu verleihen, und in der insistierenden Beharrlichkeit, mit der die melodische Linie beim letzten Vers der ersten Strophe zu den Worten „will es nicht“ hin absinkt.

    Mit der zweiten Strophe kommt etwas größere Lebhaftigkeit in die melodische Linie. Dem entspricht, dass der Klaviersatz nun fast durchgehend (bis auf den letzten Vers der Strophe) aus einer stets aufs Neue einsetzenden aufwärtsgerichteten Folge von Achtel-Akkorden besteht. Die Singstimme deklamiert silbengetreu in einem Auf und Ab von Achteln in mittlerer Lage. Zu dem Wort „Sonne“ hin sinkt die melodische Linie – bemerkenswerterweise! – in tiefe Lage ab, und das Wort trägt eine Dehnung auf einem tiefen „es“. Bei den Worten „finstre Nacht“ geht es von dort aus weiter abwärts, und nun liegt auf dem Wort „finstre“ eine Dehnung. Es ist, als habe das lyrische Wort „Nacht“ die Vokallinie so unwiderstehlich zu sich herabgezogen, dass selbst das Bild von der Sonne keine eigene Kraft entfalten kann.

    Zu den Worten „und sie muss sich erhellen“ hin macht die melodische Linie dann aber einen ausdrucksstarken Oktavsprung. Und wieder wird zunächst auf einem Ton deklamiert, bevor sich bei dem Wort „erhellen“ ein mit einer harmonischen Rückung verbundener Sextfall nach einem vorangehenden Terzsprung ereignet. Auch dies ist bemerkenswert. Man würde eigentlich erwarten, dass bei diesem Wort die melodische Linie ihren Weg nach oben weiter fortsetzt. Stattdessen dieser Absturz auf der letzten Silbe. Das lyrische Ich scheint an diesem Bild des Erhellens der „finstren Nacht“ innerlich nicht wirklich zu partizipieren.

    Bei den beiden letzten Versen der Strophe kommt starke Expressivität in die Vokallinie. Forte und in Gestalt von in kleinen Sekunden in hoher Lage ansteigenden Tonrepetitionen werden die Worte „Der harte Fels schließt seinen Busen auf“ deklamiert. Danach folgt ein melodischer Absturz über eine ganze Dezime, der, weil er sich gänzlich unrhythmisiert in einer Abfolge von Achteln ereignet, wie ehern wirkt. Bei dem Wort „verborgnen“ hat die melodische Linie ihren tiefsten Punkt erreicht und macht noch auf der letzten Silbe einen Quintsprung, bevor sie bei dem Wort „Quellen“ erst einmal zur Ruhe kommt. Hier akzentuiert das Klavier mit Akkorden die Deklamation.

    Akkordisch ist die Begleitung auch bei der dritten Strophe angelegt, - nun wieder in daktylisch rhythmisierter Weise. Die melodische Linie setzt so ein wie am Liedanfang, sie beschreibt dann aber bei den Worten „des Freundes Ruh“ eine kleine Bogenbewegung im Umfang einer Terz. „Innig“ soll hier deklamiert werden. Beim zweiten Vers geht die Singstimme jedoch wieder – mit einem Crescendo – zur Deklamation auf nur einer Tonhöhe über, wobei ein Terzsprung mit einem doppelten Sekundfall bei dem Wort „ergießen“ eine deutliche Steigerung der musikalischen Expressivität mit sich bringt. Wie in der ersten Strophe wird das Wort „allein“ in tiefer Lage und durch Pausen isoliert deklamiert.

    Bei den Worten „ein Schwur“ macht die Vokallinie einen ausdrucksstarken Sextsprung mit nachfolgender Dehnung und fällt danach in Sekundschritten in tiefe Lage ab. Das Bild von den „Lippen“, die durch einen „Schwur“ zugedrückt werden, erhält auf diese Weise musikalisch die Bedeutung, die ihm vom lyrischen Text her zukommt. Und so ähnlich ist auch die melodische Linie beim letzten Vers angelegt. Die Worte „Und nur ein“ werden forte auf einem hohen „des“ deklamiert. Bei dem Wort „Gott“ macht die Vokallinie einen Terzsprung zu einem hohen „f“, der es melodisch deutlich exponiert. Das Klavier akzentuiert mit einem fortissimo angeschlagenen sechsstimmigen Akkord. Danach macht die Vokallinie wieder ihre Fallbewegung, die wirkt, als würde das lyrische Ich ermattend sich in sich selbst zurückziehen. Ein Decrescendo, das vom eben gerade noch herrschenden Forte ins Piano führt, verstärkt diesen Eindruck.
    Ein dreitaktiges Nachspiel, eingeleitet mit dem Moll-Subdominant-Akkord des Liedanfangs, klingt im Pianissimo aus.

  • Robert Schumann: „Mignon: Heiß mich nicht reden“, op.98a, Nr.5

    Dieses Lied ist das fünfte in Schumanns 1849 entstandenem Opus 98a, das neun Kompositionen umfasst und neben den Mignon-Gesängen auch die des Harfenspielers enthält. Es ist eine für den Liedkomponisten Schumann ungewöhnliche Komposition, weil es die von ihm üblicherweise praktizierte Form des Klavierliedes sprengt: Dies in Richtung einer personenorientiert-affektbezogenen Ausdeutung des lyrischen Textes mit den Mitteln der Musik.

    Herausgekommen ist dabei so etwas wie ein „Accompagnato-Rezitativ mit Arie“. Jedenfalls hört sich das Lied so an. Und es wäre hochinteressant, der Frage nachzugehen, warum Schumann ausgerechnet bei diesem lyrischen Text einen solchen liedkompositorischen Weg eingeschlagen hat. Ist es – über die rein lyrisch-sprachliche Ebene desselben hinaus - auch der in die Aura des Geheimnisvollen gehüllten Romangestalt geschuldet? Dies in der Form, dass der narrative Kontext in das Lied Eingang gefunden hat?
    Man möchte dies bejahen.


  • Robert Schumann: „Mignon: Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    In dramatischer Form setzt das Lied ein. Eine Folge von hart angeschlagenen c-Moll Akkorden in fallender Linie erklingt, und am Ende fällt die Singstimme sforzato mit den Worten „Heiß mich nicht reden „ in sie ein. Sie schlägt einen höchst expressiven rezitativisch geprägten Ton an, der erst bei den Worten „heiß mich schweigen“ in ein Ritardando verfällt. Etwas ruhiger und in aufsteigender Linie mit einer Dehnung am Ende wird der zweite Vers deklamiert. Aber schon bei dritten lautet die Anweisung „schneller“. Die melodische Linie macht eine aus einer Dehnung hervorgehende Fallbewegung, und nach einer Pause beschreibt sie bei den Worten „Allein das Schicksal will es nicht“ eine leicht wehmütig klingende Bogenbewegung, derweilen im Klaviersatz die melodische Linie des vorangegangenen Verses nachklingt. Das ist höchst subtile Kompositionskunst. Der erste Vers wird am Ende dieser wie ein Accompagnato-Rezitativ wirkenden ersten Strophe forte auf einer zunächst in hohe Lage emporsteigenden und dann mit einem verminderten Septfall in tiefe Lage stürzenden Vokallinie wiederholt.

    Ruhig und in C-Dur harmonisiert bewegt sich die melodische Linie bei der zweiten Strophe, was nicht bedeutet, dass sie nicht immer wieder einmal – die lyrischen Bilder reflektierend – in hoher Lage aufgipfelt oder eine Fallbewegung über ein großes Intervall beschreibt. So steigt sie bei den Worten „vertreibt der Sonne Lauf die finstre Nacht“ über mehr als eine Oktave zu einem hohen „g“ empor, macht aber einen, bei dem Wort „erhellen“ einen höchst ausdrucksstarken, mit einer harmonischen Rückung verbundenen – und überraschenden! – Oktavfall. Auch bei den beiden letzen Versen der zweiten Strophe schlägt sich die innere Bewegtheit der lyrischen Bilder auf die Struktur und die Bewegung der melodischen Linie nieder: Erst beschreibt sie eine Fallbewegung, bei dem Bild von den „tiefverborg´nen Quellen“ setzt sie zu einer bogenförmigen Bewegung an, die ausgerechnet bei dem Wort „tief“ mit einem verminderten Sekundfall in hoher Lage aufgipfelt. Die Dynamik bleibt derweilen durchgängig im Forte-Bereich und der aus der raschen Bewegung von Achtelakkorden und Akkordrepetitionen bestehende Klaviersatz durchläuft viele harmonische Modulationen.

    In ruhiger, syllabisch exakter Weise und in mittlerer tonaler Lage verbleibend werden die ersten beiden Verse der dritten Strophe deklamiert. Auf den Worten „Ruh“ und „dort“ liegen melodische Dehnungen, und auch das Wort „ergießen“ erhält durch gedehnt aufsteigende melodische Linie einen besonderen Akzent. Bei den Worten „Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ nimmt die Vokallinie dann aber einen deutlich expressiveren Ton an. Aus der Deklamation auf nur einer tonalen Ebene erfolgt sforzato zu dem Wort „Schwur“ hin ein Quintsprung, das damit erreichte hohe „f“ wird lange gehalten, bevor dann mit einem die melodische Linie in einer lang gedehnten Fallbewegung und einem mehrfachen Diminuendo auf höchst beeindruckende Weise langsam ausklingt. Das Klavier begleitet all das mit allerlei Modulationen durchlaufenden Akkordrepetitionen, die eine untergründige Unruhe in die Melodik bringen. Auffällig ist dies besonders bei der langen Dehnung auf den Wort „Gott“ und „aufzuschließen“.

    Nach einer zweitaktigen Pause, in der das Klavier seine Repetitionen fortsetzt, werden die Worte „nur ein Gott“ auf chromatisch in tiefer Lage sehr langsam fallender und in einen verminderten Akkord mündender melodischer Linie wiederholt. Danach erklingen im Klavier drei Mal chromatisch-dissonante und jeweils lange gehaltene Akkorde in aufsteigender Linie. Als klanglicher Kommentar zu den Worten „Nur ein Gott“ wirken sie wie der musikalische Ausdruck tiefer Hoffnungslosigkeit des lyrischen Ichs, ob ihm dieses „Aufschließen“ denn je zuteilwerden würde.

    Mit „Adagio“ ist die Rückkehr des Liedes zum rezitativischen Ton seines Anfangs überschrieben. Die beiden ersten und die vier letzten Verse des Gedichts erklingen noch einmal, - unter Auslassung der Partikel „allein“. In ruhiger Bewegung steigt die melodische Linie bei den Worten „Heiß mich nicht reden“ an, macht aber dann bei dem Worten „reden“ einen Quintfall und lässt anschließend das Wort „schweigen“ mit einem verminderten, und mit einer harmonischen Rückung verbundenen Sekundfall eindringlich hervortreten. Auch das Wort „Schwur“ wird mit einem Oktavsprung noch einmal auf eindrucksvolle Weise in seiner lyrischen Bedeutung melodisch akzentuiert. Und so ist das auch bei den Worten „die Lippen zu“: Ein kleiner Sekundfall, der anschließend auf der tonalen Ebene verharrt.

    Höchst beeindruckend auch die letzten melodischen Schritte bei der Wiederholung der lyrisch so zentralen Worte „Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“. Die Vokallinie bewegt sich, in ihrem Piano und Ritardando, wie in resignativer Eintönigkeit versinkend, in silbengetreuer Deklamation nur noch zwischen zwei tonalen Ebenen hin und her: Einem „g“ und einem „e“, um am Ende mit einem Terzsprung zu eben jenem „g“ hin ihr Ende zu finden. Und dies im C-Dur, das das Klavier am Ende pianissimo in zwei lange gehaltenen siebenstimmigen Akkorden erklingen lässt.
    Melodische Offenheit der Quinte im finalen C-Dur eines Liedes, das im c-Moll einsetzt: Die Rätselhaftigkeit dieser Mignon-Gestalt findet hier ihren adäquaten musikalischen Ausdruck.

  • Drei Mal „Mignon“: „Heiß mich nicht reden“


    Mignon, dieses höchst rätselhafte Wesen, das Goethe da geschaffen hat, rätselhaft, weil es sich jeder existenziellen Bestimmung entzieht und vegetativ, engelhaft und dämonisch zugleich wirkt, hat ganz offensichtlich jeden Komponisten herausgefordert, ihm musikalisch eben diese personale Identität zu verschaffen, die ihm von seinem Schöpfer poetisch vorenthalten bleibt.
    Und siehe, es ist bei den drei großen Repräsentanten des romantischen Klavierliedes jeweils eine völlig andere „Mignon“ dabei herausgekommen: Bei Schubert das naive, heimlich liebende, still leidende und von einer unbestimmten Sehnsucht beseelte Mädchen; bei Schumann die reife, sich zu ihrer Existenz bekennende und darin innerlich zerrissene, weil zwischen Liebe, Sehnsucht und Einsamkeit hin und her treibende Frau; und bei Wolf die in abgrundtiefes Leiden versunkene Seele, der einzig das Sehnen bleibt, - in der realen Existenz die nach dem fernen Süden, in der idealen jene andere nach einem die reale Körperlichkeit transzendierenden himmlisch verklärten Sein.

    Bei Schubert vernimmt man aus dem Mund dieser Mignon eine melodische Linie, die den Gestus naiver und deshalb so faszinierend eingängiger Gesanglichkeit nie wirklich verlässt, - auch nicht in jenen Passagen, in denen sich das seelische Leiden unter dem schicksalhaften Gebot des Schweigens artikuliert. Bezeichnend ist ja doch, dass die Singstimme in harmonischem Einklang mit dem Klavier dessen Vorspiel-Melodik aufgreift. Diese ist zwar zunächst in e-Moll harmonisiert und weist die Anmutung von Wehmut auf. Aber das ist ein inniger Ton, einer, der zwar Leiden, aber keine seelische Zerrissenheit zum Ausdruck bringt. Und überdies ist das Moll als Tongeschlecht in diesem Lied ja keineswegs dominant. Gewiss, die melodische Linie weist häufig eine fallende Tendenz auf, aber darin verharrt sie nicht. So wie in der zweiten Strophe eine Modulation nach C-Dur erfolgt und das zentrale melodische Motiv am Anfang der dritten in D-Dur harmonisiert ist, so gibt es immer wieder das Aufklingen von Hoffnung in der Musik.
    So wie beim Schluss des Liedes: Nach einem kurzen, ebenfalls aus einer bogenförmigen Bewegung von Moll-Akkorden bestehenden Nachspiel erklingt am Ende ein reiner E-Dur-Akkord. Eine Musik, die auf das verweist, was die letzten Worte des Liedes als Zukunftsvision enthalten.

    Kein größerer Kontrast ist denkbar zwischen dem Anfang des Schumann-Liedes und jenem bei Schubert. Die forte und in rascher Folge hart angeschlagenen acht c-Moll-Akkorde evozieren auf der Stelle den klanglichen Eindruck von Dramatik. Und die Tatsache, dass die Singstimme auf dem zweitletzten Akkord sforzato in das einfällt, was das Klavier hier artikuliert, verstärkt diesen Eindruck noch. Lang wird das „c“ auf dem Wort „heiß“ gehalten, danach steigt die melodische Linie im Auf und An von Sekunden und mit einem Terzsprung zu einem hohen „f“ auf, das (auf dem zweit „heiß“) wiederum eine Dehnung trägt, und danach geht es in einer großen und einer kleinen Fallbewegung abwärts. Ein ausgeprägt fordernder Ton wohnt dieser melodischen Linie inne. Und es ist nicht der eines still leidenden Mädchens, sondern der einer Frau, die sich ihrer existenziellen Situation bewusst ist, sich auf sie zurückgeworfen fühlt und darunter leidet, zugleich aber daraus ausbrechen möchte, ohne die Hoffnung zu haben, dass dies wirklich gelingen könnte.

    Die innere Zerrissenheit spiegelt sich deutlich in der Faktur des Liedes. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Binnenspannung, die sich aus der Kombination von rezitativischen und gleichsam ariosen Passagen ergibt. Melodik und Klaviersatz reflektieren diese seelischen Regungen in vielfältiger Weise. Mit häufigen Tempo- und Dynamikwechseln und raschen Bewegungen von Achtel-Akkorden und Akkordrepetitionen, die vielerlei harmonische Modulationen durchlaufen.
    Und dann ist da dieser Schluss: Bei den Worten „Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“ bewegt sich die Vokallinie, in ihrem Piano und Ritardando wie in resignativer Eintönigkeit versinkend, in silbengetreuer Deklamation nur noch zwischen zwei tonalen Ebenen hin und her: Einem „g“ und einem „e“, um am Ende mit einem Terzsprung zu eben jenem „g“ hin ihr Ende zu finden.

    Hugo Wolfs Mignon wirkt gegenüber der melodischen Expressivität, die sie bei Schumann entfaltet, wie in die absolute Einsamkeit eingeschlossen, aus der es, weil ein „Schwur“ ihr die Lippen zudrückt“, für sie kein Entrinnen gibt. Der Moll-Subdominant-Akkord, der wie ein klanglicher Rahmen das Lied eröffnet und abschließt, wirkt wie ein klangliches Symbol dafür. Und die Melodik, die sich auf dem Untergrund eines daktylisch strukturierten Klaviersatzes entfaltet, empfindet man in der chromatisch geprägten Müdigkeit ihrer Bewegung, die immer wieder in Tonrepetitionen verfällt, aber auch vereinzelt abrupte Fall- und Sprungbewegungen vollzieht, als musikalischen Ausdruck der Verschlossenheit des lyrischen Ichs, seines Leidens und des Zurückgeworfen-Seins auf sich selbst.

    Bezeichnend ist ja doch, dass das an sich positive Bild von „der Sonne Lauf“ auf einer chromatisch eingebetteten, von verminderten Tonschritten geprägten und müde wirkenden melodischen Linie deklamiert wird, die langsam zu dem Wort „Nacht“ hin abfällt und dann zu dem Wort „erhellen“ hin zwar einen veritablen Oktavsprung macht, der sogar noch um eine Terz erhöht wird, an ihrem Ende aber, ausgerechnet auf den beiden letzten Silben des Wortes „erhellen“, einen Sextfall beschreibt. Und damit korrespondiert die Tatsache, dass die melodische Linie beim letzten Vers („Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“) zu dem Wort „Gott“ hin einen – von einem fortissimo angeschlagenen sechsstimmigen Akkord akzentuierten - Terzsprung zu einem hohen „f“ hin macht, der es melodisch deutlich exponiert, danach aber zu einer Fallbewegung übergeht, die wirkt, als würde sich das lyrische Ich ermattend in sich selbst zurückziehen.
    Für diese Mignon gibt es keine Hoffnung auf Erlösung in dieser irdischen Welt.

  • Franz Schubert: „Lied der Mignon“, op. 62, Nr. 3 (D 877)

    So laßt mich scheinen, bis ich werde,
    Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
    Ich eile von der schönen Erde
    Hinab in jenes dunkle (G.:feste) Haus.

    Dort ruh' ich eine kleine Stille,
    Dann öffnet sich der frische Blick;
    Ich lasse dann die reine Hülle,
    Den Gürtel und den Kranz zurück.

    Und jene himmlischen Gestalten
    Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
    Und keine Kleider, keine Falten
    Umgeben den verklärten Leib.

    Zwar lebt' ich ohne Sorg und Mühe,
    Doch fühlt' ich tiefen Schmerz genung.
    Vor Kummer altert' ich zu frühe;
    Macht mich auf ewig wieder jung.

    Dieser vierte und letzte Gesang Mignons findet sich am Ende des zweiten Kapitels des achten Buchs. Der vorangehende dritte lyrische Text, der ja nur rezitiert wird, am Ende des fünften. Es ist also narrativ sehr viel geschehen dazwischen, worum man eigentlich wissen muss, um voll verstehen zu können, was Mignon in diesem hier zum Ausdruck bringt.
    Das hier zusammengefasst wiederzugeben, ist natürlich nicht möglich. Um dennoch dieses Verständnis zu ermöglichen, soll die Entwicklung der Mignon-Gestalt in ihrer Beziehung zu Wilhelm kurz skizziert werden.
    Sie ist, wie es das „Italien-Lied“ andeutet, eine vom „Beschützer“ über den „Vater“ zum „Geliebten“. In Einheit mit dieser emotionalen Dimension ist es der Faktor Kunst in Gestalt von Schauspiel und Theater, der beide miteinander verbindet. Und so zerbricht denn auch diese Bindung, als Wilhelm erkennt, dass er, anders als Mignon, in seinem Wesen kein Künstler ist und sich vom Theater abwendet. Diese rational fundierte Abwendung von der anfänglichen Leidenschaft zur Kunst, die mit dem Willen zu bürgerlichem Leben einschließlich einer Vernunftheirat einhergeht und im Romangeschehen mit Reisen eingeleitet wird, zerstört die innere Bindung zwischen ihm und Mignon und leitet deren seelischen und körperlichen Zusammenbruch ein, der in den Tod führt.

    In der letzten Phase ihrer inneren Entwicklung zum Tod hin ist dieser Gesang angesiedelt. Wilhelm erfährt von dem Geschehen durch einen Bericht Natalies. Von ihr erfährt er, dass Mignon inzwischen nur noch „Frauenkleider“ trägt, „von denen sie sonst einen so großen Abscheu zu haben schien“. Von ihrer so lange währenden Androgynie hat sie sich also abgelöst und zu einer Eindeutigkeit der Existenz gefunden, die allerdings eine zum Tode ist. Natalie hat ein Kinderfest veranstaltet, in dem sie Mignon die als Engel mit weißem Gewand, goldenem Gürtel, Diadem in den Haaren und „goldenen Schwingen“ auftretende Rolle einer Verteilerin von Geschenken zugewiesen hat. Und weiter heißt es im Text:

    >"Hier sind eure Gaben“, sagte sie und reichte das Körbchen hin. Man versammelte sich um sie, man betrachtete, man befühlte, man befragte sie.
    „Bist du ein Engel?“ fragte das eine Kind.
    „Ich wollte, ich wär´ es“, versetzte Mignon.
    „Warum trägst du eine Lilie?“
    „So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wär´ ich glücklich.“
    „Wie ist´s mit den Flügeln? Laß sie sehen!“
    „Sie stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind.“
    Und so antwortete sie bedeutend auf jede unschuldige, leichte Frage. Als die Neugierde dieser kleinen Gesellschaft befriedigt war und der Eindruck dieser Erscheinung stumpf zu werden anfing, wollte man sie wieder auskleiden. Sie verwehrte es, nahm ihre Zither, setzte sich hier auf diesen hohen Schreibtisch hinauf und dang ein Lied mit unglaublicher Anmut.<

    Von daher erschließt sich nun, wie ich denke, die Aussage dieses lyrischen Textes. Die einleitenden Worte „So laßt mich scheinen, bis ich werde“ offenbaren das Selbstverständnis Mignons bei ihrem Auftritt in ihrer lebensweltlichen Gesellschaft. Er ist einer des „Scheinens“, nicht die ihrer existenziell wahren Gestalt. Hier ist es die Rolle eines Engels, die ihr aber in ihrer Anmutung von Transzendenz mehr gemäß ist als alle anderen, ihr wahres Wesen verbergenden Gestalten des Auftritts zuvor.

    Denn ihr wahres Wesen ist das eines „Werdens“, eines existenziellen Weges hin zum Aufgehen in der Transzendenz, in dem sich das endgültige Zu-sich-Selbst-Kommen ereignet. Ihr irdisches Leben hat ihr das infolge des auf ihr lastenden Fluchs nicht ermöglicht. Diese Verse verkörpern also in ihrer Abfolge die Imagination einer körperlich-existenziellen Entgrenzung und über den Tod sich ereignende Einfindung in die Transzendenz. Diese wird von ihr als Einkehr in ein „festes Haus“ empfunden, also in einen Ort der Geborgenheit, wie er ihr in ihrer irdischen Existenz nicht zuteilwurde. Wenn Schubert daraus ein „dunkles Haus“ macht, so läuft das auf eine Verfälschung der lyrischen Aussage hinaus. Er assoziiert mit „Tod“ in herkömmlicher Weise Dunkelheit, was an Mignons Verständnis desselben völlig vorbeigeht.

    Der Einkehr in das „feste Haus“ geht das Ablegen irdischen Gewandes, hier das „weiße Kleid“ voraus. Und nun, so stellt sie sich das vor, vermag sie zur Ruhe in einem Augenblick der „Stille“ zu finden, Stille im Sinne eines von Keinem gestörten Zu-sich-selbst-Findens, was, wenn man es als Wunschvorstellung versteht, verrät, wie sie ihre irdische Existenz erfahren hat. Der „frische Blick“ ist dann einer, in dem das neue Leben aufleuchtet. Es ist eines der absoluten Freiheit von allen irdischen Zwängen, wie sie sich bei ihr beispielhaft in dem Bild von dem alle Kleider und Falten abgeworfenen „verklärten Leib“ einstellt. Und ihr irdisches Grundproblem der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht existiert auch nicht mehr. Die „himmlischen Gestalten“ fragen nicht danach.

    Noch einmal wirft sie in der letzten Strophe einen Blick zurück auf ihr Leben, das sich ihr, obgleich es frei von „Sorg und Mühe“ war, wesenhaft als eines von „Schmerz“ und „Kummer“ darstellt. Und die Aufforderung, die sie am Ende äußert, dieses wieder Jung-Sein Wollen, ist als Wunsch nach einem existenziellen Neuanfang zu verstehen. Er kann in ihrem Fall nur über den Weg erfolgen, den sie in den vorangehenden Versen imaginativ entworfen hat.


  • Franz Schubert: „Lied der Mignon“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Schubert hat sich auch mit diesem lyrischen Text kompositorisch intensiv auseinandergesetzt. Dieser Bearbeitung vom Januar 1826 ging im April 1821 eine erste (D 727) voraus. Eine vergleichende Betrachtung würde viele Erkenntnisse hinsichtlich der spezifischen Eigenart von Schuberts Liedkomposition erbringen, verbietet sich hier aber.
    Es handelt sich um ein Strophenlied nach dem Schema AB AB, allerdings mit kleinen, aber bedeutsamen Variationen in der zweiten Gruppe. H-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, ein Dreivierteltakt legt der Liedmusik zugrunde, und sie soll „Nicht zu langsam“ vorgetragen werden.

    Ein viertaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. In der Legato-Abfolge von Achtelakkorden, die im Bass synchron mit zwei- und dreistimmigen Staccato-Achtelakkorden begleitet werden, klingt der Geist der Liedmusik auf. Es ist der einer schwebenden Entfaltung in Gestalt von klanglich prägenden Quartsextakkorden. Am Anfang und am Ende klingt die melodische Figur auf den lyrischen Schlüsselworten „So laßt mich scheinen“ auf, und die Harmonik beschreibt eine Rückung von einem anfänglichen H-Dur über ein Fis-Dur und wieder zurück zur Grundtonart H-Dur am Ende. Das „Fis“ ist aber von Anfang an im Bass in repetitiver Gestalt gegenwärtig, und es erweist sich als gleichsam tonale, die ganze Liedmusik durchziehende Achse.

    Bis auf bereits zwei weitere Faktoren sind damit die Komponenten genannt, die den Eindruck von schwebender Entfaltung der Liedmusik generieren. Diese ist natürlich von Schubert bewusst kompositorisch intendiert. Sie ist musikalischer Niederschlag der situativen Atmosphäre und der existenziell-seelischen Befindlichkeit, in der das lyrische Ich „Mignon“ hier seine Aussagen tätigt. Es sind ja schließlich allesamt solche, die imaginativer, aus einer träumerischen Haltung hervorgehender Art sind. Neben dem bereits im Vorspiel sich zeigenden Faktoren dominierender Quartsextakkord und der in gleicher Weise fungierenden Fis-Dur-Harmonik kommen in der nachfolgenden Liedmusik noch weitere Faktoren hinzu, die für diese spezifische, dieses Lied auszeichnende und so überaus schöne klangliche Eigenart der schwebenden Entfaltung der Liedmusik verantwortlich sind.

    Es ist der Rhythmus, der permanent zwischen einem Dreiviertel- und einen Sechsachtel-Metrum pendelt, allerdings nur gefühlsmäßig, weil im Notentext nicht ausgewiesen, darüber hinaus ist es die Melodik, die, auch bedingt durch das Strophenlied-Konzept, immerzu um die gleichen Figuren kreist, und schließlich ist es ein Sachverhalt, der für Schuberts Liedmusik nicht typisch ist: Ein einfacher, weil nicht autonomer, vielmehr im Mitvollzug der melodisch-deklamatorischen Schritte in akkordischer Gestalt sich erschöpfender Klaviersatz. Schubert will, dass die Melodik in ihrer imaginativ-träumerischen Entfaltung keinerlei Verstörung durch einen autonomen, eine eigene musikalische Aussage generierenden Klaviersatz erfährt. Das wäre dem Wesen der lyrischen Aussagen Mignons ganz und gar unangemessen.

    Die nach dem fermatierten sechsstimmigen H-Dur-Akkord, in den das Vorspiel mündet, einsetzende und von einer Viertelpause eingehegte Melodik auf den Worten „So laßt mich scheinen, bis ich werde“ weist einen die ganze Liedmusik prägenden Charakter auf. Das ist, angesichts ihrer strukturellen Schlichtheit ein wenig verwunderlich. Aber vielleicht liegt der Grund dafür ja gerade darin. Einmal gehört, und sie prägt sich ein. Ein weiterer dürfte wohl darin bestehen, dass sie in ihrem Sekundschritt-Anstiegsgestus nach einer Viertelpause beim zweiten Vers mit einer diesen Gestus umkehrenden melodischen Figur verbunden wird, die am Ende, bei den Worten „nicht aus“ den Sekundfall bei den Worten „ich werde“ mit einem Legato-Terzsprung gleichsam kompensiert.

  • Franz Schubert: „Lied der Mignon“ (II)


    Die Melodik auf den Worten „Ich eile von der schönen Erde“ stellt dann eine exakte Wiederkehr dieser melodischen Figur dar, mit der Mignon in diesem Lied auftritt, so dass sich der Eindruck, in dieser drücke ich ihr Wesen und ihre situative Grundhaltung aus, verfestigt. Bei den Worten „Hinab in jenes dunkle (G.: "feste") Haus“ geht die melodische Linie, die lyrische Aussage gleichsam abbildend, in einen Fall zur tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage über und beschreibt dort, wohl Schuberts Ersetzen des Wortes „feste“ durch „dunkle“ geschuldet, eine melismatisch angehauchte Sechzehntel-Bogenbewegung, die in einen Terzfall zur Ebene eine „Dis“ in tiefer Lage mündet.

    Das Klavier vollzieht, wie bereits angedeutet, alle deklamatorischen Schritte in synchroner Anbindung akkordisch mit, mit Ausnahme der Sechzehntel-Schritte auf dem Wort „nicht“ („aus“) und „dunkle“ („Haus“). Bemerkenswert ist aber die Harmonisierung der Melodik. Sie erfolgt durchweg im Tongeschlecht Dur, ohne jeglichen Einbruch von Chromatik darin. Für Schubert ereignet sich also dieser Auftritt von Mignon - und das zu Recht - ohne jeglichen Anflug von Schmerzlichkeit oder gar Weinerlichkeit. Die Melodik reflektiert darin den konstatierenden Gestus, der der Sprachlichkeit des lyrischen Textes innewohnt. Aber sie reflektiert auch Natalies Worte „sie sang ein Lied mit unglaublicher Anmut“. Bei allem deklamatorisch-ruhigem Gestus strahlt die Melodik, und das macht sie so eindrücklich, zugleich klangliche Anmut und Lieblichkeit aus.

    Vielsagend ist die Rolle, die das Fis-Dur darin spielt. Bei der ersten, den ersten Vers beinhaltenden Melodiezeile beschreibt die Harmonik, wie beim Vorspiel, eine Rückung von der Tonika H-Dur nach Fis-Dur und kehrt am Ende wieder zum H-Dur zurück. Bei der zweiten auf den Worten des zweiten Verses vollzieht sie zwar eine Rückung zur Subdominante E-Dur, am Ende aber wird daraus über ein H-Dur eine nach Fis-Dur. Aus den Versen drei und vier macht Schubert aus syntaktischen Gründen eine Melodiezeile. Auch in dieser ereignet sich zwei Mal eine harmonische Rückung von H-Dur nach Fis-Dur, und zwar bei den Worten „von der schönen Erde“ und - wie im Grunde zu erwarten - bei „jenes dunkle“ („Haus“). Die Harmonik dieses Liedes mutet an, als würde sie regelrecht nach diesem Fis-Dur wie zu ihrer eigentlichen Grundtonart streben.
    Wie ist das zu erklären? Da es sich dabei um die Dominante zur eigentlichen Grundtonart H-Dur handelt, könnte wohl Schubert, so denke ich, auf diese Weise das Hinweg-Streben Mignons von dieser Erde zum Ausdruck bringen, wie sie es in den Schlussworten „Macht mich auf ewig wieder jung“ zum Ausdruck bringt.

    Beim ersten Vers der zweiten Strophe verbleibt die Melodik im Gestus der ruhigen Entfaltung im kleinen Ambitus in mittlerer Lage. Bei den Worten „Dort ruh ich eine kleine“ geht sie nach einem auftaktigen Terzsprung in einen Fall über eine Terz und zwei Sekunden über, das Wort „kleine“ erfährt dann eine Akzentuierung dadurch, dass die melodische Linie mit einem Quartsprung zu einem gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage ansetzt. Hier weicht das Klavier von seinem deklamatorisch synchronen Mitvollzug der melodischen Bewegung ab und lässt aus einem Achtelakkord einen Sechzehntel-Sekundanstieg hervorgehen. Auf „Stille“ liegt dann ein schlichter Sekundfall, der vom Klavier im Legato akkordisch mitvollzogen wird.
    Eine kleine, aber dennoch bedeutsame Abweichung von der Liedmusik der ersten Strophe gibt es aber. Sie findet sich in der Harmonik. Nun beschränkt diese sich nicht mehr auf Rückungen im Bereich der Tonika und der beiden Dominanten, vielmehr ereignet sich nach einem anfänglichen H-Dur bei „eine kleine Stille“ eine Rückung von Ais-Dur über Cis-Dur nach Fis-Dur. Schubert lässt auf diese Weise anklingen, dass, so deute ich das, eine kleine innere Erregung in Mignons Grundhaltung tritt.

    Und das hat seinen Grund, wie sich bei den nachfolgenden Worten „Dann öffnet sich der frische Blick“ zeigt. Ein veritables melodisches Ereignis vernimmt man hier, Zeugnis der spezifischen Eigenart von Schuberts Melodik als, wie Georgiades nachgewiesen hat, „musikalisches Erklingen von Sprache, Sprache als Musik“. Bei diesen Worten ereignet sich ein Unisono- Sekundanstieg von Melodik und Oktaven in Diskant und Bass von der Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage bis zu der dieses „Fis“ in hoher, über eine veritable Oktave also. Der letzte Schritt dieses spektakulären, weil von der Grundstruktur der Melodik dieses Liedes sich markant abhebenden und im Forte erfolgenden melodischen Anstiegs ist allerdings einer über eine Terz, einhergehend mit einem melismatischen Praller-Vorschlag. Die Harmonik vollzieht hierbei eine Rückung von Fis-Dur über D- und A-Dur zurück nach D-Dur, in einem Quintenzirkel-Bereich, der relativ weitab liegt von der Grundtonart dieses Liedes. Schubert hat diese Worte des zweiten Verses ganz offensichtlich deshalb zu einem solchen liedmusikalischen Ereignis werden lassen, weil sich in ihnen, wie es der nachfolgende letzte Vers der zweiten Strophe bekundet, der Schritt aus den Hüllen der irdischen Existenz in die Transzendenz ereignet.

    Danach kehrt die Melodik wieder zur Entfaltung im für dieses Lied so charakteristischen Gestus zurück. Aber nicht ganz, und das ist vielsagend. Es bleibt bei Mignon ein Nachklang der seelisch-emotionalen Beflügelung durch den „frischen Blick“ zurück. Schubert, der den lyrischen Text offensichtlich so gelesen hat, lässt die melodische Linie nach einem vierschrittigen, in eine harmonische Rückung von h-Moll nach Fis-Dur gebetteten Sekundfall auf den Worten „ich lasse dann“ einen sprunghaften, über eine Sekunde und eine Quinte erfolgenden Aufstieg zur tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage bei den nachfolgenden Worten eine ausdrucksstarke, weil wellenartig in kleinen Schritten von Achteln und Sechzehnteln erfolgende Bewegung in hoher Lage beschreiben, die bei „Gürtel“ in Gestalt eines Terzfalls zur Ebene des „Fis“ zurückkehrt. Dort verharrt sie bei dem Wort „und“ in Gestalt einer kleinen Dehnung (punktiertes Viertel), wobei die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden H-Dur nach gis-Moll vollzieht.

  • Franz Schubert: „Lied der Mignon“ (III)

    Es ist das dritte Mal, dass das Tongeschlecht Moll in der Melodik auf dem Schlussvers der zweiten Strophe aufklingt. Voran geschah das bei den Worten „die reine Hülle“ und man kann das als Ausdruck eines Anflugs von Wehmut bei Mignon anlässlich des „Zurücklassens“ auffassen und verstehen, von dem sie hier spricht. Auch der melodische Fall auf „ich lasse“ ist ja in h-Moll-Harmonik gebettet. Die Melodik auf den Schlussworten „den Kranz zurück“, die aus einem mit einem Terzsprung eingeleiteten und auf „Kranz“ leicht gedehnten dreischrittigen Sekundfall besteht, ist aber wieder in Dur harmonisiert, in Gestalt der klassischen Kadenzrückung von der Dominante Fis-Dur zur Tonika H-Dur.

    Dass die Liedmusik auf den Strophen drei und vier leicht variierte Wiederholungen derjenigen auf den beiden ersten Strophe enthält, darauf wurde bereits hingewiesen. Die der dritten Strophe weist nur eine Variation auf, und zwar bei den Worten „verklärten Leib“. Hier beschreibt die melodische Linie nun eine Fallbewegung von einem „Fis“ in tiefer Lage zu einem gedehnten „Dis“ bei Leib, und dies in Gestalt eines sich um eine Sekunde absenkenden Auf und Abs von Sechzehntel-Sekundschritten. Das wird dem lyrischen Bild eher gerecht als die melodische Figur die auf den entsprechenden Worten „das dunkle Haus“ der ersten Strophe liegt.

    Geradezu winzig, aber sehr wohl bedeutsam ist die Variation, die Schubert auf den Worten „Schmerz genung“ in der vierten Strophe vornimmt. Die Melodik ist zwar mit der der zweiten Strophe bei den Worten „der frische Blick“ identisch, aber die Harmonisierung konnte Schubert angesichts der semantischen und affektiven Gegebenheiten jetzt nicht beibehalten. Also hat er das gedehnte „Dis“ auf der Silbe „-nung“ statt in D-Dur nun in d-Moll-Harmonik gebettet. Die wirklich grundlegende Variation erfolgt aber auf den Schlussworten „Macht mich auf ewig wieder jung“, und sie ist ja vom semantischen Gehalt und der Bedeutsamkeit im Rahmen der lyrischen Aussage des Textes regelrecht geboten.

    Die melodische Linie entfaltet sich nun in einer Bewegung, die eine in der Musik dieses Liedes herausragende emphatische Entzückung zum Ausdruck bringt. Nach einem auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage einsetzenden und vom Klavier in Gestalt eines H-Dur-, A-Dur- und verminderten D-Dur-Akkordes mitvollzogenen Sekundanstiegs geht sie bei „ewig“ in einen Terzfall über, der sich zu dem Wort „auf“ über eine Terz fortsetzt, wobei die Harmonik eine Rückung von H-Dur nach Cis7-Dur vollzieht. Auf dem wiederholten „auf ewig“ liegt nun eine Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage, wobei die auf „ewig“ eine Dehnung trägt, die diesem eine noch stärkere Akzentuierung verleiht als beim ersten Mal. Ein lang gehaltener H-Dur-Akkord begleitet das. Auf den Schlussworten „wieder jung“ beschreibt die melodische Linie dann die gleiche und auch identisch harmonisierte Kadenz-Fallbewegung wie am Ende der zweiten Strophe.

    Im viertaktigen Nachspiel erklingt eine eine Bogenbewegung beschreibende und in H-Dur harmonisierte Folge von drei Cis-Dur-, H-Dur- und Fis-Dur-Akkorden im Bass, die mit einem Pralltriller in den fermatierten H-Dur-Schlussakkord mündet. Das mutet eine Bekräftigung der Hoffnung an, die sich für Mignon mit der Imagination ihrer künftigen Existenz verbindet.

  • Hugo Wolf: „Mignon, So laßt mich scheinen“

    Visionäre Entrückung wird in diesem Lied musikalisch imaginiert. Die Musik folgt jenem Weg von der „schönen Erde“ hinab in das „tiefe Haus“ und leuchtet dabei mit ihrer Melodik und einem in seiner Struktur komplexen Klaviersatz alle Bilder aus, die sich dabei im lyrischen Ich einstellen, wobei die des „realen Lebens“ sich mit jenen vermengen, die aus der Vision eines paradiesischen Lebens kommen. Und das Große an diesem Lied ist, dass diese Bilder alle ihre je eigene Musik finden. Sie will aus dem a-Moll, das ihr vorgegeben ist, immer wieder heraus, pendelt zwischen Dur und Moll hin und her, ergeht sich phasenweise in B-Dur, wird aber ins a-Moll wieder zurückgeholt, bis sie am Ende, jedenfalls mit der Harmonisierung der Melodik, in leuchtendem A-Dur landet. Das Nachspiel holt sie freilich wieder ins a-Moll zurück. Wie ist das zu verstehen?

    „Sehr langsam und zart“ soll das Lied vorgetragen werden. Es setzt im Klaviersatz mit einem aus Terzen und Sexten gebildeten akkordischen Motiv ein, das in seiner melodisch fallenden Struktur dem Lied seinen klanglichen Grundcharakter verleiht. Es prägt die Begleitung der Singstimme in vielfältig modifizierter Form durchgehend, taucht auch mal wieder in seiner anfänglichen Gestalt auf und erklingt schließlich auch im Nachspiel. Und nicht nur dies: Es prägt sich über weite Strecken auch der melodischen Linie der Singstimme ein, die wirkt, als würde sie sich ihm anschmiegen und könne sich aus dieser Bindung nur vorübergehend lösen.


  • Hugo Wolf: „Mignon, So laßt mich scheinen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Gleich am Anfang, bei den Worten „So laßt mich scheinen, bis ich werde“ ist dieses Sich-Einfügen der melodischen Linie der Singstimme in den Klaviersatz zu vernehmen. Pianissimo setzt sie auf einem hohen „c“ ein und folgt bei ihrem Weg hinunter zu einem tiefen „e“ genau der Abwärtsbewegung der Akkorde im Diskant. Es ist in ihrer durchgängigen Moll-Harmonisierung und in der Dominanz der fallenden Linie eine klanglich von Ergebung in das Schicksal und sanfter Trauer geprägte Melodik, die da in der ersten Strophe aufklingt. Freilich gibt es in der melodischen Linie auch Andeutungen von Entschiedenheit. Man vernimmt sie bei der zweiten Versgruppe der ersten Strophe. Zwar ist die Grundstruktur der Vokallinie hier noch immer eine fallende, es gibt darin aber immer wieder einmal partielle Aufwärtsbewegungen, und am Ende ereignet sich sogar zu dem lyrischen Wort „Haus“ hin ein mit einer harmonischen Rückung, in der kurz ein Dur aufklingt, verbundener Quintsprung mit nachfolgender Dehnung.

    Mit dem ersten Vers der zweiten Strophe kommt eine gewisse Statik in die Struktur der melodischen Linie. Sie neigt dazu, auf einer tonalen Ebene zu verharren und weicht davon in silbengetreuer Deklamation zunächst nur um Sekunden nach oben und unten ab, bis sich dann der mit den Worten „frische Blick“ verbundene doppelte Sekundsprung mit nachfolgender Dehnung ereignet, der klanglich wie eine Befreiung aus den Zwängen der Moll-Harmonik wirkt. Das Lied wendet sich nach B-Dur hinüber, und das ist auch von der Metaphorik her angemessen: Das lyrische Ich lässt in seiner Imagination alles, was es im Augenblick an irdischer Kleidung trägt, zurück. Bemerkenswert aber: Im letzten Augenblick, bei dem Wort „zurück“ nämlich, schleicht sich das a-Moll wieder in die Harmonik der Vokallinie ein. Holt die reale Welt die Visionen des lyrischen Ichs wieder ein?

    „Sehr leise“ (Anweisung) setzt die Singstimme mit dem ersten Vers der dritten Strophe ein. Das Klavier lässt wieder das fallende Terz-Sextakkord-Motiv erklingen, und die melodische Linie schmiegt sich, wie am Liedanfang, in diese Bewegung ein. Beim zweiten Vers macht sie jedoch am Ende (bei dem Wort „Weib“) einen Quartsprung mit Dehnung, der eine Öffnung für das mit sich bringt, was im dritten Vers mit der Konjunktion „und“ eingeleitet wird: Die Vision des „verklärten Leibs“. Mit einem ausdrucksstarken Sextfall bei dem Wort „keine“ und einer langen melodischen Dehnung auf dem Wort „umgeben“ wird sie musikalisch akzentuiert.

    Mit der letzten Strophe steigert sich die Expressivität des Liedes von Vers zu Vers, bis sie beim letzten ihren klanglich überaus beeindruckenden Höhepunkt erreicht. „Mit immer gesteigertem Ausdruck“, so lautet denn auch hier die Vortragsanweisung. Tonrepetitionen prägen die melodische Linie der Singstimme, wobei der Steigerungseffekt nicht nur dadurch zustande kommt, dass in insistierender Weise auf einer tonalen Ebene deklamiert wird, sondern auch dadurch, dass diese von Vers zu Vers um eine Sekunde und einmal um eine Terz angehoben wird, und dabei ein Crescendo auf das andere folgt. Bei dem Wort „genung“ am Ende des zweiten Verses tritt ein Augenblick der Ruhe in Gestalt einer Dehnung in die Vokallinie, die sich in einer Abfolge von Achteln aufwärts bewegt. Dehnungen dienen auch dazu, lyrisch bedeutsame Worte besonders zu akzentuieren, - „Kummer“ und „altert“ nämlich.

    Bei dem Wort „frühe“ am Ende des dritten Verses macht die melodische Linie zwar einen kleinen Sekundfall, der dient aber nur dazu, dem Terzsprung zu einem hohen „Ges“ bei dem Wort „macht“ eine umso stärkere klangliche Expressivität zu verleihen. Die Singstimme hat jetzt den Forte-Bereich erreicht. Im weiteren Verlauf der Deklamation bleibt sie zunächst auf diesem hohen „Ges“, macht aber bei dem Wort „ewig“ einen überaus ausdrucksstarken doppelten Sekundfall mit Dehnung. Das Wort wird auf diese Weise melodisch stark hervorgehoben. Und als wäre der Expressivität noch nicht genug, ereignet sich auf seiner letzten Silbe ein Oktavfall zu dem Wort „jung“ hin, der mit einer harmonischen Rückung nach A-Dur verbunden ist.

    Dem innigen Wunsch des wieder Jung-Werdens wird mit diesen melodischen Mitteln und der ungewöhnlichen harmonischen Rückung auf höchst beeindruckende Weise musikalischer Ausdruck verliehen. Freilich ist da ein kleines Decrescendo in der Vokallinie. Drückt sich darin Zweifel an der Erfüllbarkeit des Wunsches aus? Das Nachspiel mit seinen a-Moll-Figuren verstärkt diesen Eindruck.

  • „Mignon“: „So laßt mich scheinen“. Vergleichende Betrachtung

    Auch bei diesem Lied soll – und dies zum Ende meiner Ausführungen in diesem Thread - ein vergleichender Blick auf die Vertonungen dieses letzten Mignon-Textes geworfen werden. Dies, wie bei den vorangegangenen Mignon-Liedern, unter der zentralen Frage nach den Unterschieden in der Umsetzung des lyrischen Textes in Musik und das darin sich niederschlagende Verständnis der literarischen Gestalt „Mignon“.

    Schubert hat sich bei seiner Vertonung dieses lyrischen Textes für die Form des variierten Strophenliedes entschieden, und er entfaltet darin eine einfache diatonische Melodik. Man darf vermuten, dass dahinter wohl die Figur der „Mignon steht“, wie sie sich ihm in diesem Gedicht darstellt: Ein Wesen, das in seinem Wunsch, „von der schönen Erde“ zu eilen, um in der Transzendenz zu verklärter Leiblichkeit zu finden, keine komplexe Melodik mehr braucht, um sich zu artikulieren. Es genügen zwei melodische Grundmotive, die sich in leicht variierter Form auf die vier Strophen des Gedichts verteilen.
    Er lässt seine Mignon eine klanglich faszinierende, diatonisch schwebende Melodie anstimmen, die der Gesang eines in seinem Kern naiven, also zwar leidenden, aber reflexiv ungebrochenen weiblichen Wesens ist, das imaginativ im Begriff steht, von dieser schönen Erde hinab zu eilen und eine Verklärung der leiblichen Existenz zu erfahren.

    Schumanns Vertonung dieses Mignon-Liedes ist die neunte, also die letzte in seinem 1849 entstandenen Opus 98a. Das Lied steht in G-Dur, ein Dreiviertel-Takt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Langsam“. Von der Struktur der melodischen Linie her, die, weil sie in ihren Bewegungen immer wieder einmal große Intervalle durchschreitet oder mit Sprüngen überbrückt, erscheint Mignon als ein Wesen, das die Verklärung nicht – wie man das bei Schubert zu hören meint – als einen geheimen Wunschtraum artikuliert, sondern in durchaus expressiver Weise beschwört, - so, als sei die Transzendenz der Ort, wo sie eigentlich hingehört, weil sie dort zu ihrem Wesen findet.

    Schon bei der ersten Melodiezeile ist dieser für das Lied typische melodische Ton zu vernehmen. Nach dem mit G-Dur Akkorden einsetzenden zweitaktigen Vorspiel macht die Vokallinie nach einem kurzen Anstieg zu dem Worte „scheinen“ hin einen verminderten Quintfall und danach noch einmal eine Fallbewegung über eine Quinte, bis dann das Wort „werde“ auf einem gedehnten Sekundfall deklamiert wird. Die Harmonik durchläuft dabei mehrere Modulationen. Wenn man dies im unmittelbaren Vergleich mit dem Einsatz des Schubert-Liedes und seiner diatonisch schwebenden Melodik hört, dann wird der Unterschied im kompositorischen Verständnis dieser Mignon-Gestalt unmittelbar einsichtig.

    Schumann lässt Mignon ihre seelischen Regungen auf immer wieder beeindruckende Weise mit den Mitteln der Melodik zum Ausdruck bringen, gestützt und akzentuiert natürlich auf den jeweils adäquaten Klaviersatz. Er besteht nur an wenigen Stellen aus der Abfolge von Akkorden, zumeist sind es – z.T. triolische – Bewegungen von Achteln, in die zwei- bis dreistimmige Achtelakkorde eingelagert sind. Das, was das Klavier klanglich zur melodischen Linie beizutragen hat, empfindet – auch im Zusammenkang mit den harmonischen Modulationen – als Ausdruck der seelischen vielfältigen seelischen Regungen des lyrischen Ichs.

    Bei den Worten „von der schönen Erde“ beschreibt die melodische Linie eine aus einem triolischen Fallen hervorgehende gedehnte bogenförmige Bewegung, die in einen Quintsprung mündet. Der Vers „Dort ruh´ ich eine kleine Stille“ wird, vom Auf und Ab von Achteln im Klavier getragen und in Moll harmonisiert, in Gestalt von Tonrepetitionen auf drei Ebenen deklamiert, und dann folgt bei den Worten „Dann öffnet sich“ („…der frische Blick“) eine forte auf einem hohen „g“ ansetzende Fallbewegung über große Intervalle. Und diese durchaus expressive Fallbewegung wiederholt sich unmittelbar danach (bei den Worten „ich lasse dann die reine Hülle“) noch einmal, wieder forte einsetzend, - dieses Mal von einer harmonischen Rückung begleitet, die in einem lang gehaltenen Es-Dur-Akkord zum Ausdruck kommt. Ohnehin pendelt die Dynamik des Liedes immer wieder zwischen Piano und Forte hin und her: Auch das Ausdruck der starken seelischen Bewegtheit Mignons.

    Auch in diesem Lied setzt Schumann das Mittel der Wiederholung ein, - allerdings nicht in solch exzessiver Weise wie bei „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Der letzten Melodiezeile liegen die Worte zugrunde: „Macht mich auf ewig wieder jung, / auf ewig wieder jung“. Zunächst macht die Vokallinie eine Fallbewegung in Terzen, aus der sie aber gleich wieder in hohe Lagen aufsteigt.. Am Ende aber, bei der Wiederholung der letzten Worte, beschreibt sie, auf dem höchsten Ton des Liedes (einem „a“) ansetzend, höchst ausdrucksstarke und am Ende in eine Dehnung mündende Sprung und Fallbewegungen. Das Wort „jung“ erklingt auf der lange gehaltenen Tonika.

    Was Schumann aber in gleichsam deklamatorischer Weise mitteilt, das setzt Hugo Wolf in eine Musik, die den Hörer an diesem Weg aus der leidvoll-realen Existenz in die imaginative Verklärung klanglich ganz unmittelbar und zutiefst anrührend teilhaben lässt. Kein anderer Komponist hat, so sehe ich das jedenfalls, das Wesen dieser von Geheimnis umwobenen literarischen Gestalt „Mignon“, wie sie einem in dieser ihrer letzten lyrischen Äußerung begegnet, so vollkommen musikalisch erfasst wie Hugo Wolf in diesem Lied. In ihm wird die visionäre Entrückung, von der der lyrische Text spricht, musikalisch imaginiert. Die Musik folgt jenem Weg von der „schönen Erde“ hinab in das „tiefe Haus“ und leuchtet dabei mit ihrer Melodik und einem in seiner Struktur komplexen Klaviersatz alle Bilder aus, die sich dabei im lyrischen Ich einstellen, wobei die des „realen Lebens“ sich mit jenen vermengen, die aus der Vision eines paradiesischen Lebens kommen.