Aribert Reimann. Eine Betrachtung ausgewählter Liedkompositionen


  • Dass bei der Betrachtung der Liedmusik der zeitgenössischen Moderne neben Wolfgang Rihm unbedingt auch auf Aribert Reimann einzugehen ist, dafür gibt es gleich doppelten Anlass: Er ist wie dieser ein genuiner Liedkomponist, insofern das Lied für ihn ein bedeutendes Medium seines kompositorischen Ausdruckswillens darstellt und infolgedessen von ihm ein umfangsreiches liedkompositorisches Werk vorliegt. Nach meiner Zählung (für die ich aber keine Garantie übernehmen kann), hat er allein für Gesang und Klavier insgesamt achtzehn Werke geschaffen. Das ist weitaus mehr als von anderen Komponisten der Moderne vorliegt und belegt, welch herausragende Bedeutung Liedmusik für ihn hat.

    Der zweite Anlass, sich mit Aribert Reimann als Liedkomponisten näher zu beschäftigen und ihm hier einen eigenen Thread zu widmen, ist die Tatsache, dass ihm nicht nur in seiner spezifischen Liedsprache, sondern in seinem kompositorischen Schaffen ganz allgemein die Rolle eines Außenseiters der musikalischen Moderne zukommt. Von Anfang an stand er zwar den die Musik der Moderne prägenden avantgardistischen Bestrebungen durchaus aufgeschlossen gegenüber, er übernahm sie aber nicht in all ihren Komponenten, sondern ging beharrlich, so sogar trotzig seinen eigenen Weg, der im Fall der Liedkomposition darin bestand, traditionelle liedsprachliche Ausdrucksmittel nicht generell abzulehnen, eben weil sie zu überwindende Vergangenheit darstellen, sondern sie je nach Bedarf für die eigenen kompositorischen Intentionen zu nutzen, sie also in die eigene Liedsprache zu integrieren.

    Seine eigene Position in der kompositorischen Moderne drückte er einmal in diesen Worten aus:
    „Diese Konfrontation mit der seriellen Sprache hat ungeheuer negativ auf mich gewirkt, aber sehr positiv in dieser negativen Erfahrung, weil ich damals schon wusste, diesen Weg kann ich nicht gehen. Und ich wusste ei n halbes Jahr später, ich werde ein Außenseiter. Entweder glückt es mir oder nicht. Ich muss den Weg so gehen, wie ich ihn kompositorisch verantworten kann.“

    In seinem Verhältnis zur Liedmusik wurde er in frühen Lebensjahren stark geprägt durch die Erfahrungen, die er in den Gesangsstunden seiner Mutter machte, in die er als Klavierbegleiter eingebunden war. So lernte er das Repertoire der romantischen Klaviermusik kennen, wobei vor allem derjenigen Schumanns Bedeutung zukam. Für sein eigenes Liedschaffen war aber besonders die Begegnung mit dem der Zweiten Wiener Schule stark prägend. Wohingegen er der Liedmusik der Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre, die er unter anderem in Darmstadt kennenlernte, ablehnend gegenüberstand. Er konnte und wollte ihre regulativen Normen und Prinzipien nicht alle übernehmen.

    Reimanns Liedsprache ist von ganz eigener Art. Sie bezieht ihren spezifischen Charakter ganz und gar vom lyrischen Text her und den Erfordernissen, die sich aus der Absicht ergeben, diesen in seiner Semantik, seiner poetischen Aussage und seinem affektiven Gehalt in allen ihren Dimensionen zu erschließen. Dazu werden je nach Bedarf unterschiedliche musikalische Aussageelemente genutzt, wobei bei der symmetrischen Anlage und der Reihentechnik und Zwölftontechnik die Einflüsse der Wiener Schule, beim Einsatz des Clusters (Komplex mehrerer eng benachbarter Töne), aber auch die von György Ligeti erkennbar sind. Grundsätzlich bevorzugt Reimann bei der Melodik die horizontale Linie. Ihr Zusammenspiel mit dem Klaviersatz ist, weil dieser wie sie selbst Autonomie in Anspruch nimmt, wesenhaft kammermusikalisch angelegt.

    Liedkomposition ist für ihn – und das ist als Feststellung hier bedeutsam - in ihrem Wesen nicht Vertonung von lyrischem Text, sondern die Erschaffung eines eigenständigen musikalischen Werks, die durch einen von diesem ausgehenden Impuls ausgelöst wird. Er beschreibt diesen Vorgang mit den Worten:
    „Es ist ein Wort, eine Farbe, eine Grundstimmung, es ist irgendetwas im Gedicht, das es auslöst. Entweder es löst Musik aus oder nicht, eine Phrase, ein Klang oder etwas, das ich noch entdecken muss. Der Vorgang ist wohl stets der gleiche: Es entsteht irgendetwas im Hintergrund und es muss ein Text sein, der sehr viel offen lässt.“

    Auch wenn das daraus hervorgehende musikalische Werk ein autonomes Gebilde darstellt, reflektiert es gleichwohl doch den lyrischen Text in allen seinen Elementen, von seiner Prosodie über die Struktur der Sprache und den Gehalt der Metaphorik bis hin zu den emotional-affektiven Konnotationen der lyrischen Aussage.

    Dem Melos kommt für Reimann eine ganz besondere Bedeutung zu. Darin unterscheidet er sich nicht nur von Aribert Reimann, er stellt sogar eine Ausnahmeerscheinung unter den Liedkomponisten der zeitgenössischen Moderne dar. Dahinter steht bei ihm die Hoffnung und der Glaube, er könne mit seiner Liedmusik „eine Gegenwelt schaffen, in der wieder der menschliche Ausdruck in seiner einfachsten oder auch kompliziertesten Sprache sich äußert“. Zur Folge hat das nicht nur, dass der Melodik eine wichtige Funktion in der Liedmusik zukommt und sie dabei, soweit der lyrische Text das zulässt, auf gebunden-deklamatorische Entfaltung angelegt ist, es führte auch zu dem singulären Sachverhalt, dass von ihm eine hohe Zahl von Sologesängen ohne jegliche Begleitung durch irgendein Instrument vorliegt.

    Gegenstand der liedanalytischen Betrachtungen in diesem Thread soll Reimanns Liedmusik sein, die in der kompositorischen Auseinandersetzung mit der Lyrik Eichendorff entstand. Dies nicht nur deshalb, weil er sich durch sie - und das hat er mit einem Anderen hier gemein - in besonderer Weise angesprochen fühlte. Es hat noch einen anderen Grund. Gleich zwei Mal hat sich diese Auseinandersetzung ereignet und zu zwei Liederzyklen für Bariton und Klavier geführt. Sie tragen den Titel „Nachtstück“ und „Nachtstück II“, und weil der erste Zyklus 1966 entstanden ist, der zweite aber zwölf Jahre später, lässt sich der Frage nachgehen, ob und in welcher Weise Reimanns Liedsprache eine innere Entwicklung aufweist.

  • Einen der bekanntesten und meistgespielten Komponisten der zweiten Hälfte der Gegenwart, der zahlreiche Schüler hatte, auch unter Sängern, die bei ihm Liedinterpretation studiert haben, und ihn als ihren verehrten Lehrer in höchsten Tönen loben, zum Außenseiter zu stempeln, dazu gehört schon was. Chapeau! Das muss man erst mal hinkriegen.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Das muss man erst mal hinkriegen.

    Wie das so ist, seinen Namen habe ich gelegentlich gehört, ein Werk von ihm noch nie, insofern ist das alles eine Frage der Perspektive: persönliche Wahrnehmung vs. Statistik.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ich habe einmal Aribert Reimann in der Liedbegleitung erlebt. Ich kenne seine Einspielung des Schoenbergschen Klavierwerkes und war einmal in der Oper Lear. Ansonsten ist für mich Reimann nur ein Name. Bei seinem kürzlichen Tod habe ich gelesen, dass er wohl zu den großen Opernkomponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört.


    Dabei bin ich wahrscheinlich hier im Forum noch jemand, der der Moderne recht aufgeschlossen gegenübersteht.


    Ich bin auf jeden Fall interessiert, etwas über seine Liedvertonungen zu erfahren.

  • ... insofern ist das alles eine Frage der Perspektive: persönliche Wahrnehmung vs. Statistik.

    Das Konzept, das diesem Thread zugrunde liegt, ist - wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf, geschätzter Thomas Pape - nicht das der "persönlichen Perspektive", sondern das einer auf objektive Sachlichkeit ausgerichteten liedanalytischen Betrachtung.

    Aus statistischer Perspektive ist Aribert Reimann in der Tat der bekannteste und meistgespielte Komponisten der zweiten Hälfte der Gegenwart. Aber um den Komponisten Reimann ganz allgemein geht es hier gar nicht, sondern um seine Liedmusik. Und was diese betrifft, so ist der objektive Sachverhalt festzustellen, den ich in der Einführung zu diesem Thread mit den Worten beschrieben habe:

    "Von Anfang an stand er zwar den die Musik der Moderne prägenden avantgardistischen Bestrebungen durchaus aufgeschlossen gegenüber, er übernahm sie aber nicht in all ihren Komponenten, sondern ging beharrlich, so sogar trotzig seinen eigenen Weg, der im Fall der Liedkomposition darin bestand, traditionelle liedsprachliche Ausdrucksmittel nicht generell abzulehnen, eben weil sie zu überwindende Vergangenheit darstellen, sondern sie je nach Bedarf für die eigenen kompositorischen Intentionen zu nutzen, sie also in die eigene Liedsprache zu integrieren."


    In der Tat stand Reimann als Liedkomponist (auch als Komponist ganz allgemein) aus grundsätzlichen Erwägungen seitab vom europäischen Serialismus, wie er in Deutschland in dominanter Weise von der "Darmstädter Schule" repräsentiert wurde und über dem die Vermeidung, ja das Verbot der Verwendung gleichsam gebrauchsfertiger Ausdrucksmittel (Adornos "Kanon des Verbotenen") wie ein Motto schwebte. Diesem Motto beugte Reimann sich nicht. In diesem Sinn ist mein in keiner Weise wertend eingesetzter Begriff "liedmusikalischer Außenseiter" zu verstehen.


    Dies im Einzelnen aufzuzeigen und nachzuweisen ist Absicht und Ziel dieses Threads. Der Aspekt der Rezeption seines kompositorischen Schaffens, zu dem ja auch die Beliebtheit gehört, bleibt dabei völlig außen vor.

  • sondern in seinem kompositorischen Schaffen ganz allgemein die Rolle eines Außenseiters der musikalischen Moderne zukommt.

    Im August 2018 schrieb ich aus Anlass eines Grabbesuches in München über Wilhelm Killmayer:


    »Killmayer galt als der große Außenseiter der Neuen Musik, wurde aber über viele Jahre hinweg zu den besten deutschen Tonsetzern gezählt und auch von Kollegen wie zum Beispiel Aribert Reimann, Helmut Lachenmann oder Wolfgang Rihm sehr geschätzt.«


    Sind die ›Modernen‹ nicht alle irgendwie Außenseiter?

  • Sind die ›Modernen‹ nicht alle irgendwie Außenseiter?

    Das sind sie natürlich, lieber hart, wenn man, wie wir alten Liedfreunde das ja gar zu gerne tun, ihre Liedsprache aus der des traditionellen romantischen Klavierliedes hört und in ihrer kompositorischen Faktur betrachtet und beurteilt.

  • „Nachtstück“ für Bariton und Klavier

    Dieser Zyklus auf Texte von Eichendorff wurde 1966 für den Bariton Peter-Christoph Runge komponiert und von diesem 1967 in Nürtingen zusammen mit Reimann am Klavier uraufgeführt. Er besteht aus fünf Liedern, die ohne Pause ineinander übergehen. Die zugrundeliegenden Texte, die drei Mal aus nur einer Strophe bestehen, beim dritten, gleichsam das Zentrum bildenden Lied aber aus vier und beim vierten Lied aus zwei Strophen, wurden zwei Werken Eichendorffs entnommen: Lied zwei und vier dem von Eichendorff selbst zusammengestellten Zyklus „Nacht“, die anderen dem Roman „Dichter und ihre Gesellen“.

    Reimann unternimmt in seinem Zyklus gleichsam eine Art liedmusikalischen Gang durch die Nacht, wie sie sich ihm in Eichendorffs Lyrik darstellt, und er ordnet sich damit ein in die lange, geradezu endlose Reihe von Lyrikern und Komponisten, die sich seit der Romantik mit dem Thema „Nacht“ künstlerisch auseinandergesetzt haben. Nacht wird dabei in der ihr eigenen Bipolarität zum Gegenstand: Als Raum der bergenden, den Menschen zur Einkehr in sich selbst und zur Offenheit für die Unendlichkeit finden lassenden Ruhe einerseits, und als Ort des Ausgeliefert-Seins an das Unheimliche, Fremde und Bedrohliche auf der anderen Seite.
    Beide Seiten sind in der Rezeption von Eichendorffs Lyrik zu erfahren, und Reimanns Interesse richtet sich vor allem auf diese zweite Seite von „Nacht“, weil es für ihn da um die existenzielle Gefährdung von Mensch-Sein geht. Und wie groß dieses Interesse ist, zeigt sich darin, dass er sich dem Thema „Nacht“ kompositorisch noch drei weitere Male zugewandt hat: In dem - bereits erwähnten und hier zur Besprechung anstehenden - Liederzyklus „Nachtstück II“, der 1988 entstandenen Komposition für Klavier zu vier Händen und Sopran „Nacht-Räume“ und der James Joyce-Vertonung „Nightpiece“ für Sopran und Klavier von 1992.

    Eichendorff rezipiert er, wie man ihn heute liest, nachdem die Literaturwissenschaft, aber vor allem Adorno in seinem Rundfunk-Vortrag und dem darauf beruhenden Akzente-Artikel „Zum Gedächtnis Eichendorffs“ von 1957 das Wese seiner Lyrik erschlossen hat.
    „Die Erfahrung des modernen Elements in Eichendorff, das heute wohl erst offen liegt, führt am ehesten ins Zentrum des dichterischen Gehalts. Es ist wahrhaft antikonservativ: Absage ans Herrschaftliche, an die Herrschaft zumal des eigenen Ichs über die Seele. Eichendorffs Dichtung läßt sich vertrauend treiben vom Strom der Sprache ohne Angst, in ihm zu versinken“, so Adorno.

    Und Claudia Öhlschläger knüpft in ihrem Aufsatz zur Poetologie von Eichendorff von 1999 an Adorno an, wenn sie, ihn zitierend, feststellt:
    „Wenn die Sprache an ihre Bedeutsamkeit stößt, wo sie die größte Bilderflut entfacht, gibt sich Eichendorffs Dichtung dort am verschwiegensten, wo Bilder die Szenerie beherrschen. In der >Kraft des Ungesagten<, im >Augenblick des Aufblitzens einer gleichsam noch in sich erzitternden Dingwelt<, entäußert sich Eichendorffs >allegorische Intention< (Adorno), alles in Bilder zu verwandeln.“

    Eben daran, an Eichendorffs Bildern, die Adorno auf höchst treffende Weise mit den Worten charakterisiert hat „Keines (…) ist nur das, was es ist, und keines läßt sich doch auf seinen Begriff bringen“, setzt Reimann mit seiner Liedmusik an, und in Zusammenhang damit an der klanglichen Sinnlichkeit seiner diese Bilder ins Wort fassenden lyrischen Sprache.

    Und das ist nun aufzuzeigen, angesichts all der Probleme, vor die sich der musikwissenschaftliche Laie bei dem Versuch gestellt sieht, zeitgenössische Musik in ihrer kompositorischen Faktur und deren Aussage in adäquater Sprachlichkeit darzustellen. Das wird nicht immer in sachlich hinreichender und korrekter Weise gelingen.


    Lied 1: „Wir ziehen treulich auf die Wacht“

    Wir ziehen treulich auf die Wacht,
    Wie bald kommt nicht die ew'ge Nacht
    Und löschet aus der Länder Pracht,
    Du schöne Welt, nimm dich in Acht!

    Die lyrische Aussage erfährt durch prosodische Geschlossenheit der Strophe In Gestalt eines durchgängig vierfüßigen Jambus und nur eines Reims auf die Silbe „-acht“ eine starke Eindringlichkeit. Die Nacht wird als etwas fundamental Bedrohliches erfahren. Schon dem mit den Worten „Wie bald“ eingeleiteten zweiten Vers wohnt ein Anflug von Warnung inne, die dann im vierten Vers explizit wird und eine Konkretisierung erfährt. Nacht kann zur „ewigen“ werden und als solche zerstörerisch, insofern sie „der Länder Pracht“ auszulöschen vermag. „Wacht“ ist deshalb geboten, obgleich sie ja doch im Grunde dagegen nicht mehr auszurichten vermag, als diesen Sachverhalt ins Bewusstsein zu rufen.

    Reimanns Liedmusik auf diese Verse weist im Notentext nur die mit einem Achtelnotenzeichen versehene Angabe „ca. 96“ auf, sonst weiter nichts, was bedeutet, dass sie in ihrer Harmonik atonal angelegt ist.
    Mit einem fünftaktigen Vorspiel setzt sie ein, dies im Piano, das aber im Diskant schon nach dem ersten Takt in ein Mezzoforte übergeht. Es ist hochkomplex, was allein schon daraus ersichtlich wird, dass die aus Achteln und Sechzehnteln gebildeten und anfänglich triolisch angelegten Figuren in den Bass absinken, dort aber durch Terzen in extrem tiefer Basslage ergänzt werden, die pianissimo auszuführen sind.

    Es ist ganz offenkundig, dass dem Klavier eine höchst wichtige Funktion in der Genese der den lyrischen Text interpretierenden musikalischen Aussage zukommt. Man sieht sich also vor die Aufgabe gestellt, diese Aussage zu erfassen, und konkret heißt das, die musikalischen Figuren als solche zunächst beschreiben, und alsdann in dem zu deuten, was sie selbst und in ihrer Aufeinanderfolge zu sagen haben. Das muss zwangsläufig, und das ist das große Problem dabei, mit sehr viel Subjektivität einhergehen.


  • „Wir ziehen treulich auf die Wacht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Mit einem Sturz von Sechzehnteln, einem vierstimmigen Achtelakkord und einem Viertel in die Tiefe der besagten Pianissimo-Terz setzt das Vorspiel ein, um im im zweiten Takt in ein Auf und Ab in partiell verminderten Sekundintervallen auf der Ebene eines „C“ in tiefer Diskantlage überzugehen, das sich in Cis-Tonalität ereignet und sich im dritten Takt in Basslage fortsetzt, wobei man ein fis-Moll zu vernehmen meint. Und wieder klingt die abgrundtiefe Pianissimo-Terz auf. Im vierten Takt ereignet sich dann in Gestalt einer Sechzehntel-Achtel-Sprungfigur ein Aufstieg in hohe Lage, und dieser geht dann im Diskant, und dies nun piano, in einen rasanten, und nach einem Fall neu ansetzenden Sekundanstieg von Sechzehnteln über, der in einem neuerlichen Auf und Ab in hoher Lage endet. Eine fast zweitaktige Pause im Klaviersatz folgt nach, in der die melodische Linie der Singstimme einsetzt.

    Was vernimmt man in diesem Vorspiel?
    Es könnte eine klangliche Imagination der Aspekte der lyrischen Aussage sein. Drei Figuren prägen es: Das triolische Auf und Ab über Sekundintervalle, der über ein großes Intervall erfolgende Sekundanstieg und die über große Intervalle sich erstreckende Sprungbewegungen. Die erste und die zweite Figur erklingen in variierter Gestalt im dreitaktigen Zwischenspiel vor dem Einsatz der Melodik des zweiten Verses noch einmal, und darin könnte sich die innere Unruhe der mit dem „Wir“ gemeinten Menschen gegenüber der Nacht und das Aufziehen derselben ausdrücken.
    Diese Deutung ist naheliegend, weil im der Melodik des zweiten Verses zugeordneten Klaviersatz die Sechzehntel-Sekundanstiegsfigur gleich drei Mal erklingt, bei zweiten Mal als Kombination aus Anstieg im Diskant und Fall im Bass. In der Sprungfigur imaginierte sich dann das Unheimliche und Bedrohliche der Nacht.

    Diese drei durchweg dissonant harmonisierten Figuren prägen in immer neuen Varianten den Klaviersatz, wobei die ansteigend angelegte Sechzehntelkette nur im Klaviersatz der ersten beiden Melodiezeilen vorhanden ist, in dem der dritten und vierten aber nicht mehr auftaucht. Und das entspricht ja auch der Aussage des lyrischen Texts, denn da geht es nicht mehr um das „Kommen“ der Nacht, sondern um das, was sie mit sich bringt. Die ihre Unheimlichkeit verkörpernden Sprungbewegungen dominieren aber schon im Zwischenspiel vor der Melodik auf den Worten des dritten Verses und werden dabei deutlich expressiver, weil über größere Intervalle erfolgend in hohe Diskantlage sich steigernd und durch Arpeggien ergänzt. In dieser Weise setzt sich der Klaviersatz in der dritten Melodiezeile fort.

    Dass man diese über kleine Sechzehntelketten miteinander verbundenen Achtel-und Sechzehntel-Sprungfiguren als klangliche Evokation des Wesens der Nacht verstehen kann und darf, zeigt sich darin, dass sie häufig mit in tiefe Basslage abstürzenden Sechzehntelketten verbunden sind und zwei weitere Male mit den im Vorspiel und im ersten Zwischenspiel erstmals aufklingenden Pianissimo-Terzakkorden in extrem tiefer Basslage. Sie muten an wie die klangliche Inkorporation von Unheimlichkeit, und eben deshalb setzt Reimann diese Figur an den Anfang des nach der dreitaktigen A-Capella-Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten des vierten Verses neu aufklingenden Klaviersatzes.
    Es ist offensichtlich: Dem Klaviersatz kommt, als autonome Begleitung der Melodik, die Funktion einer ganz und gar eigenständigen klanglichen Imagination und Interpretation der lyrischen Aussage zu.

    Der melodischen Bewegung auf den Worten des ersten Verses wohnt eine innere Unruhe inne, weil alle Schritte als triolische angelegt sind. Und sie erfährt eine Steigerung durch den zugehörigen Klaviersatz, der auf der melodischen Dehnung auf der Silbe „treu-“ mit einem in hoher Diskantlage einsetzen Fall von zwei aus einer Oktave sich lösenden Sechzehnten einsetzt. Er besteht im Diskant aus einer bogenförmig angelegten Kette von Sechzehnteln in hoher Lage, die im Bass von einer steigend angelegten Folge von Achteln begleitet wird. Bei den Worten „auf die Wacht“ beschreibt die melodische Linie einen triolischen Anstieg über eine verminderte Sekunde und eine Quinte zur tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage, um dort bei „Wacht“ in eine lange Dehnung überzugehen, die diesem Wort eine starke Akzentuierung verleiht. Auch diese unterstützt das Klavier wieder, indem es einen komplexen, vom hohen Diskant in den tiefen Bass sich erstreckenden Fall von Achteln und Sechzehnten erklingen lässt, in den sogar ein Arpeggio eingelagert ist.
    Das nachfolgende zweieinhalbtaktige Zwischenspiel besteht wieder aus dem partiell triolischen Auf und Ab auf der Ebene eines „Cis“ in tiefer Lage, wie es im Vorspiel schon aufklang, und es wird von dem nun dreistimmigen Pianissimo-Terzenakkord in extrem tiefer Basslage begleitet, dem in diesem Lied eine wichtige Funktion zukommt: Die, so würde ich das deuten, einer klanglichen Evokation des untergründig Unheimlichen von Nacht.

  • „Wir ziehen treulich auf die Wacht“ (II)

    Der Melodik auf den Worten „Wie bald kommt nicht die ew'ge Nacht“, dem zweiten Vers also, geht eine in Sekund- und Terzintervallen steigend angelegte Sechzehntelkette voraus, die wohl das „Kommen“ der Nacht klanglich verkörpern soll, denn die melodische Linie setzt in ihrem letzten Teil ein. In wie enger Anbindung an die Semantik des lyrischen Textes Reimann seine Melodik gestaltet, zeigt sich hier darin, dass die Melodik bei den Worten „wie bald kommt nicht“ aus einem strikt wortgebundenen ruhigen Auf und Ab über kleine Intervalle in oberer Diskantlage besteht. Der lyrische Text spricht ja nicht von einem unmittelbar bevorstehenden realen Kommen der Nacht, sondern, wie es das eingelagerte „nicht“ zum Ausdruck bringt, von dem Kommen als allgemeinem Ereignis. Und der gleichsam schwebend angelegten melodischen Linie entsprechend, besteht der Klaviersatz auch hier aus einem, deren Bewegungen gleichsam mitvollziehenden quintolischen Auf und Ab von in großen Intervallen bitonal angelegten Achtel-Folgen im Diskant bei Leere im Bass. Dort setzt das Klavier erst wieder bei der Melodik auf den nachfolgenden Worten „nicht die ew´ge Nacht“ ein, und im Diskant geht es ebenfalls wie hier im Bass zu unruhigen Sechzehntel-Figuren über.

    Dazu gibt es allen Grund, denn die ohnehin schon wesenhaft unheimliche Nacht wird hier ja sogar als „ewige“ lyrisch imaginiert. Und das hat zur Folge, dass sich die melodische Linie in dem ihr ohnehin innewohnenden Aufstiegs-Gestus zu noch größerer Expressivität steigert. Nun vollzieht sie einen quintolischen Anstieg über erst über eine Terz, dann über eine Quarte hoch zu tonalen Ebene eines „H“, beschreibt dort bei „ew´ge einen gedehnten Sekundanstieg, der diesem Wort einen eigenartigen Akzent verleiht, weil er auf dessen letzter Silbe in einen mit einem eingelagerten Vorschlagen versehenen Quartfall aus Sechzehntel- und punktiertem Viertelschritt übergeht. Aber er scheint nur dazu zu dienen, die Expressivität dessen zu potenzieren, was sich nachfolgend auf dem Wort „Nacht“ liedmusikalisch ereignet.

    Die melodische Linie beschreibt einen lang gedehnten Legato-Fall von der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage über die eines „Es“ und eines „D“ zu der eines „Cis“. Das Klavier begleitet das mit ansteigenden Achteln im Diskant und einem ausdrucksstarken Sekundschritt- Fall von vierzehn Sechzehnteln in extrem tiefe Basslage, wobei sich harmonisch eine dissonante Rückung von den Tonalitäten „A“ über „H“ nach Cis“ ereignet. Die irrlichternde Unheimlichkeit von „Nacht“ findet hier geradezu beängstigend starken Ausdruck. Man fühlt sich an Schumanns „Zwielicht“ erinnert.
    Klanglichkeit irrlichternd mutet auch das nachfolgende fast dreitaktige Zwischenspiel mit seinem Fall von quartolischen und quintolischen Sechzehntel- und Achtel-Sprungfiguren aus bitonalen Akkorden von großem Intervall und Einzeltönen an, in das ein Arpeggio eingelagert ist und zu dem wieder der nun vierstimmig-dissonante Terzenakkord in extremer Basstiefe im üblichen Pianissimo erklingt.

    Die Melodik auf den Worten des dritten Verses soll mezzoforte vorgetragen werden. Sie ist in zwei kleine, durch eine Achtelpause voneinander abgesetzte Zeilen untergliedert. Auf den Worten „und löschet aus“ beschreibt die melodische Linie einen Anstieg über zwei Quarten, der in einen Legato-Fall über eine verminderte Septe übergeht, dem ein Sprung über eine nun große Septe zur tonalen Ebene eine „H“ in hoher Lage nachfolgt, auf der sich dann eine lange Dehnung auf dem Wort „aus“ ereignet. Sie verleiht ihm, zusammen mit der in ein Arpeggio mündenden quintolischen Sprungfigur aus Sechzehnteln, starken Ausdruck. Und wieder erklingt die unheimliche Terzen-Bassfigur, hier in der gleichen Gestalt wie zuvor gerade im Zwischenspiel.

    Die in der Achtelpause aufklingende Figur aus einem nun fallend angelegten Auf und Ab von Sechzehnteln mutet, obgleich natürlich ebenfalls dissonant, klanglich heller an, und reflektiert darin das nun folgende lyrische Bild von „der Länder Pracht“. Hier geht die melodische Linie, ebenfalls dessen affektiven Gehalt aufgreifend, nach einem relativ ruhigen, weil anfänglich leicht gedehnten dreischrittigen, und sogar mit einem melismatischen Vorschlag versehenen Sekundfall mit einem verminderten Quintsprung zu einer langen Dehnung langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „C“ in hoher Lage über. Sie wird vom Klavier im Diskant mit geradezu leichtfüßig anmutenden Septolen aus Staccato-Achteln begleitet, die nach einem Sekundanstieg in ein Auf und Ab in Sekundschritten übergehen und dabei Cis-Tonalität entfalten. Das Wort „Pracht“ erfährt auf diese Weise eine tiefgreifende Auslotung seines semantischen und affektiven Gehalts.

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  • „Wir ziehen treulich auf die Wacht“ (III)

    Wie schon beschrieben, folgt dieser dritten Melodiezeile kein sie kommentierendes Nach- und Zwischenspiel. Die Septolen-Staccato-Figur im Diskant klingt aus, und das Klavier verfällt danach in ein fast drei Takte währendes Schweigen.
    Ich meine, dass das so aufzufassen ist, dass Reimann die nachfolgende melodische Aussage als unmittelbare Folge aller vorangehenden Aussagen verstanden wissen will. Die Melodik auf den Worten des letzten Verses setzt also a cappella ein, und in dieser Weise entfaltet sie sich auch in einer für diese Liedmusik ungewöhnlich langen Zeit, nämlich über die Worte „du schöne Welt“ hin. Ihnen wird auf diese Weise ein geradezu herausragendes musikalisches Gewicht verliehen. Und das geschieht auch durch die Struktur der sie aufgreifenden melodischen Linie.

    Diese weicht sowohl in ihrer Grundgestalt, wie auch deklamatorischen Binnenstruktur deutlich von den vorangehenden Melodiezeilen ab. Anders als diese, die in ihrem sprunghaften Auf und Ab einen Anstieg beschreiben und darin am Ende aufgipfeln, ist sie als kontinuierliche Fallbewegung angelegt. Und sogar eine, die über das sehr große Intervall einer Dezime erfolgt. Die melodische Linie setzt bei dem Wort „schöne“ auf dem höchsten Ton des Liedes, einem zweigestrichenen „Fis“ an, beschreibt auf diesem einen gedehnten Sekundfall, senkt sich auf „Welt“ auf triolische, weil mit einem Vorschlag versehene Weise über eine Terz zu einer weiteren Dehnung ab und setzt diesen Gestus nach einer Sechzehntelpause auf dem Wort „nimm“ fort, indem sie auf diesem eine Sekunde tiefer wieder in eine Dehnung übergeht. Auf den Worten „dich in Acht“ weicht sie aber davon ab, um der diesem Vers innewohnenden Warnungs-Appell Ausdruck zu verleihen. Nach einem Quintfall senkt sie sich über Terz noch weiter bis zur tonalen Ebene eines „Ais“ in mittlerer Lage ab, um danach zu dem Wort „Acht“ hin einen Sekundanstieg zu vollziehen und in eine kleine Dehnung überzugehen.

    Das ist eine Melodik, die den Worten dieses vierten Verses eine hohe Eindrücklichkeit verleiht, weil sie sich in weitgreifender Phrasierung und mittels gedehnter Schritte über Sekundintervalle absenkt, dabei den Worten „schöne“ uns „Welt“ eine Akzentuierung verleiht, um schließlich in einen radikaleren Fall überzugehen und in einem Sekundanstieg zu enden. Auf diese Weise kommt ein Anflug von Drohung in diesen appellativen Warnruf. Und prompt setzt das Klavier in der Sechzehntelpause vor dem Wort „nimm“ mit seinem unheimlichen tiefen Pianissimo-Akkord im Bass ein. Es ist dieses Mal sogar ein fünfstimmiger in Terzen, und er ist mit der Vortragsanweisung „Ped.“ versehen. Danach lässt das Klavier im Diskant einen zur melodischen Linie gegenläufigen, und sie in ihrer Aussage damit akzentuierenden quintolischen Anstieg von partiell gedehnten Achteln und Vierteln erklingen.

    Diese letzte Melodiezeile spricht Eichendorffs Verständnis von „Nacht“ in seinem Wesenskern an, ihrer zwielichtigen, und darin existenziell bedrohliche Ambiguität, und sie verleiht dem auf geradezu erschreckende Weise Ausdruck. Das fünftaktige Nachspiel mutet wie eine Bekräftigung der melodischen Schlussaussage an. Aus tiefer Basslage steigen gedehnte Einzeltöne über Quint- und verminderte Quartintervalle in hohe Diskantlage auf, um dann pianissimo einen vierschrittigen Staccato-Anstieg in extreme Höhe zu vollziehen und darin im letzten verminderten Sekundschritt abrupt zu enden.

  • und darin im letzten verminderten Sekundschritt abrupt zu enden.

    Ich kenne das Lied nicht, aber ein "verminderter Sekundschritt" wäre hörbar zweimal derselbe Ton, also z.B. h-ces oder fis-ges. Hört das Lied tatsächlich so auf?

  • Das ist eine interessante Fragestellung, hier kann man das ganz gut nachhören, vielleicht ist das hilfreich - es scheint mir nicht zweimal derselbe Ton zu sein, sondern einen Halbton höher. Wie würde man das dann bezeichnen? Kleines Sekundintervall?


    Ansonsten finde ich Helmuts Darstellung und Interpretation sehr interessant, ich hatte bisher noch gar keinen Kontakt zu den Liedern Reimanns, das ist sehr spannende Musik!

  • Wie würde man das dann bezeichnen? Kleines Sekundintervall?

    Ja, das wäre eine kleine Sekund. Theoretisch könnte es auch als übermäßige Prim notiert sein, aber das ist eher unwahrscheinlich ;).


    Um die Verwirrung hoffentlich aufzulösen, ein Beispiel:

    • g - a = große Sekund
    • g - as oder gis - a = kleine Sekund
    • g - ais oder ges - a = übermäßige Sekund
    • gis - as = verminderte Sekund
    • as - a oder g - gis = übermäßige Prim
  • Ja, das ist halt eine kleine Sekunde.


    Ich könnte mir zumindest vorstellen, dass man von einem verminderten Sekundschritt sprechen könnte, wenn es vorher lauter große Sekunden waren - also eine Ganztonleiter etwa. Oder irgendeine Form enharmonischer Verwechslung. Falls aber jetzt der Eindruck entstehen sollte, ich würde etwas von Harmonielehre verstehen über die Anfänge hinaus, dann muss ich das leider von mir weisen - leider!


    Ansonsten eine sehr interessante Begegnung mit modernen Klängen, für die ich mich bei Helmut Hofmann bedanken möchte.


    :thumbup: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Die Erklärung, die Christian soeben formuliert hat, kann ich nachvollziehen. Und genau so etwas meine ich, wenn ich von enharmonischer Verwechslung spreche. Allerdings passt das zu Hörende eben nicht dort hinein.

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Im Grunde genommen sind die Unterscheidungen der Intervalle nur bei tonal gebundener Musik sinnvoll, denn sie basieren ja auf der Tonleiter: Eine große Terz ist das Intervall zwischen Grundton und drittem Ton, eine kleine Terz dessen halbtönige Verkleinerung, eine übermäßige seine Vergrößerung usw.. Deshalb ist z.B. f-as eine kleine Terz, aber f-gis eine übermäßige Sekund. Das ist spätestens bei Zwölftonmusik aber ein Anachronismus, denn da sind ja gerade alle zwölf Halbtöne gleichberechtigt, und ob ein Komponist as oder gis schreibt, hat höchstens praktische Gründe.

  • Ich kenne das Lied nicht, aber ein "verminderter Sekundschritt" wäre hörbar zweimal derselbe Ton, also z.B. h-ces oder fis-ges. Hört das Lied tatsächlich so auf?

    Alles zurück! Ich bin in das zweite Lied geraten.

    Auf den Worten "nimm dich in Acht" liegt (im Bassschlüssel) eine Dehnung auf der Ebene eines hohen "Ges", und dann ereignet sich in Gestalt einer Triole zu "dich" hin ein Quintfall und einer über eine verminderte Terz, dem zu dem Wort "Acht" hin ein Schritt aufwärts von einem "Ais" zu einem "His" nachfolgt.

    Ich bitte um Entschuldigung!

  • Die Melodik ist im Bassschlüssel gesetzt, dementsprechend meine Angaben.

    Die Liedmusik auf den Schlussworten "wohin es geht" stellt sich wie folgt dar:


    Auf der zweiten Silbe von "wohin" liegt eine Dehnung in Gestalt eines punktierten und eines normalen "H" im Wert eines Achtels, die legato vorzutragen sind, auf "es" liegt ein "Ais" im Wert eines Viertels, und zu dem Wort "geht" hin vollzieht die Melodik von diesem "Ais" aus einen Fall zu einem punktierten "A", dem im nächsten Takt ein weiteres "A" nachfolgt, wobei diese beiden "A" im Wert eines punktierten Viertels wieder mit einem Legato-Bogen verbunden sind, also eine relativ lange melodische Dehnung darstellen.

    Das Klavier lässt dazu nur im Bass (der Diskant bleib leer) pro Takt einen Achtel-Nonenfall erklingen, dann einen Achtel-Sprung über eine verminderte Septe und eine Sekunde, schließlich (also auf der Schlussdehnung) einen großen Undezimensprung und im letzten Takt der Melodik (also auf dem zweiten "C" einen Achtel-Fall über eine Terz und eine verminderte None.

    Das ist sehr interessant :). Aber darum ging es gar nicht: Du hattest geschrieben, das letzte Intervall im Klaviernachspiel sei ein "verminderter Sekundschritt". Das wunderte mich, weil es bedeuten würde, dass zweimal derselbe Ton angeschlagen wird, der aber unterschiedlich notiert wäre, also z.B. gis-as. Inzwischen hat sich ja herausgestellt, dass das nicht der Fall ist, sondern dass es sich um einen kleinen Sekundschritt handelt.

  • Aber darum ging es gar nicht: Du hattest geschrieben, das letzte Intervall im Klaviernachspiel sei ein "verminderter Sekundschritt". Das wunderte mich, weil es bedeuten würde, dass zweimal derselbe Ton angeschlagen wird, der aber unterschiedlich notiert wäre, also z.B. gis-as. Inzwischen hat sich ja herausgestellt, dass das nicht der Fall ist, sondern dass es sich um einen kleinen Sekundschritt handelt.

    Ich bitte nochmals um Entschuldigung.

    In den beiden letzten Takten des Nachspiels lässt das Klavier im Diskant folgende Töne erklingen:

    Ein aus dem vorangehenden Takt herüberklingendes, also länger gehaltenes "B" in hoher Lage, dann folgt im Pianissimo nach ein Staccato-Achtel-Anstieg von einem hohen "D" zu einem "E", dann zu einem "G" und schließlich (also letzter Ton) zu einem "Gis".

    Es handelt sich also tatsächlich umeine kleine Sekunde. Im Bass herrscht Stille, und nach einer fermatierten Viertelpause folgt das Vorspiel zum zweiten Lied.

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  • dann zu einem "G" und schließlich (also letzter Ton) zu einem "Gis"

    Ok, das ist dann wie gesagt eine übermäßige Prim. Wenn man das Gis enharmonisch zu As verwechseln würde (oder das G zu Fisis), würden dieselben Töne eine kleine Sekund bilden. Um allen Problemen zu entgehen, kann man natürlich einfach von einem Halbtonschritt sprechen ;).

  • Um allen Problemen zu entgehen, kann man natürlich einfach von einem Halbtonschritt sprechen ;).

    So hätte ich in der Tat verfahren müssen.

    Ich bedanke mich für die - freundlicherweise indirekt erfolgte, also gar nicht beabsichtigte - Belehrung in Harmonik, das Intervall in seinen fachterminologischen Varianten von "klein" und "vermindert" betreffend.

  • Lied 2: „Die Vöglein, die so fröhlich sangen“

    Die Vöglein, die so fröhlich sangen,
    Der Blumen bunte Pracht,
    's ist alles unter nun gegangen,
    Nur das Verlangen der Liebe wacht.

    Man kann diese Verse als Fortsetzung der vorangehenden vier lesen. Das Imperfekt der ersten beiden deutet schon an, dass die dort noch als heraufziehend thematisierte und einen Warnruf auslösende „Nacht“ nun eingetreten ist, und der dritte Vers macht dies ja dann auch explizit. Bemerkenswert aber die Art und Weise, in der das geschieht. Die Nacht könnte das fröhlich-bunte Leben, den Gesang der Vögel und die Pracht der Blumen ja bergend in sich aufnehmen und das Leben zur Ruhe finden lassen. Für Eichendorff bringt „Nacht“ aber hier Untergang mit sich, und er weitet diesen sogar ins Kosmische aus, indem er ihn mit dem Wort „alles“ verbindet.

    Die den Inbegriff von Leben verkörpernde „Liebe“ tritt im vierten Vers zwar als lyrischer Kontrapunkt auf, und Eichendorff lässt deshalb das vorangehende jambische Metrum in ein daktylisches übergehen. Sie erfährt darin aber gleichsam eine Relativierung dadurch, dass sie nicht selbst wachend der Nacht gegenübertritt, sondern nur das Verlangen nach ihr. Man kann das aber immerhin so interpretieren, dass das Leben sich der Nacht gegenüber behaupten will, insofern das Verlangen, es zu leben, Bestand hat. Das ist, darauf sei hier nur nebenbei verweisen, dieselbe lyrisch-gedankliche Figur wie Eichendorffs „Sehnsucht“.

    Angesichts der semantischen Zugehörigkeit dieser Vierer-Versgruppe zur vorangehenden ist es ein höchst bemerkenswerter, ja sogar erstaunlicher Sachverhalt, dass die zugehörige Liedmusik ihren Rezipienten in einem fundamental anderen Klangbild entgegentritt. Standen dort Melodik und Klaviersatz bei all ihrer Eigenständigkeit gleichwohl in einem Bezug zueinander, waren sogar partiell miteinander verwoben, so entfalten sie sich hier bei den ersten drei Versen auf zwei, ja sogar wegen der Eigenständigkeit von Diskant und Bass im Klavier drei autonomen, einander nicht tangierenden Ebenen, so dass sich der Eindruck einstellt, die Melodik trete in einen vom Klavier klanglich auf überaus feine, weil mit mittels Einzeltönen in extreme Diskant- und Basslage Weise evozierten Klangraum ein. Die Liedmusik des vierten Verses bietet dann aber, darin die lyrischen Gegebenheiten reflektierend, ein sich davon abhebendes Klangbild. Das wäre nun Gegenstand einer genaueren Beschreibung und analytischen Betrachtung.


  • „Die Vöglein, die so fröhlich sangen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die sechs Takte Klaviersatz, die dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme vorausgehen, stellen kein „Vorspiel“ im Sinn des herkömmlichen Klavierlied-Modells dar. Dieses liegt Reimanns Liedkompositionen gar nicht zugrunde. Klaviersatz und Melodik fungieren als autonome Faktoren eines musikalischen Satzes. Dass diese Komposition, wie das ja auch bei den drei anderen dieses zyklischen Werkes der Fall ist, mit einem mehrtaktigen Klaviersatz einsetzt, lässt in diesem Fall in besonderer Weise sinnfällig werden, welche Funktion dem Klaviersatz in Reimanns Liedmusik zukommt. Denn das Besondere ist hier seine Struktur. Sie weicht auf markante Weise von der der drei anderen Lieder ab.

    In extrem hoher Diskantlage, auf der tonalen Ebene eines sehr hohen „F“ ansetzend und sich anschließend zu der eines „Fis“ und eines „G“ absenkend, beschreiben lang gehaltene Einzeltöne einen dreimaligen, mit einem Achtelvorschlag versehenen Fall, der sich vom anfänglichen Intervall einer Septe zu dem einer Quarte verengt. In ebenfalls extremer Basslage erklingt dazu drei Takte lang ein „F“, dann ein „Gis“ und schließlich wieder, nun eineinhalb Takte lang, das „F“. Auf diese Weise entfaltet sich ein Klangraum, der in seiner spitzen, durch die Vorschläge gesteigerten Klanglichkeit die Anmutung von Erstarrung und Leere aufweist. Bis zum dritten Vers einschließlich bleibt der Klaviersatz in dieser Grundstruktur erhalten, durchläuft dabei aber verschiedene Variationen, die markanteste darunter bei der Melodik auf den Worten des ersten Verses. Da ist die Starre ganz besonders ausgeprägt dadurch, dass im Diskant nur zwei lang gehaltene Töne erklingen, ein jeweils nur eingestrichenes „C“ und ein „Cis“, wobei das „C“ beim zweiten Mal wieder einen Vorschlag aufweist. Im Bass lässt das Klavier vier Takte lang ein einsames tiefes „H“ dazu erklingen.

    Wie will Reimann diesen Klaviersatz wohl aufgefasst und verstanden wissen?
    Aufgrund der Anmutung von Weite, Leere und Starrheit, die von ihm ausgeht, darf man darin, wie ich meine, wohl die klangliche Evokation von Untergang allen Lebens in der Nacht vernehmen, wie ihn der dritte Vers zum Ausdruck bringt. Und was diese Deutung besonders nahelegt und als wahrscheinlich zutreffend macht, ist die Tatsache, dass die Melodik auf diesem a cappella vorgetragen wird, das Klavier dabei also verstummt und die klangliche Leere, die es bislang evozierte, zur einer absoluten werden lässt. Und dazu fügt sich, dass die Melodik ihrerseits hier in eine eigenartige Starre verfällt. Was sie damit sagen will und in den beiden Versen zuvor zu sagen hat, und wie das im Kontext mit diesem ganz spezifischen Klaviersatz zu interpretieren ist, das bedarf nun einer genaueren Betrachtung und Reflexion.

    Auf den Worten des ersten Verses beschreibt die melodische Linie eine Bewegung, die sich auf ungewöhnliche Weise in drei extrem weit ausgreifenden Dehnungen auf den Worten „Vöglein“, „fröhlich“ und „sangen“ entfaltet. Diese sind nicht von ein, zwei oder frei ihrerseits gedehnten Tönen ausgefüllt, sondern mit komplexen, aus Quintolen, Septolen und Terzen bestehenden deklamatorischen Achtel-Figuren, die eine ausgeprägte melismatische Anmutung auf weisen. Bei „Vöglein“ geht die melodische Linie nach einem auftaktigen Sekundfall auf „die“ in ein quintolisches Auf und Ab auf der Ebene eines „“Fis“ und „G“ in oberer Mittellage über, dem ein verminderter Quintsprung mit Terzfall nachfolgt. Auf „die so“ vollzieht sie einen Anstieg in obere Lage und vollzieht von dort aus bei „fröhlich“ einen sehr lang gestreckten, weil septolischen Fall in partiell verminderten Sekundschritten, der am Ende in einen zweischrittigen Sekundanstieg hin zu der melodischen Figur auf „sangen“ übergeht.

    Diese besteht aus drei Triolen in Gestalt eines Auf und Abs auf der tonalen Ebene eines „A“ und „G“ in oberer Lage, denen ein ausdrucksstarker, mit einem Vorschlag versehener verminderter Septsprung zur Ebene eines „Es“ in extrem hoher nachfolgt, auf der zwei mit einem Crescendo versehene lange Dehnungen erklingen. Das Wort „sangen“ erfährt auf diese Weise, und auch dadurch, dass das Klavier auf der ihm zugehörigen melodischen Linie zwei Takte lang verstummt und erst an ihrem Ende mit einem „pp“ angeschlagenen sehr hohen „A“ im Diskant und extrem tiefen „F“ im Bass wieder einsetzt, eine starke Akzentuierung.

    In ihrer extremen Vielschrittigkeit mutet diese Melodik ein wenig überladen und in der langen Dehnung am Ende sogar übertrieben expressiv an. Sie wirkt darin so, als wolle sie das fröhliche Singen der Vöglein aus der Vergangenheit gewaltsam in die Gegenwart zurückholen, dies aber, ohne damit wirklich Erfolg zu haben. Denn noch vor ihrem Ende entfaltet das Klavier nach seinem zweitaktigen Innehalten seinen geisterhaft leeren Klangraum aufs Neue, so dass auch die nach einer eintaktigen Pause einsetzende Melodik auf den Worten des dritten Verses sich in ihm entfalten muss. Das tut sie nun, nach ihrem vorangehenden Ausbruch in die Expressivität, bemerkenswerterweise im ausdrücklich vorgeschriebenen Pianissimo und in einem vergleichsweise verhaltenen deklamatorischen Gestus.

  • „Die Vöglein, die so fröhlich sangen“ (II)

    Auf den Worten „der Blumen“ beschreibt sie einen mit einer übermäßigen Quart eingeleiteten, leicht wehmütig anmutenden verminderten Sekundfall in Gestalt von zwei gedehnten Schritten auf der tonalen Ebene eines „Fis“ und eines „Es“ in hoher Lage. Bei den Worten „bunte Pracht“ vollzieht sie einen ausdrucksstarken gedehnten und in seiner Verminderung ein wenig kläglich anmutenden Septfall in mittlerer Lage, dem allerdings, wie zum Trotz, ein Sextsprung mit langer Dehnung nachfolgt, der das Wort „Pracht“ auf markante Weise hervorhebt.

    Nun folgt der in seiner Aussage so unheilvolle vierte Vers. Und bemerkenswert ist, mit welchen Mitteln Reimann ihn in Liedmusik umsetzt und damit seiner poetischen Bedeutsamkeit gerecht wird. Nach einer Dreiachtelpause beschreibt die melodische Linie, darin deutlich abweichend von ihrem bisherigen Gestus der Entfaltung in großem Ambitus, auf den Worten „'s ist alles unter nun gegangen“ im Piano ein Auf und Ab im auf der Ebene eines „H“ in hoher Lage, wobei dies im kleinen Intervall einer Sekunde geschieht. Auf „alles“ liegt dabei ein dieses Wort akzentuierender triolischer, mit einem Vorschlag versehener und in eine kleine Dehnung mündender Sekundanstieg zur Ebene eines „C“, und auch „unter“ und „gegangen“ erfahren eine leichte Hervorhebung durch eine kleine Dehnung auf der Ebene eines „H“.

    In diesem Zusammenschrumpfen des deklamatorischen Ambitus auf dem Intervall einer Sekunde reflektiert die Melodik die Aussage des lyrischen Textes, und das Bemerkenswerte dabei ist, dass das Klavier wieder, wie schon zuvor bei der extrem langen Dehnung auf dem Wort „sangen“ im ersten Vers, wieder ins Schweigen. Verfällt. Man empfindet diese Exposition der Melodik in die klangliche Leer als markante Hervorhebung der lyrischen Aussage.

    Erst bei der Dehnung auf der zweiten Silbe von „gegangen“ setzt das Klavier mit einem auftaktig angeschlagenen langen „A“ in mittlerer Diskantlage wieder ein. In diese Dehnung fällt im Bass eine Figur ein, die danach noch zweimal erklingen wird: Im Zwischenspeil vor dem Einsatz der melodischen Linie und unmittelbar am Anfang derselben. Sie besteht aus einem dreistimmig-dissonanten arpeggierten Sechzehntel-Akkord, bei dem das obere „F“ eine Rückung nach „G“ vollzieht. Er weist, so empfinde ich das jedenfalls, ähnlich wie der extrem tiefe Terzenakkord im ersten Lied, eine Anmutung von Unheimlichkeit auf.

    Das nachfolgende Zwischenspiel nimmt volle drei Takte und ein Viertel ein und tritt damit - was ja typisch für Reimanns Liedmusik ist - als Element des die liedmusikalische Aussage maßgeblich generierenden und prägenden Klaviersatzes auf. Es mutet in den impressionistisch hingetupften quintolisch ansteigenden und fallend in eine Dehnung übergehenden Achtelfiguren im Diskant, in die einmal die besagte Sechzehntel-Figur im Bass einfällt, geisterhaft an. Es ist von Reimann wohl als die Aussage der Melodik im Nachklang bestätigende und ergänzende, musikalische Evokation der Unheimlichkeit gedacht.

    Während die Melodik des zweiten und des dritten lyrischen Verses sich nur über vier Takte erstreckt, widmet Reimann dem vierten einen gleich langen melodischen Raum wie dem ersten Vers. Und wenn man das siebentaktige Nachspiel als dieser Melodik zugehörig betrachtet, wofür vieles spricht, so nimmt die Liedmusik auf dem Schlussvers fast genauso viel Raum ein wie die auf den vorangehenden drei Versen. Damit würde Reimann dessen lyrischer Aussage weitaus mehr Gewicht und Bedeutsamkeit einräumen, als dies bei Eichendorff der Fall ist. Und für diese Deutung der zweiten Liedkomposition des Zyklus spricht auch die Anlage der Melodik und die aus ihr sich ergebende musikalische Aussage. Auf den Schlussworten „Liebe Wacht“ gipfelt die Liedmusik in hochgradig expressiver Weise auf der höchsten tonalen Ebene auf.

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