Sinfonien mit vokaler Beteiligung

  • Viele schätzen Sinfonien. Wenn aber die menschliche Stimme zum Einsatz kommt, kann die Begeisterung schwinden oder gesteigert werden.


    Ludwig van Beethoven wagte es im Schlusssatz seiner 9. Sinfonie mit Sängern und Chor die Regeln zu erweitern, als er Schillers Ode an die Freude vertonte. Die Interpreten sind stark gefordert.


    Ich schätze es, wenn die Aussage des Orchestralen mit Text noch verstärkt wird. Die Komponisten haben in der Folge das Sinfonische zuweilen mit Gesang ausgeweitet.


    * * * * *


    Drei Beispiele:


    Dmitri Schostakowitschs 14. Sinfonie zählt zu meinen Favoriten in seinem Schaffen. Jeder der Sätze enthält ein vertontes Gedicht.

    In der 13. Sinfonie "Babi Yar" war dies auch der Fall. In der 2. Sinfonie "Oktober" und in der 3. Sinfonie "1.Mai" wird das Revolutionäre auch textlich hörbar.


    Ralph Vaughan Williams hat in seinem sinfonischen Erstling "A Sea Symphony" ausgiebig das Instrumentale im Zusammenklang mit Solisten und Chor verwendet.


    Gustav Mahler hat in seinen Sinfonien die menschliche Stimme mehrfach eingesetzt. In der 8. Sinfonie der Tausend hat er gigantische Ausmasse erreicht.

    Ich bin soweit, in meinen Beiträgen Rechtschraibfehler stehen zu lassen als menschlicher Protest gegen die perfekte KI-Welt.



  • Durch den Einbezug der Sprache wird die Aussage der Musik in eine Richtung festgelegt, was, wenn nur mit musikalischen Mitteln gearbeitet wird, nicht in diesem Masse möglich ist. Die Hörenden erhalten eine weitere Ebene, mit der sie die Musik verstehen können.


    Gustav Mahler hat uns Sinfonien hinterlassen, die entweder dem einen oder anderen Prinzip verpflichtet sind. Was hatte ihn bewogen diesen oder den anderen Weg einzuschlagen?


    Anton Bruckners Sinfonien kommen ohne das Wort aus. In seinen Klanggewalten hat er als tief Gläubiger uns das Göttliche dargestellt. Ist das zu kurz gedacht? Trotzdem hat er in seinen geistlichen Werken die bekannten lateinischen Texte der katholischen Liturgie verwendet.


    Durch die von Beethoven gesetzte Zäsur des Schlussatzes seiner 9. Sinfonie kam eine Wende in die Musik.


    Die Komponisten davor hatten das Oratorium oder die Oper, wenn sie Sprache und Musik miteinander verbinden wollten. Sinfonien von Haydn, Mozart, Schubert kamen mit rein musikalischen Mitteln aus.

    Ich bin soweit, in meinen Beiträgen Rechtschraibfehler stehen zu lassen als menschlicher Protest gegen die perfekte KI-Welt.



  • Streng genommen, sprengen Sinfonien mit vokaler Beteiligung die Definition der Sinfonie, die ganz einfach „Sonate für Orchester“ lautet. Auch habe ich irgendwo gelesen, dass Beethoven selbst nachträglich unzufrieden mit dem Finale seiner 9. Sinfonie war und plante, es durch ein rein instrumentales Finale zu ersetzen. In meinen Freundeskreis gibt es sogar einige die das Werk nicht als Sinfonie sehen. Ein Freund aus den USA bezeichnete die 9. einmal als „three overtures to a pagan mass“. Egal wie man das Werk schlußendlich sieht, soll einen das nicht daran hindern die Musik selber zu genießen.


    Eine Sinfonie die hier noch nicht erwähnt wurde und die ich sehr lohnend finde, ist Mendelssohns Zweite. Auch dieses Werk wurde oft als Kantate anstatt Sinfonie beschrieben, vielleicht nicht zu Unrecht, da die Vokalisten eine viel größere Rolle einnehmen als in Beethovens 9. Auch geht Mendelssohns Sinfonie über die üblichen vier Sätze hinaus und ist in 11 Nummern unterteilt, ähnlich wie bei einer Kantate oder einem Oratorium. Lediglich der erste Satz ist rein instrumental und fungiert als eine Art Ouvertüre. Ob Sinfonie oder nicht, ein tolles Werk, das ich immer wieder gerne höre.


    Ein anderes interessantes Werk das ich hier noch gerne erwähnen möchte. ist die 10. Sinfonie von Villa-Lobos. Er komponierte sie in 1952-53 um den 400. Jahrestag der Gründung von Sao Paulo zu zelebrieren. Auch hier ist nur der erste Satz rein instrumental, die restlichen vier sind für Solisten, Chor und Orchester. Es ist auch das einzige Werk das ich kenne, das in drei Sprachen ist (Latein, Portugiesisch und Tupi (Sprache der Ureinwohner Süd-Brazils)). Auch hier ist es mir relativ egal ob dieses Werk jetzt eine Sinfonie oder Kantate (Oratorium) ist, es ist einer meiner Lieblinge.

    LG aus Wien.:hello:

  • Auch dieses Werk wurde oft als Kantate anstatt Sinfonie beschrieben

    Bzw. beides: „Sinfoniekantate“. Der „Lobgesang“ ist inzwischen als Kantate definiert und im MWV unter A gelistet, während die „reinen“ Sinfonien unter Buchstabe N aufscheinen.


    Gustav Mahler hat in seinen Sinfonien die menschliche Stimme mehrfach eingesetzt. In der 8. Sinfonie der Tausend hat er gigantische Ausmasse erreicht.

    Mahlers Zweite schließt eigentlich „formal“ an Beethovens Neunte mit Schlußchor an. Die Dritte und Vierte gehen jeweils anders mit der menschlichen Stimme um, wobei die Vierte ganz ohne Chor auskommt. Sein „Lied der Erde“ ist die eigentlich Neunte, die Mahler aber, vergeblich scheint's, wegen seiner Phobie nicht so betitelte. Aber der liebe Gott hat das in seinem Werksverzeichnis anders gesehen und diesen Trick durchschaut.

    You might very well think that. I couldn't possibly comment.“ (Francis Urquhart)

  • Gustav Mahler hat uns Sinfonien hinterlassen, die entweder dem einen oder anderen Prinzip verpflichtet sind. Was hatte ihn bewogen diesen oder den anderen Weg einzuschlagen?

    Die Antwort gibt er selber:

    Zitat

    "Mir ging es mit dem letzten Satz meiner II. einfach so, dass ich wirklich die ganze Weltliteratur bis zur Bibel durchsuchte, um das erlösende Wort zu finden [...]. Ich trug mich damals lange Zeit schon mit dem Gedanken, zum letzten Satz den Chor herbeizuziehen und nur die SOrge, man möchte dies als äußerliche Nachahmung Beethovens empfinden, ließ mich immer und immer wieder zögern." (Mahler an Anton Seidel, 17. Februar 1797, zitiert nach Blaukopf, Briefe, 200)

    Zitat

    "Das war das Ei des Kolumbus, dass ich in meiner Zweiten Symphonie mit dem Wort und der menschlichen Stimme einsetzte, wo ich es, um mich verständlich zu machen, brauchte. Schade, dass mir das in der Ersten noch gefehlt hat." (Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, hrsg. v. Herbert Kilian, 35)

    Er möchte sich mit allen Mitteln "verständlich machen".

    Zitat

    "Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen." (Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, s.o., 19)

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • die Definition der Sinfonie, die ganz einfach „Sonate für Orchester“ lautet.

    Naja, wörtlich (aus dem Griechischen) so etwas wie „zusammenklingend“ ... Die heutige Definition hat sich auch erst später ergeben, vergleich mal mit Joh. Seb. Bachs „Inventionen und Sinfonien“ ... da ist vom Orchester nicht die geringste Spur.


    Aber, wir könnten noch eine „konstruieren“: Wenn man - wie vom Komponisten alternativ vorgeschlagen (?) - anstelle des unvollendeten Finales sein „Te Deum“ anhängt, hätten wir WAB109 mit Schlußchor.

    You might very well think that. I couldn't possibly comment.“ (Francis Urquhart)

  • Ein Geheimtipp unter den Vokalsinfonien bzw. Sinfoniekantaten ist Joseph Ryelandt - 4. Sinfonie "Credo". Es ist so eine Art Missa-Sinfonie, zu Grunde liegt dem Werk die 'übliche' gregorianische Melodie des Credo. Alle Sätze bauen auf dieser Melodie auf, dabei tritt sie immer deutlicher in den Vordergrund. Ab dem zweiten Satz betritt auch der Chor die Bühne mit dem Credo-Thema. Ich habe im entsprechenden Thread detailierter von diesem Werk berichtet.

    Es ist sicherlich Ryelandts bekanntestes Werk, wird aber dennoch kaum aufgeführt und bleibt absolutes Nischenrepertoire.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Eine spezielle Kategorie sind die Vokalisen, also menschliche Stimme ohne Worte. Das ist nicht ganz so mein Fall und die berühmteste Vokalise von Rachmaninow ist auch kein sinfonisches Werk.

    Allerdings fallen wir mindestens zwei Sinfonien ein, die Vokalisen enthalten. Es sind jeweils die 3. Sinfonien von Ralph Vaughan Williams und von Carl Nielsen.


    Bei Vaughan Williams taucht im Finale der "Pastoral Symphony" nach einem Höhepunkt zu dem eine langsame sinfonische Entwicklung geführt hat unvermittelt ein Sopran auf, der das Hauptthema zu leise liegenden hohen Streichern summt und das Werk zu einem verhaltenen Abschluss bringt. Ein gewisser Effekt ist das schon, wenn auch ungewohnt.

    Bei Carl Nielsen ist es der langsame Satz (Andante pastorale), in welchem gleich zwei Singstimmen (Tenor & Sopran) zum Orchesterapparat hinzukommen. Auch sie sind textlos, "reines Melisma". Der recht statischen Musik verleihen sie neue Dynamik. Durch das fehlen von Worten wirken die Stimmen wie zusätzliche Instrumente.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Bei Vaughan Williams taucht im Finale der "Pastoral Symphony" nach einem Höhepunkt zu dem eine langsame sinfonische Entwicklung geführt hat unvermittelt ein Sopran auf, der das Hauptthema zu leise liegenden hohen Streichern summt und das Werk zu einem verhaltenen Abschluss bringt. Ein gewisser Effekt ist das schon, wenn auch ungewohnt.

    Da ich dieses Stück heute gehört habe, dazu eine kleine Korrektur: Der Solosopran taucht ganz zu Beginn und ganz zum Schluss des Finalsatzes auf, beginnt und beendet diesen und rahmt ihn also quasi ein.


    Außerdem setzt Vaughan Williams einen Solosopran und einen Frauenchor im 1. und 5. Satz seiner Sinfonie Nr. 7 "Sinfonia antartica" ein, wo sie ebenfalls wortlos zu der geisterhaften, unheimlichen Atmosphäre und Stimmung beitragen.


    Ein weiterer Kandidat ist die 12. Sinfonie "De döda på torget" des Schweden Allan Pettersson für Orchester und Chor, welche ähnlich wie Shostakovichs 13. und 14. Sinfonie in neun Sätzen Gedichte des Chilenen Pablo Neruda vertont.

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  • Da ich dieses Stück heute gehört habe, dazu eine kleine Korrektur: Der Solosopran taucht ganz zu Beginn und ganz zum Schluss des Finalsatzes auf, beginnt und beendet diesen und rahmt ihn also quasi ein.

    Habe ich auch grade nachgehört ;) Der Einsatz am Ende ist mir folglich deutlich eindrücklicher, wahrscheinlich weil dieser lange sinfonische Bogen dorthin führt.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Erwähnt werden muss noch eine weitere schwedische Sinfonie.

    Kurt Atterberg - 9. Sinfonie ist eine veritable Sinfoniekantate. Der genaue Titel lautet "Sinfonia visionara" für Solostimmen, Chor und Orchester (1956). Atterberg vertont hier Texte aus der Lieder-Edda, also germanisch-nordische Mythologie. Konkret geht es bei Atterberg um Weltuntergang und Neuschöpfung. Interessant sind die Verwendung von Ring- und Siegfried-Motiv aus Wagners Ring.

    Obwohl ich ein großer Atterberg-Fan bin, habe ich zu dieser letzten Sinfonie bisher keinen rechten Zugang gefunden. Das Konzept und der schwedische Gesang machen es zu einem schwierig zu rezipierenden Werk.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Als nächstes muss auch Nikolai Mjaskowsky - 6. Sinfonie in es-Moll genannt werden. In diesem großen, 65minütigen, Werk, tritt im Finale ein Chor zum groß besetzten Orchester. Der unruhige Satz beginnt mit einer Mischung aus französischer Revolutionsmusik und orthodoxer Klage um das Dies-Irae-Motiv, bevor der Chor einen lateinischen Totengesang anstimmt: "O quid vidimus". Das Werk verarbeitet den 1. Weltkrieg und die Revolution in Russland.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Noch nicht erwähnt wurde Skriabin und dessen erste Sinfonie für Tenor, Mezzosopran und Chor aus dem Jahr 1900. Das Werk hat sechs Sätze. Bei der Uraufführung wurde der sechste Satz weggelassen, erst ein Jahr später wurde das Werk vollständig aufgeführt:



    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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