Ralph Vaughan Williams: Sinfonie Nr. 8 d-Moll

  • Ralph Vaughan Williams komponierte seine 8. Sinfonie in d-Moll in den Jahren 1953-1955. Kurz vor Abschluss der Komposition sah Vaughan Williams eine Aufführung von Puccinis "Turandot" und baute von Puccinis Werk inspiriert gestimmte Gongs in seine Sinfonie ein.

    Vaughan Williams widmete seine Sinfonie John Barbirolli, der RVW um ein neues Werk gefragt hatte, welcher die Sinfonie nach einem privaten Durchlauf mit dem Hallé für RVW im Februar 1956 schließlich am 2. Mai 1956 in Manchester uraufführte.


    Die Sinfonie dauert nur etwa 27-30 Minuten und besitzt eine bis auf das Schlagwerk übliche Instrumentation. Vaughan Williams fordert neben den Standardpauken und weiteren Trommeln u.a. ein Vibraphon, gestimmte Gongs, Glocken, ein Glockenspiel, eine Celesta und ein Xylophon.


    Die Sinfonie besteht aus vier Sätzen:


    I. Fantasia (Variazioni senza tema)

    II. Scherzo alla marcia

    III. Cavatina

    IV. Toccata


    Der 1. Satz ist schon allein durch seinen Untertitel "Variazioni senza tema" (Variationen ohne Thema) ein Kuriosum. Statt eines Themas, das durchgängig variiert wird, beginnt die Sinfonie direkt mit der ersten Variation, die drei Motive vorstellt: Ein viertöniger Trompetenruf, der vom mysteriös-magisch klingenden Vibraphon fortgesetzt wird, eine Erweiterung dieses melodischen Ablaufs in der Flöte und eine absteigende Streichermelodie, die im Fortissimo erstmalig auftaucht. In den folgenden Variationen werden mal alle drei Motive und mal nur ausgewählte Motive als auch Ideen der vorangegangenen Variationen abgewandelt. Die zweite Variation ist ein Presto mit starken Kontrasten zwischen heiteren Holzbläserpassagen und düsteren, lauteren Blechstellen, die dritte Variation ein breiter Streicherteppich mit Holzbläserabwandlungen des 1. Motivs. Die vierte Variation beginnt mit einem Holzbläserfugato, ehe Streicher und Blech den Satz andicken und verlangsamen und zur 5. Variation leiten, die von langgezogenen Bögen mit Harfenbegleitung geprägt ist und immer dramatischer wird. In der kurzen 6. Variation geht die Post ab: ein militärisch-martialischer Satz präsentiert bedrohlich präsent das 1. Motiv, ehe die Variation abrupt abbricht. Die 3. Variation erklingt erneut, allerdings uminstrumentiert und später auch hymnisch im Orchestertutti. Dann fällt die Musik zurück in die ruhige Klangwelt der 1. Variation und das mystische Vibraphon taucht wieder im Vordergrund auf, welches im Zusammenspiel mit Trompete und Horn den Satz beendet.


    Der 2. Satz ist ein nur etwa 4 Minuten kurzes Marsch-Scherzo rein für die Blasinstrumente. Die Holzbläser bringen immer wieder liebliche Elemente in die zackige Musik, kurz vor Schluss gibt es eine Art Trio, das etwas bedrohlich und träge beginnt, dann dank der Flöten und Klarinetten aber schnell idyllischer und pastoraler wird. Es geht zurück in den Marschmodus, einmal schwingt sich die Musik sehr auf, kommt in den letzten Takten aber zum Stillstand, worauf die Holzbläser mit einem letzten, kurzen Lauf den Satz abschließen.


    Der Fairness halber ist die Cavatina des 3. Satzes nur für die Streichinstrumente geschrieben. Das Hauptthema wird von den Celli vorgetragen und erinnert insbesondere in den wichtigen Intervallen an die Melodie von "O Haupt voll Blut und Wunden", ein zweites, schmachtendes Thema erscheint in den Violinen. Es folgt eine längere eingeschobene, choralartige Passage, bis die Musik in ihren schmachtenden Charakter zurückkehrt. Hier setzt Vaughan Williams auch eine Solovioline ein, die mit ihren umspielenden Melodien an "The Lark ascending" erinnert. Es folgt eine Kombination des Cellothemas und des Violinenthemas, ehe die Musik wieder den Choralduktus findet, in welchem ein Solocello - im Stile des Violinsolos - zum Satzende führt.


    Der 4. und letzte Satz ist zur ausgleichenden Gerechtigkeit das Paradestück des Schlagwerks, nachdem Bläser und Streicher schon ihren jeweiligen Solosatz hatten, der Satz beginnt schon dementsprechend mit einem Schlag in Gong, Becken und Glocken sowie Harfen. Das Finale ist mit knapp 5 Minuten außergewöhnlich kurz gehalten und erinnert in seinem oft überschwänglichen Jubel etwas an das Finale aus Mahlers 7. Sinfonie. Generell macht der Satz durch die tösenden Tutti-Stellen, in denen das prominente Schlagwerk alle Register zieht, immer wieder den Eindruck eines Showpieces, hat jedoch auch lyrischere Abschnitte (etwa mit Solocello) oder düstere, mysteriösere Teile (abermals mit Vibraphon) zu bieten. Orchestral ist das hier auf jeden Fall herausragend, wie Vaughan Williams in diesem kurzen Satz alle möglichen instrumentierungstechnischen Finessen und Klangfarben abliefert und gegenüberstellt. Der Satz wird majestätisch und gewaltig abgeschlossen, neben der grimmig-brutalen 4. Sinfonie ist dies die einzige Sinfonie RVWs, die laut endet.


    Gehört habe ich die Sinfonie in der mMn sehr guten Aufnahme von Andrew Davis mit dem BBC Symphony Orchestra aus dem März 1993:



    Die Uraufführung mit dem Hallé unter Barbirolli vom 2. Mai 1956 wurde von der BBC mitgeschnitten und von der Barbirolli Society auf CD veröffentlicht:



    Neben den üblichen Verdächtigen im Rahmen einer Gesamteinspielung wurde die Sinfonie ansonsten u.a. auch von Charles Munch, Leopold Stokowski und Vladimir Jurowski aufgenommen.


    Ein wirklich sehr interessantes Werk, das hoffentlich zur Diskussion einlädt ;)


    Liebe Grüße

    Amdir

  • Diese ungemein sorgfältige und kenntnisreiche Einführung ist in der Tat einladend, lieber Amdir. :) Nur leider ist Vaughan Williams bei mir ein blinder Fleck wie überhaupt die Spät- und Neuromantik von der britischen Insel. ;( Ich hoffe, ich finde in nicht zu ferner Zeit endlich die Zeit, mich auf diesem Feld einzuhören! :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Die 8. Sinfonie gehört für mich zu den häufiger gehörten Vaughan Williams Sinfonien. Ich würde sie für mich gemeinsam mit der 5. hinter den ersten drei Sinfonien einreihen.

    Der Kopfsatz erhält seinen eigenwilligen Charakter allein schon durch das Vibraphon.

    Meine Highlights sind jedoch der 3. und 4. Satz. Die Cavatina mit ihrem "O Haupt voll Blut und Wunden" Thema und dem wunderbar elegischen Gesang der Streicher. Auch ich muss bei der Solovioline an "The Lark ascending" denken. Und das Toccata-Finale zeichnet sich, wie du schreibst, durch das Schlagwerk aus. Insgesamt eine ziemlich farbenfrohe Toccata!


    Ich schätze übrigens die GA der Londoner mit Haitinik sehr!

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Die Haitink-GA steht noch ungehört bei mir im Regal. David Hurwitz gibt der Aufnahme der 8. und 9. Sinfonie auf seiner Website eine vernichtende Bewertung: 1/10 Punkten für Artistic Quality und 6/10 für Sound Quality, seine Argumente lesen sich sehr stichhaltig. Naja. Was ich bisher ausschnittsweise von Haitinks Vaughan Williams auf Youtube hörte, hat mir gut gefallen, da höre ich irgendwann mal nach.

  • 1/10 Punkten für Artistic Quality

    Gut, 1/10 ist natürlich überspitzter Unsinn. Aber ich bin mit Hurwitz oft nicht d'accord :P

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Insgesamt schätze ich Raph Vaughn Williams, auchwenn seine Platten sich schon länger nicht mehr auf meinem Plattenteller gedreht haben. Die hier ausgesprochene Empfehlung der 8. Sinfonie soll Einladung sein, das zu ändern. Mein persönlicher Liebling bei den Sinfonien ist die Nr. 5. Williams höre ich zumeist in Aufnahmen von Sir Adrian Boult:



    LPs in dem Falle.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.


  • Auch ich habe heute, vor ein paar Stunden diese Sinfonie gehört, und mich zudem ein wenig informiert, bin dann aber anschliessend eingeschlafen. Inzwischen haben - ich bin richtig erstaunt - andere sich zu dieser Sinfonie geäussert.


    Ich beginne mit der Hurwitz Bewertung der Haitink -Aufnahme; Sie steht in krassem Widerspruch zu einer anderen Einschätzung, die ich im Internet fand. Dort wurde sie gelobt und in ihrer Bedeutung mit seiner einstigen legendären Einspielung aller Sinfonien Gustav Mahlers verglichen.


    KI schreibt - ohne eigentlich wirklich gefragt worden zu sein


    "Haitink Vaughan" bezieht sich auf den niederländischen Dirigenten Bernard Haitink und seine Interpretationen der Werke des englischen Komponisten Ralph Vaughan Williams. Insbesondere sind Haitinks Aufnahmen der Vaughan Williams Sinfonien mit dem London Philharmonic Orchestra (LPO) bekannt und werden oft als Meilensteine in der Interpretation dieser Werke angesehen.

    Haitink hat eine vollständige Zyklus der Vaughan Williams Sinfonien mit dem LPO aufgenommen, der für seine klangliche Qualität und die überzeugende Darstellung der Werke gelobt wurde. Er übertraf mit seinen Interpretationen sogar frühere Aufnahmen britischer Dirigenten"


    Thomas Schulz in "RONDO" (2007) weist hingegen daruf hin, dass das Spezielle der Aufnahme der Sinfonien Nr 8 und 9 durch Haitink darin liegt, daß sie auf "Altersweisheit" des Komponisten hin angelegt sind, was ihnen nicht überall gerecht wird und den Tiefpunkt von Haitinks Gesamtaufnahme darstelle, die indes bei anderen Sinfonien durchaus ihre Meriten habe. Er vergleicht mit einigen anderen - zum Zeitpunkt seiner Rezension nicht erhältlichen - Referenzaufnahmen (Barbirolli, Vernon Handley), Boult indes erwähnt er in keiner Zeile.

    Slatkin wird erwähnt, allerdings wird beanstandet, daß man, um die 8. zu erwerben, den gesamten Zyklus kaufen muß. Hier sieht man, daß sich die Zeiten ändern. Dieser Vorwurf trifft heute nicht mehr -er betrifft die meisten Aufnahmen - und ist - angesichts heutiger Preise eigentlich gar keiner mehr.


    Persönliche Anmerkungen Obwohl ich über die - auch recht positiv beurteilte - digitale Aufnahme mit Kees Bakels verfüge (Naxos)

    Bin ich für meine heutige Hörsitzung bei Boult geblieben.

    Wobei die NAXOS Aufnahme von "Gramophone", "Stereo" und "Classik CD" einhellig geliebt wird

    Zudem, ost sie - im Gegensatz zu Boult - aktuell lieferbar


    Die Sinfonie weist einige Eigenarten auf, so bespielweis den ersten Satz, "7 Variationen auf der Suche nach einem Thema Thema" - vermutlich ein Hinweis auf Vaughan Williams' schen Humor (?) Der zweite Satz (Scherzo) wird ausschliesslich von Bläsern bestritten, der dritte ausschliesslich von Streichern. Im vierten werden wieder alle Instrumente eingesetzt unter besonderer Betonung auf zusätliches Schlagwerk.


    Meine Lieblingssätze sind der (IMO skurrile) zweite "plappernde" Satz und der beeindruckend orchestrierte Finalsatz.


    Hier nun ein Clip zur Sinfonie in der Aufnahme mit dem Bournemouth Symphony Orchestra unter Kees Bakels (NAXOS)


    mfg aus Wien

    Alfed

    SPARE IN DER NOT - DA HAST DU ZEIT DAZU



  • Die achte Sinfonie schätze ich sehr und habe sie eventuell häufiger gehört als alle anderen - bei der zweiten, der fünften und der neunten bin ich mir nicht sicher, ob sie in etwa gleichziehen würden. Wie auch im Fall der neunten herrscht hier jener dunkel timbrierte Spätstil vor im Verein mit manch reizvoller, beinahe exotischer Instrumentalmischung, der mit den Nummern vier oder sechs in ihrer oft brutalen Schärfe nicht mehr viel zu tun hat, aber auch nicht mit der filmmusikalischen, quasi naturalistischen Nummer sieben - von den anderen früheren Sinfonien ganz zu schweigen. Stattdessen überwiegen eher mysteriös verhaltene Klänge. Eben das markante Werk eines deutlich über Achtzigjährigen.


    Sehr interessant Amdirs Einführung. Ich muss gestehen, an den Choral, den ich natürlich kenne, noch nicht gedacht zu haben. Daher werde ich mir - nach längerer Zeit - die Sinfonie wieder einmal zu Gemüte führen und darauf jetzt achten.


    Ich besitze drei Integralen der Sinfonien von Vaughan Williams (Slatkin, Boult und Handley), aber zumindest auch noch eine gewichtige einzelne Einspielung - nämlich John Barbirolli. Die wird jetzt aufgelegt.



    Ich vermute sehr, dass die von mir soeben verlinkte Einspielung nicht mit dem in Amdirs Einführungsbeitrag benannten und verlinkten Mitschnitt der Uraufführung identisch ist - denn der 2. Mai 1956 ist halt nicht der 19. Juni. Doch da gibt es bisweilen seltsame Phänomene. Deshalb noch die Satzlängen: 10:10 - 3:37 - 7:43 - 4:59.


    EDIT: Dem Booklet entnehme ich, dass die Schallplattenaufnahme einen Monat nach der Uraufführung entstanden ist und nicht einen Beckenschlag enthält, den der Komponist dem ersten Satz erst später hinzugefügt hat. Also auch nichts Mysteriöses im Hinblick auf meine Vermutung ... ;)


    :cheers: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Sehr interessant Amdirs Einführung. Ich muss gestehen, an den Choral, den ich natürlich kenne, noch nicht gedacht zu haben. Daher werde ich mir - nach längerer Zeit - die Sinfonie wieder einmal zu Gemüte führen und darauf jetzt achten.

    Danke für die Blumen, laut des englischen Wikipedia-Artikels zu der Sinfonie, den ich genutzt habe, hat Vaughan Williams den Choral bewusst eingebaut. Die Ähnlichkeit ist mir allerdings schon vor Lesen des Artikels aufgefallen.


    Ich vermute sehr, dass die von mir soeben verlinkte Einspielung nicht mit dem in Amdirs Einführungsbeitrag benannten und verlinkten Mitschnitt der Uraufführung identisch ist - denn der 2. Mai 1956 ist halt nicht der 19. Juni. Doch da gibt es bisweilen seltsame Phänomene. Deshalb noch die Satzlängen: 10:10 - 3:37 - 7:43 - 4:59.


    EDIT: Dem Booklet entnehme ich, dass die Schallplattenaufnahme ein Monat nach der Uraufführung entstanden ist und nicht einen Zimbelschlag enthält, den der Komponist dem ersten Satz erst später hinzugefügt hat Also kein Mirakel und nichts Mysteriöses ... ;)

    Korrekt, Barbirolli hat die Sinfonie als Uraufführungsdirigent und Widmungsträger mehrfach aufgenommen, ich konnte sechs verschiedene Einspielungen finden. Die von dir genannte Aufnahme vom 19.06.1956 besitze ich in der großen Warner-Barbirolli-Box (CD 22), es ist die einzige Aufnahme der Sinfonie in der Box und die einzige Aufnahme des Werkes von Barbirolli, die ich besitze. Sie erschien wohl erstmals für das Label Pye.


    Edit.: Ich konnte es nicht lassen und habe die Aufnahme gehört. Eine mMn wirklich sehr gute Interpretation und klanglich erstaunlich gut, das Aufnahmejahr 1956 hört man der Einspielung nicht an.

  • Ich hatte in den letzten Tage die Haitink GA angefangen zu hören. Aber bin dann wieder auf Haydn umgestiegen. Drei Tage Williams ist doch schwer. Da ich morgen kein großes Programm habe werde ich die achte erstmal von Haitink und dann von Handley anhören. Ist - für mich - keine Musik für alle Tage.

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  • Nichts gegen die von mir genannten Dirigenten Slatkin, Boult und Handley, deren Verdienste ich meine, hier und anderswo schätzen zu dürfen, und die ich auch deutlich vor Barbirolli kennengelernt hatte mit unserem Vaughan Williams - zunächst über einen großen Zeitraum irgendeinen Kassettenmitschnitt und dann Slatkin auf CD, aber Barbirollis Aufnahme ist nicht nur die älteste - das zwangsläufig -, sondern auch im guten Sinne die urwüchsigste und spannendste. Klanglich top - das sehe ich genauso.


    Den Choral habe ich natürlich wiedererkannt und ich kann mich auch gegen die als bewusst erklärte Absicht des Komponisten schwerlich zur Wehr setzen ;) - aber zwingend erscheint mir ganz privat die Parallele eigentlich nicht- eher so die Richtung: Die Moldau enthält Alle meine Entchen ... :untertauch:


    Macht nix! Mit anderen Worten: Mir leuchtet sozusagen ein, warum mir dies nie aufgefallen ist und ich offenbar auch nie davon gelesen hatte - indes: Mit Letzterem kann ich mich sowieso täuschen.


    :hello: Wolfgang

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