"Ich beneide sie, dass sie Musik einfach nur hören können..."

  • Gestern, nein vorgestern :no:, las ich diesen Thread aufmerksam weil ich etwas ganz besonderes mit der Thematik verbinde. Ich bin durch meine Partnerin zur Klassischen Musik gelangt. Sie kennt das aus dem väterlichen Elternhaus, spielt selbst Cello, Flöte, singt, kirchliches, Gospel und Pop im Chor. Der Vater spielt Bass, Cello, Trompete, Gitarre, div. Flöten, eine selbstgebaute! Gambe, diverse Gitarren ... hat Musik studiert und hat das Ganze auch an junge Leute als Leherer weitergegeben.


    In letzter Zeit stellte sich dann ja meine Zuneigung zu schöngeistiger Musik (von Klassik bis Spätromantik) heraus und das wurde dann natürlich auch diskutiert. Ich hörte keinerlei Ablehnung in dem ähnlich tönenden Satz: "Schön, dass Du das einfach nur geniessen kannst!". Klar, so ein wenig Arroganz war da! Nein, es war keine Arroganz, - es waren selbst gemachte Komplexe, -meinerseits!


    Im weiteren Gespräch ergab sich dann aber eine Besonderheit. Wir redeten über Musik, meine Gegenüber konnten musikalisch-analytisch ergänzen, ich allerdings auch: ich konnte damit punkten, die Dinge in geschichtlichen Zusammenahng zu bringen. Welcher Komponist mit wem Kontakt hatte, wer sich kannte, wer wen bewunderte, ich konnte es in einen geschichtlichen Zusammenhang bringen. Und das gelang, oh Wunder, ohne eine Partitur durchgelesen und verstehen zu haben! Ich kenne sehr wohl die Basics der Notenlehre! Aber den grossen Zusammenhang verstehe ich eher nicht. Ich höre Themen, höre, wie sie sich vereinen, dann hört es aber auch auf. Möglich und auch nicht unerstrebenswert, dass sich das mal ändert! Abgeneigt bin ich nicht!


    Bis dahin höre ich unbeschwert die Musik, die mir gefällt!


    :hello: Steffen

  • Es gibt selbstverständlich verschiedene Zugänge zur Musik - auch zur Klassischen.


    Es gibt hier verschiedene Stufen der "Erleuchtung", wobei ich das wertfrei meine.


    Als erste Stufe könnten wir beispielsweise sehen, daß jemand "Klassiche Musik" - wie immer man das definiert - einfach mag, bezw "Gefallen an ihr findet" - ohne das näher definieren zu können oder zu wollen. Eigentlich ist dies ja der "ursprüngliche" Klassikkonsuiment, er bekam stets nur Musik seiner Zeit geliefert, hatte sich also mit vergangenen Epochen nicht - oder nur wenig zu befassen. Das "Strickmuster" einer Komposition war für ihn ebenso uninteressant, wie für den Gast eines Restaurants, der zwar die wunderbare "Komposition" des Koches zu würdigen wusste - ohne in die Tiefen der Machart und der Zutaten einzudringen - oder es auch nur vorzuhaben.


    Diese Stufe kann man schon sehr wohl dem harten Kern der Klassikhörer zuordnen, für Foren sind sie jedoch nur mäßig ertragreich, weil sie ja oft kaum wissen worüber sie schreiben sollen.


    Mit der Zeit jedoch wächst -schon allein durch das Abhören von Tonaufzeichnungen - der Wissenschatz dieser Gruppe allgemein - sie haben diverse Alternativaufnahme bekannter Werke gehört - und (Letzteres ist wichtig) können gehörte Unterschiede auch verbal artikulieren.


    Der nächst Schritt wäre eventuell ein sich allmählich aufbauendes Hintergrundwissen über Musikgeschichte - über Verflechtungen - bzw ein solches über Eigenheiten von Interpreten, wofür diese stehen, welche interpretatorischen Ansätze sie verfolgen, bzw ob man deren verkündete Philosophie auch hören kann - oder nicht.
    Musiker und Komponisten haben naturgemäß einen anderen Zugang zur Musik - und so sie eloquent schreiben, können sind sie eine weitere Bereicherung für ein Forum - für eine spezielle Leser-Klientel - weil der Teil der Nur-Hörer ihnen oft nicht folgen kann - oder - schweigend in Bewunderung verharrt - wenn so jemand etwas schreibt, bzw seine Meinung veröffentlicht.
    Desto mehr man sich mit "Strickmustern" der Musik befasst, desto mehr verliert man seine "Unschuld". Da werden dann vom "Laien" bewunderte Klangergebnisse als "Floskeln" ohne "tieferen kompositorischen Wert" erkannt oder als "raffiniert eingesetzte Banalität" bewundert - je nach Standort und persönlicher Auffassung des "Rezensenten"
    Und hier sind wir beim nächsten Typus, dem (Amateur?)Kritiiker.
    Kritiker sind ja in der Regel umstritten, weil sie subjektive Meinungen als objektiv verkaufen (müssen?) - aber ich finde- gerade hierin besteht der Reiz (ich werde dieses Thema demnächst in einem eigenen Thread behandeln) - aber sie haben des öfteren eine fast unlösbar scheinende Aufgabe zu erfüllen: Dem "musikalischen interessierten Laien" oder neutraler formuliert einer inhomogenen Gruppe namens Klassikhörer, oder meinetwegen Klassikliebhaber ein subjektiv wahrgenommenes musikalisches Erleben, glaubhaft verständlich zu machen.
    Zu diesem Behufe bedienen sich einige - längst nicht allle - Kritiker einer Sprache, die von deren Verächtern "Kritikerlatein" genannt wird, die es aber auch dem musikalisch Halbgebildeten ermöglicht zumindest emotionell zu erahnen was der Kritiker beim Hören eines Werkes - bzw einer Interpretation empfunden hat, bzw vorgibt empfunden zu haben.


    Das Wissen über die Konstruktion von Kompositionen, Kunstkniffe bei der Interpretation etc, ist einerseits eine Bereicherung - andrerseits verliert man seine "Unschuld" dabei, wird immer anspruchsvoller und kritischer - und im allerschlimmsten Fall wird man ein wenig schrullig und beginnt "großen Komonisten" ihre "Genialität" abzusprechen, bzw, (vorzugsweise in der Mitte des 20. Jahrhunderts üblich) als ausübender Musiker (bes. Dirigent)die Werke auf "Schwachstellen" abzugrasen und von eigener Hand zu "verbessern"


    Der wohl wichtigste Eindruck entsteht, wenn man ein Werk das erste am hört - was wohl nur dem Klassikeinsteiger bzw dem Jugendlichen möglich ist: Man ist dann (allerdings nur näherungsweise) in jener Situation, die das Publikum seinerzeit bei der Uraufführung erlebt haben mag.
    Ganz stimmt das natürlich nicht, denn wir alle sind in gewisser Weise doch ein wenig von heutigen Hörgewohnheiten geprägt, von Klängen, die das Publikum vor einhundert oder zweihundert Jahren einfach noch nicht kannte...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo!


    Ich kopiere mal ein Zitat von Kurzstückmeister aus dem Thread Die Lieblings-Zwölftonwerke der Taminos hierhin, weil das gerade gut passt:


    Zitat

    Original von Kurzstueckmeister


    Das haben die Komponisten der Wiener Schule sich auch von ihren Rezipienten nicht gewünscht. Nicht einmal die Interpreten sollen das tun.


    Was haben sie sich denn gewünscht? Will meinen, wie rezipiere ich ein Zwölftonwerk abgesehen von "einfach nur hören"? Auf was soll ich mich als Hörer konzentrieren?



    Gruß,
    Frank.

  • Hallo Frank,



    mir geht es jedenfalls so, dass ich da keinen grundsätzlichen Unterschied zu älterem Repertoire sehe. Auch beim Kennenlernen einer Bach-Fuge oder einer Beethoven-Sonate weiß man nicht gleich ganz sicher, worauf man achten soll. Dann merkt man, dass bestimmte Motive oder Melodien (ja, die kommen auch beim 12-tönigen Schönberg noch vor!)mehr oder weniger variiert wiederkehren und kann sich bei nochmaligem Hören besser orientieren.


    Viele Grüße

  • Zitat

    Original von Kontrapunkt


    Auch beim Kennenlernen einer Bach-Fuge oder einer Beethoven-Sonate weiß man nicht gleich ganz sicher, worauf man achten soll. Dann merkt man, dass bestimmte Motive oder Melodien (ja, die kommen auch beim 12-tönigen Schönberg noch vor!)mehr oder weniger variiert wiederkehren und kann sich bei nochmaligem Hören besser orientieren.


    Lieber Kontrapunkt,


    Vermutlich liegt es an die Tatsache, daß ich Ausländer bin. Denn Spradows Bemerkung bedeutet für mich "wenn ich so ein Werk nicht 'einfach hören' könnte, wie soll ich es dann verstehen und interpretieren.
    Dagegen sagst Du m.E. "erst mehrfach hören macht es deutlich".


    Ist mit "einfach hören" dann "einmalig hören" gemeint? Ich kann mich irren, aber denke nicht.


    LG, Paul

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  • Hallo Paul,


    Zitat

    Original von musicophil
    Vermutlich liegt es an die Tatsache, daß ich Ausländer bin. Denn Spradows Bemerkung bedeutet für mich "wenn ich so ein Werk nicht 'einfach hören' könnte, wie soll ich es dann verstehen und interpretieren.
    Dagegen sagst Du m.E. "erst mehrfach hören macht es deutlich".


    Ist mit "einfach hören" dann "einmalig hören" gemeint? Ich kann mich irren, aber denke nicht.


    Frank habe ich so verstanden: "einfach hören" meint ein unmittelbares Hören ohne theoretische Vorarbeit oder Kenntnis.


    Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich klassische Standard-Werke wirklich verstanden habe, auch wenn ich sie schon oft gehört und einiges über sie gelesen habe.


    :hello:

  • Zitat

    Original von Kontrapunkt
    Frank habe ich so verstanden: "einfach hören" meint ein unmittelbares Hören ohne theoretische Vorarbeit oder Kenntnis.


    Ja, genauso war es gemeint! Das hilft mir bisher nicht weiter, deswegen die Nachfrage.



    Zitat

    mir geht es jedenfalls so, dass ich da keinen grundsätzlichen Unterschied zu älterem Repertoire sehe. Auch beim Kennenlernen einer Bach-Fuge oder einer Beethoven-Sonate weiß man nicht gleich ganz sicher, worauf man achten soll.


    Bei einer einfachen Fuge zum Beispiel auf die Themeneinsätze, dann das Verfolgen des Themas, dann das Heraushören des Kontrapunkts, später dann diverser Umgestaltungen des Themas wie Umkehrung, Diminuition, etc. . Bei der Sonate zum Beispiel das Heraushören von Sonatensatz-, Variations- oder Rondoformen.



    Zitat

    Dann merkt man, dass bestimmte Motive oder Melodien (ja, die kommen auch beim 12-tönigen Schönberg noch vor!)mehr oder weniger variiert wiederkehren und kann sich bei nochmaligem Hören besser orientieren.


    Zugegeben orientieren sich obige "Techniken" stark an den Motiven und ihrer Wiederkehr, aber sie geben dem Hörer doch ein deutliches mehr an Struktur gegenüber der Feststellung, ein Motiv so oder ähnlich schon einmal gehört zu haben. Wenn es für die Zwölftonmusik kein allgemeines dazu analoges Konzept gibt, gibt es dann vielleicht Strukturprinzipien, die für Teilbereiche der ZTM gelten, beispielsweise für bestimmte Komponisten? Was für Strukturprinzipien verwendet z.B. Schönberg übergeordnet über die Zwölftonreihe und ihre Manipulation, und kann man diese hörend erkennen?


    Mich irritiert außerdem ein wenig, dass Schönberg die Reihentransformationen in der Tradition beethovenscher und brahmsscher thematischer Arbeit sieht, aber gleichzeitig nicht möchte, dass Hörer oder Spieler dies nachvollziehen können. Wozu brauche ich die thematische Arbeit, wenn man sie nicht ohne weiteres nachvollziehen kann?



    Gruß,
    Frank.


  • Wieder Mittel-Zweck-Verwechslung!
    Außerdem hat Schönberg nicht gesagt, daß der Hörer das nicht nachvollziehen darf, sondern nur, daß er es nicht muß. Ich sehe das so ähnlich, wie das ein Betrachter einer Kathedrale nichts von Statik verstehen muß (obwohl wesentliche Züge der Architektur durch sie bestimmt werden), um ästhetisch beeindruckt zu sein. Die Idee ist wohl, daß übergeordnete Organisationsprinzipien Einheit stiften, auch wenn man sie nicht explizit heraushört.


    Es gibt diese Stelle im Kopfsatz von Brahms 4., bei der Klarinetten eine recht gemütliche triolische Version irgendeines Nebenthemas dudeln (auch diese Ableitung ist nicht ganz einfach zu hören), während die Streicher pizzicato mit dem Eingangsmotiv des Satzes begleiten. Ich habe das erst nach Jahren wahrgenommen, nachdem mich ein analytischer Kommentar darauf gestoßen hat. Ich habe auch ziemlich ungläubig die 30 mal 8 Takte im Finale dieses Werks gezählt, als ich zum ersten Mal die Noten gesehen habe, obwohl ich natürlich vorher schon gelesen hatte, daß es sich um eine Chaconne/Passcaglia handeln soll. Das Bsp. oben mit den Variationen in op.127 kann ich ebenfalls sehr gut nachvollziehen (zumal diese Struktur zunehmend gelockert wird); das läßt sich nicht so leicht hören wie in Haydns "Paukenschlag" und dieser vergleichsweise ungebrochene Fluß gehört wesentlich zum Eindruck des Satzes, während ich nicht sicher bin, daß ein Abhaken a la "aha, Variation 2 zuende!" wahnsinnig viel bringt.
    Habe ich vorher komplett an der Musik vorbeigehört? Sicher nicht. "Versteht" man mehr, wenn man so etwas feststellt? Vielleicht. Aber manches davon ist eher irrelevant, oder eben ein ganz netter Bonus, aber nichts was meine ästhetische Reaktion auf die Musik irgendwie beeinflußt.


    Genauer zur 12tonmusik kann sich vielleicht der KSM äußern, weil ich mich da nicht auskenne.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Und dann? Hast Du ein Gedicht verstanden, wenn Du festgestellt hast, daß es ein Sonett ist oder hast Du ein Problem, wenn es keine leicht erkennbare (oder vielleicht gar keine strikte) Form aufweist?
    Gewiß kann und soll man auf alle diese Dinge achten, aber sie sind doch eher Mittel zum Zweck, oder?
    Es gibt vielleicht ein paar Fugen Bachs, die als einen Hauptzweck die Demonstration bestimmter kontrapunktischer Verfahren (zu Lehrzwecken oder eben als showing off) haben, aber letztlich kommt es doch auf ihren Einsatz zum Erreichen bestimmter Affekte oder überhaupt packender Eindrücke beim Hörer an. Engführungen wirken z.B. meistens als Steigerung, eine Vergrößerung im Bass grandios usw.


    Natürlich sind das alles Mittel zum Zweck, das ist doch auch meinen bisherigen Beiträgen klar zu entnehmen! Mein Zweck ist das Verständnis von Zwölftonmusik, und simples Hören hat bisher nicht dazu geführt. Also suche ich aktivere Wege.
    Die für Fugen und Sonaten genannten Techniken helfen doch unbestritten dabei, sich ein solches Werk schneller und gründlicher zu erschließen, deswegen meine Frage, ob es z.B. für Schönbergs Musik Analoges gibt: Mein Problem hier ist nämlich schlicht, dass die Musik an mir vorbeirauscht, ohne mir Fixpunkte zu bieten. Das liegt u.A. natürlich auch daran, dass die gewohnte tonale Harmonik als (unterbewusste) Orientierungshilfe wegfällt.
    Ich brauche also "Ersatz an Fixpunkten", und da ich anscheinend keinen mir subtil zugänglichen Ersatz finde, suche ich nach einem intellektuell zugänglichen!



    Zitat

    Wieder Mittel-Zweck-Verwechslung!
    Außerdem hat Schönberg nicht gesagt, daß der Hörer das nicht nachvollziehen darf, sondern nur, daß er es nicht muß. Ich sehe das so ähnlich, wie das ein Betrachter einer Kathedrale nichts von Statik verstehen muß (obwohl wesentliche Züge der Architektur durch sie bestimmt werden), um ästhetisch beeindruckt zu sein. Die Idee ist wohl, daß übergeordnete Organisationsprinzipien Einheit stiften, auch wenn man sie nicht explizit heraushört.


    Es gibt diese Stelle im Kopfsatz von Brahms 4., bei der Klarinetten eine recht gemütliche triolische Version irgendeines Nebenthemas dudeln (auch diese Ableitung ist nicht ganz einfach zu hören), während die Streicher pizzicato mit dem Eingangsmotiv des Satzes begleiten. Ich habe das erst nach Jahren wahrgenommen, nachdem mich ein analytischer Kommentar darauf gestoßen hat. Ich habe auch ziemlich ungläubig die 30 mal 8 Takte im Finale dieses Werks gezählt, als ich zum ersten Mal die Noten gesehen habe, obwohl ich natürlich vorher schon gelesen hatte, daß es sich um eine Chaconne/Passcaglia handeln soll. Das Bsp. oben mit den Variationen in op.127 kann ich ebenfalls sehr gut nachvollziehen (zumal diese Struktur zunehmend gelockert wird); das läßt sich nicht so leicht hören wie in Haydns "Paukenschlag" und dieser vergleichsweise ungebrochene Fluß gehört wesentlich zum Eindruck des Satzes, während ich nicht sicher bin, daß ein Abhaken a la "aha, Variation 2 zuende!" wahnsinnig viel bringt.


    Natürlich kann man immer Extrembeispiele herbeizitieren wie das von Dir genannte aus Brahms' vierter Symphonie, aber im Allgemeinen bin ich mir sehr sicher, dass Dinge wie das Abspalten von Motivteilen oder das Variieren von Motiven, zum Beispiel um Überleitungspassagen zu konstruieren oder in Durchführungen, auch unterbewusst dazu führen, dass man als Hörer ein Gefühl von Konsistenz bekommt. Als ich diese Prinzipien bewusst kennengelernt habe, war ich mir sofort sicher, sie unterbewusst schon lange verinnerlicht gehabt zu haben!
    Und nun soll im Kontrast dazu bei Schönberg nicht einmal der ausführende Musiker diese Transformationen bemerken, und das Verfahren wird also wohl diesen Eindruck der Konsistenz nicht erzeugen können (?). Was nutzt es dann?



    Gruß,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow


    Bei einer einfachen Fuge zum Beispiel auf die Themeneinsätze, dann das Verfolgen des Themas, dann das Heraushören des Kontrapunkts, später dann diverser Umgestaltungen des Themas wie Umkehrung, Diminuition, etc. . Bei der Sonate zum Beispiel das Heraushören von Sonatensatz-, Variations- oder Rondoformen.


    Natürlich kenne ich auch das Grob-Schema für den Sonatenhauptsatz (zunächst Exposition mit Haupt- und Nebenthema, Durchführung, Reprise, Coda). Aber, wie JR bereits schrieb, was weiß man über den einzelnen Satz, wenn man diese Teilabschnitte wiedererkennt?
    Und dann gibt es ja auch noch Sonatenhauptsätze, die nicht so ohne weiteres unter dieses Schema passen. Z.B. lese ich über Bruckner-Sinfonien, dass da mehr als 2 Themen vorkommen. Ich kann aber seine 7te auch genießen, ohne diese Themen benennen oder auseinanderhalten zu können.
    Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich, wenn die verschiedenen Themen von einander abgeleitet sind, was ich in der Regel auch nicht merke. (Baff war ich allerdings, als ich merkte, dass die traurige Melodie im 3. Abschnitt und das fröhliche Rondo-Thema des 4. Abschnitts in Schönbergs op. 7 praktisch identisch sind.)


    Mit Schönbergs ersten Zwölfton-Werken dürftest Du sogar weniger Probleme haben als mit seiner "Verklärten Nacht" oder mit Wagners "Tristan", so deutlich ist der Rückgriff auf traditionelle Formen.


    Zitat

    Zugegeben orientieren sich obige "Techniken" stark an den Motiven und ihrer Wiederkehr, aber sie geben dem Hörer doch ein deutliches mehr an Struktur gegenüber der Feststellung, ein Motiv so oder ähnlich schon einmal gehört zu haben. Wenn es für die Zwölftonmusik kein allgemeines dazu analoges Konzept gibt, gibt es dann vielleicht Strukturprinzipien, die für Teilbereiche der ZTM gelten, beispielsweise für bestimmte Komponisten? Was für Strukturprinzipien verwendet z.B. Schönberg übergeordnet über die Zwölftonreihe und ihre Manipulation, und kann man diese hörend erkennen?


    Für Zwölfton-Musik gibt es kein allgemeines Konzept, weil sie eben allgemeiner ist: man kann Sonatensätze, Rondi, Variationen, chaotische Klangballungen dodekaphon schreiben. Und es wurde ja auch schon mehr als einmal darauf hingewiesen, dass mit der ZTT noch nicht mal eine Entscheidung zwischen tonal oder atonal gefallen ist.


    Zitat

    Mich irritiert außerdem ein wenig, dass Schönberg die Reihentransformationen in der Tradition beethovenscher und brahmsscher thematischer Arbeit sieht, aber gleichzeitig nicht möchte, dass Hörer oder Spieler dies nachvollziehen können. Wozu brauche ich die thematische Arbeit, wenn man sie nicht ohne weiteres nachvollziehen kann?


    Eine Zwölftonreihe ist ja kein Thema, jedenfalls nicht zwingend. Deshalb kann man die motivische Arbeit durchaus erkennen, ohne dass man die zugrundeliegende Reihe herausgefunden hat.


    Viele Grüße

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  • Zitat

    Original von KontrapunktNatürlich kenne ich auch das Grob-Schema für den Sonatenhauptsatz (zunächst Exposition mit Haupt- und Nebenthema, Durchführung, Reprise, Coda). Aber, wie JR bereits schrieb, was weiß man über den einzelnen Satz, wenn man diese Teilabschnitte wiedererkennt?
    Und dann gibt es ja auch noch Sonatenhauptsätze, die nicht so ohne weiteres unter dieses Schema passen. Z.B. lese ich über Bruckner-Sinfonien, dass da mehr als 2 Themen vorkommen. Ich kann aber seine 7te auch genießen, ohne diese Themen benennen oder auseinanderhalten zu können.
    Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich, wenn die verschiedenen Themen von einander abgeleitet sind, was ich in der Regel auch nicht merke. (Baff war ich allerdings, als ich merkte, dass die traurige Melodie im 3. Abschnitt und das fröhliche Rondo-Thema des 4. Abschnitts in Schönbergs op. 7 praktisch identisch sind.)


    Siehe mein obiger Beitrag, wir haben anscheinend gleichzeitig geschrieben. Ich sehe das aktive Erfassen der Struktur natürlich weder als hinreichendes noch als notwendiges Kriterium zum Genießen eines Werks an! Aber helfen kann es trotzdem, wenn es rein intuitiv nicht klappt (mir hat das z.B. bei Haydn geholfen, den ich früher, wie Du im Forum noch irgendwo nachlesen kannst, nicht besonders gemocht habe; inzwischen mag ich seine Musik aber auch intuitiv)!



    Zitat

    Mit Schönbergs ersten Zwölfton-Werken dürftest Du sogar weniger Probleme haben als mit seiner "Verklärten Nacht" oder mit Wagners "Tristan", so deutlich ist der Rückgriff auf traditionelle Formen.
    [...]
    Für Zwölfton-Musik gibt es kein allgemeines Konzept, weil sie eben allgemeiner ist: man kann Sonatensätze, Rondi, Variationen, chaotische Klangballungen dodekaphon schreiben. Und es wurde ja auch schon mehr als einmal darauf hingewiesen, dass mit der ZTT noch nicht mal eine Entscheidung zwischen tonal oder atonal gefallen ist.


    Wobei die Atonalität von Schönberg doch durch das Konzept intendiert war, oder? Dein Hinweis auf die Verwendung traditioneller Formen in Schönbergs ersten Zwölftonwerke ist interessant, die sollte ich mir vielleicht als erstes vornehmen. Vielleicht wollte Schönberg den Hörern dadurch die Umstellung erleichtern?



    Zitat

    Eine Zwölftonreihe ist ja kein Thema, jedenfalls nicht zwingend. Deshalb kann man die motivische Arbeit durchaus erkennen, ohne dass man die zugrundeliegende Reihe herausgefunden hat.


    Ah, ok; dann habe ich das missverstanden! Klar, ein Thema in tonaler Musik kann ich ja auch erkennen, ohne alle Noten genau benennen zu können. ;)



    Gruß,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow


    Wobei die Atonalität von Schönberg doch durch das Konzept intendiert war, oder? Dein Hinweis auf die Verwendung traditioneller Formen in Schönbergs ersten Zwölftonwerke ist interessant, die sollte ich mir vielleicht als erstes vornehmen. Vielleicht wollte Schönberg den Hörern dadurch die Umstellung erleichtern?


    Der Schritt zur Atonalität geschah bei Schönberg ungefähr 15 Jahre bevor er anfing, zwölftönig zu komponieren (so ab der 1. Hälfte der 1920'er Jahre). Dabei hatte er wohl auch vor weiter atonal zu komponieren. In der freien Atonalität tendierten die Werke zur Kürze (wobei ja der Wozzeck von Berg durchaus halbwegs abendfüllend ist).
    Häufig heißt es, dass die ZTT wieder eine größere Einheit ermöglichen sollte. Trotzdem haben Schönbergs erste dodekaphone Werke eine eher kleine Besetzung (Solo-Klavier, Bläserquintett, Chor, Streichquartett), und ihre traditionellen Formen waren vielleicht eine Hilfe auch für den Komponisten selbst sich in dem neuen Terrain zurechtzufinden.
    Das erste größer besetzte Werk sind dann die Variationen für Orchester op. 31. Die habe ich allerdings noch nicht so oft gehört, scheinen mir aber vom ersten Eindruck interessanter als das Klavierkonzert.
    Das wiederum ist ein Zwölfton-Werk von milderem Klang, vielleicht ist auch das Bläserquintett op. 26 ein guter Einstieg.


    Es gibt danach übrigens wiederum einige Werke, die wohl tonal sind (aber nicht zwölftönig - z.B. das Kol Nidre op. 39).


    Viele Grüße

  • Himmel, hat meine kurze Bemerkung dies alles ausgelöst?
    Obwohl ich mich nicht entschuldige. Dafür finde ich die darauffolgenden Beiträge zu interessant. :P


    LG, Paul

  • Liebe "Alle"!


    Das war eine echt spannende Lektüre!


    Nicht zuletzt, weil so viele verschiedene, ineinander greifende Gegensatzpaare angeschnitten wurden. Ich versuche, die Wichtigsten auseinander zu halten, wie sie mir aufgefallen sind.


    Ein Gegensatzpaar war bestimmt die Frage, ob mit/vom Herzen oder mit/durch Vernunft. Dass wir unterschiedlich zuhören und das Gehörte unterschiedlich aufnehmen, ist von sehr vielen Faktoren abhängig, solche sind, sporadisch aufgezählt: das jeweilige Werk, die jeweilige Situation, der Zuhörer mit seiner ganzen Persönlichkeit, definiert auch durch sein ganzes Leben usw., Entschuldigung wegen der Binsenwahrheiten. Ich wollte nur da hinaus, dass diese beiden Polen des Musikhörens gleich „wertvoll“ sind, d. h. für den Hörer gleich tiefe Erlebnisse sichern können. So wie das Ulli durch seine Beispiele über Mozart für mich klar gelegt hat. Bestimmt mögen wir uns alle an wichtige Erlebnisse von beider Art Musikhörens erinnern, auch wenn bei einem oder anderem von uns eher die eine oder die andere Art dominieren kann (von der möglichen Mischung ganz zu schweigen…).


    Ein ganz anderes Gegensatzpaar stellt die Frage dar, ob naiv-unwissend oder mit mehr oder weniger tiefgründigen Kenntnissen bewaffnet. Da glaube ich, (und ich glaube, dabei stimme ich Johannes zu) dass die Annahme vom naiv-unwissenden Musikhören eher eine Fiktion ist. Denn wir alle verfügen unausweichlich über bestimmte Kenntnisse. Das Neue knüpft sich daran, was wir schon kennen. Wenn wir in ein Konzert gehen, wissen wir, was und von welchem Komponisten gespielt wird, das ist ja auch schon ein Wissen, und nicht nur ein lexikalisches, sondern auch ein musikalisches, angenommen, dass wir von dem Meister schon einiges gehört haben usw. Warum geben manche Komponisten ihren Werken oft einen auffallend visuell wirkenden Titel? Oder überhaupt einen Titel? Das ist auch eine Information, die wir beim Hören miterleben. Da fällt mir die Anekdote vom Vertreter einer für uns „exotischen“ Nation ein, der in Europa nach einem Konzert befragt wurde, was ihm am besten gefallen hat. Die Antwort: das, was die Musiker am Anfang gespielt haben, noch bevor der Dirigent erschienen ist… Offensichtlich waren ihm jene „Klänge“ am leichtesten daran anzuschließen, was er schon kannte. – Der „naiv-unwissende“ Musikhörer und der musikalisch „gefeilte“ Musikhörer sind keine Gegensätze, sondern nur Abstufungen, jedoch nicht, was ihre mögliche Freude und ihren Genuss anbelangt, denn das kann auch gleich sein, wenn auch nicht unbedingt beim gleichen Stück oder bei der gleichen Interpretation. In dieser Hinsicht können wir alle die Musik „einfach nur hören“ – allerdings ist dieses „einfach“ nicht ganz einfach zu definieren.


    Wo dieser Satz „ich beneide Sie, dass …“ nach meinem Erachten wirklich „zu Hause“ ist, das ist die Arbeitsgebundenheit der professionellen Musiker, diese „Arbeitsgebundenheit“ kann aber von den obigen zwei Aspekten (Art des Zuhörens, mitgebrachter Kenntnisstand in Bezug auf das jeweilige Stück und die jeweilige Situation) auch ohne Weiteres überlagert werden. Damit will ich sagen, dass der professionelle Musiker bestimmt nicht zu bemitleiden ist, im Gegenteil…. Andererseits können wir Laien genauso unsere Freude und unseren Genuss haben, in der Tiefe, die wir in der gegebenen Situation usw. erreichen können und wollen.


    Ein besonderes Thema wäre noch das Ersthören versus wiederholtes Hören – dies würde jedoch den Rahmen dieses schon viel zu langen Beitrags sprengen.


    Piroska

  • Zitat

    Original von kopiroska
    das Ulli


    Liebe Piroska,


    Ulrich Blees, hier im Forum angedeutet mit Ulli, wird sicherlich erwarten, fortan angedeutet zu werden als der Ulli.
    Ansonsten: guter Beitrag.


    LG, Paul

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  • Hallo kopiroska,


    Zitat

    Wo dieser Satz „ich beneide Sie, dass …“ nach meinem Erachten wirklich „zu Hause“ ist, das ist die Arbeitsgebundenheit der professionellen Musiker, diese „Arbeitsgebundenheit“ kann aber von den obigen zwei Aspekten (Art des Zuhörens, mitgebrachter Kenntnisstand in Bezug auf das jeweilige Stück und die jeweilige Situation) auch ohne Weiteres überlagert werden. Damit will ich sagen, dass der professionelle Musiker bestimmt nicht zu bemitleiden ist, im Gegenteil…. Andererseits können wir Laien genauso unsere Freude und unseren Genuss haben, in der Tiefe, die wir in der gegebenen Situation usw. erreichen können und wollen.


    ein E-Bassist sagte mir im Gespräch mal, dass er die Musik, die gerade im Hintergrund lief, die ganze Zeit nebenbei harmonisch analysiert. Ich beneidete ihn um diese Fähigkeit. Aber er meinte, dass wäre eher eine unfreiwillige Anstrengung.


    Viele Grüße

  • Oh je -- das ist schlimm!! Dabei habe ich nur die Reihenfolge verwechselt, ich hätte schreiben wollen: So wie Ulli das durch seine Beispiele über Mozart für mich klar gelegt hat. Und die Reihenfolge ist bestimmend wichtig, es ist nicht egal, ob Desdemona Othello oder Othello Desdemona getötet hat... und auch nicht egal, ob ich do-re-mi oder do-mi-re singe... ... Aber singen tut man doch, ich geb es nicht auf...
    Alles Gute.
    P.

  • Zitat

    Natürlich kann man immer Extrembeispiele herbeizitieren wie das von Dir genannte aus Brahms' vierter Symphonie, aber im Allgemeinen bin ich mir sehr sicher, dass Dinge wie das Abspalten von Motivteilen oder das Variieren von Motiven, zum Beispiel um Überleitungspassagen zu konstruieren oder in Durchführungen, auch unterbewusst dazu führen, dass man als Hörer ein Gefühl von Konsistenz bekommt.


    Hallo,


    das Beispiel (Finale 4. Sinfonie) finde ich keineswegs "extrem".


    Als Jugendlicher habe ich beispielsweise die meisten Werke von Brahms nicht gemocht, ich nahm diese (auch mit Partitur in der Hand) als unstrukturiertes, lästiges Durcheinander war, wenngleich ich durchaus in der Lage war, z.B. eine Sonatenhauptsatzform zu identifizieren.


    Dann hörte ich zum ersten Mal das Finale der 4. Sinfonie. Ich erkannte, daß es sich um Variationen handelt und der Satz gefiel mir, da er eben kein unstrukturiertes Durcheinander war. Anschließend erkannte ich viele andere Werke von Brahms als aus Varationen zusammengestellt. Erst durch diese Erkenntnis wurde Brahms für mich "konsumierbar".


    Gruß


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Hallo Andreas!


    Zitat

    Original von AH.
    das Beispiel (Finale 4. Sinfonie) finde ich keineswegs "extrem".


    Ich meinte Johannes' Beispiel aus der Durchführung des Kopfsatzes (Klarinette mit Pizzicato-Begleitung, wobei die Pizzicato-Begleitung das Hauptmotiv spielt, in der Durchführung ab Takt 219/Kleiber-Aufnahme ab ca. 6:20). Aufgrund der Besetzung tue ich mir sogar mit Kenntnis der Stelle schwer darin, alleine hörend im Pizzicato der Streicher das Hauptthema auszumachen, deswegen "extrem".


    Das Finale empfinde ich übrigens seit dem ersten Hörkontakt als "abgehackt", so als wenn da was zusammensteckt wurde und man die Nahtstellen noch sieht. Damals wusste ich noch nichts von Passacaglias, ich sehe das also auch so, dass man da eine Struktur gut erkennen kann.
    Auch die rhythmische Verwandtschaft der Abschnitte finde ich da übrigens auffällig, kann aber nicht mehr sagen, wann ich das festgestellt habe und ob ich da schon um die Form Bescheid wusste.



    Gruß,
    Frank.


    PS: Ein Beispiel aus dem Kopfsatz, was ich auch erst durch Lesen mitbekommen habe, ist übrigens der "augmentierte" Beginn des Hauptthemas in der Reprise; ich habe den Beginn selbiger früher immer an dem Punkt festgemacht, wo es (etwas später) wieder mit Normalmaß fortgesetzt wird.

  • Zitat

    Original von Spradow
    PS: Ein Beispiel aus dem Kopfsatz, was ich auch erst durch Lesen mitbekommen habe, ist übrigens der "augmentierte" Beginn des Hauptthemas in der Reprise; ich habe den Beginn selbiger früher immer an dem Punkt festgemacht, wo es (etwas später) wieder mit Normalmaß fortgesetzt wird.


    Also das finde ich nun eine ziemlich offensichtliche Markierung. Man hört m.E. deutlich sowohl die Verzögerung/Vergrößerung ("Nebelvorhang"), als auch, daß dann, wenn es normal weitergeht, der Anfang gefehlt hat. Allerdings habe ich das Stück seit etwa 20 Jahren nun so oft gehört, daß ich auch nicht mehr weiß, wann mir das noch nicht klar war. Ein Streit, ob der Repriseneinsatz mit der Vergrößerung stattfindet oder wenig später ist, m.E. müßig. Gewiß bietet der "Vorhang" noch nicht das Gefühl des "Ankommens", aber insgesamt habe ich hier gar nicht den Eindruck einer Verschleierung, sondern eher der Hervorhebung der Struktur. Mal abgesehen von dem geheimnis- und erwartungsvollen Klang der Stelle.


    Was ich immer deutlich zu machen versuche: Man muß nie was von Sonatenform gehört haben, aber wer über diese Stelle hinweghört, sie nicht als bemerkenswert, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch in der Dramaturgie des Satzes erkennt, der hört m.E. nicht "einfach nur", sondern er hört (noch) nicht richtig zu und tatsächlich an dem Stück vorbei.


    Ich kann es natürlich nicht direkt beweisen, weil ich kein 12-Tonstück je so analysiert habe und kaum eines gut genug kenne, aber ich vermute, daß dort die Idee ebenfalls ist, daß auch ohne Analyse oder ohne bewußtes Hören die Einheit, die die Reihe stiften soll, vage oder unbewußt wahrgenommen werden kann.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Zitat

    Das Finale empfinde ich übrigens seit dem ersten Hörkontakt als "abgehackt", so als wenn da was zusammensteckt wurde und man die Nahtstellen noch sieht. Damals wusste ich noch nichts von Passacaglias, ich sehe das also auch so, dass man da eine Struktur gut erkennen kann.


    Hallo,


    ich konnte nach der Erkenntnis am Finale der 4. Sinfonie auch in den anderen Werken von Brahms solche Nahtstellen hören bzw. habe erkannt, daß seine Werke meist aus relativ kurzen, variationsartigen Einheiten zusammengesetzt sind, die nur zu sonatenhaupsatzformähnlichen Gebilden geordnet sind.
    Seit dieser Erkenntnis mag ich die Werke von Brahms, voher empfand ich die meisten als recht ungenießbar.


    Gruß


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Zitat

    Original von Spradow
    Mein Zweck ist das Verständnis von Zwölftonmusik, und simples Hören hat bisher nicht dazu geführt. Also suche ich aktivere Wege.


    Ich rate dann zu Schönbergs Orchester-Variationen, da hier die Form sehr deutlich artikuliert wird (Einleitung, Präsentation des Themas, Variationen, Finale) und außerdem das Thema selbst recht süffig präsentiert wird, es ist eine 12-Ton-Reihe in ihren 4 Gestalten (ich habe es als Teenager auswendig gelernt und mir vorgepfiffen, wann mir danach war, also im Freibad und so ...) und weil das Thema dann immer mal wieder erkennbar ist - oder wenigstens Teile davon.


    Allerdings ist dieses 12-tönige Brahms-Revival auch nicht dazu geeignet, dass man nun jede Note irgendeinem Reihendurchgang hörend zuordnen könnte (und wie gesagt hatten Schönberg und seine Schüler kein Interesse daran, selbst dass die Interpreten die Reihen heraussuchten). Und es ist insofern ein trügerischer Einstieg, da einem die gewohnte thematisch-motivische Hörhaltung, die man hier teilweise noch anwenden kann, bei anderen 12-Ton-Werken nur hinderlich ist, da man (jedenfalls ich, als naiver 12-Ton-Musik-Hörer, der nicht in den Noten auf Reihen-Suche geht) die gleichen Reihenausschnitte einfach nicht wiedererkennt (na Wunder, wenn z.B. einmal das Ganze von vorne nach hinten als Linie kommt, ein andermal daraus Akkorde gebildet werden, wenn einmal ein Schritt, ein andermal ein Nonen-Sprung stattfindet).


    Ich habe z.B. das Bläserquintett in letzter Zeit einigemale gehört (wie gesagt, naiv, ohne Kenntnisse) und mich mitunter gefragt, worauf ich denn nun höre oder hören sollte. Aber ebenso wie ich bei Brahms nicht in der Lage bin, zu erkennen, wo ich gerade in welcher Art von Modulation harmonisch verbogen werde, bin ich hier nicht in der Lage, zu erkennen, wie nun die 12-Ton-Technik harmonisierend das chromatische Total auf ein Geflecht von Linien, zart getupften oder aufschreienden Akkorden etc. ausbreitet.


    Also: Man höre einfach das, was man hört.
    ;)
    Eine Linie - Sprünge, Schritte, was immer - Akkorde, Gegenstimmen, wie sich ein Zustand in den anderen wandelt, wie Schönberg die Farben einsetzt. Das ist einfach wunderschön und durchaus abwechslungsreich, man muss aber freilich aktiv hinhören.

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Genauer zur 12tonmusik kann sich vielleicht der KSM äußern, weil ich mich da nicht auskenne.


    Ich erinnere mich an einen Vortrag, den Schönberg mal hielt, den man im Schönberg-Center mittels Kopfhörer anhören konnte, da brüllt einem eine pedantische Stimme eine pedantische Analyse klassischsten Vokabulars ins Ohr (also irgendwelche Perioden, Vorder- oder Nachsätze und dergleichen), was dann die Analyse eines (atonalen) Zwölftonwerks ist.


    Ich höre Zwölftonmusik viel naiver und unverbildeter als Vergleichbares ( :D ) von Mozart und Haydn, dort versuche ich nämlich, hörend mitzubekommen, ob man nun in der Haupttonart ist oder der Dominanttonart, wie die überleitende modulierende Passage zwischen Haupt- und Seitensatz in der Reprise "eingerichtet" wird (Ratz-Vokabular, oder? Der gehörte doch zum Schönberg-Kreis, stimmt's?)


    Das Klassifizieren von periodenartigen oder satzartigen Gebilden macht mich aber wenig an, drum habe ich es seit dem Studium bleiben lassen.


    Es stellt sich doch die Frage, welche Musik nun so konzipiert ist, dass der Hörer diverses nur mit Vorbildung mitbekommt (und da würde ich Haydn, Mozart und Brahms schon mitrechnen, da ist im Grunde auch das Erkennen von Tonarten wünschenswert und oft fühle ich mich überfordert) und bei welcher Musik das nicht so ist (Stockhausens serielle Phase mit Momentform und "Gruppen"-Schreibweise, man bedenke seine Einführung in Klavierstück I für das Radio - oder noch deutlicher bei Cage oder Xenakis).


    Lustigerweise fühlen sich dann musiktheoretisch gebildete Hörer wie JR oder Spradow bei Stockhausen gelangweilt - die "Insider-Analyse" mit Harmonielehre und Formenlehre geht nicht, aber "nur Klänge hören" wäre ja fad, anspruchslos.


    Wenn Ihr Musik einfach nur hören könntet ...
    :D


    (War jetzt nicht ganz ernst gemeint.)