Innovation und Modernität als Qualitätsmerkmale?

  • Salut,


    die ganze Diskussion geht ja am eigentlichen Thema vorbei. Trotzdem war es mal wieder sehr interessant, die Standpunkte kennen zu lernen. Für mich gilt abschließend:


    Gute Musik bedarf keiner Verteidigung oder Erklärung – sie setzt sich von selbst durch.


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo,


    Zitat

    Gute Musik bedarf keiner Verteidigung oder Erklärung – sie setzt sich von selbst durch.


    Diesem Satz stimme ich mit vöoller Überzeugung zu.


    Aber die folgende Aussage scheint mir auch richtig zu sein:


    Der Mensch fühlt einen Drang, sich zu erklären und manchmal zu verteidigen.


    Ach, lassen wir uns diese Schwäche genießen. Sie hat schon ihren Sinn.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Ulli
    die ganze Diskussion geht ja am eigentlichen Thema vorbei. Trotzdem war es mal wieder sehr interessant, die Standpunkte kennen zu lernen. Für mich gilt abschließend:


    Gute Musik bedarf keiner Verteidigung oder Erklärung – sie setzt sich von selbst durch.


    Bei wem setzt sie sich durch? und was heißt durchgesetzt? Wenn es eine CD damit zu kaufen gibt? Wenn es in jeder zweiten Saison im Abonnementkonzert gespielt wird? wenn es ein paar tausend Leute gerne spielen und anhören, oder ein paar hunderttausend? Und was "von selbst"?
    Wenn ich dieses quasidarwinistische (?) Argument so nehme, wie es da steht, haben sich all die heißgeliebten und (oft zu Recht) der Obskurität entrissenen wie Vanhal, Kraus, Rosetti, alle nicht durchgesetzt, in dem Sinne wie sich Mozart, Beethoven, Wagner durchgesetzt haben ?(


    Uwe: Erklärung und Begründung sind keine Schwächen, sondern eine wesentliche Fähigkeit, die uns zu Menschen macht.. (animal rationale)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • ...

    Zitat

    Uwe: Erklärung und Begründung sind keine Schwächen, sondern eine wesentliche Fähigkeit, die uns zu Menschen macht.. (animal rationale)


    ...das habe ich doch auch so gemeint...Außerdem lebt doch unser Forum dadurch...


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Ulli


    Gute Musik bedarf keiner Verteidigung oder Erklärung – sie setzt sich von selbst durch.


    Die Geschichte zeigt, dass diese Aussage zu optimistisch ist. Selbst gute Musik bedurfte des öfteren der Wiederbelebung (zumindest gehe ich davon aus, dass die Matthäus-Passion unter gute Musik einzureihen ist).


    Und wenn ich daran denke, wieviele musikalische Werke in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten wieder ausgegraben und eingespielt wurden, die hier von mehreren Seiten ebenfalls als mindestens gut eingestuft wurden und dennoch zwei Jahrhunderte lang in Vergessenheit schlummerten....

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Zitat

    Original von Theophilus


    Und wenn ich daran denke, wieviele musikalische Werke in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten wieder ausgegraben und eingespielt wurden, die hier von mehreren Seiten ebenfalls als mindestens gut eingestuft wurden und dennoch zwei Jahrhunderte lang in Vergessenheit schlummerten....


    Eben. Sie setzt sich ganz von selbst wieder durch...


    :hello:

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli


    Eben. Sie setzt sich ganz von selbst wieder durch...


    :hello:


    Eben nicht, denn ansonsten wäre sie nicht in Vergessenheit geraten!

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Ich würde sagen: Sie wird durchgesetzt von Personen, die an sie glauben. Das ist vielleicht eine Wortklauberei, aber "von selber" läuft in Sachen Musik gar nichts.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Ich würde sagen: Sie wird durchgesetzt von Personen, die an sie glauben. Das ist vielleicht eine Wortklauberei, aber "von selber" läuft in Sachen Musik gar nichts.


    Ja, richtig.


    Es gibt Menschen, die diese Musik geradezu suchen, um sie dann wieder publik zu machen. Dafür gibt es sicherlich Gründe, die außerhalb des Finanziellen liegen.


    Jetzt wieder "Rusalka"...


    Ciao


    :hello:

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  • Zitat

    Dafür gibt es sicherlich Gründe, die außerhalb des Finanziellen liegen.


    Ja - aber es kann auch das Interesse an einem bestimmten Komponisten-Umfeld sein, ohne dass man diese Komponisten für außerordentlich hält.
    Gielen etwa war der Meinung, dass man Schreker aufführen müsse, weil er zum Schönberg-Umfeld gehört. (Erst Gerd Albrecht war der Meinung, dass man Schreker aufführen müsse, weil es gute Musik ist.) Die Wiederentdeckung kann u.U. also auch historisch begründet sein. Allerdings wird das Durchsetzen dann zeitlich sehr begrenzt sein.
    :hello:

    ...

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  • Ich sehe die Musik von Rosetti und Kollegen vor ihrer „Wiederentdeckung“ nicht als „vergessen“ an: Sie wurde sanft beiseite gelegt – damit sie sich ausruhen kann. Bei einer Fülle von Musik, wie sie entstanden ist, gibt es Aufnahmegrenzen. Zudem gibt es noch neben dem Publikum weitere Faktoren, die über „Vergessen“ und „Nichtvergessen“ entscheiden.


    Alle Musik hat ihre Zeit - vielleicht ist es eine Mode; sie kommt und geht wieder, kommt erneut, geht erneut... das meine ich mit "von selbst".


    :hello:

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo Edwin, halllo Rest der Welt,


    Ich stehe vor der unlösabaren Aufgabe hier auf etliches interessante einzugehen, aber ich konnte den ganzen Tag nicht im Forum schreiben (etwas das derzeit sehr oft der Fall sein wird) - und jetzt ist dieser Thread ja ellenlang geworden - So möchte ich mir nur einige Argumente herausklauben und dazu Stellung nehemen - so gut es die UImstände eben erlauben.


    Zitat

    Wenn ein Komponist einen eigenen Stil ausprägt, dann ist das etwas Neues - nämlich eine Sprache, die vorher so noch nicht gesprochen wurde.
    Schafft das ein Komponist nicht, ist er ein Epigone.


    Ein solcher Epigone war (zumindest - ist er dadurch überhaupt noch im Gerede) Ferdinand Ries - Und ich muß sagen - ich genieße es schon sehr, daß es statt 9 Beethoven Sinfonien deren nun 17 zu geben scheint - die epigonalen Werke von Ries sind klangschön - erinnern an Beethoven - und haben gelegentlich doch einen Hauch von Eigenständigkeit. Ob Ries ein "großer" Komponist war, das weiß ich nicht - seine Musik ist jedenfalls sehr wirkungsvoll, wuchtig und klangschön gleichzeitig, wobei auch Beethovens "Ungestüm" zum Zuge kommt. -Natürlich ist er kein 2. Beethoven, dazu fehlen ihm einige Eigenschaften (Beethoven selbst schätzte ihn übrigens durchaus) - aber er ist jener Komponist der Beethoven eindeutig am nächsten steht. Somit ist er für mich interessant - und er ist im Begriff posthum die Musikwelt für sich zu gewinnen, wie man an der Veröffentlichungswelle von cpo sehen kann.........Wennich zwischen ihm und irgendeinem Komponisten des 20. Jahrhunderts wählen soll - weiß ich wie ich mich entscheide .-)


    Zitat

    Wenn ein Komponist einen eigenen Stil ausprägt, dann ist das etwas Neues - nämlich eine Sprache, die vorher so noch nicht gesprochen wurde


    Die Frage ist aber auch, WARUM sie vorher so nicht gesprochen wurde.
    Ich werde geren Beispiele aus einem ähnlichen Gebiet - der Malerei bringen. Als man Ludwig XiV Ölgemälde der Genermalere, nämlich solche von derben Bauern (Adrien Browers ?) zeigte, rief er : "Schafft dies Fratzen hinweg aus meinem Angesicht !!"


    Damit soll gesagt sein, daß gewisse Dinge nunmal als unsagbar galten -weil sie eben hässlich waren - das lässt sich übrigens auf alle Bereiche des Lebens ausdehnen.


    Zitat

    Schließlich wurden doch schon einmal Haydn-Sonaten "gefälscht" und da sind wohl wesentlich besser mit der Materie vertraute Leute getäuscht worden, als ich es bin. Grundsätzlich ist das also zweifellos möglich.


    Das Problem ist nur, daß Werke oft danach beurteil werden WER sie Komponiert hat - und nicht wie sie klingen. Als Beispiel sei hier die "Kindersinfonie" genannt, die im Laufe der Zeiten mal Joseph Haydn, dann wiederum Michael Haydn oder Leopold Mozart zugeschrieben wurde. Seit bekannt ist, daß das Wirk NICHT von Joseph Haydn stammt - ist es in einen Dornröschenschlaf versunken.


    Was immer Ulli schreibt - er wird als "Epigone" eingestuft -
    es sei denn es tritt eine "Wende" ein und sein Stil wird "salonfähig"


    Etwas derartiges gab es im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Baukunst: Man baute im Neugotischen, aber auch im neugriechischen Stil, etliche Bauten waren nachempfundene italieneische Renaissance.
    Die Wiener Ringstraße legt ein beredtes Zeugnis von dieser Epoche ab.
    Dennoch wurde eine Art eigener Stil daraus, daer unter "Ringstraßenstil" bekannt ist...


    Zitat

    Komponieren bei Kerzenlicht, WC auf dem Gang (wenn man sich's leisten konnte, sonst im Hof), keine Antibiotika, jede kleine Wunde lebensgefährlich, weil der Wundbrand lauert, ein Wort gegen den König - Rübe ab.


    Persönlich unterscheide ich mich von Ulli dadurch, daß ich nicht gerne im 18. Jahrhundert gelebt hätte, sondern lediglich eineige davon in unsere Zeit herübergerettet weiß. Ich würde geren in einem Rokkoko-Schloß wohnen, allerdings mit Klima-Anlage und elektrifizierten Kristalllustern. etc...-das ist für mich kein Widerspruch.


    Zitat

    Was ich nicht begreife, ist eine eigentümliche Diskrepanz zwischen Literatur, Malerei und Tanz und Musik auf der anderen Seite.
    Wenn es um Literatur geht, haben wir nämlich den Fortschritt geschluckt: Wir lesen primär Literatur der Gegenwart. Wer's nicht glaubt, frage einen ehrlichen Buchhändler, was er öfter verkauft: "Herr der Ringe" oder "Die Leute von Seldwyla".


    Geht es um Malerei, wird ältere Malerei bis inklusive Expressionismus eindeutig vorgezogen, aber immerhin ist der Expressionismus dabei.


    Für mich ist das keine Diskrepanz: Literatur soll Zeiterscheinungen aufzeigen, jene der Vergangenheit - und natürlich der Gegenwart.
    Ähnliches mag teilweise auch fürs Theater gelten.


    MUSIK jedoch soll erfreuen, erhaben Gefühle vermitteln, angenehm sein, die Macht des Herrschers (oder Gottes - wobei es indirekt der Herscher selbst ist, der sich gottähnlich fühlt) repräsentieren oder - einfach schön sein. Musik die keinen dieser Ansprüche erfüllt wird voraussichtlich scheitern.


    Die Malerei - das ist eine ganz andere Sache: Nehmen wir das BIld, des Psychiaters von van Gogh, der , wenn ich mich richtig erinnere, es dazu benutzte eine undichte Stelle im Hühnerstall abzudichten. Heute ist dieses Bild jedoch ein Vermögen wert. Auch ich hätte gerne eine Van Gogh (Ich würde mir um den Erlös einen Jan Steen oder unbekannten Rembrandt kaufen etc......


    Zitat

    Frenzel ist IMHO ein schlechtes Beispiel, denn Frenzel ist ein Epigone - aber nicht der Barockmusik, sondern ein Epigone des völlig seriösen US-Komponisten Peter Schickele,


    Das glaube ich nicht - Schickele ist ein großer Könner - aber er macht sich über gewisse Stilmerkmale lustig - will IMO unterhalten.


    Frenzel, der im Spaß immer wieder als "Österreichs einziger lebender waschechter Barockkomponist" genannt wird, versteckt sich meiner Meinung nach nur hinter dem Spaß - In Wahrheit sind seine Kompositionen IMO ernst gemeint. Wahrscheinlich weil er draufgekommen ist, daß er damit mehr Geld verdienen kann, als mit anderem Material.Für diese These (mehr ist es ja nicht) spräche sein breites Angebot an CDs mit "Barockkompositionen".


    Zitat

    Jetzt mal im Ernst, Alfred: Willst Du ein Portrait unseres Bundeskanzlers oder unseres Oppositionsführers (oder am Ende eines von Mörtel Lugner) im Stil Goyas sehen?


    Abgesehen, daß ich von den drei genannt überhaupt keines sehen möchte, würde ich meinen Lenbach (1885) wäre ein Idealfall für einen Prortraitisten


    Franz_Seraph_von_Lenbach_-_Theodor_Mommsen_(1817_-_1903)_historien_allemand_-_Portrait_of_Theodor_Mommsen_(_-_(MeisterDrucke-995109).jpg


    Wer das Bild von Mommsen sieht, weiß was ich meine: Zeitlos -treffsicher - ohne Schmeichelei - naturnah.



    Zitat

    „Mut zur Hässlichkeit“ bedeutet immerhin, dass hier jemand Mut hatte


    Hier ein nie geschriebenes Oscar Wilde Zitat, ihm von mir in den Mund gelegt: :baeh01:


    Bekenntnisse zur Hässlichkeit bedürfen keines Muts,
    Voraussetzung ist hier lediglich schlechter Geschmack.


    Auf persönliche Angriffe im Thread werde ich nicht antworten - weil ich tendenziell leicht unfreundlich um nicht zu sacgen schneidend werde - und das möchte ich in diesem Forum nicht.


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Was immer Ulli schreibt - er wird als "Epigone" eingestuft -
    es sei denn es tritt eine "Wende" ein und sein Stil wird "salonfähig"


    Was?


    ?(


    Es gibt zwei unterschiedliche Bedeutungen dieses Wortgebildes.


    Eine etwas komplizierte, für die man einen langen Atem benötigt:


    1.) unschöpferischer, unbedeutender Nachfolger bedeutender Vorgänger; Nachahmer ohne eigene Ideen.


    Wie bedeutend sind Kraus, Rosetti, Kozeluch, Myslivecek, Dittersdorf...? :P
    Wer kann es beurteilen, außer daß Er meine Schöpfungen kennt?


    Und eine kurze und bündige und treffsichere:


    2.) Nachgeborener [aus dem Griech.]


    :hello:


    F. X. R. d. W.

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo ‚Lullist',


    ich möchte auf das von Dir vorgestellte Bild von Michael Triegel zurückkommen. Es zeigt eine Art von Nacktheit, die provozieren muss, und dank Google ließ sich eine Meldung finden, die das bestätigt: Der Bischof von Würzburg hat 2005 verboten, im Dom von Würzburg einen nackten Christus von Triegel zu präsentieren. ( Bericht )


    Obwohl Triegel in einer Antwort sich distanziert von anderen zeitgenössischen Werken und nicht wie sie provozieren will, ändert das nichts an seiner Wirkung. Gehört also zur Innovation ein Stück Provokation? Ich denke schon. Damit ist nicht gemeint, mit Provokation andere ärgern oder verletzen zu wollen, sondern sie aus ihren eingefahrenen Hör- oder Sehgewohnheiten zu reißen. Gelingende Provokation soll nicht verprellen und verschließen, sondern regt an und zeigt etwas Ungewohntes, und insofern etwas Neues.


    Was ist das Provozierende in der von Triegel gemalten Nacktheit? Nacktheit konnte früher als die letzte Wirklichkeit verstanden werden, die sich nach aller Enthüllung zeigt und geschützt werden muß. Nun wird aber heute Nacktheit von Magazinen und Filmen geradezu inflationär vorgeführt. Diese Nacktheit zeigt jedoch keinen natürlichen Körper mehr, sondern kosmetisch mit Puder und Salben für die Foto-Sessions aufbereitet und ausgeleuchtet in aufwändig eingerichteten Fotostudios. Im Ergebnis wird eine nackte Haut gezeigt in einem seltsamen Leuchten, das Erregung suggerieren und beim Käufer Kaufgelüste wecken soll. Dadurch wird die dargestellte Frau geradezu entpersönlicht.


    Durch die Konfrontation dieser Art von Nacktheit mit dem Malstil der Renaissance hat Triegel das gut getroffen. Sein Bild kann provozieren, weil es zeigt, wie abgestumpft und gleichgültig wir bereits gegenüber der öffentlich dargestellten Nacktheit geworden sind. Weiter geführt kann es zu Fragen führen, welchen Verletzungen die Persönlichkeit unter diesen Verhältnissen ausgesetzt ist, und vielleicht gelingt es ihm, dies ebenfalls darzustellen.


    Wie sehr Triebel durchaus auch in dem Stil zu malen versteht, den jeder als modern ansehen wird, zeigt sein Gemälde „Anthropisches Prinzip“ von 1996/97:



    Viele Grüße,


    Walter

  • Zitat

    (Alfred)
    Die Frage ist aber auch, WARUM sie vorher so nicht gesprochen wurde.
    Ich werde geren Beispiele aus einem ähnlichen Gebiet - der Malerei bringen. Als man Ludwig XiV Ölgemälde der Genermalere, nämlich solche von derben Bauern (Adrien Browers ?) zeigte, rief er : "Schafft dies Fratzen hinweg aus meinem Angesicht !!"


    Beim Thema Häßlichkeit (was ja in bildlichen Darstelllungen etwas leichter festzumachen ist) fiel mir die aktuelle "Zeit" in die Hände, wo über eine Rembrandt - Caravaggio-Ausstellung im Rijksmuseum berichtet wird. Abgebildet sind die Blendung Simsons und Judith und Holofernes, zwei blutige und brutale Szenen aus der biblischen Geschichte. Der ästhetische Umgang mit der Gewalt wird vom Autor mit zwei gewiß einseitigen, aber doch treffend schönen Sätzen charakterisiert:


    "Bei Rembrandt gerinnt die Farbe, als sei sie selber Blut: "Die Blendung des Samson" von 1635 - ein Bild blinder Wut"


    rembrandt-harmensz-van-rijn-blinding-samson-1383--thumb-xl.jpg


    "In Caravaggios "Judith und Holofernes", um 1598, fließt das Blut wie Rotwein"


    Caravaggio_Judith_Beheading_Holofernes.jpg


    (mehr dazu: "http://www.zeit.de/2006/10/Rembr_2fCaravaggio"; ich hoffe es ist o.k. die Bilder einzufügen, leider ist v.a der Rembrandt zu klein, wer will mag sich im Netz eine größrer Kopie suchen)


    Ist da nun häßlich, eklig, oder schön? Oder wird einfach klar, dass man schon in der bildenden Kunst (wo man m.E. ein klareres intuitives Verständnis von "häßlich" hat als in der Musik) mit solchen einfachen Gegensätzen überhaupt nichts anfangen kann?


    Zitat

    (Alfred)
    Für mich ist das keine Diskrepanz: Literatur soll Zeiterscheinungen aufzeigen, jene der Vergangenheit - und natürlich der Gegenwart.
    Ähnliches mag teilweise auch fürs Theater gelten.


    MUSIK jedoch soll erfreuen, erhaben Gefühle vermitteln, angenehm sein, die Macht des Herrschers (oder Gottes - wobei es indirekt der Herscher selbst ist, der sich gottähnlich fühlt) repräsentieren oder - einfach schön sein. Musik die keinen dieser Ansprüche erfüllt wird voraussichtlich scheitern.


    Warum darf Theater, Literatur etc. Kunst sein, Musik aber nur eine Art angenehme Klangtapete?
    Das werde ich nie verstehen...(und ich glaube auch nicht, das das eine Position ist, die irgendwann mal von Künstlern vertreten wurde...)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Hallo Walter!
    Danke für die Triegel-Abbildung - das geht in die Richtung,die ich meinte: Mit traditionellen Techniken arbeiten, aber dei traditionellen Inhalte in ein Spannungsverhältnis zum Heute setzen. (Ob mir das Bild nun gefällt oder nicht, steht nicht zur Diskussion.)


    Hallo Johannes!
    ad "Klangtapete": Ich habe da eine Theorie. Ich glaube, das Problem ist, dass man der Neuen Musik nicht entkommen kann. Sehe ich ein Bild, das mir nicht gefällt, gehe ich zum nächsten. Lese ich ein Buch, das mir nicht gefällt, klappe ich es zu. Aber was mache ich mit einem Rihm eingekeilt zwischen Mozarts "Lucio Silla"-Ouvertüre und Beethovens 3.? Selbst wenn ich mit zugehaltenen Ohren dasitze (was lächerlich aussieht), höre ich immer noch mehr, als ich hören will.
    Dass ich persönlich auch die Klassiker nicht als Klangtapete wahrnehme, hilft mir wahrscheinlich beim Verständnis Neuer Musik. Wer Musik zur Entspannung hört, kann aber durch oben beschriebenes Phänomen Schwierigkeiten bekommen.


    LG

    ...

  • Hallo Lullist,


    ich habe auch noch einige Anmerkungen zu dem von Dir bezüglich der Malerei gesagtem, habe dafür aber einen Themenbereich im Kulturforum eröffnet, da dies ja nichts mehr mit Musik zu tun hast. Ich bin gespannt auf Deine oder andere Antworten...


    Liebe Grüße


    Mignon :hello:

    Maybe the nation has found peace from its sins... I. A. a. W.E.B. Du Bois

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    ad "Klangtapete": Ich habe da eine Theorie. Ich glaube, das Problem ist, dass man der Neuen Musik nicht entkommen kann. Sehe ich ein Bild, das mir nicht gefällt, gehe ich zum nächsten. Lese ich ein Buch, das mir nicht gefällt, klappe ich es zu. Aber was mache ich mit einem Rihm eingekeilt zwischen Mozarts "Lucio Silla"-Ouvertüre und Beethovens 3.? Selbst wenn ich mit zugehaltenen Ohren dasitze (was lächerlich aussieht), höre ich immer noch mehr, als ich hören will.


    Ja klar, das ist ganz gewiß ein Faktor. Ich bin ein ziemlicher Kunstbanause (d.h. zwar immer wieder pflichtschuldig ins Museum gegangen, aber niemals einen Zugang gefunden wie bei Musik), aber ein großer Teil der seinerzeit skandalösen "abstrakten" Malerei, sei es Kandinsky, Braque oder wer auch immer hat ihren Stachel offenbar sehr viel stärker eingebüßt als Neue Musik. Kandinsky oder Miro hängen im Wartezimmer, wo man die "Blendung des Samson" wohl kaum hinhängen würde (vielleicht L'origin du monde beim Gynäkologen :D :stumm: )


    Zitat


    Dass ich persönlich auch die Klassiker nicht als Klangtapete wahrnehme, hilft mir wahrscheinlich beim Verständnis Neuer Musik. Wer Musik zur Entspannung hört, kann aber durch oben beschriebenes Phänomen Schwierigkeiten bekommen.


    Mir ging es überhaupt nicht um neue Musik, sondern darum, dass ich "Musik als Klangtapete" (die im Gegensatz zu Literatur u.ä. nichts mit dem Leben zu tun hat) völlig absurd finde; schon Popmusik geht häufig darüber hinaus, das kann man nicht zum Maßstab für irgendeine ernstzunehmende Musik machen. (Wenn bestimmte Musik, etwa barocke Tafelmusik, tatsächlich damals als akustische Tapete benutzt wurde, meinetwegen. Aber wenn es heute noch lohnen soll sie zu spielen und zu hören, muß sie über diesen Zweck hinaus Kunstcharakter haben; wir hören ja auch Bachsche Kantaten u.a. außerhalb ihrer liturgischen Funktion)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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  • Salut,


    Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Warum darf Theater, Literatur etc. Kunst sein, Musik aber nur eine Art angenehme Klangtapete?


    Weil Musik, auch in der schaudervollsten lage, das Ohr niemalen beleidigen, sondern doch dabey vergnügen muß, folglich allzeit Musick bleiben Muß.


    Zitat


    Das werde ich nie verstehen...(und ich glaube auch nicht, das das eine Position ist, die irgendwann mal von Künstlern vertreten wurde...)


    :beatnik:


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli


    Weil Musik, auch in der schaudervollsten lage, das Ohr niemalen beleidigen, sondern doch dabey vergnügen muß, folglich allzeit Musick bleiben Muß.


    Ja, und ohne korrekten Generalbass ist Musik nur ein teuflisch Geplärr und Geleyer. Das bedeutet aber nicht "Klangtapete" (mal abgesehen davon, wie häßlich die meisten Tapeten sind...). Ich habe weiter oben schon etliche potentiell "beleidigende" Klänge berühmter Komponisten aufgezählt. Es ändert sich selbstverständlich, was als beleidigend und was als vergnügend aufgefaßt wird (und von wem). "schön" und "häßlich" sind einfach keine simplen Kategorien, die man ohne Kontext anwenden könnte. Ist die Enthauptung mit dem etwa künstlich strömenden Blut auf Caravaggios Bild widerlich? Oder schön? oder beides oder keins von beiden, oder was anderes? Oder ist das einfach das falsche Gegensatzpaar zur Beschreibung?


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Etwas derartiges gab es im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Baukunst: Man baute im Neugotischen, aber auch im neugriechischen Stil, etliche Bauten waren nachempfundene italieneische Renaissance.


    Das kommt vor allem daher, dass man im 19. Jh. nicht so wie Ulli so schaffen wollte, dass man es für alt halten könnte, sondern meistens es "besser" machen wollte (sonst hätte man nicht so viel barocke Gebäude abgerissen).


    Der Historismus ist also die am wenigsten "erhaltende" Epoche gewesen, man hat am meisten künstlerisch bedeutende Gebäude abgerissen, um "bessere" hinzustellen, als zuvor. Oh all die großartigen Fischer-von-Erlach-Palais die dieser barbarischen Zeit (die glaubte, den Barockstil besser zu beherrschen als das 17. und 18. Jh.) zum Opfer fielen!


    ;(

  • Eine Banalität und Selbstverständlichkeit: Ein Blick in die Musikgeschichte lehrt, dass Innovationen die Entwicklung der Musik befördert haben. Komponisten haben etwas gewagt, haben neue Wege eingeschlagen, die sich vom Hergebrachten und Gewohnten unterscheiden. Zur jeweiligen Epoche waren solche Werke modern.


    Gabe es diese Wagnisse nicht, die Musik hätte sich über die Jahrhunderte nicht verändert.


    Hörerwartungen des Publikums wurden von den Komponisten nicht erfüllt, Grenzen wurden von ihnen bewusst überschritten. Neues haben sie entwickelt.


    Umgekehrt kann der Blick in die Vergangenheit erhellend sein, wenn man sich mit Werken beschäftigt, die nicht zum persönlichen musikalischen Kanon gehören unbekannt sind; das gilt für Hörende, Ausführende und Komponisten.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Eine Banalität und Selbstverständlichkeit: Ein Blick in die Musikgeschichte lehrt, dass Innovationen die Entwicklung der Musik befördert haben. Komponisten haben etwas gewagt, haben neue Wege eingeschlagen, die sich vom Hergebrachten und Gewohnten unterscheiden. Zur jeweiligen Epoche waren solche Werke modern.

    Das ist unzweifelhaft so. Musik ist eine Sprache und wie jede solche macht sie eine Wandlung durch. Und wenn gegenwärtige Komponisten ihre gegenwärtigen Gefühle und Stimmungen und Erkenntnisse formulieren wollen, reicht mit großer Wahrscheinlichkeit die Sprache von vor zweihundert Jahren nicht aus.


    Daraus folgt aber nicht, dass Modernität oder Innovation alleine ein Qualitätskriterium seien. Nicht jeder Text, der sich einer modernen Sprache bedient, ist Kunst.



    Hörerwartungen des Publikums wurden von den Komponisten nicht erfüllt, Grenzen wurden von ihnen bewusst überschritten. Neues haben sie entwickelt.


    Das ist der Grund, warum Kunst zuhören erfordert und nicht nachsingen .... :)


    Wer böse Texte liebt und Satire, dem empfehle ich einen Text von Robert Gernhardt


    Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs


    Es zeigt in gewisser Weise die Verachtung und die Abhängigkeit von der Tradition ....

  • Im Gymnasium Sonette mit demjenigen Robert Gernhardts (1937-2006) zu erklären (Reimschema), dürfte den Schülern und Schülerinnen einen bleibenden Lerneindruck verschaffen (Reizschema).


    In Robert Gernhardt, Gesammelte Gedichte 1954 - 2006, Frankfurt am Main, 2010 ist es auf Seite 109 zu finden. In Anmerkungen des Autors erwähnt er, dass keines seiner Gedichte bisher derart oft in Anthologien aufgenommen worden sei (S. 1031).


    Die ganze Anmerkung zu diesem Sonett ist ein besonderes Schmankerl, denn Gernhardt erwähnt, dass "Was einst den grössten Skandal erregte (Strawinskys Sacre du Printemps, Picassos Demoiselles d' Avignon, Benns Morgue) geniesst Jahre später die höchsten Weihen.".


    Wer die Sammlung noch nicht im Regal haben sollte, meine Empfehlung: anschaffen,

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
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