Alle sprechen über dasselbe Musikwerk

  • Und dieser jüdisch-christliche Trostbegriff ist vor allem empirisch geprägt und funktioniert über die Anteilnahme Gottes am Schicksal des Volkes, selten auch des Individuums. Paulus spricht später daran anknüpfend vom "Gott des Trostes" (2. Kor 1), der die Fähigkeit verleiht Anfechtung zu ertragen und zu durch-leiden. Und dieser paulinische Trost-Begriff, der noch keinen Boethius kennt, hat eine eigene Wirkungsgeschichte. Kennst du zufällig das benediktinische Werk "Consolatio de morte amici" des Laurentius von Durham? Der bezieht sich ganz konkret auf Boethius und christianisiert ihn gewissermaßen in die mittelalterliche Theologie hinein.

    Lieber Tristan,


    das ist alles für mich hoch interessant und ich lerne immer gerne etwas dazu in fachtheologischer Hinsicht. Für Theologie habe ich eine Schwäche - das kommt von meiner Walberberger Zeit während des Studiums her. :) Nein, das benediktinische Werk kenne ich nicht!

    Diese gipfelt bei Luther (freilich stark ausdiffernziert) in der Kritik der "billigen Gnade". Daran anknüpfend geht es für mich im Christentum nicht lediglich um Trost im paulinischen Sinne.

    Jetzt verstehe ich zumindest die Richtung besser, was Du meinst.

    Du brauchst mir durchaus nicht zu unterstellen, ich hätte den theologischen Trostbegriff "missverstanden". Ich kenne meine Theologiegeschichte. Du hast in deinen interessanten Ausführungen philosophisch recht, übergehst aber einen Teil der christlich-jüdischen Begriffsgeschichte. Für mich überschätzt du ein wenig den Neuwert der Fragen des 19. Jhs., sind doch antiken jüdischen Weisheitsschriften Teile dieser Gedanken gar nicht so fremd. Der Skeptizismus im Kohelet kommt da schon nah dran ("alles ist eitel" --> das Leben muss nicht notwendig einen guten Sinn haben). Es gibt sogar eine nihilistische Scheol-Lehre, welche die Scheol als Ort der Abwesenheit des Göttlichen sieht. Somit als einen im wahrsten Sinne des Wortes "trostlosen" Ort. So radikal finde ich Rückert dann gar nicht mehr.

    Ja, aber auch in der Philosophie ist das mit den geschichtlichen Untersuchungen so eine Sache. Es gibt immer wieder solche von der Art: Das Neue der Neuzeit war gar nicht so neu, es war der Gedanke im Mittelalter schon da. Das ist natürlich richtig, sowas lässt sich finden, und es ist auch hoch interessant und erhellend (etwas "absolut Neues" gibt es in der Tat nicht, Kontinuität und Diskontinuität gehören immer zusammen), nur ist die Relativierung des Neuen auch wieder problematisch. Letztlich kommt es auf den wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang an. Schon in der griechischen Antike findet man den Gedanken, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist. Nur hat dieser geniale Gedanke keine Wirkungsgeschichte gestiftet. Das berühmteste Beispiel ist der Atomismus. Er stammt aus der frühgriechischen Philosophie, blieb aber Jahrhunderte wirkungslos, weil man ihn für eine unbrauchbare physikalische Theorie hielt. Bis dann Newton kam... Von heute aus gesehen ist es faszinierend, den Nihilismus im AT zu finden. Nur konnte er sich im Christentum unserer Geschichte nicht wirkungsgeschichtlich entfalten. Das hat der Einfluss des Platonismus und Neuplatonismus verhindert. Erst als dieser im 19. Jhd. in die Krise gerät (Friedrich Nietzsche, der Pfarrerssohn, wusste das, wenn er vom Christentum als "Platonismus für´s Volk" sprach), taucht das Nihilismusproblem als beherrschendes Thema auf. Insofern ist Rückert dann letztlich doch radikal - in diesem historischen Kontext. Im ersten Lied taucht ja die platonisch-neuplatonische Lichtmetaphysik auf.

    Aber das führt uns kaum weiter. Interessant ist doch, ob der Trostlosigkeit der Kindstoderfahrung und des Textes ein Trost der Musik von Mahler entgegengesetzt wird. Im von mir referierten paulinischen Sinne des Wortes "Trost" ist das kaum der Fall und wäre zudem ein aussichtsloses Unterfangen. Es würde sofort als "billiger Trost" oder wie du es nennst "Trostpreis" demaskiert werden.

    Ja, letztlich kommt es darauf an, was das im Kontext von Mahlers Werk bedeutet. Er wollte mit seinen Symphonien eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben. Für mich weisen die Kindertotenlieder auf das Lied von der Erde voraus. Das werde ich in meinem Fortsetzungsbeitrag auch andeuten.

    Musikalisierungen von Hoffnungsfetzen, erlernten Trostsymbolen, Einsamkeit, Unsagbarkeit und auch dem Beginn der Verarbeitung - das alles kann Mahler anbieten um gleichsam die Trostlosigkeit tröstend zu vertonen. Das absolut erschütternde aber ist - dass es hier keinen echten Trost gibt. Aber die Unmöglichkeit des Trosts - dafür findet Mahler durchaus Klänge.

    Auch darauf müsste man noch vertiefend eingehen. Ich finde gerade im ersten Lied einen Bezug zum Lied von der Erde. Die Erschütterung ist so groß, dass sie zu einem Sich-selber-Fremdwerden, der Fremdheit seiner selbst, führt. Im Lied von der Erde ist das der Einsame im Herbst. Das lyrische Subjekt steht gleichsam neben sich, die Tröstung wird also gar nicht erlebnismäßig mit affektiver Anteilnahme realisiert (was ja in der Liedvertonung die Aufgabe der Musik wäre), sondern die Trostlosigkeit der Musik steht in bemerkenswerten Kontrast zur Trostbeschwörung des Textes. So ähnlich wie im "Tambourgesell´, wo der Sänger mit tiefdunkler Stimme die Zeile singt "Ich sing mit heller Stimm..." :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ein kleiner [OT]-Abschnitt:


    Schon in der griechischen Antike findet man den Gedanken, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist. Nur hat dieser geniale Gedanke keine Wirkungsgeschichte gestiftet.

    Das kann man so nicht unkommentiert stehenlassen. Eratosthenes hat etwa 240 a.Chr.n. ziemlich genau den Erdumfang berechnet, in dem er Schattenlängen verglich. Das ist weit mehr als ein Gedanke. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in man "gebildeten" Kreisen danach noch glaubte, dass die Erde eine Scheibe sei. Dagegen sprachen einfach viel zu viele Argumente. Auch wenn sicher nicht allen Ansprüchen wissenschaftlicher Untersuchungen standhaltend, ist der Wikipedia-Artikel hilfreich Flache Erde


    Noch vor Eratosthenes hatte der Astronom Aristarch von Samos mit Überlegungen über den abnehmenden und zunehmenden Mond das heliozentrische Weltbild entwickelt. Dieses hatte allerdings nur geringe Wirkgeschichte über viele jahrhunderte.


    Das berühmteste Beispiel ist der Atomismus. Er stammt aus der frühgriechischen Philosophie, blieb aber Jahrhunderte wirkungslos, weil man ihn für eine unbrauchbare physikalische Theorie hielt. Bis dann Newton kam...


    Tatsächlich war der Atomismus lange Zeit trotz aller philosophischen Faszination eine "unbrauchbare" Theorie. Von Newtons korpuskularer Lichttheorie führt kein einfacher Weg zu Atomen. Noch der bedeutende österreichische Physiker Ludwig Boltzmann hatte gewaltige politische Probleme in der wissenschaftlichen Gemeinde mit seiner atomistischen Begründung der Gasdynamik und wählte 1906 den Freitod. Man vermutet, dass er der dauernden Angriffe u.a. auch Ernst Machs leid war.

  • Das kann man so nicht unkommentiert stehenlassen. Eratosthenes hat etwa 240 a.Chr.n. ziemlich genau den Erdumfang berechnet, in dem er Schattenlängen verglich. Das ist weit mehr als ein Gedanke. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in man "gebildeten" Kreisen danach noch glaubte, dass die Erde eine Scheibe sei. Dagegen sprachen einfach viel zu viele Argumente. Auch wenn sicher nicht allen wissenschaftlichen Untersuchungen standhaltend ist der Wikipedia-Artikel hilfreich Flache Erde

    Das kommt davon, wenn man sowas zu schnell aus dem schon angestaubten Gedächtnis schreibt. ^^ Sehr gut, der Wikipedia-Artikel. Es gibt Erfahrungen wie die, dass von Schiffen, die sich vom Meer her sehen, zuerst nur die Masten zu sehen sind. Und es gibt Parmenides, der lehrte, dass die Kugelgestalt die vollkommenste aller Gestalten ist. Im metaphysischen Kontext liegt es also nahe, die Erde als eine Kugel anzusehen.

    Tatsächlich war der Atomismus lange Zeit trotz aller philosophischen Faszination eine "unbrauchbare" Theorie.

    Der Atomismus konnte für die Atombewegungen keine Gesetzmäßigkeit aufweisen. Diese Erklärungslücke füllte dann Newton mit seiner Gravitationstheorie.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Das freut mich!

    Dieser Thread hier entwickelt sich prächtig. Das Konzept, das ihm zugrunde liegt, war eine gute Idee von astewes.

    Viele längere Zeit in ergiebigem Dialog über ein bestimmtes musikalisches Werk, - das hat es schon lange nicht mehr in diesem Forum gegeben.

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  • Zur Deutung und zum Verständnis des Zyklusschlusses

    Im Juni 1935 starb Adornos Tante mütterlicherseits Agathe Calvelli-Adorno, der er sehr verbunden war. Er nannte sie seine „zweite Mutter“. Ihr Tod erschütterte ihn stark. An seinen Freund Ernst Krenek schrieb er: „Ich bin völlig auf den Kopf geschlagen und komme nur langsam überhaupt dahin, mir vorzustellen, daß und gar wie ich weiterleben kann. Das klingt wahnsinnig exaggeriert, aber Sie können mir glauben, daß kein Gran Übertreibung und Sentimentalität daran ist.“

    In diesem Zustand schmerzerfüllter Trauer und Depressivität tut Aorno etwas, was Alfred Schmidt in einem Beitrag hier für sich völlig ausgeschlossen hat, wenn er konstatiert:
    „Ich werde diese Liedern nie hören - ich wollte sie lebenslang nicht hören - und damit wird sich auch nichts ändern Ein zu Depressionen neigender Mensch erwarte von Musik Aufhellung der Stimmung und er will nicht niedergedrückt werden (Alle sprechen über dasselbe Musikwerk)
    Adorno wendet sich den „Kindertotenlieder“ Mahlers zu, und dies, um sich in ihre Musik zu vertiefen und sich gründlich mit ihr auseinanderzusetzen. Er schrieb darüber – und über Mahlers Musik allgemein – sogar einen Artikel, der im Mai 1936 in der Wiener Musikzeitschrift 23 veröffentlicht wurde. Die Grundgedanken, das Verständnis von Mahlers Kindertotenlied-Musik betreffend, hat der dann in seine große Mahler-Monographie von 1960 übernommen und weiterentwickelt. Dort heiß es (S.177/78):

    „In den Kindertotenliedern verschränken sich Zärtlichkeit des Nächsten und zwielichtiger Trost des Fernsten. Sie blicken auf die Toten wie auf Kinder. Die Hoffnung des nicht Gewordenen, die als Schein von Heiligkeit um die sich legt, welche früh starben, erlischt auch den Erwachsenen nicht. Mahlers Musik bringt Speise dem vernichteten Mund, wacht über dem Schlaf der nicht mehr Erwachenden. Gleicht jeder Tote einem, der von den Lebenden ermordet wurde, so auch einem, den sie zu erretten hätten. >Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen<, nicht weil sie Kinder waren, sondern weil fassungslose Liebe den Tod faßt einzig, als wäre der letzte Ausgang der von Kindern, Heimkehrenden. Bei Mahler ist der Trost der Reflex von Trauer. Bangend konserviert Mahlers Musik darin jenes Besänftigende, Heilende, das Überlieferung seit urdenklichen Zeiten Musik als Kraft zuschrieb, Dämonen zu bannen, und das doch zur Schimäre verblaßt nach dem Maß der Entzauberung der Welt.“

    Für Adorno läuft also die Rezeption und Reflexion von Mahlers Kindertotenlieder-Musik - wie auch der hiesige Tamino-Diskurs - auf eine Beschäftigung mit der Frage hinaus, wie weit und in welcher Form und Gestalt diese einen Trost enthält und aufweist. Er bejaht das, spricht von einer dem „vernichteten Mund“ eine „Speise“ bringenden Musik, bezeichnet diesen Trost aber als einen „zwielichtigen“. Leider erläutert das nicht näher, so dass nicht voll und ganz klar wird, worin für ihn diese „Zwielichtigkeit“ besteht. Vielleicht versteht er den Schluss der Kindertotenlieder ähnlich wie Tristan, der dazu feststellt:
    „Musikalisierungen von Hoffnungsfetzen, erlernten Trostsymbolen, Einsamkeit, Unsagbarkeit und auch dem Beginn der Verarbeitung - das alles kann Mahler anbieten um gleichsam die Trostlosigkeit tröstend zu vertonen. Das absolut erschütternde aber ist - dass es hier keinen echten Trost gibt. Aber die Unmöglichkeit des Trosts - dafür findet Mahler durchaus Klänge.“ Aber so weit geht er aus meiner Sicht nicht. Er vernimmt diese Lieder nicht als musikalischen Ausdruck der „Unmöglichkeit des Trostes“. (Alle sprechen über dasselbe Musikwerk)

    Der Grund für dieses Verständnis ist die Tatsache, dass Mahlers Musik in ihrem emphatischen, in permanenter Wiederholung erfolgenden Sich-Hineinsteigern in die Worte „Sie ruhn als wie in der Mutter Haus“ … von Gottes Hand bedecket“ dieses lyrische Ich so darstellt, als gäbe es für diesen unter dem Kindestod leidenden Vater zwar einen Trost. Aber es ist de facto ein imaginativer, einer der sich aus der Möglichkeit des christlichen Glaubens ergibt. Dieser Sachverhalt könnte für Adorno den Trost zu einem zwielichtigen werden lassen. Das aber ist dann eine durchaus subjektive Wertung der Musik des Schlusses von Lied fünf.

    Der große Mahler-Kenner Hans Heinrich Eggebrecht deutet diesen Schluss treffender, sich stützend dabei auf eine analytische Betrachtung der Liedmusik, wenn er feststellt:
    „Was in dem vorhergehenden Lied als Wille zu einem befreienden Gedanken, als Glaubenwollen, schrittweise und unter Anstrengung sich vollzog und ohne Folgen blieb, wird von Mahler am Schluß seines Zyklus – die Aussage des Gedichts verdoppelnd und ästhetisch mächtig intensivierend – als Einbruch von außen zu verstehen gegeben, theologisch gesprochen als Gnadengeschenk der Glaubensgewißheit. Was hier einbricht, kommt aus einer >anderen Welt<, tritt plötzlich ein und hat im Akt der ästhetischen Identifikation die Auslöschung des Willens und d er Emphase zur Folge, ein Versinken in diese andere Welt, einen Zustand der Entrückung, wo die Musik sich auflöst und erstirbt, weil sie nun nichts weiter zu sagen hat, nichts mehr zu sagen braucht.“ (Die Musik Gustav Mahlers, Noetzel Verlag, 2018, S.248).
    Dieser sich in der Musik ereignende Einbruch von außen als „Gnadengeschenk der Glaubensgewißheit“ scheint Adorno – ohne dass er das benennt – nicht ganz geheuer gewesen zu sein. Deshalb wohl, wie ich vermute, die Wertung des Trostes als „zwielichtig“.

    Ich selbst stimme mit Eggebrechts Deutung des Zyklusschlusses im Wesentlichen überein.
    Die Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, wie sie das erste Lied mit dieser in ihrem konstatierenden Gestus tatsächlich erschreckenden und mit einer in d-Moll schwer fallenden Liedmusik zum Ausdruck bringt, wird in den nachfolgenden Liedern zu bewältigen versucht, wobei der Kindestod nur eine behutsame, teilweise metaphorisch eingekleidete Erwähnung erfährt und das lyrische Ich sich in Erlösung verheißende transzendente Visionen flüchtet, ohne dass sich diese erlösende Befreiung vom Schmerz des Verlusts der Kinder wirklich einstellt. Jetzt aber, in diesem liedkompositorischen Finale, wird das Leid auf direkte, harte, geradezu brutale Weise bei seinem Namen genannt: „Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen.“ Und die Liedmusik bringt das mit einer klanglichen Schroffheit und orchestral geradezu lärmenden Direktheit zum Ausdruck, die der Hörer zwar als schmerzlichen Kontrast zum vorangehenden Lied erfährt, sie aber gerade deshalb als in einem tiefen Sinne wahr, weil den inneren Zustand des lyrischen Ichs schonungslos reflektierend empfindet.

    Aber seinen eigentlichen Kern als Finale im Hinblick auf die musikalisch-künstlerische Aussage des Zyklus in seiner Ganzheit, offenbart dieses Lied erst in seinem zentralen liedmusikalischen Ereignis: Es ist der Schluss, in dem die Singstimme nun zum fünften Mal mit den Worten „In diesem Wetter…“ einsetzt. Dieses Mal aber tut sie es in einem fundamental anderen, aus Dur-Harmonik hervorgehenden klanglichen Umfeld und in der Weiterführung der melodischen Linie mit einer ganz und gar gewandelten, nämlich in den Schmelz der Streicher gebetteten orchestralen Begleitung. Die dreifachen Anschläge des Glockenspiels deuteten ja schon an, was sich nun ereignen wird. Und auch darin besteht ein dezenter Bezug zum ersten Lied. Denn im Zwischenspiel, bevor die Singstimme dort zur Deklamation der Worte „Du musst nicht die Nacht in dir verschränken“ übergeht, meldet sich das Glockenspiel drei Mal.

    Und ein Glockenspiel ist im kompositorischen Schaffen von Mahler grundsätzlich ein klangliches Sich-zu-Wort-Melden der Transzendenz.

    Und das ist es ja auch, was den Kern dieses musikalischen Ereignisses ausmacht: Das Hereintreten der „anderen Welt“ in die reale Welt des abgrundtiefen Schmerzes und hoffnungslosen Leidens, wie sie der Verlust der Kinder mit sich gebracht haben. Das Neue an diesem Ereignis, und das, was es zu einer Antwort auf die im Zyklus aufgeworfenen existenziellen Grundfragen werden lässt, besteht in der Art und Weise, wie es sich ereignet. War die klangliche Verzückung, in der das vorangehende vierte Lied sich am Ende steigert, letzten Endes das Ergebnis eines autosuggestiven Sich-Hineinsteigerns in das visionäre Bild, das sich in den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ lyrisch sprachlich verdichtet, die Folge eines aus Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgehenden subjektiven Willensakts also, so mutet das, was sich mit dem letzten deklamatorischen Auftritt der Singstimme ab Takt 99 ereignet und von Mahler mit den Anweisungen „Leise bis zum Schluß“ und „Langsam wie ein Wiegenlied“ versehen ist, an wie ein Geschenk, - wie ein dem leidenden Menschen unverhofft und unerwartet zuteilwerdender Akt der Gnade.

  • Die zwei Wochen neigen sich ihrem Ende zu, da möchte ich noch ein Hörbeispiel einstellen: Es sing Jennie Tourel unter der Leitung von Leonard Bernstein. Die Aufnahme entstand im Rahmen der ersten Mahrler-GA Bernsteins, Jennie Tourel war da 64 Jahre alt. Das bemerkenswerte an der Stimme Tourels ist, dass sie so gänzlich unspektakulär ist. Ein schöner, biegsamer Mezzo, der völlig ungekünstelt klingt. Damit trifft sie de Stimmung der Lieder perfekt und Bernstein begleitet sehr einfühlsam (bin ohnehin Fan dieser seiner ersten Mahler-GA). Diese Aufnahme macht mir deutlich, was mich an der Aufnahme mit FiDi stört: Fischer-Dieskau singt perfekt, er gestaltet perfekt, gibt wohldosiert und gesteuert Emotionen hinein, das Zusammenspiel mit dem Orchester lässt sich wohl kaum besser machen, und dennoch: es ist die vollendete Transformation in Kunst, es fehlt die Einladung zur Compassio. Das aber gelingt Jennie Tourel. Es ist die Stimme der Nachbarin, die ihr Leid klagt, und deren Kinder vielleicht mit den unseren gespielt haben. Bernstein hat übrigens auch in der 2. Sinfonie die Mezzo-Partie mit Jennie Tourel besetzt, auch hier, sehr hörenswert. Zu finden in dieser wohlfeilen Box:



    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Die zwei Wochen neigen sich ihrem Ende zu, da möchte ich noch ein Hörbeispiel einstellen: Es sing Jennie Tourel unter der Leitung von Leonard Bernstein. Die Aufnahme entstand im Rahmen der ersten Mahrler-GA Bernsteins, Jennie Tourel war da 64 Jahre alt. ...

    Du meinst diese Aufnahme?

  • Du meinst diese Aufnahme?

    Lieber Axel, genau die meine ich. Jennie Tourel , eigentlich Jennie Davidowitsch, wurde 1900 im russischen Kaiserreich geboren und gelangte mit ihrer Familie über Dnazig nach Paris. 1937 emigrierte sie in die USA und wurde 1946 amerikanische Staatsbürgerin. Vor allem in den dunklen Lagen ihrer Stimme schimmert etwas osteuropäisches durch, was mich persönlich sehr bewegt ("Wenn dein Mütterlein").


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Die zwei Wochen neigen sich ihrem Ende zu ...

    ... und es waren, so habe ich es jedenfalls empfunden, in der diskursiven Beschäftigung mit diesem Liederzyklus hoch erfreuliche, weil sehr ergiebige.

    Kritisch könnte man allerdings, will ich aber nicht wirklich tun, anmerken, dass dieser Diskurs sich auf das letzte Lied konzentrierte. Schließlich ergab sich ja besonders dadurch seine Ergiebigkeit. Dadurch ist aber das, was die vorangehenden Lieder zu sagen haben, zu kurz gekommen. Vor allem aber ist etwas ganz Wichtiges nicht deutlich geworden: Der zyklische Charakter dieses Werkes von Mahler.

    Aber das wäre im dem Projekt zugrunde liegenden Zwei-Wochen-Rahmen ja im Grunde nicht zu realisieren gewesen. Deshalb hierzu noch ein paar Anmerkungen.


    Der zyklische Charakter ist zwar durchgehend manifest, er wird aber bei den drei letzten Liedern in ganz besonderer Weise sinnfällig. Das dritte („Wenn dein Mütterlein“) endete, harmonisch betrachtet, in seinem trostlosen, weil ohne die Perspektive einer Erlösung auskommen müssenden Gefesselt-Sein an den Schmerz des Hier und Jetzt in dem c-Moll, in dem es einsetzte und in das es bei all seinen wie verzweifelt wirkenden Ausbrüchen in Dur-Harmonik immer wieder zurückgeworfen wird. Mit einer wunderlich anmutenden Rückung nach G-Dur im Schlusstakt freilich. Aber wunderlich ist sie nicht wirklich. Das folgende Lied löst diese Verwunderung mit der Harmonik, in der es einsetzt: Es ist Es-Dur, die Dur-Parallele zu jenem c-Moll, das eben gerade beim vorangehenden Lied harmonisch noch alles im Griff hatte. Man soll also, so wollte Mahler das, das vierte Lied aus vielerlei Gründen, vor allem jenen der Harmonik und des Liedschlusses des dritten Liedes, als „Antwort“ auf dieses hören und verstehen.

    Und tut man das, so erschließen sich, über die musikalische Aussage hinaus, die es als singuläre Liedkomposition aufweist, weitere hochbedeutsame musikalische Aussage-Dimensionen. Mit einem Mal wird einem der hochgradig suggestive Gestus, der der Liedmusik innewohnt, in seiner wahren Bedeutung bewusst. Er gründet in einer dieses Lied in seiner spezifischen Eigenart prägenden polyphonen Wiederholung melodischer Motive. Das Vorspiel deutet sie schon an, und die melodische Linie der Singstimme lässt sie, in gleichsam auf ihren Kern gebrachter klanglicher Gestalt, gleich am Anfang vernehmen. Es sind die melodisch-deklamatorischen Schritte, die auf den Worten liegen „Oft denk´ ich, sie sind nur ausgegangen“ und „Bald werden sie wieder nach Hause gelangen“. Diesen melodischen Motiven steht ein drittes gleichsam gegenüber. Es ist das auf den Worten „Der Tag ist schön“. Gegenüber tritt es den anderen insofern, als es sich in seiner melismatischen, die „Schönheit“ klanglich erfahrbar machenden bogenförmigen Struktur und in seiner Dur-Harmonisierung von diesen abhebt. Die melodische Linie, die auf den Worten „“Der Tag ist schön, o sei nicht bang, sie machen nur einen weiten Gang“ liegt, wirkt in ihrer Struktur wie eine zweimalige Wiederholung ihres Anfangs, dies aber unter Steigerung ihrer Emphase. Darin, aber auch in ihrer Dur-Harmonisierung, die die kleine Verminderung auf den Worten „o sei nicht bang“ gegenstandslos werden lässt, wirkt sie wie eine klangliche Emanzipation von der sich in es-Moll ereignenden melodischen Fallbewegung auf den Worten „sie sind nur vorausgegangen“.

    Und unter diesem Aspekt ist nun höchst bedeutsam, dass diese melodische Figur am Ende des Liedes gleichsam die Oberhand gewinnt. Mit den Worten „Wir holen sie ein…“ (Takt 58ff.) wiederholt sich diese bogenförmige Bewegung der melodischen Linie insgesamt sechs Mal, und dies unter Verkürzung des Bogens und einer Anhebung der tonalen Ebene seines Ansatzes in der letzten Phase. Man kann dieses Sich-Hineinsteigern der melodischen Linie in diese Figur und die damit einhergehende Potenzierung der liedmusikalischen Emphase, die auch dadurch zustande kommt, dass die Flöten, die Violinen und die Violen die Aufgipfelung bei „auf jenen Höh´n“ in einem Anstieg in extrem hohe Lage mitvollziehen, eigentlich nicht anders verstehen und deuten, als dass das lyrische Ich in eine Art Ekstasis geraten ist. Es ist außer sich geraten, hat die reale Situation des Wissens um den Verlust der Kinder und des Leidens darunter in einem autosuggestiven Prozess, wie ihn das Lied auf höchst beeindruckende Weise miterleben lässt, verlassen und sieht sich imaginativ auf dem Weg zu „jenen Höh´n“, wo es seine Kinder schon zu wissen meint.

  • Ich habe jetzt die Aufnahme mit Jenny Tourel gehört. Ihre Schlichtheit ist sehr ergreifend. Es gibt viele Aufnahmen von Fischer-D., die den Kern verpassen, wenn er zu sehr auf "Kunst" macht. Das ist besonders bei Bach spürbar.

    Es gibt übrigens ein Werk lange vor Mahler, dass nicht zur Ruhe überwindet, sondern in der Klage bleibt. Das ist Nr. 28 der Geistlichen Chormusik von Schütz (1648). Hier ist alles Schmerz, wenn es etwa heißt: "...und wollte sich nicht trösten lassen!". Auch der Schluss ist wie ein Schrei: " Denn es war aus mit ihnen..." Für mich eins der besten Stücke von Schütz überhaupt. Dazu die für mich beste Aufnahme ist die in meinem Schreibtisch (#8) mit zwei britischen Countertenören. Da hält man den Atem an!

    Da ich finde, dass dieses Stück gut hierhin passt, und vielleicht einige Taminos sich mal den größten deutschen Musiker vor Bach anhören sollten, zitiere ich es hier noch mal.


    Was ist der Unterschied zwischen der SPD und der Titanic? Die SPD kann den Eisberg jetzt schon sehen!

  • Weil heute die der Betrachtung dieser Musik zugemessenen zwei Wochen definitiv zu Ende gehen, hier noch dieses:


    Zur liedhistorischen Bedeutung der „Kindertotenlieder“

    Mahlers „Kindertotenlieder“ gehören ohne Zweifel zu den großen Werken der Liedliteratur, solchen wie etwa den Zyklen Schuberts gleichrangig zur Seite stehend. Sie haben mit ihrer Emanzipation von der Bindung an den Klaviersatz eine neue Ära der Liedkomposition eingeleitet. „Die Musik Mahlers“, so hat Kurt Blaukopf zu Recht festgestellt, „die hier von allen Merkmalen seiner früheren Liedkunst befreit ist (von simpler Folklore und vom Marschrhythmus, vom Militärsignal und vom Volkstümlich-Tänzerischen), erreicht eine Höhe, von der aus schon Schönbergs >Herzgewächse< (1911) und dessen >Pierrot Lunaire< (1912, Anton Weberns Rilke-Lieder (1910) und Alban Bergs Altenberg-Lieder (1912) wahrnehmbar werden.“

    Von Anton Webern ist Mahlers Aussage überliefert: „Nach des Knaben Wunderhorn konnte ich nur mehr Rückert machen – das ist Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand“.
    Das ist eigentlich eine höchst verwunderliche Feststellung, denn gerade Rückerts in der Mehrzahl prosodisch streng geregelte und auf sprachliche Glätte und Eleganz angelegte Lyrik würde man als eine „von zweiter Hand“ einstufen. Es sind, er hat das selbst so gesehen, Werke eines dichtenden Gelehrten.
    Bei den Kindertotenliedern aber ereignet sich ein diese Prosodie gegenstandslos werden lassender Einbruch der Subjektivität in die lyrische Sprache. Hier leidet Rückert, ringt und kämpft um ein Verstehen, Ertragen und Überwinden dessen, was ihn mit dem Kindestod so schwer getroffen hat, und weil infolgedessen in den Tag für Tag mindestens zwei hervorgebrachten lyrischen Texten die formale sprachliche Gestalt keine Rolle spielte, hat er die am Ende mehr als 400 nicht veröffentlicht.

    Wenn Mahler von „Lyrik aus erster Hand“ spricht, so meint er genau das. Die „zweite“, die formal regelnde und gestaltende „zweite Hand“ fehlt. Sie würde, so wie Mahler das sieht, sie in ihrer Aussage verfremden, ihrer Ursprünglichkeit und damit ihrer Wahrheit berauben. Dieser radikale und kompromisslose Einbruch der Subjektivität ereignet sich auch von Anfang an in Mahlers sinfonischer Komposition in Gestalt einer Loslösung vom traditionellen Reglement der Sinfonik, des Arbeitens mit musikalischen Vokabeln bis hin zur Einbeziehung von Naturlauten und populärer Volksmusik.

    Er hat sich von daher in Rückerts Kindertotenliedern künstlerisch und menschlich gleichsam wiedergefunden, menschlich insofern, als er selbst immer wieder unter ausgeprägten Angstzuständen und Panikattacken zu leiden hatte. Deshalb hat er schon im Jahr 1901, also vor seiner Eheschließung, mit der Komposition dieser Rückert-Texte begonnen, sie aber erst im Sommer 1904 abgeschlossen. Der eigenen Kindestod-Erfahrung bedurfte es dazu nicht. Schon in früher Jugend hat Mahler durch den Tod seiner vier Geschwister, seines geliebten Bruders Ernst und dann der verheirateten Schwester Leopoldine vielfältige und ihn stark berührende Erfahrungen mit dem Tod gemacht.

    Seine Liedmusik erbringt eine Erschließung der semantischen und der affektiven Dimensionen der Rückert-Texte, sie interpretiert sie also. Diese ist nun aber darin, anders als die Texte, kompositorisch geregelt und strukturiert. Bemerkenswert dabei ist, dass Mahler sich dabei nicht affektiv hinreißen lässt. Es ist eine auf kleinem Orchestersatz basierende, geradezu asketische Musik, wie sie gleich am Anfang auf eindrückliche Weise vernehmen lässt, darin die Sprache des „Lieds von der Erde“ vorwegnehmend.
    Diese Musik generiert und gewinnt ihre musikalische Aussage aus der Binnenspannung zwischen ihrer streng geregelten und affektiv kontrollierten kompositorischen Faktur und der ungeregelten Expressivität der ihr zugrunde liegenden Rückert-Texte. Nur im letzten Lied tritt ein hochgradig expressiver Klage- und Schmerzensgestus in sie. Aber dieser wird, und das ist bezeichnend, nicht bis zum Ende durchgehalten, wie hier auf detaillierte Weise aufgezeigt wurde.

    Der Schriftsteller und Literaturkritiker Hans Wollschläger hat diese Musik auf treffende Weise mit den Worten beschrieben und charakterisiert:
    „Mahler, der in seiner eigenen >Natur< den Panischen Schrecken kannte, hat ihn auch in der Natur Rückerts erspürt und in ihrem Sprechen freigesetzt, indem er dessen Glätte wiederauflöste. Seine Musik umgibt den Text mit dem surreal Zeitlösen jenes Todes, in dem der Kindertod selber nur eine Metapher war; ihre Linearität verläßt die Epoche, und im letzten Lied scheinen die Klagelaute aller Kulturen zu kontaminieren.“

  • Ich habe mir heute noch einmal den Liedzyklus angehört, wieder in der Fassung mit Klavierbegleitung. Auf Orchesterbegleitung fühle ich noch nicht vorbereitet.


    Je häufiger ich das Werk höre, um so begeisterter bin ich von der Interpretation von Sarah Connolly, die dem Text das adäquate Gewicht verleiht. Alles erscheint mir richtig gesungen. Die anderen von mir angehörten Interpreten vermittelten mir dieses Gefühl nicht, vielleicht aber auch nur, weil ich sie nicht häufig genug gehört habe.


    Der Lied-Zyklus scheint so aufgebaut, dass er vom abstrakten Leid zum konkreten geht und damit eigentlich von Lied zu Lied den direkten Schmerz erhöht. Im ersten Lied stellt Rückert seinen Schmerz gegen den Weltengang, um festzustellen, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Das lyrische Ich informiert uns nicht einmal über den konkreten Grund des Unglücks. Im zweiten Lied versucht das lyrische Ich, sein Schicksal, sein Unglück mit einem allgemeinen Schicksal zu verknüpfen. Aus Augen werden Sterne, das erste Mal überhaupt, dass der Leser ein Gefühl für den Verlust bekommt. Im dritten Lied wird es konkret. Es wird nicht nur der Verlust beschrieben, sondern durch die Bildsprache auch erklärt, dass der Verlust ein unnatürlicher ist. Der Tod hat hier (noch) nichts mit Vergänglichkeit zu tun, sondern reißt Lücken in die erfahrene Welt. Im vierten Lied beginnt das lyrische Ich mit einem Selbstbetrug "..sie sind nur ausgegangen". In der Mitte das Liedes bricht diese Stimmung "...sie sind uns nur vorausgegangen". Hier tritt der Tod nun als derjenige auf, der uns alle trifft. Das lyrische Ich benötigt den schönen Tag des Selbstbetruges, um die Wiedervereinigung mit den Vorausgegangenen im schönen Licht erscheinen zu lassen. Es scheint eine Trostsuche nach der Todeserkenntnis zu sein. Im letzten Lied "In diesem Wetter, in diesem Braus" wird nun alles konkret und die Musik wird zum ersten Male "stürmisch". Die Kinder werden weggebracht, der tatsächliche Verlust wird nun erfahren. Das Wetter symbolisiert zum einen den Zustand des lyrischen Ichs, aber ummalt aber auch das Geschehen und die Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, das die Kinder in einen Sturm hinrauslassen muss, in den es die lebenden Kinder nie hinausgelassen hätte, die Hilflosigkeit aller Sorge gegenüber der realen Macht des Geschehens. Eigentlich kann nur noch die Musik beruhigen, sie tut das mit der Erkenntnis, dass die Kinder nun in Gottes Hand sind.


    Alles in allem, ein sehr bewegender Liedzyklus! In diesen fünf Liedern passiert unglaublich viel, was man wahrnehmen kann.


    Persönlich kann mich die Musik Mahlers sehr begeistern. Leider hat Mahler sehr wenig Musik für kleine Besetzungen geschrieben, was ich hiermit offiziell bedauere :)


    Noch einmal Dank an Thomas Pape für diese Entdeckung!

  • Ich hatte ja schon früh geschrieben, dass die Kindertotenlieder bei mir schon immer den 3. Rang in Mahlers drei bekannten Liederzyklen eingenommen haben. In den letzten zwei Wochen habe ich diese Lieder, die mich immer ein wenig ratlos zurückließen, in diversen Interpretationen (zu viele, um sie aufzuzählen) intensiv gehört. Und ich muss am Ende der zwei Wochen feststellen, dass die Lieder in meiner Gunst sehr gestiegen sind. Aufgrund der Thematik tue auch ich mich recht schwer damit, einen guten Zugang zu den Liedern zu finden (ich habe zwar keine Kinder, habe habe aber durch Beruf und Hobbys viel mit ihnen zu tun), geholfen hat für mich im Laufe der zwei Wochen, die Lieder mit "neutraler Emotion" zu hören, ich hoffe, man versteht, wie das gemeint ist. Ich weiß nicht, ob ich die Kindertotenlieder mittlerweile über den Rückert-Liedern einsortieren würde oder ob mir eine männliche oder weibliche Gesangsstimme besser gefällt. Sicher sagen kann ich aber, dass ich die Versionen mit Gesang und Orchester wesentlich lieber habe als solche mit Klavierbegleitung.


    Zu den Liedern:


    Schon der melodisch und instrumentierungstechnisch unkonventionelle Anfang des ersten Liedes, der immer irgendwie ein bisschen seltsam klingt, passt gut zum nachfolgenden Text, man merkt direkt von Beginn an, das etwas nicht stimmt. Es geht bedrückend, aber schön - geradezu bittersüß - weiter, für mich sticht besonders die melismatische Lautmalerei bei "ew'ge Licht" heraus. Die tiefe Bedrückung nimmt aber Überhand, selbst Zeilen wie "Heil sei dem Freudenlicht der Welt!" sind tieftraurig umgesetzt. Direkt ein emotionaler Schlag zu Beginn des Zyklus.


    Beim zweiten Lied beeindruckt mich die Wandelbarkeit des Anfangsmotivs, das direkt zu Beginn schonungslos und dramatisch erklingt, ganz zum Schluss aber einen weichen und wortwörtlich ersterbenden Charakter besitzt. Großes Highlight (ebenfalls wortwörtlich) ist die Passage "Ihr möchtet mir mit eurem Leuchten sagen", wo zum ersten Mal so etwas wie Trost aufblitzt, eine wundervolle Stelle!


    Das dritte Lied weckt bei mir immer Assoziationen zu barocken Kompositionsformen, diese durchgängigen, etwas schnelleren Holzbläsermelodien lassen mich an Arien aus Bach-Kantaten denken - nur eben auf todtraurig getrimmt. Und auch wenn es nicht zutrifft, höre ich über die Bassläufe so etwas wie eine Passacaglia/Chaconne oder einen Walking Bass. Mir fällt auf, dass hier wie im ersten Lied auch die textlich positiv gefärbten Passagen kompositorisch wieder hoffnungslos und in Moll umgesetzt werden (z.B. "wenn du freudenhelle trätest mit hinein"), ganz anders als der seltene Lichtblick im zweiten Lied. Wahrscheinlich kann ich mit diesem Lied wie auch mit dem ersten Lied am wenigsten anfangen.


    Lied Nummer 4 mochte ich schon immer am liebsten. Endlich nicht mehr nur Moll und den Text fand ich schon immer großartig. Ein tolles Changieren zwischen Dur- und Mollparts, die Wechsel kommen fast unmerklich. Melodisch mMn das schönste der fünf Lieder, diese kleine Septime aufwärts (beim Wort "wieder") kriegt mich jedes Mal, Gänsehaut! Interessant auch die melodische Verlängerung in der letzten Strophe.


    Das fünfte und letzte Lied erinnert mich mit seinem Anfang immer an "Ich hab' ein glühend' Messer". Mich überrascht immer wieder der klangliche Wandel in der Mitte des Liedes, der in seiner ruhigen, tröstenden Stimmung den "Braus", "Graus" und "Saus" des Textes vollkommen konterkariert. Dafür sorgt der tiefe, textlich erst in der letzten Strophe verankerte Glaube an Gott, der den Zyklus tröstend und verklärt zu seinem Ende bringt. Der Stimmungs- und Perspektivenwandel macht dieses Lied besonders interessant, wirklich klasse gemacht!


    Danke für den Vorschlag, damit habe ich diese Lieder, die bei mir immer unter dem Radar liefen, endlich mehr wertschätzen können.


    Liebe Grüße

    Amdir

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  • Ich habe mir heute noch einmal den Liedzyklus angehört, wieder in der Fassung mit Klavierbegleitung.

    Das hat, wenn ich mir diesen Hinweis noch nachträglich erlauben darf, wenig Sinn.

    Auf diese Weise bekommen Sie höchstens ansatzweise mit, was diese Liedmusik zu sagen hat.

    Sie ist von Anfang an gedanklich orchestral konzipiert und als solche dann kompositorisch ausgeführt. Mahler hat viel Mühe darauf verwendet, wie die einzelnen instrumentalen Orchesterstimmen eingesetzt werden und wie sie miteinander agieren. Dies deshalb, weil bei ihm einzelnen Instrumenten eine spezifische musikalische Aussage-Funktion zukommt.

    Das klangliche Wesen, die musikalische Eigenart der "Kindertotenlieder" und ihre liedhistorische Bedeutung gründen ganz wesentlich in der Emanzipation der Liedkomposition von der traditionellen Bindung an den Klaviersatz.

  • Das hat, wenn ich mir diesen Hinweis noch nachträglich erlauben darf, wenig Sinn.

    Auf diese Weise bekommen Sie höchstens ansatzweise mit, was diese Liedmusik zu sagen hat.

    Sie ist von Anfang an gedanklich orchestral konzipiert und als solche dann kompositorisch ausgeführt. Mahler hat viel Mühe darauf verwendet, wie die einzelnen instrumentalen Orchesterstimmen eingesetzt werden und wie sie miteinander agieren. Dies deshalb, weil bei ihm einzelnen Instrumenten eine spezifische musikalische Aussage-Funktion zukommt.

    Das klangliche Wesen, die musikalische Eigenart der "Kindertotenlieder" und ihre liedhistorische Bedeutung gründen ganz wesentlich in der Emanzipation der Liedkomposition von der traditionellen Bindung an den Klaviersatz.

    Das gebe ich umunwunden zu. Allerdings hatten mich am Anfang schon die Lieder an sich herausgefordert. Die seltsame Lyrik Rückerts und der fast impressionistische Klavierklang ....


    Ich werde mir die Lieder sicher noch in der Orchesterfassung anhören. Ich hatte Deinen Beitrag über den Orchestrierungsaufwand bei Mahler gelesen.

  • Das hat, wenn ich mir diesen Hinweis noch nachträglich erlauben darf, wenig Sinn.

    Auf diese Weise bekommen Sie höchstens ansatzweise mit, was diese Liedmusik zu sagen hat.

    Das finde ich etwas zu streng. In der Klavierfassung verliert die Begleitung logischerweise an Farbigkeit, gewinnt aber dafür an Transparenz und Innigkeit. Wenn das gut gemacht wird, hat es einen ganz eigenen, verlorenen Ausdruck. Der Singstimme eröffnen sich vor allem im unteren dynamischen Bereich auch andere Ausdrucksmöglichkeiten als mit Orchester.


  • Der Singstimme eröffnen sich vor allem im unteren dynamischen Bereich auch andere Ausdrucksmöglichkeiten als mit Orchester.

    Das ist richtig. Aber das soll ja nach Mahlers Willen gar nicht so sein. Die Singstimme ist in den "Kindertotenliedern" integraler Bestandteil des liedkompositorischen Satzes.

    Aber jetzt möchte ich es damit gut sein lassen und mich auf den ein neues Thema eröffnenden Beitrag von Tristan einstellen und mich dessen erfreuen.

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  • Robert Schumann - 2. Violinsonate Op. 121 in d-Moll


    Kurz zur Auswahl: Ich hatte zuerst überlegt, ob ich uns über Weihnachten das bzw. ein WO gönne. Mich im Sinne der Abwechslung aber dagegen entschieden: Mein erster Vorschlag war schon eine Bach-Kantate, zudem hatten wir grade Gesang und recht lange keine Kammermusik mehr. Da ich mit Kammermusik sehr viel anfangen kann habe ich aus meiner Vorschlagsliste dieses Werk ausgewählt. Eines meiner liebsten Werke von Schumann und neben einigen Beethoven-Sonaten momentan meine liebste Violinsonate überhaupt. Ich habe sie dieses Jahr schon zwei Mal live gehört, einmal von Maria-Elisabeth Lott mit dem Kollegen Christian Köhn, einmal von Julia Fischer mit Jan Lisiecki.


    Zum Werk: Kurz nach der 1. Violinsonate Op. 105 schrieb Schumann das nächste Werk für diese Besetzung. Schumann sagte dazu ironisch: "Die erste hat mir nicht gefallen; da habe ich denn noch eine zweite gemacht die hoffentlich besser gerathen ist". Wie die Op. 105 ist auch unsere Violinsonate zumindest indirekt für Ferdinand David, den Konzertmeister des Gewandhaus Orchesters, bestimmt. Dieser hatte sich lobend über die Fantasiestücke Op. 73 geäußert und wollte nun weitere Werke für diese Besetzung von Schumann erhalten. Das Werk ist mit über 30 Minuten Aufführungsdauer fast doppelt so lang, wie das Vorgängerwerk. Erstmals aufgeführt wurde sie wahrscheinlich am 15. März 1852 in Leipzig (nicht gesichert) von David und Clara Schumann. Gespielt und positiv bewertet wurde des Werk in der Folge auch von u.a. Joseph Joachim bzw. Franz Liszt mit Ede Reményi. Die Rezeptionsgeschichte kennt aber auch die unglückliche Verbindung mit Schumanns späterem Leiden. Philipp Spitta - häufig mit solchen Urteilen zur Stelle - bezeichnete die Sonate als "düstere, leidenschaftliche Komposition, die man kaum ohne peinliche Empfindung hören kann". Harenberg weist zudem auf Wilhelm Joseph von Wasielewskis Urteil 1897 hin: "Eine allgemeine durchgreifende Wirkung hat dies bedeutende Kunstwerk nicht gehabt und manche Künstler vermochten zu demselben kein rechtes Verhältnis gewinnen." Mehr als 120 Jahre später sieht das anders aus. Ich habe den Eindruck, dass diese Violinsonate zu den beliebteren Kammermusikwerken Schumanns und allgemein des Genres gehört und dass sie häufig auf Konzertprogrammen auftaucht.


    Persönlich: Gefällt mir die unruhige Dramatik, die fiebrige Kraft besonders des Kopfsatzes. Beim letzten Schumann in diesen Thread (Davidsbündlertänze) war die Rede vom "nervösen" Schumann. Und diese romantische, drängende Nervosität eignet auch dem Kopfsatz, nach der kurzen kraftvollen akkordischen Einleitung. Anschließend gibt es kaum noch ruhige Momente, die Musik ist mitreißend. Selbst das lyrische Thema (B) - zunächst in Oktaven vom Klavier gespielt - wird sofort zwischen den Instrumenten aufgeteilt in Motivfetzen. Diese Aufteilung gepaart mit subtiler Polyphonie macht einen Großteil des Reizes dieses Satzes aus.

    Mit dem "scharfen" Scherzo tritt zunächst kaum Beruhigung ein, was erst im wiegenden Trio gelingt. Doch schon das zweite eher marschartige Trio bringt keine Beruhigung sondern weiteren Bewegunsimpuls.

    Der schöne langsame Satz lebt von seinem einfachen Liedthema, welches effektvolle Variationen erfährt. In der ersten Variation zu rauschender Klavierbegleitung, in Nr. 2 mit Doppelgriffen, in Nr. 3 mit Einflüssen des Scherzos, in Nr. 4 ganz einfach mit dem Thema nun in der Violine und in einer abschließenden Coda.

    Im Finale kehrt der nervöse Bewegunsimpuls zurück. Ich mache in einem Sonatensatz drei Themen aus. Eine virtuose und strettaartige Coda schließt das Werk wahrlich begeisternd ab.


    Aufnahmen: Es gibt zahlreiche Aufnahmen. Wenn ihr das Werk nicht ohnehin in der Sammlung habt, werdet ihr bei jpc und youtube fündig werden. Offensichtlich ist auch das Arragement für Cello sehr beliebt, ich kann damit aber weniger anfangen.


    Ein Klassiker ist inzwischen die Aufnahme von Gidon Kremer mit Martha Argerich aus dem Jahr 1985:


    Auch (immer) eine gute Mischung sind Christian Tetzlaff und Lars Vogt:


    Mir gefällt zudem die Interpretation von Ulf Wallin und Roland Pöntinen:


    Viel Freude mit diesem zwar gar nicht weihnachtlichen, aber kennenswerten Werk!

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Das ist richtig. Aber das soll ja nach Mahlers Willen gar nicht so sein.

    Genau! Darum steht ja auch auf dem Titelblatt der Erstausgabe ausdrücklich »... für eine Singstimme und Klavier oder Orchester«.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Dank an Tristan für den Musikvorschlag!


    Ich sehe schon, dass meine Bildung in Sachen Schumann voranschreiten wird. Die Kammermusik lernte ich erst vor 12 jahren besser kennen mit dem Böxchen vorn Éric Le Sage, obwohl ich Argerich/Kremer/(Maisky) auch hatte. Die Violinsonaten standen nicht im Fokus. Das wird sich dann also die nächsten zwei Wochen ändern. :)

  • für eine Singstimme und Klavier oder Orchester«.

    In Zeiten ohne verbreitete Schallaufzeicheichnungen wohl die einzige Möglichkeit, ein Stück zu verbreiten, auch wenn keine Orchester zur Hand ist. Ich erinnere nur an diversen Bearbeitungen von neuen Opern oder Operetten für Salonorchester. Da war die Boheme im Volk schon vor einer Bühnenaufführung bekannt. Jedenfalls dürfte es noch Willensbekundungen Mahlers jenseits des Erstdruckfrontispitzes geben, oder?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ein Klavierauszug ist ein Klavierauszug, eine Paraphrase ist eine Paraphrase. Die Kennzeichnung »…mit Klavier oder Orchester« deutet nicht darauf hin, dass es sich um eine Bearbeitung zu praktischen Zwecken oder eine Notlösung handelt. Da würde es dann wohl eher heißen: »…mit Orchester. Klavierauszug« oder »…Bearbeitung für Singstimme und Klavier« und was dergleichen mehr ist. Dafür gibt es hunderte Beispiele. Wenn fas gemeint wäre, stünde es wohl da.


    (Immer wieder seltsam – und lustig –, dass jene, die so gern von Werktreue reden, ohne Zögern bereit sind, das, was eindeutig dasteht, zu ignorieren, wenn es aus irgendeinem Grund nicht in irgendeinen Kram passt. Noch schöner ist allerdings, wenn, wie in diesem Falle, mit dem Willen des Autors argumentiert wird, aber dieser dann gar nicht wichtig ist, wenn er nicht passt.)

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

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  • (Immer wieder seltsam – und lustig –, dass jene, die so gern von Werktreue reden, ohne Zögern bereit sind, das, was eindeutig dasteht, zu ignorieren, wenn es aus irgendeinem Grund nicht in irgendeinen Kram passt. Noch schöner ist allerdings, wenn, wie in diesem Falle, mit dem Willen des Autors argumentiert wird, aber dieser dann gar nicht wichtig ist, wenn er nicht passt.)

    Wer auch immer damit angesprochen sein soll. :sleeping:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Gibt es davon einen Mitschnitt ChKöhn ?

    Nein, das war ein Konzert bei der Hamburger Brahms-Gesellschaft und wurde nicht mitgeschnitten. Wir spielen die Sonate im nächsten Jahr voraussichtlich noch ein paar Mal, u.a. in Dülmen und im historischen Klostersaal Ochsenhausen, aber alles ohne Aufzeichnung.

  • u.a. in Dülmen

    Das ist für mich gut erreichbar, wann wäre das denn?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • wann wäre das denn?

    Am 4. Oktober um 19 Uhr im "Haus der Klaviere", Dülmen Hiddingsel. Außer Schumann spielen wir noch die Janacek-Sonate, die Es-Dur-Sonate von Brahms (in seiner eigenen Bearbeitung für Violine) und die Ravel-Sonate.
    Jetzt aber zurück zu Schumann... (Ich schreibe in den nächsten Tagen etwas zur d-Moll-Sonate.)

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