Gustav Mahler - rätselhafte Popularität

  • Liebe Forianer


    Gustav Mahler - zu Lebzeiten als Dirigent wohl anerkannt und berühmt, jedoch als Komponist auch umstritten - lange Zeit im "Abseits" (aus meiner Sicht noch bis in die 60er Jahre) zählt heute zu den Fixpunkten im "klassischen Repertoire", trotz seines eher schmalen Oeuvres.
    Gleichermaßen anerkannt von Konservativen und Progressiven kann er sich sowohl auf Konzertprogrammen, als auch in Tonträgerkatalogen dauerhaft behaupten.
    Das ist zwar nicht einzigartig, aber dennoch bemerkenswert.
    Sehen ihn einige als Bindeglied zu Tradition und Tonalität, so will ihn die Moderne für sich reklamieren.
    Wie seht Ihr seinen Standort in der Musikgeschichte ? (und wer Lust hat kann das auch noch begründen)


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Salut,


    Gustav Mahler war für mich von Beginn an [ich lernte ihn nach Mozart kennen] die Vollendung der Musik. Gerade der nahezu groteske Widerspruch in seiner Musik fesselt mich. Ich werde von seiner Musik nahezu erschlagen, daher höre ich sie verhältnismässig selten - sie steht aber dennoch über Allem.


    Eine Gesamteinspielung der Sinfonien habe ich unter Leitung von Raphael Kubelik.


    Zudem die


    Sinfonie Nr. 1 "Der Titan"
    London Philharmonic Orchestra
    SIR GEORG SOLTI


    Sinfonie Nr. 1 "Der Titan"
    New York Philharmonic
    Zubin Mehta


    Adagio der Sinfonie Nr. 10
    Cleveland Orchestra
    GEORGE SZELL


    Das Lied von der Erde
    Agnes Baltsa, Alt
    Klaus König, Tenor
    London Philharmonic Orchestra
    KLAUS TENNSTEDT


    Klavierquartett a-moll
    Ralf Gothoni, Klavier
    Mark Lubotsky, Violine
    Matti Hirvikangas, Viola
    Martti Rousi, Cello


    Kindertotenlieder u. Rückert-Lieder
    Dietrich Fischer-Dieskau
    Berliner Philharmoniker
    KARL BÖHM


    mahlerische Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • GUSTAV MAHLER - Sein Werk - Sein Leben (Holzhausen) erhältlich bei Amazon oder über mich.
    Der Autor Prof. Dr. Christian Glanz ist ein guter Freund seit vielen Jahren. Wir wohnen im selben Ort und eines abends bei einem Flascherl Wein ergab es sich im Zuge seiner Liebe zu diesem Komponisten, daß Mahler auf dem Plattenteller lag. Abgesehen von den Biographien über Alma Mahler hatte ich nicht viel mit diesem Komponisten der Neuzeit zu tun, mir gefällt die Klassik. Christian spürte, daß ich richtig 'Angst' hatte, diese Musik zu begreifen. Er 'illustrierte' jede Stimmung der Sinfonie und erklärte mir diese revolutionären Klänge. Nach diesem Abend traute ich mich dann in den 'Wozzek', 'Lulu', 'die Jakobsleiter', ich halte jetzt alles aus, sogar Pierre Boulez.....
    Es war die Sinfonie Nr. 5 die wir hörten, ich fürchte mich jetzt noch mehr als vorher :),
    Natürlich das schönste daraus ist das Adagietto.


    Dann die 3. Sinfonie -ein Naturerlebnis - die er in Steinbach am Attersee (1895/96) komponierte. Man kann sich die kolossalen Bergesriesen vorstellen, die ihn dazu inspirierten, auf seinen Spaziergängen dort, bzw. Spazierläufen, er ging sehr schnell. Er wohnte dort in einem Gasthaus, zusammen mit seiner Schwester Justine, die ihn überall hin begleitete und für sein Wohl sorgte, Alma "gab" es noch nicht. Man hatte dort für ihn ein 'Komponierhäuschen' eingerichtet, das man auch heute noch besichtigen kann und das ich wirklich jedem ans Herz legen möchte zu besuchen. Mir kommt es vor, Mahler hat die Natur aufgesogen und sie dann in Noten wiedergegeben. Er zitiert Kinderlaute und Posthornklänge. Am besten gefällt mir in dieser Sinfonie das Ende des 2. Satzes (Solovioline).


    Ich MUSS mich ausserdem mit dieser Musikrichtung befassen, ob ich will oder nicht, denn ich liebe die Jahrhundertwende. Es war mit Sicherheit die aufregendste Epoche in der Weltgeschichte und konzentrierte sich genau auf Wien. Die Zahl der gleichzeitig auftretenden Geistesgiganten ist enorm, egal ob in der Medizin, in der Physik, im Schauspiel, besonders jedoch die Anzahl der aussergewöhnlichen Komponisten ist unfassbar.


    Im Zusammenhang mit Mahler ist sein Freund Siegfried Lipiner (1856-1911) nicht zu vergessen. Er hat den Musiker wohl mit der Welt Nietzsches vertraut gemacht, auf alle Fälle durch sein Denken (und Schreiben) beeinflusst.


    In Toblach , wo sich Mahler von 1908 - 1910 über die Sommermonate
    aufgehalten hatte, gibt es übrigens jedes Jahr ein Festival.

    WHEN MUSIC FAILS TO AGREE TO THE EAR;
    TO SOOTHE THE EAR AND THE HEART AND SENSES;
    THEN IT HAS MISSED ITS POINT
    (Maria Callas)

  • Danke, lieber Administrator, für dieses schöne Thema!


    Wenn man so wie ich gerne "brüchig" lebt, also sich "mit abrupten Brüchen" auskennt, dann ist Mahlers Musik genau das Richtige. Heute lief in der Ö 1 Matinee wieder mal die 1. Symphonie (David Zinman und die Wiener Symphoniker), eine an sich weiche, aber doch auch musikantisch straff inspirierte Interpretation. Da gibt es ja den Trauermarsch (3. Satz) mit seinen - hört man ihn zum ersten Mal - schon sehr verblüffenden musikalischen Wendungen. Und es wird wirklich nicht der letzte Symphoniesatz Mahlers sein, der stimmungsmäßig so durch die Extreme wandert. Damit konnte sich die Musikwelt lange nicht anfreunden. Man lese etwa Reclams Konzertführer, Ausgabe von 1954 ...
    Einer so bunten, vielschichtigen, alle Möglichkeiten bietenden und doch abgründigen Zeit wie jetzt passt Mahlers Musik wie angegossen.
    Ich finde, er hat Beethoven fast den Rang abgelaufen als "Komponist für jede Festivität". Vielfach werden Festkonzerte, Eröffnungen etc. mit Mahlers 2. Symphonie gekrönt.
    Hatte Leonard Bernstein Anfang der 70er noch Mühe, diese Musik bei den Wiener Philharmonikern durchzusetzen (in einem Interview erzählte er einmal, aus dem Orchester bei einer Probe den Ruf "Sch ... Mahler!" gehört zu haben), gehören seine Symphonien und Orchesterlieder heute zum selbstverständlichen Repertoire aller wichtiger Orchester der Welt, so sie nicht auf andere Epochen spezialisiert sind.
    Für mich sind heute Bernard Haitink und Mariss Jansons herausragende Mahler-Dirigenten. Harnoncourt und Thielemann machen einen Bogen um ihn, sie werden ihre Gründe haben.
    Mein Lieblingssatz ist das monumentale Finale zur 6. Symphonie. Da öffnet sich viermal ein Kaleidoskop, und der Hörer wird jedes Mal durch einen "totalen Seelensturm" geworfen.
    Rätselhafte Popularität? "Seine Zeit ist gekommen." (L. Bernstein, High Fidelity, 1967)


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Freundlicher Gruß
    Alexander

  • Die musikgeschichtliche "Einordnung" Mahlers, die Alfred ja im Eingang aufgeworfen hat, ist ein Thema von einiger Schwierigkeit.


    Mag man spontan sagen, Spätromantik mit Übergängen zur Moderne (die Rondoburleske der 9. Sinfonie), so ist damit noch nicht viel gewonnen.


    Die musikgeschichtlichen Bewertungen Mahlers schwankten zwischen den Extremen Eklektizismus und solitäre Stellung. Auch die Einordnung zwischen Programmmusik und absoluter Musik ist bei Mahler weder zur einen noch zur anderen Seite gelungen. Es ist offenbar immer besonders schwergefallen, die Bezüge der Musik Mahlers zu der seiner Zeitgenossen und "Vorgänger" herauszuarbeiten. Ein Sonderproblem stellte dabei noch dar, dass er sich (bis auf Ausnahmen in der Jugendzeit) auf die Sinfonik und das Liedschaffen beschränkt hat. Keine Kammermusik, keine geistlichen Werke, trotz der Anklänge in einzelnen Sinfonien.


    Viele Fragen, die mit diesem thread aufgeworfen sind und denen wir vielleicht hier Schritt für Schritt nachgehen könnten.


    Hier zunächst nur einige Ansätze. Mahler hatte umfassende Kenntnisse der musiktheoretischen und philosophischen Diskussion seiner Zeit. Durch den Kreis um Lipiner war er mit Literatur und Philosophie eng verbunden, Schopenhauer und Nietzsche waren ihm präsent, theosophischen Autoren stand er nahe, wie ein Großteil der Intellektuellen dieser Zeit. All das hat Niederschlag gefunden in den Sinfonien und läßt sich auch genauer nachvollziehen. Mit seinem Ansatz des Wortes in der Sinfonie hat er einen besonders wichtigen Ausdruck gefunden, der an Beethovens 9. anküpfte. Enge Bezüge bestehen in der äußeren Form und im Aufbau auch etwa zu Berlioz. Eine große Zahl von Bezügen beschreibt Constantin Floros in seinem Buch Gustav Mahler II - Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts - Breitkopf und Härtel Wiesbaden 1987.


    Was macht die besondere Anziehungskraft oder ihre abstoßende Wirkung auf die Hörer aus? Sicherlich vor allem die Widersprüchlichkeit, die heftige Dynamik dieser Musik - nahe an Lebenserfahrungen, aber auch auf Transzendierendes bezogen. Diese Tiefe des Erlebens und Erfahrens, von naiver Lebens- und Daseinsfreude bis zu tiefster Verzweiflung/Abstürzen und dem Transzendieren davon, das muss man zulassen können, sonst ist diese Musik oberflächlich, lärmend und abstoßend. Mir ging es früher häufig so, dass ich nach einer Sinfonie Mahlers keine andere Musik mehr hören konnte. Das hat schon etwas Einzigartiges - wenn man diese Musik annehmen kann, ist es schwer, sie mit einer gewissen Distanz und differenziert zu betrachten. Das gelingt - nach meiner Erfahrung - erst nach längerem Hören und nach einer Vertrautheit mit einer größeren Zahl verschiedenster Einspielung. Also zumeist trifft man auf hohe Identifikation oder auf entschiedene Ablehnung von Mahlers Musik.


    Das macht vielleicht auch die Lagerbildung bei Mahlers Musik aus. Entweder hohe Identifikation mit der Musik, denn sie läßt - jedenfalls wenn man nicht sehr vertraut ist - kaum Distanz zu oder Abstoßung und pauschale Ablehnung.


    Ich für mein Teil versuche, das Sendungsbewußtsein aufzugeben. Jeder muss mit aller möglichen Musik die eigenen Erfahrungen machen - Zugänge ermöglichen oder Hinweise geben, das reicht aus.


    Mit besten Grüßen


    Matthias

    Tobe Welt, und springe,
    Ich steh hier und singe.

  • Warum ist Mahler so populär? Natürlich dem Rang seiner Musik gemäß, aber das ist sicher nicht der einzige Grund.


    Diese Musik hat überhaupt keinen Staub angesetzt und ich denke, daß sich auch heutige Musikhörer in ihr noch ohne weiteres spiegeln können. Ob Mahler ein moderner Komponist war, weiß ich nicht, das interessiert mich auch nicht, daß er aber ein moderner Künstler, weil moderner Mensch war, das ist für mich unbestritten.


    Die Grundproblematiken der Moderne tauchten jedenfalls schon zu Mahlers Zeiten auf, deshalb ist seine Zeit auch ohne weiteres aktuell und zeitgemäß. Die geistesgeschichtliche Position der Moderne ist es ja wohl, daß in ihr alles, was der Klassik und Romantik hoch und heilig war, sozusagen zertrümmert wurde. Da fasse ich mich kurz und nenne nur einmal die Namen Darwin, Nietzsche und Freud. Oder auch Natur, Psyche, Moral. Alles wurde fragwürdig: Die Liebe, das Gute, die Natur. Ja, und dann darf man auch nicht vergessen, daß diese Zeit bereits einer Zeit hektischer Industralisierung und wissenschaftlichen und technischen Fortschritts war.


    Mahlers Position ist nun die Position eines zutiefst humanen, ja sicher auch romantischen Künstlers. In dieser Hinsicht sind seine geistigen Inhalte auch die eines romantischen Künstlers: Natur, Religion, Liebe sind seine Inhalte. Insofern dürfen ihn die Konservativen für sich reklamieren.


    Worin die Konservativen ihn jedoch nicht für sich reklamieren können, ist, daß Mahler ein Künstler gewesen wäre, der sich auf seine konservative Wagenburg zurückzog, um die Rollläden hochzuziehen und dort dann eine gediegene, beschauliche, erbauliche, heitere und schöne Kunst zu machen.


    Was ich jedoch nicht mag ist das Klischee Mahlers als eines "gebrochenen" Künstlers. Etwa in dem Sinne, Mahlers Musik spiegele etwa ein Verhältnis zur Natur, aber bereits ein modernes, durch die Modernität bereits gebrochenes. Ich sehe das nicht so. Ich empfinde seine Musik als etwas ungebrochenes. Diese Musik ist wahrhaft, sie hat überhaupt nichts nostalgisches. Allerhöchstens vielleicht gelegentlich einen Anschein von Nostalgie.


    Damit will ich es mal gut sein lassen, vielleicht kommen wir ja noch auf das eine oder andere zu sprechen. Man mag auch kritisieren, daß ich Mahler zu sehr als geistiges und zu wenig als musikalisches "Phänomen" sehe, aber ich denke, das läßt sich nicht voneinander trennen. Das Temperament dieser Musik ist jedenfalls ein durchaus modernes.


    Gruß Martin

  • Für mich liegt ein wesentlicher Grund darin, dass auf Grund der Person Mahler einfach ein Zeitabstand notwendig wahr.
    Als Operndirektor hat er geradezu revolutionäre Reformen durchgesetzt, wurde darum in der Wiener Gesellschaft angefeindet. Dazu kommen Konflikte mit den Zensurbehörden (u.a. wegen "Salome") und den Philharmonikern (wegen seines Temperaments) - das ganze wurde dann noch der Zeit entsprechend antisemitisch gewürzt. Da nach 1945 in Österreich - gerade im Kunstbereich - kaum ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit vollzogen wurde, bedurfte es des Anstoßes von außen - im wesentlichen also Bernstein.


    Das wurde übrigens vor Jahren schon in einer Fernsehdokumentation vom Philharmoniker Peter Schmidl bestätigt, der erklärte, die (damals) alten Philharmoniker hätten Mahler als Komponisten vehement abgelehnt - und seine Generation hätte das einfach übernommen.


    Mahlers Musik ist von einer unglaublichen Leidenschaft gekennzeichnet, von einem geradezu paradoxen Zusammenspiel von Trauer (keine Symphonie ohne - verkappten - Trauermarsch) und Ekstase - insbesondere unter Bernstein. Mich haben dieser musikalische Reichtum und die teils aberwitzigen Instrumentierungsexzesse von Anfang an fasziniert - und offenbar sind seit geraumer Zeit die Zuhörer soweit vorurteilsfrei (oder haben diese auf andere Komponisten verschoben), dass sie diese Musik auch unbefangen aufnehmen können.

  • Zitat

    Zitat Alexander
    hatte Leonard Bernstein Anfang der 70er noch Mühe, diese Musik bei den Wiener Philharmonikern durchzusetzen (in einem Interview erzählte er einmal, aus dem Orchester bei einer Probe den Ruf "Sch ... Mahler!" gehört zu haben)


    Ich verehre Bernstein. Ich liebe ihn wirklich heiß. Aber auch der fanatischeste Bernstein-Anhänger muss zugeben, dass Bernstein manchmal eine Legende um sich selbst wirkt. Was Bernstein in Bezug auf die Wiener Philharmoniker und Mahler mitteilt, ist einfach Quatsch. Von 1945 bis 1970 spielten die Wiener Philharmoniker 47 Mal komplette Werke Mahlers (d.h. Symphonien bzw. komplette Liederzyklen; die zahlreichen Teilaufführungen von Liederzyklen, die in dieser Zeit weltweit üblich waren, werden dabei nicht mitgezählt).
    Mit Ausnahme der 3. und dem Adagio der 10. wurden alle Symphonien aufgeführt, weiters das "Lied von der Erde", der "Fahrende Geselle" und die "Kindertotenlieder".


    Unter den Dirigenten waren Claudio Abbado, Herbert v. Karajan, Otto Klemperer, Josef Krips, Rafael Kubelik, Dimitri Mitropulos, Rudolf Moralt, Georg Solti und Bruno Walter.


    Dass ein Philharmoniker "Sch... Mahler" sagte, kann man glauben oder nicht. Bei der kernig unverblümten Ausdrucksweise der Philharmoniker mag das schon vorgekommen sein. Ebenso wie ich mit eigenen Ohren anlässlich einer Probe der "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta" ein deutliches "Sch... Bartók" hörte, ohne daraus auf Anti-Bartók- oder Anti-ungarische Ressentiments zu schließen. Es war halt ein Schlagzeuger mit seinen Nerven am Ende. Na und...?


    Die Selbstmystifizierung Bernsteins zum Propheten Mahlers ist eine brillante Inszenierung - aber nicht mehr. Bernstein hat für Mahler insoferne viel gemacht, als er erstmals den kompletten Symphonien-Zyklus mit erstklassigen Orchestern aufnahm. Eine Ersteinspielung ist dabei ausschließlich die Achte Symphonie (was wohl am Aufwand liegt), selbst die ungeliebte Siebente wurde vor Bernstein von einigen anderen Dirigenten vorgelegt.


    Bernstein war somit einer der Propheten Mahlers - aber ganz sicher nicht der Prophet.



    Warum ich glaube, dass Mahler diese Popularität gewonnen hat? Nun: Er war seiner Zeit voraus, hat vieles in seine Musik integriert, was unser heutiges Lebensgefühl wiederspiegelt (Einsamkeit, Sehnsucht nach der unberührten Natur, Beziehungsängste, persönliche Katastrophen, Zweifel an Gott und der Welt etc). Und er hat es auf eine extrem spannende Weise gemacht: Bei Mahler wird's nie langweilig, seine Musik "berichtet" permanent, sie lässt den Zuhörer nicht allein, sondern führt ihn quasi an der Hand durch einen einzigartigen Kosmos an Emotionen und Erlebnissen. Und es gibt sogar die herrlich nachsing- oder nachpfeibaren Stellen. O.k., die sind meistens ironisch gemeint. Aber im Ohr bleiben sie. Und das ist's, was der Zuhörer will.

    ...

  • Zitat

    Warum ich glaube, dass Mahler diese Popularität gewonnen hat? Nun: Er war seiner Zeit voraus, hat vieles in seine Musik integriert, was unser heutiges Lebensgefühl wiederspiegelt (Einsamkeit, Sehnsucht nach der unberührten Natur, Beziehungsängste, persönliche Katastrophen, Zweifel an Gott und der Welt etc). Und er hat es auf eine extrem spannende Weise gemacht: Bei Mahler wird's nie langweilig, seine Musik "berichtet" permanent, sie lässt den Zuhörer nicht allein, sondern führt ihn quasi an der Hand durch einen einzigartigen Kosmos an Emotionen und Erlebnissen. Und es gibt sogar die herrlich nachsing- oder nachpfeibaren Stellen. O.k., die sind meistens ironisch gemeint. Aber im Ohr bleiben sie. Und das ist's, was der Zuhörer will.



    Hallo Edwin,
    das ist eine ziemlich perfekte Beschreibung des "Phänomens Mahler"!

    Herzliche Grüße
    Uranus

  • Hallo Edwin


    Zitat

    Was Bernstein in Bezug auf die Wiener Philharmoniker und Mahler mitteilt, ist einfach Quatsch. Von 1945 bis 1970 spielten die Wiener Philharmoniker 47 Mal komplette Werke Mahlers (d.h. Symphonien bzw. komplette Liederzyklen; die zahlreichen Teilaufführungen von Liederzyklen, die in dieser Zeit weltweit üblich waren, werden dabei nicht mitgezählt).


    Was willst du uns damit sagen? Dass die Philharmoniker fleißig Mahler gespielt haben? Wohl kaum. In 26 Jahren 47 Mahler-Interpretationen ist nicht berauschend. Du scheinst über Zahlenmaterial zu verfügen, daher wäre es angebracht gewesen, die Zahlen in Relation zu Brahms, Bruckner und Strauss zu setzen. Dann hätte man sofort gesehen, dass sie eben kein Mahler-Orchester sind.


    Schauen wir uns die Sache heute an, wo die Philharmoniker mehr Mahler spielen als in deinem angeführten Zeitraum. In der Saison 2005/2006 zählte ich auf dem Kalender 157 Philharmonische Konzerte. Die Anzahl der aufgeführten Symphonien dürfte im Schnitt etwas über 1 liegen, und in 157 Konzerten werden 4 Mahler-Symphonien gespielt (2 x 1. und 2 x 4.)! Also große Mahler-Fans sind sie heute noch nicht. Die Philharmoniker sind noch immer mehr ein Mozart / Beethoven / Schubert / Brahms / Bruckner / Strauss - Orchester.


    Was Bernstein gesagt hat, ist nicht Quatsch sondern entspricht der Wahrheit. Mahler galt damals vielfach - und auch bei den Wienern - als zweitklassiger Komponist. Es wäre schön, wenn zu deine Zahlen etwas präzisieren würdest. Ich kenne aus dem genannten Zeitraum eigentlich nur nennenswerte Aufführungen des Lieds von der Erde (z.B. die berühmte Walter-Einspielung; Walter hat vor dem Krieg zwei Symphonien mit den Wienern aufgenommen, diese Aufnahmen kenne ich aber nicht). Ich bin mir im Moment aus diesem Zeitraum keiner berühmt gewordenen Wiedergabe einer Symphonie bewusst (und es scheint zur Zeit überhaupt nur einen Mitschnitt der 8. Aus Salzburg 1960 zu geben). Die erste wirklich hochklassige Mahler-Schallplatten-Einspielung der Wiener außerhalb der Liederzyklen und des Lieds von der Erde scheint die 2. unter Mehta zu sein. Und das war 1974!!!


    Und Bernstein hätte es gar nicht zu sagen gebraucht (hat er es wirklich?), denn es gibt einen Beweis dafür. Ich kenne einen ORF-Probenmitschnitt (ca. Ende der Sechziger, noch Schwarz-Weiß), wo ein völlig frustrierter Leonard Bernstein vor dem Orchester sitzt und schimpft, weil die Herren nicht so wollen wie er es gerne hätte, und weil sie "Mahler nicht ernst nehmen würden".


    Das war damals so, man kann es nicht einfach negieren...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Hallo Theophilus!


    Also die Zahlen, ich tippe meine Liste einfach einmal ab.


    1945
    1. Symphonie (Robert Fanta)
    Kindertotenlieder (Josef Krips, 3 Aufführungen)


    1947
    4. Symphonie (Rudolf Moralt, 2 x)
    4. Symphonie (Otto Klemperer, 2 x)
    Lied von der Erde (Bruno Walter)


    1948
    2. Symphonie (Walter, 2 x)
    Fahrender Geselle (Krips)


    1949
    Lied von der Erde (Walter)


    1950
    4. Symphonie (Walter)


    1951
    1. Symphonie (Moralt)
    Fahrender Geselle (Furtwängler)


    1952
    5. Symphonie (Rafael Kubelik)
    Lied von der Erde (Walter)
    Kindertotenlieder (Clemens Krauss)
    Fahrender Geselle (Furtwängler)


    1953-1954
    kein Werk Mahlers im Programm


    1955
    1. Symphonie (Kubelik, 2x)
    4. Symphonie (Walter, 2 x)


    1956
    kein Werk Mahlers im Programm


    1957
    2. Symphonie (Kubelik)
    6. Symphonie (Dimitri Mitropulos, 2x)
    9. Symphonie (Kubelik, 2x)
    Kindertotenlieder (Karl Böhm, 3 x)


    1958
    kein Werk Mahlers im Programm


    1959
    Lied von der Erde (Kubelik)


    1960
    4. Symphonie (Walter)
    7. Symphonie (Kubelik, 2x)
    8. Symphonie (Mitropulos)
    9. Symphonie (Mitropulos, 3 x)
    Lied von der Erde (Herbert von Karajan, 3x)


    1961-1962
    kein Werk Mahlers im Programm


    1963
    2. Symphonie (Klemperer)


    1964
    1. Symphonie (Georg Solti)


    1965
    2. Symphonie (Claudio Abbado)


    1966
    1. Symphonie (Zubin Mehta)
    Lied von der Erde (Leonard Bernstein, 3x)


    1967
    Kindertotenlieder (Böhm, 3 x)
    2. Symphonie (Bernstein, 3x)


    1968
    9. Symphonie (Klemperer)


    1969
    Fahrender Geselle (Böhm)


    1970
    2. Symphonie (Abbado, 2x)


    Mich würde interessieren, ob andere Orchester in meinetwegen Chicago, Boston, Berlin oder München im fraglichen Zeitraum wesentlich mehr Mahler auf dem Programm hatten. Bereits 1960 in einem Jahr 5 verschiedene Werke Mahlers zu spielen, ist IMHO nicht gerade ein Zeichen für Ablehnung.
    Dazu kommt, dass die Philharmoniker im fraglichen Zeitraum die alleinigen Herren über die Programmgestaltung waren. Nicht Bernstein kam und zwang ihnen zu ihrem Heil Mahler auf, sondern es waren die Philharmoniker, die Bernstein einluden, um mit ihnen Mahler aufzuführen. Dieses Detail wird von den Bernstein-Hagiographen stets "übersehen".



    Zitat

    Ich kenne einen ORF-Probenmitschnitt (ca. Ende der Sechziger, noch Schwarz-Weiß), wo ein völlig frustrierter Leonard Bernstein vor dem Orchester sitzt und schimpft, weil die Herren nicht so wollen wie er es gerne hätte, und weil sie "Mahler nicht ernst nehmen würden".


    Ach ja, Bernsteins Probenmitschnitte... Auch hier eine gezielte Legendenbildung. Bernstein war ein grandioser Schauspieler. Wenn er wusste, es würde eine Probe mitgeschnitten, kam regelmäßig sein Zusammenbruch und seine Verzweiflung, man würde die Musik nicht ernst nehmen. Ich kenne so etwas auch von den "West Side Story"-Proben, wo sich Bernstein über die gewerkschaftlich geregelten Probenzeiten empört (die doch nicht wichtiger sein können als die Musik, die würde offenbar nicht ernst genommen) - und das waren nicht die Wiener Philharmoniker, die da so genau auf die Uhr blickten, sondern US-Studiomusiker.


    Man muss bei Bernstein IMHO sehr sauber trennen zwischen einem begnadeten Dirigenten, einem ausgezeichneten Komponisten - und einem brillanten Selbstvermarktungsgenie.
    Dass Bernstein viel für Mahler getan hat, leugne ich keineswegs. Aber die Inszenierung als einziger und alleiniger Prophet Mahlers gehört einfach in die Märchenstunde.
    Walter, Klemperer und Mengelberg waren die Mahlerianer der ersten Stunde; Bernstein wusste, dass er mit ihnen nicht konkurrieren konnte, weil diese drei mit Mahler selbst bekannt waren, also scheinbar das Wissen um Mahlers Werk aus erster Hand hatten. Daher glaubte Bernstein, sich durch diese Selbstinszenierung als der nachgeborene Prophet ausweisen zu müssen.
    Mitunter führte er sich auf, als wäre er im alleinigen Besitz der letzten Wahrheiten um Mahler.
    Etwas später gab es eine ähnliche Inszenierung mit Sibelius, auch da war Bernstein der Prophet, der den Finnen erstmals den Wiener Philharmonikern nahe brachte. Und wiederum waren die Interpretationen außergewöhnlich, Bernsteins Engagement total (inklusive Zusammenbruch, die Musiker würden Sibelius nicht ernst nehmen).
    Bernsteins messianischer Eifer zeitigte natürlich faszinierende Ergebnisse. Aber wenn man allein auf Bernstein bzw. den Produkten von Amberson Productions vertraut, bekommt man IMO ein etwas verzerrtes Bild von der Wirklichkeit.


    LG

    ...

  • Hochverehrte Mahler-Diskutanten!


    Ich erlaube mir den Idealismus, mir vorzustellen, dass Leonard Bernstein aufs Podium gegangen ist, sich dort TOTAL in Gustav Mahler versetzt hat - und am Ende des Konzerts begeistert davon war, was er soeben ERSCHAFFEN hat. (Das gilt bei Bernstein sicher auch im Falle Beethoven, Tschaikowsky, Sibelius. Für Mahler aber ganz besonders.)


    Für ihn persönlich - rätselhafte Popularität?


    Dirigent und Komponist - Zwiespalt der Zeiteinteilung.
    Judentum und Christentum - aus welchen Gründen auch immer Beschäftigung mit beidem.


    Im übrigen halte ich Edwin Baumgartners Beschreibung des Phänomens Mahler wie schon ein Vorschreiber für großartig formuliert und stimme ihr vollinhaltlich zu.


    Freundlicher Gruß
    Alexander


    ... und allein diese Liste Mahler/WPH rechtfertigt für mich den Weiterbestand des Forums (dies nur nebenbei). Hier wäre eine Rezeptionsgeschichte interessant, Pressekritiken der Aufführungen, ihre Resonanz beim Publikum ...
    (Forsche in München gerade über Mahler-Aufführungen nach 1945. In der SZ schrieb Pringsheim, ein "Mahler-Jünger", da trifft man nicht auf Kontroverses ...)

    Freundlicher Gruß
    Alexander

  • ... dieses Zitat aus Mahlers Munde vorneweg. Rätselhafte Poularität - tja, woran liegt es, dass soviele Dirigenten die "Klangberge" Mahlers in die Konzerthäuser bringen und auf Platte bannen? Heute gilt es ja schon fast als selbstverständlich, dass ein jeder Dirigent, der etwas auf sich hält, in mehr oder weniger guter Qualität die Symphonien auf Platte bringt - in den letzten Jahren ist die Zahl der Gesamteinspielungen inflationär geworden.


    Mahler war zu seinen Lebzeiten als Komponist nicht sehr erfolgreich - erst seine mit viel amerikanischem Marktgeschrei aufgeführte 8. bescherte ihm den Erfolg als Komponist, den er sich immer gewünscht hat. In einer Zeit, die sich an gigantomanischen Ereignissen berauschte, war eine Symphonie der 1000 Publikumsmagnet. Dann der frühe Tod 1911. Es folgten der I. Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Die "Grosse Depression", II. Weltkrieg, Kalter Krieg ... wo war dar Platz für den "verrückten" Mahler und seiner schweren Musik? Sein Andenken hielt man allerdings in den USA hoch, nicht zuletzt durch die geschickt lancierte Propaganda Almas und ihrer unsäglichen Erinnerungen. Musiker wie Willem Mengelberg, Otto Klemperer oder Bruno Walter, allesamt "Mahler-Jünger" setzten seine Werke immer wieder auf den Spielplan. Dann die sogenannte Mahler-Renaissance, ausgehend teilweise von der technischen Weiterentwicklung der Schallplatte und dem Angagement amerikanischer Dirigenten, namentlich Bernstein, die nach Europa kamen.


    Vielleicht war es Antisemitismus, der Mahler als Komponisten in Vergessenheit geraten ließ, vielleicht ein Spielplanpolitik europäischer Intendaten. Einen Ziegeszug trat er meines Erachtens erst mit der Ausbreitung des Mediums "Schallplatte" an, so dass er auch dem interessierten, breiterem Publikum bekannt wurde. Musikwissenschaftler fingen an, seine Symphonien mehr oder weniger sachkundig zu sezieren und setzen dabei auch viel Missverständnisse in die Welt, die teilweise bis heute andauern. Als Beispiel sei hier das Verständnis der 4. genannt, die manch ein Unbedarfter immer noch als heiteres und leichtes Werk auffasst. Heute ist er fester Bestandteil in den Programmem, auch wenn es immer noch einen "Kraftakt" bedeutet, seiner 2., 3. oder 9. Symphonie 90 oder noch mehr Minuten folgen zu können - ein Problem, was allerdings nicht nur der Zuhörer hat :D

    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


    Ich tu', was meine Pflicht gebeut, doch hass' ich alle Grausamkeit (ROCCO)

  • Edwins Liste müßte in der Tat mit entsprechenden aus z.B. Berlin, Paris, Amsterdam, London, New York verglichen werden, um zu sehen, wieviel Mahler seinerzeit überhaupt gespielt wurde (ich habe den Verdacht, dass auch an "mahlerfreundlicheren" Orten die 1., 4. und das Lied v. d. Erde dominieren werden...) Ich kann dem schon Gesagten wenig hinzufügen. Nur zwei Beobachtungen: Es zeigt sich wieder, dass nicht das Publikum, sondern das Engagement von einzelnen Musikern entscheidend dafür ist, ob Musik sich letzlich etabliert oder nicht. Entgegen der bis weit in die Nachkriegszeit in Konzertführern verbreiteten Ressentiments, zeigte der Einsatz von Klemperer, Walter u.a. Wirkung.
    Und dann dürfte die Entwicklung von sehr guter Reproduktion auf Schallplatte seit den späten 50ern nicht völlig unschuldig sein. Damit wurden nun auch, sofern es eben eine Einspielung gab, eher selten gespielte Stücke wie 3.,7.,8. Musikhörern leicht zugänglich. (Das gilt so ähnlich vermutlich für ein paar andere Komponisten, dei seit Einführung der Stereo-LP wesentlich präsenter auch im Konzert zu sein scheinen, z.B. Bruckner, Berlioz)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Also die Zahlen, ich tippe meine Liste einfach einmal ab.
    .....


    Hallo Edwin,


    ich habe vergeblich den Mahler-Zyklus im Rahmen der Wiener Festwochen (?) gesucht - bis mir auffiel, daß es ja um die Philharmoniker und nicht um die Symphoniker geht. Zwei Aufnahmen sind mir in (guter) Erinnerung: die 6. mit Abbado und die 3. mit Swarowski. Von letzterer ist es mir sogar gegen eine (größere) Schachtel Pralinen gelungen, von einer netten Frau beim ORF einen Tonbandmitschnitt zu ergattern. Waren das noch herrlich unkomplizierte Zeiten!


    Viele Grüße aus Bonn

  • Hallo Helmut,
    ja, die Liste bezieht sich ausschließlich einzig und allein auf die Wiener Philharmoniker, da man ihnen vorwarf, sie hätten vor Bernstein Mahler praktisch kaum gekannt.
    Dass in Österreich andere Orchester natürlich ebenfalls an Mahler herangingen, zeigt, dass Mahler vor dem Auftreten Bernsteins keineswegs der total ignorierte Unbekannte war. Bernstein hat vielleicht in Wien ein neues Kapitel der Mahlerinterpretation aufgeschlagen, aber sicher nicht Mahler für Wien entdeckt.
    Dennoch: Seine Verdienste sind unbestreitbar, ich bin der letzte, der sie schmälern will. Aber auch bei Bernstein kämpfe ich um einen Hauch Objektivität.
    LG


    P.S.: Statt der Pralinen müsstest Du heute ganz offiziell Euros hinlegen - und das nicht zu knapp. Tempora mutantur...

    ...

  • Guten Abend.


    Das Faszinosum Mahler hat für mich auch mit der radikalen Subjektivität seines Werks zu tun. Mir geht es immer wieder so, als ob er mich als Hörer vermittels seiner Kompositionen tief in sich hineinblicken lässt. Was man da zu sehen kriegt, kann abgründig sein, erschütternd, lustig (meist wird's dann gleich doppelbödig), erhaben, oder auch von einer endgültigen, wirklich transzendenten Klarheit (siehe Schlusssatz der 9.). Wie auch immer - es erscheint stets als wahrhafig, als tief empfunden. Und so gestattet diese Musik eben auch die Möglichkeit, in sich selbst zu schauen. Ich denke, dass dies eine überragende Qualität bei Mahler ist.


    Allerdings muss man sich darauf auch einlassen wollen; muss man sich quasi selbst mahlerisch befinden - wenn man einer Beschreibung Mahlers durch Adorno folgt, sollte man dazu "ein spätes Glied in der Tradition des europäischen Weltschmerzes" sein. Und das ist eben nicht jedermanns Sache. Ich glaube, es war Colin Davis, der sich bei Mahler (ich denke beim Adagio der 5.) an die "Leiden des alten Werthers" erinnert fühlte. Rein emotional ist es eben sehr viel, was Mahler bietet, manchmal zu viel (manchmal auch nicht bloß emotional, die 8. ist überhaupt für mich deutlich zu viel). Dabei sehe ich ihn allerdings weniger als typisch modernen, denn als typisch romantischen Menschen.


    Viele Grüße, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Liebe Forianer!


    Dann möchte ich mal ein wenig Saures geben, damit der thread-titel auch seine nötige rechtfertigung erfährt (von wegen rätselhaft und so :)).


    Denn etwas bitter schmeckt mir inzwischen die Mahler-Pille schon.
    Damit wir uns nicht falsch verstehen: vor fünf Jahren hätte ich jedem, der gegen Mahler gewettert hätte am liebsten die Pest an den Hals gewünscht. Ich war dermaßen in Mahler aufgegangen, daß ich glaubte ich sei der einzige Mensch auf Erden, der ihn WIRKLICH verstehen könne. (Ein durchaus witziger Irrglaube, den viele Menschen teilen nicht nur in Bezug auf Mahler.)Inzwsichen habe ich andere Schwerpunkte, habe ihn jedoch nie ganz vergessen...
    Doch so sehr ich damals in Mahler aufging, so sehr rieb ich mich auch immer wieder an einer Seite Mahlers, die IMO nur haarscharf am Kitsch vorbei schliddert. So großartig seine 2., insbesondere das Finale auch ist, so zweifelhaft finde ich desöfteren den Kinderchor in seiner 3. als auch z.B. das Finale der 7. Viel ist darüber gesagt worden und gerne wird auf die Ironie darauf hingewiesen. Doch ich frage einmal ganz ernsthaft: Wieviel Ironie steckt WIRKLICH dahinter?? Ich bin mir da nicht mehr so sicher - TOOOR TOOOR !!! Entschuldigung, zurück zu Mahler. Ist der 1. Teil der 8. von unvergleichlicher Tiefe und Schönheit, so habe ich den 2. Teil immer als durchhalten bis zum Finale empfunden.
    Mahler sei seiner Zeit voraus gewesen. Auch das möchte ich ein wenig bezweifeln. Dass Mahler erst nach dem 2. WK eine deutliche Renaissance erahren hat, hat soweit ich weiß weniger mit der Tatsache zu tun, daß seine Zeitgenossen mit seiner Musik nichts anfangen konnten, als vielmehr mit antijüdische Ressentiments. Denn wie eingans ja beirets richtig erwähnt wurde, so richtig vergessen hatte man Mahler auch nie. Und da unterscheidet sich Mahler z.B. von Bach: Mußte sich letzterer musikalischem Zeitgeschmack unterordnen und wollte keiner mehr seine "altmodischen" wenn auch schier großartigen Werke hören, sow waren es bei Mahler eher die bereits angeführten Gründe.
    IMO ist ein Komonist ein Kind seiner Zeit. Mahler hatte durchaus Intellekt und war war sicher imstande, das Geschehen in der Welt und einige Entwicklungen vorauszuahnen, doch kann ein Mensch wirklich so weit blicken?? In dem Sinne hätte der größte Komponist aller Zeiten Nostradamus werden können, hätte er doch nur Musik geschrieben.
    Vielleicht ist diese Einsamkeit, isoliertheit, diese Ängste des modernen Menschen schon im Ansatz in der damaligen Gesellschaft zu Mahlers Zeiten da gewesen??
    Der hier sicher einigen bekannte englische Dirigent V. Handley hält Mahler übrigens für einen überschätzten Komponisten! (In dem Zusammenhang interessant das Beiheft zu seiner Einspielung aller Bax-Sinfonien bei Chandos! Ein Mahler-Verehrer würde ihm jetzt sicher Antisemitismus oder Dummheit unterstellen, soweit ich weiß, iist er weder das eine noch das andere!). Die für manche gekonnte Fusion aus vermeintlich unschuldiger Ländler-Thematik und weltanschaulicher Dramtatik könnte man auch mit viel bösem Willen (den ich selbstverständlich nicht an den Tag lege :D) als Naivität auslegen, vielleicht auch als Entscheidungsschwäche. So manchmal klingt mir Mahler dann doch eben zu sehr nach in einem Wiener Cafehaus sitzenden grübelnden Philsophen, der immer wieder von seiner Sachertorte unterbrochen wird.... :stumm: :stumm:
    So und jetzt dürft ihr mich steinigen :P


    LG
    Wulf.

  • Hallo


    Zitat

    Und da unterscheidet sich Mahler z.B. von Bach: Mußte sich letzterer musikalischem Zeitgeschmack unterordnen und wollte keiner mehr seine "altmodischen" wenn auch schier großartigen Werke hören, sow waren es bei Mahler eher die bereits angeführten Gründe.


    Ich würde eher meinen, der Unterschied liegt darin, dass es den Konzertbetrieb des 20. Jahrhunderts im 18. eben nicht gab.




    Zitat

    So und jetzt dürft ihr mich steinigen


    Das steinigen überlasse ich anderen. Das, was du da über Mahler aufzählst, könnte man auch als Vielschichtigkeit bezeichnen. Und diese zu vermitteln, dabei aber weder trivial noch banal zu werden, ist die eigentliche Herausforderung einer Mahler-Interpretation.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Wulf!
    Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit - zwangsläufig auch ein Komponist. Es ist meiner Meinung nach aber möglich, dass ein Komponist so eine Art Eigenbrötler ist, dass er gewisse Sehnsüchte und Träume, dass er eine Erlebenswelt hat, die ihn noch weiter außerhalb der Norm stellen, als er es aufgrund seiner Begabung sowieso ist. Erst später wird er von der Zeit, sprich: von einem gewandelten Lebensgefühl eingeholt.
    Ich glaube, das war der Fall bei Mahler. Er hat nicht aktiv weit geblickt ("Leute, ich schaue in die Zukunft"), sondern er hatte ein Lebensgefühl, das sich in der Allgemeinheit erst in den letzten 40 Jahren manifestiert. Sozusagen wurde Mahler 50 Jahre nach seinem Tod von der Zeit eingeholt.
    Was die Banalitäten betrifft: Die von Dir genannten Stellen sind gemachte Naivität, ob seitens Mahler intellektuell gebrochen oder seitens Zuhörern wie mir als intellektuell gebrochen aufgefasst, ist mir relativ gleichgültig. Ich glaube aber, wenn jemand sich so sehr nach dieser heilen Naivität sehnt, ist von vorne herein etwas kaputt - er kann gar nicht anders, als diese Musik quasi unter Anführungszeichen schreiben.
    Ich gebe dabei aber zu, dass auch ich Probleme mit diversen "Banalitäten" habe - und zwar mit solchen, die nicht unter Anführungszeichen stehen. Für mich ist beispielsweise das gepriesene Adagietto aus der Fünften einfach Kitsch.
    Dennoch liebe ich auch diese Seite Mahlers - die Musik wird gerade dadurch für mich menschlich, weil er nicht immer nur der Titan ist, sondern mitunter in seinem Mitteilungsbedürfnis auch einen Tonfall findet, der quasi den Berg zum Propheten kommen lässt.
    LG

    ...

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Wulf
    ... So manchmal klingt mir Mahler dann doch eben zu sehr nach in einem Wiener Cafehaus sitzenden grübelnden Philsophen, der immer wieder von seiner Sachertorte unterbrochen wird.... :stumm: :stumm:


    Mahler war sicherlich nicht unreflektiert. Den Kinderchor der Dritten fasse ich zunächst auch ironisch, als Zitat gewissermaßen, genau wie die Worte in der Vierten. Darüber hinaus sind sie IMO aber auch intellektuell 'gewollt'. Und noch weiter sind sie Bestandteil seines emotionalen Szenarios, in das er uns hineinziehen will, um einen Zustand des Bewußtseins herbeizuführen - statt Abläufe. Von daher geht im besten Fall die hynotisierende Wirkung seiner Musik aus. Wer dafür nicht empfänglich ist, den trifft kein Vorwurf. Leicht stellen sich dann Assoziationen wie 'Kitsch' und 'Sachertorte' ein =)


    LG aus Bonn

  • Zitat

    Für mich ist beispielsweise das gepriesene Adagietto aus der Fünften einfach Kitsch.


    Nein ist es nicht. Es ist eine Liebeserklärung, und zwar eine der schönsten, die je in Musik geschrieben wurden. Kitsch wird sie lediglich durch allzuviele Dirigenten, die offenbar beim Dirigieren immer an "Tod in Venedig" denken. Aber höre dir einmal Benjamin Zander an, der offenbar sehr nahe an Mahlers Intentionen herankommt (ich glaube gelesen zu haben, dass Mahler selbst diesen Satz in unter zehn Minuten dirigiert hat, während man heute bis zu 15(!) Minuten verkraften muss; kein Wunder, dass das dann sehr stark nach Kitsch riecht).




    (Wenn du aber eine komponierte Liebeserklärung a priori als Kitsch empfindest, kann man dagegen natürlich nicht argumentieren. Dann vergiss das Geschriebene einfach ;) )

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    Nein ist es nicht. Es ist eine Liebeserklärung, und zwar eine der schönsten, die je in Musik geschrieben wurden.


    Aha, das erste was ich höre ... ich habe diese langen, melosartigen Sätze in Mahlers Schaffen als eine Art Sehnsuchtsruf empfunden. An wen oder war soll den diese Liebeserklärung gerichtet sein? An vergangene Zeiten, an eine Hoffnung, die immer Hoffnung bleiben wird, also ewtas rein spirituelles, oder einfach an seine Familie? Alma hat er ja mit diesem merkwürdigen Konstrukt names "Symphonie" Nr. 8 eine Liebeserklärung gemacht, obwohl da schon längst klar war, dass die Ehe nicht mehr retten war. Zemlinsky, Kokoschka, Grophius u.a. waren ja schon durch Almas "Bett gestiegen".

    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


    Ich tu', was meine Pflicht gebeut, doch hass' ich alle Grausamkeit (ROCCO)

  • Zitat

    wird sie lediglich durch allzuviele Dirigenten, die offenbar beim Dirigieren immer an "Tod in Venedig" denken.


    O.k., akzeptiert. Wenn ein Dirigent Geschmack hat und die Musik so spielt, wie sie notiert ist (und nicht die Geigen unentwegt nachdrücken lässt etc.), kann das sehr schöne Musik sein. Zum Tempo: Walter braucht um die 8 Minuten, Boulez etwa 10. Das finde ich noch in Ordnung. Aber ich habe einen Haitink mit 15 Minuten. Für mich ungenießbar!


    Übrigens hat Theophilus recht: Das Adagietto ist wirklich eine Liebeserklärung an Alma. Wird aber oft falsch interpretiert, nämlich als Sehnsuchtsruf. In Wirklichkeit ist es einfach ein Liebeslied ohne Worte.

    ...

  • Man lernt doch nie aus ... Danke :)

    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


    Ich tu', was meine Pflicht gebeut, doch hass' ich alle Grausamkeit (ROCCO)

  • Hallo Edwin,


    Zander benötigt 8:38 und spielt das derart feinfühlig und ohne künstliches Aroma, dass der Satz eine einzige Gänsehautstelle wird. Lediglich Walter ist meines Wissens noch schneller, ich habe von ihm eine 5. , wo das Adagietto in geradezu hurtigen 7:35 vorbeizieht (und man könnte argumentieren, dass Walter einiges über die von Mahler beabsichtigten Tempi wusste).

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Theophilus!
    Ich glaube, ich muss Zander noch eine Chance geben. Ich habe da eine Sechste Mahler unter ihm, bei der seine Erklärungen fabelhaft sind - aber kaum etwas schlägt sich in der IMO sehr biederen Interpretation nieder. Die Fünfte steht ungespielt im Regal - aber nicht mehr lange. Das Wochenende naht ja...!
    LG

    ...

  • Irgendwo las ich mal (ich glaube in Schreibers altem Plattenführer), dass inzwischen exakt diesselben Dinge, die Mahlers Musk zwischenzeitlich vorgeworfen wurden, unter einigen Anhängern (und Interpreten) auf einmal positiv gesehen werden, etwa Sentimentalität und extreme subjektive Seelenentbößungen. (von den antisemitischen u.ä. Vorwürfen mal abgesehen, technisch ist Mahler wie mir scheint außerordentlich souverän
    Da ist m.E. was dran. Zum Glück ist Mahler besser als mancher seiner Liebhaber es wahrhaben mag. Gewiß muß man bereit sein, sich auf einiges einzulassen, aber nicht mehr als bei anderer Musik der Zeit auch (wo Mahler haarscharf am Kitsch vorbeischlittert oder es immer wieder ironische Brechungen gibt, tapsen andere wie Strauss oder Elgar knietief im Kitsch herum). Es gibt ja diese Anekdote, wo Mahler Sibelius trifft, und Sibelius in etwa meinte, eine Sinfonie solle ein möglichs dicht und sparsam konstruiertes Gebilde sein, Mahler darauf: eine Sinfonie sei eine ganze Welt! Und eine Welt ist eben, obwohl sie zusammenhängt, ein mitunter recht inhomogenes Ding. Die Gebrochenheit scheint mir meistens offensichtlich (Stücke wie "Bimm bamm" oder das "Himmlische Leben"). Aber es ist natürlich oft auch eine Stück wirkliche Sehnsucht nach dem verlornen Paradies mit drin.


    Zum adagietto. Ich finde ehrlich gesagt zweitrangig, ob es nun eine Liebeserklärung ist. Entscheidend ist, wie es in den Rahmen der Sinfonie paßt. Da bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher, obwohl ich die 5. ganz gerne mag (ist aber kein Problem des adagiettos, sonder der ganzen Sinfonie)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    (wo Mahler haarscharf am Kitsch vorbeischlittert oder es immer wieder ironische Brechungen gibt, tapsen andere wie Strauss oder Elgar knietief im Kitsch herum).


    Salut,


    für mich stellt sich immer die nicht ganz neue Frage, ob nicht ein kitschiger Überraschungseiinhalt für ein Kind eine ganz reale warmherzige, vertraute Bedeutung hat. Warum sollte Musik Kitsch sein, wenn sie am Beispiel Rocco sogar zu einer unglaublichen Heilung beitragen kann?


    ;)


    Liebe Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Entscheidend ist, wie es in den Rahmen der Sinfonie paßt.


    Ich finde, es passt schon: Der erste Satz ist mit dem zweiten thematisch verbunden, der Mittelsatz steht für sich, Adagietto und Finale wiederholen die Relation von Satz I/II. Und dass diese ruhige Streicherkantilene zwischen die rauheren, Bläserdominierten schnellen Sätze gerückt ist, scheint mir eine gute Kontrastwirkung. Wobei ich aber zugebe, dass ich mit der 5. Mahler von allen Mahler-Symphonien die meisten Probleme habe. Ich höre sie einerseits gerne, aber ich habe das Gefühl, dass sie sich mir nicht wirklich erschließt.

    ...

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