Gustav Mahler - rätselhafte Popularität

  • @Edwin
    Zanders 5. ist auf jeden Fall einen Hörversuch wert. Unabhängig davon, wie dein abschließendes Urteil ausfallen wird, ich habe selten ein bekanntes Stück dermaßen neu entdeckt wie bei dieser Aufnahme.



    @JR
    Würdest du mir bitte ein Beispiel geben, wo Strauss deiner Meinung nach knietief im Kitsch watet?



    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    @JR
    Würdest du mir bitte ein Beispiel geben, wo Strauss deiner Meinung nach knietief im Kitsch watet?


    Ein Heldenleben. Tod & Verklärung und ein paar andere der Tondichtungen zumindest knöcheltief (die ganzen späten Opern kenne ich eh nicht). Kitsch, Schlagobers, Zuckerwasser, wie auch immer ich beanspruche da momentan keine differenzierte Betrachtung :D . Der Punkt war eher, dass es schon ein wenig seltsam von zeitgenössischen Kritikern (oder noch solchen der 50er Jahre) ist, Mahler einige wenige rührende Reminiszenzen oder verfremdete Tanzmusikelemente anzukreiden während Strauss u.ä. als großartig gefeiert werden. Dass man Mahler verglichen mit Brahms, Debussy oder Sibelius als überladen, sentimental, zu exaltiert, maßlos, was immer empfindet, könnte ich verstehen. Aber gegenüber Bruckner, Wagner, Strauss?


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Da kann ich Johannes zum großen Teil zustimmen.
    In meinem von mir so hochgeschätzten Die großen Komponisten unseres Jahrhunderts: Frankreich - Italien - Spanien von F. Goldbeck schreibt dieser:
    "Als Verfasser von Orchesterpartituren sind Dukas und Strauss ohne Zweifel wesensverwandt. Beide beherrschen ir Handwerk in glänzender Manier, und beide haben ihre besonders brilliante Technik des Instrumentierens eher von Berlioz als von Wagner und eher von Liszt als von Berlioz gelernt, wobei sie ihrer raffinierten Könnerschaft zum Trotz beide über eine schier animalische Witterung für "natürliches Musikmachen" verfügen. Doch als Künstler sind sie einander so unähnlich wie nur möglich. Es wäre Dukas so schwergefallen Geschmacksfehler zu begehen, wie Strauss, sie zu vermeiden."


    Man denke, wie Johannes völlig zu Recht erwähnt, an Schlagobers, insbesondere an die Entstehungszeit dieses Werks.
    Es ist wohl kein Zufall, daß dieses Stück bisher zu den eher selten gespielten von Strauss gehört..


    Nicht, daß man mich falsch versteht. Es gibt schon ein paar Werke, die mir gefallen - Till Eulenspiegel z.B. Ich liebe den Schleiertanz der Salome, er war früher einer meiner absoluten Lieblingsstücke! und sogar das Festliche Präludium für Orgel.


    Aber eigentlich gehört das schon gar nicht mehr in diesen thread.
    Tschuldige Alfred. :wacky:


    :hello:


    LG
    Wulf

  • OK, verfolgen wir vorerst einmal nicht das Thema Strauss und Kitsch (wobei ich wieder einmal der einfallslosen Meinung bin, dass in Fällen, wo Strauss kitschig erscheint, zumeist der Dirigent daran Schuld trägt. Tatsächlich würde ich gelegentlich dem Kitsch bei Strauss prinzipiell zustimmen, aber selbst in Werken, wo er anscheinend unvermeidbar ist - wie z.B. Arabella, habe ich Beispiele gehört, wo sich alles in höchstes Wohlgefallen auflöst. Strauss gut zu spielen ist manchmal wirklich höllisch schwer und der Kitsch-Meridian verläuft gelegentlich gefährlich nahe dem wunschlosen Glück).


    Deine Verwunderung über die Mahler-Rezeption nach dem Krieg ist meines Erachtens ziemlich leicht erklärt. Nachdem 1945 Europa in Schutt und Asche lag, kam die Wiederaufbauzeit. Die Menschen hatten gesteigertes Bedürfnis nach Harmonie, "klassischen" Formen und "positiver" Romantik (als die leicht kitschige Form und nicht die in der ursprünglichen Bedeutung). Mahler als Komponist der gebrochenen Sichtweisen war da verständlicherweise nicht sehr gefragt, Strauss passte da z.B. besser hinein und war auch ein willkommenes Vehikel, um die Bravour eines Spitzenorchesters zu demonstrieren. In Amerika kannte man den Krieg ja nur aus den Nachrichten und hatte daher emotional auch kein Problem damit, Mahler früher zu entdecken als die Europäer. Obwohl das genaugenommen nicht ganz stimmt. Sie haben ihn in Wirklichkeit ja sehr spät entdeckt, weil einige europäische Emigranten sich sehr für ihn einsetzten, aber es war immerhin noch früher als das Anlaufen der Wiederentdeckung in Europa (die dann ja irgendwie "von drüben" her kam; Walter und Mitropoulos, die wichtigsten Mahler-Pioniere in den Staaten, spielten ihn recht häufig in den europäischen Festspielsommern und dann kam Lenny...).

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!



  • Hi,


    ich kann mir fast bildlich vorstellen, wie sich dein F. Goldbeck selbst über die kunstfertige Geschliffenheit seiner Formulierung gefreut hat. Ich hoffe nur, dass nicht das ganze Buch voll von derartig toll formulierten Plattitüden ist. Das wäre nur schwer zu ertragen. :D


    Interessant finde ich aber deine Einschätzung des Tanzes in der Salome. Da zeigt sich wieder einmal, wie unterschiedlich die Geschmäcker eben sind. Für mich ist er der Schwachpunkt der Salome, fällt musikalisch förmlich aus dem homogenen Werk heraus und wirkt auf mich ein wenig wie ein Fremdkörper. Eigentlich ein Makel in einem sonst perfekten Werk.


    Aber dafür teile ich voll und ganz deine Wertschätzung des Till. Sicherlich einer der größten Genieblitze von Strauss und eine Perle der Orchesterliteratur.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Mir ging es auch gar nicht darum, Strauss runterzumachen (indes scheint dessen Popularität offenbar nicht rätselhaft...) und ich würde ihn auch nie an Schlagobers messen, sondern eher darum, herauszustellen, wie nah er und Mahler (u.a. fin de siecle Komponisten sich in einigen Aspekten sind) Selbst Sibelius, den ich als Kontrast nannte, kann mit ziemlich dick aufgetragenem, wenig substanziellen Bombast aufwarten (Finale der 2. z.B.).


    Zu Kitsch allgemein (und Ulli). Für mich (und das scheint verbreitet so gesehen zu werden) gehört zum Kitsch die Prätention: Er gibt vor, mehr zu sein als er einlösen kann, er benutzt Klischees usw. (Daher könnte ein Heftchenroman diesselbe Handlung darstellen wie Madame Bovary, aber Kitsch sein). Ein Ü-Ei-Inhalt kann danach gar nicht richtig kitschig sein, weil nicht wer weiß was vorgegeben wird. Wenn Strauss im Heldenleben tatsächlich seinem wohl auch anderweitig geäußerten Anspruch Ausdruck gibt, seit Beethoven der einzig wahre Künstler zu sein, und hiermit seine "Eroica" zu schreiben oder so etwas, dann ist für mich die Prätention und das Scheitern offensichtlich. "Schlagobers" hat diesen Anspruch nicht, aber es erreicht ebenfalls, trotz raffinierter Instrumentation, nicht Eleganz, Frische und Ökonomie der J.-Straußschen Vorbilder. "Bürger als Edelmann" ist zwar auch nicht mein Ding, aber das würde ich durchaus als gelungen ansehen.


    viele Grüße


    JR

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  • Ich finde, dass Strauss und Mahler einander auf der Kitschebene nicht ansatzweise nahekommen. Für mich ist der Unterschied, dass Mahler den Kitsch unter Anführungszeichen setzt. Z.B. diese scheinbar grauenhafte Kurkapellen-Musik im Frère-Jacques-Satz der "Ersten": Aber Moment, worum geht es in dem Satz: Die Tiere des Waldes tragen den Jäger zu Grab. No, angesichts dessen wird man wohl keine echte Trauer erwarten dürfen.
    Aber genau das transzendiert Mahler gleichzeitig zur Sehnsucht nach einer unberührten Natur, in der der Jäger eben tot ist. Und gleichzeitig weiß diese Musik, dass der Jäger aber da war - weshalb die Unberührtheit unwiederbringlich verloren ist. Es ist "musica impura", berührte, kontaminierte Musik. Die Ironie ist zugleich tiefere Bedeutung.
    Dadurch wird Mahler an solchen Stellen IMO nie kitschig. Womit ich größere Probleme habe, sind ein paar Streicher-Portamenti, ein paar Harfentupfer und ein paar sehr schluchzende Vorhalte.
    Aber insgesamt gehören auch die dazu - nämlich in dem Sinn, dass Mahler die "ganze Welt" (und den Kosmos dazu) umarmen wollte, und dadurch greift er in seiner Rhetorik stellenweise zu Mitteln, die kitschig wirken mögen - wenn man jemanden überreden will, und es mit allen Mitteln versucht, dann gehört da eben auch die eine oder andere Wendung dazu, die man von höherer Warte aus als kitschig empfinden mag.


    Strauss hingegen fühl sich wohl im Kitsch, er badet darin - und zwar ganz ohne weltumspannenden Überredungsversuch, sondern einfach, weil es ihm im Kitsch gefällt. Strauss' Kitsch ist daher auch nicht gebrochen, sondern wohlig ausgeformt und mit äußerster Lust an der Banalität instrumentiert.
    Einer meiner Vorredner stellte die Frage, wo Strauss denn kitschig sei. Gegenfrage: Wo ist er es nicht? (Antwort: Im "Till"und im "Don Quichotte" - und dann sind wir fast fertig.)
    Nehmen wir seine wildeste Partitur, die "Elektra": "Orest, Orest...." Walzersüße. Die Frau wartet darauf, dass ihr Bruder endlich die Mutter und deren Liebhaber erschlägt, eine Axt wird lebendigen Menschen in den Leib gehauen werden, Blut wird fließen. Und Strauss schwelgt offenbar in Vorfreude auf das Fest. Das nenne ich mit Verlaub, vielleicht provokant, aber ich stehe dazu, einen "dummen" Komponisten, einen Kitschproduzenten, der nur am gerade ausgesprochenen Wort klebt, aber den Hintergrund des Wortes außer Acht lässt. Kurz: Während Mahler immer x Bedeutungen mitkomponiert, bleibt Strauss an der Oberfläche, die er einmal mit wilder Musik, ein anderes Mal mit weichen Sextenparallelen und Celestageklingel illustriert.
    Und diese Grundeinstellung ist es, weshalb Strauss und Mahler für mich nicht ansatzweise verwandt sind.

    ...

  • Hallo Edwin


    Zitat

    Ich finde, dass Strauss und Mahler einander auf der Kitschebene nicht ansatzweise nahekommen.


    Ich weiß jetzt nicht recht, was dich jetzt zu dieser Äußerung bringt (die beiden wurden diesbezüglich ja gar nicht verglichen), aber du hast schon Recht. Strauss und Mahler sind eigentlich grundsätzlich nicht vergleichbar.



    Zitat

    Nehmen wir seine wildeste Partitur, die "Elektra": "Orest, Orest...." Walzersüße. Die Frau wartet darauf, dass ihr Bruder endlich die Mutter und deren Liebhaber erschlägt, eine Axt wird lebendigen Menschen in den Leib gehauen werden, Blut wird fließen. Und Strauss schwelgt offenbar in Vorfreude auf das Fest.


    Nein, nicht Strauss schwelgt, sondern Elektra. Mit dem unverhofften Erscheinen ihres Bruders nehmen plötzlich alle ihre Wunschphantasien reale Gestalt an, es ist ein makabrer Ausbruch von höchstem Glücksgefühl...


    Man kann natürlich darüber diskutieren, ob Richards Ausdrucksweise hier adäquat ist oder nicht, aber wenn du Strauss grundsätzlich für oberflächlich hältst, wird es ohnehin nicht ersprießlich. Elektra ist aber eine seltsame Figur. Ich begreife bis heute nicht recht, warum sie derart auf ihren Vater fixiert war und ihre Mutter dermaßen abgrundtief hasste. Mord ist natürlich unverzeihlich, aber wenn es je eine Frau gegeben hat, bei der man wenigstens nachvollziehen kann, warum sie ihren Gespons in die ewigen Jagdgründe geschickt hat, dann war es Klytemnästra. Bei Elektra kehren sich in ihrer Verblendung die Fakten um, sie ist als Person völlig aus den Fugen und als sie erkennt, dass die einzige Waffe, über die sie verfügt, plötzlich vor ihr steht, und das, wofür sie seit Jahren betet, plötzlich in wenigen Augenblicken Wirklichkeit werden wird, kennen ihre Wonnen keine Grenzen...
    Also ich finde, dass Strauss diesen völlig perversen Gefühlsausbruch musikalisch adäquat umsetzt, aber wenn du es als Kitsch empfindest, sei's drum.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Theophilus,
    der Vergleich ergab sich indirekt, sowohl durch Deine Beiträge als auch durch die von Johannes.


    Wir sind völlig einer Meinung über den "Elektra"-Hintergrund. Über die Umsetzung scheiden sich unsere Geister. Ich mag es in Opern nicht so sehr, wenn ein Komponist nur die Worte illustriert, ich erwarte mir von der Musik eigentlich eine Deutung, eine Interpretation der Worte.


    Natürlich ist es praktisch unmöglich, einen Symphoniker mit einem Opernkomponisten zu vergleichen. Aber wenn Mahler Vokalmusik schreibt, scheint er mir in tiefere Bedeutungsschichten vorzudringen als Strauss.


    Bei meinem "Elektra"-Beispiel gebe ich Dir recht: Eine klanglich leckere Umsetzung von Elektras perverser Mordlust. Strauss sagt: "Hier freut sich Elektra". Mir wäre ein Knacks in der Musik lieber gewesen, also: "Hier freut sich Elektra - aber, Leute, das ist völlig pervers!" oder "Wenn sich Elektra auch freut - ich, der Komponist, weine um Klytämnestra, denn auch sie ist ein Mensch".


    Aber ich gebe gerne zu, dass ich aus dem genannten Grund mit sehr vielen Opern, die als bedeutend eingestuft werden, größere Probleme habe.


    Und damit zurück zu Mahler.


    LG

    ...

  • Guten Morgen,


    mit Interesse habe ich gelesen, welchen Nebenweg der Fred hier genommen hat. Und auch wenn es ja zurück zu Mahler gehen soll, sei es mir gestattet, auch ganz kurz etwas zu Mahler-Strauss schreiben zu dürfen.


    Es kommt nicht überraschend, dass sich Mahler-Befürworter und Strauss-Befürworter so (scheinbar unversöhnlich) gegenüberstehen. In Malte Fischers Mahler-Biographie findet sich die Aussage, dass Mahler-Dirigenten nicht Straus dirigieren und umgekehrt. Das war mir zuvor nie so aufgefallen, trifft im großen und ganzen aber wohl zu. (Ausnahmen sind unter anderem Solti oder zuletzt auch Rattle - wobei mir Rattle bei beiden Komponisten mehr zusagt.)


    Für mich persönlich gilt dieses Unversöhnliche jedoch nicht. Ich schätze beide Komponisten, wenngleich ich jeweils nicht alles als für mich als wesentlich ansehe.


    Das Trennende bei Strauss und Mahler ist für mich jedoch nicht ein gewisses Maß an Kitsch. Für mich ist Mahler ein (wie ich weiter oben schrieb) emotionalerer Komponist, der dem Idealbild des Künstlers, der "nicht anders kann" (als eben genau dies genau so zu kompnieren) sehr nahe kommt. Strauss hingegen ist für mich der perfekte Notensetzer, der einem Riesen-Klangkörper kunstfertig alles abverlangt. Diesem Perfekten wohnt häufig aber auch etwas so Glanzvolles wie Seelenloses inne.


    Wenn aber einen von beiden kitschig sein sollte, träfe dass für mein (Kitsch-) Empfinden eher auf Mahler zu, der manchmal eben auch zu emotional, zu gefühlig daherkommt (was ich dann als kitschig empfinden kann). Bei Strauss kann mich eher eine zu ausgetüftelte Orchestrierung als zu glatt, als letztlich zu nichtssagend abstoßen (Motto: l'art pour l'art, oder: seht mal, was ich kann). Das mag unter Umständen auch zuckerbäckerisch sein, aber das ist gewollt und damit für mich eigentlich nicht wirklich kitschig (Kitsch ist nicht das Gegenteil von Kunst, sondern gut gemeint).


    Ich denke aber auch, dass bei Strauss - wie hier ja schon gesagt - die Frage der Interpretation durch den Dirigenten sehr wichtig ist. Wenn ich mir Rattles "Heldenleben" oder Welser-Mösts "Alpensymphonie" anhöre, sagt mir das außerordentich zu und berührt mich auch. Gleiches galt letztens in der Berliner Philharmonie, als Thielemann die "Alpensymphonie" gab, das war nicht nur auf Grund der Fülle des Klangs beeindruckend, sondern auch emotional von Belang; auch Thielemanns "Rosenkavalier" kam mir trotz allen Wohlklangs nicht platt vor.


    Zu einem deutlichen Entweder-Oder zwischen beiden bin ich jedenfalls nicht in der Lage. Ich möchte keinen missen.


    Viele Grüße, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

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  • Zitat

    Original von lohengrins
    In Malte Fischers Mahler-Biographie findet sich die Aussage, dass Mahler-Dirigenten nicht Straus dirigieren und umgekehrt. Das war mir zuvor nie so aufgefallen, trifft im großen und ganzen aber wohl zu. (Ausnahmen sind unter anderem Solti oder zuletzt auch Rattle - wobei mir Rattle bei beiden Komponisten mehr zusagt.)


    Hallo,


    da könnte man natürlich noch Carlos Kleiber nennen, Karajan, Bernstein, Maazel und... und.... Insofern stimme ich Malte Fischer nicht zu. Ich habe sein Buch noch nicht gelesen, bin aber zum Beispiel gespannt, was er zu Mahlers Kasseler Zeit schreibt, die von manchen als eine Art "Martyrium" angesehen wird. Wenn ich mal Zeit habe :)

    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


    Ich tu', was meine Pflicht gebeut, doch hass' ich alle Grausamkeit (ROCCO)

  • Fischer hat IMO schon ansatzweise recht: Es geht nicht um jene Dirigenten, die neben sehr viel Strauss auch einmal Mahler dirigiert haben und umgekehrt, sondern um Vorlieben. Carlos Kleiber mag schon einmal Mahler dirigiert haben, aber sicherlich eher den "Rosenkavalier", Karajan hat um Mahler, mit Ausnahme weniger Werke, einen Bogen gemacht, Böhm ebenfalls. Bernstein wiederum hat Strauss nicht so sehr geschätzt.
    Boulez ist ein Sonderfall: Er mag Strauss, führt ihn aber nicht so gerne auf, weil er findet, dass Strauss schon von anderen Dirigenten genug aufgeführt wird und es nicht so unbedingt neue Sichtweisen durch ihn, Boulez, geben könnte. (Obwohl - mich würde schon interessieren, wie eine "Salome" und eine "Elektra" in der Hand dieses perfekten Klangausbalancierers klingen würden - aber das nur am Rande.)
    Eine Ausgewogenheit sehe ich in der älteren Dirigenten-Generation eigentlich nur bei Mitropulos. Und bei den jetzt lebenden ist natürlich Mariss Jansons zu nennen, der nicht nur Mahler und Strauss, sondern auch Bruckner dirigiert - und diese Trias bei einem Dirigenten in diesem Ausmaß zu finden, ist wirklich eher selten.

    ...

  • Moin,


    ich habe noch mal nachgeschlagen: Es geht Fischer tatsächlich erkennbar mehr um die Tendenz, wie Edwin Baumgartner richtig anmerkt. Von einer "offenbaren Inkompatibilität" spricht er dagegen in puncto Mahler- und Bruckner-Exegese.


    Vielleicht ist es bei mir aber so hängengeblieben, wie ich zuvor schrieb, da Fischer aus seiner Abneigung gegen Strauss keinen Hehl macht. Unter anderem schreibt er, dass dessen (also Straussens) Renommee "zusammengeschnurrt" sei auf "zwei, drei seiner Opern"; die symphonischen Dichtungen spielten dagegen nurmehr eine "marginale Rolle". Letzteres kann ich - zumindest aus Sicht eines Berliner Konzertgängers - nicht bestätigen.


    Schönes Wochenende, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Zitat

    Original von Rocco


    da könnte man natürlich noch Carlos Kleiber nennen, Karajan, Bernstein, Maazel und... und.... Insofern stimme ich Malte Fischer nicht zu. Ich habe sein Buch noch nicht gelesen, bin aber zum Beispiel gespannt, was er zu Mahlers Kasseler Zeit schreibt, die von manchen als eine Art "Martyrium" angesehen wird. Wenn ich mal Zeit habe :)


    Ich halte die These der "Mahler" vs. "Strauss-Dirigenten" auch für etwas steil, aber Karajan hat nur sehr ausgewählte Stücke von Mahler dirigiert (aufgenommen AFAIK nur 5., 6. und 9. Sinfonie, sowie ein paar Lieder). Aber sesbstverständlich haben sehr viel Dirigenten beide dirigiert, vielleicht findet man den Gegensatz ehr in der älteren Generation. Aber Mengelberg hat beides gemacht, Klemperer sich sowohl über Rosenkavalier wie über das adagietto (deswegen hat er die 5. angeblich nicht eingespielt) despektierlich geäußert, aber natürlich andere Werke von Strauss dirigiert.


    viele Grüße


    JR

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  • Hallo, liebe Mahler-Begeisterte,


    ich möchte auf einen anderen Aspekt hinaus : Mahler hat irgendwie mit der Protestgeneration zu tun – und Alfred liebt ja solche Themen. Von heute ist vielleicht schwer zu verstehen und zu fassen, wie es möglich wurde, dass er seinerzeit von den gleichen „zornigen jungen Männern“ geliebt und populär gemacht wurde, die sonst von Jazz und Existenzialismus begeistert waren, auf Lederjacken und starken Zigaretten standen, lieber Alexis Korner als Mick Jagger hörten. (Und steckt dieser Zug nicht auch im frühen Leonard Bernstein?)


    Schon immer hatte Mahler Philosophen und Dirigenten fasziniert, die sich im weitesten Sinn der Linken zugehörig fühlten, so Scherchen, Klemperer, Ernst Bloch, Adorno, den Anthroposophen Bruno Walter, auch wenn es natürlich Gegenbeispiele wie Mengelberg gibt. Aber sein unerbittlicher Kampf gegen den Schlendrian im Wiener Musikbetrieb und erst recht seine Flucht vor den Wiener Intrigen machten ihn allen sympathisch, die gegen das gleiche „Establishment“ eingestellt waren.



    Mahler im Alter von 18 Jahren


    Wer den Eindruck hatte, dass sich das Bürgertum hinter der Musik der Wiener Klassik wie in einer Burg verschanzt hatte, und doch in der klassischen Musik eine Aussage spürte voller Freiheitswillen und Kraft, der konnte über Mahler einen eigenen Zugang finden.


    Und auch rebellische Geister haben eine schwache Seite. Wo ließe sich besser dazu stehen als in der Musik von Mahler? Unvergesslich Viscontis Verfilmung des „Tod in Venedig“ mit Dirk Bogarde und dem Adagietto aus der 5. Sinfonie (das „sehr langsam“ gespielt werden soll, und wie gut das geht, zeigt Scherchen in seiner Aufnahme von 13 Minuten Dauer), ein echter Hit, den sich niemand aus der Protestbewegung entgehen ließ.


    Aber dann schlug der „Marsch durch die Institutionen“ um, die Protestierenden passten sich an, und von der Mahler-Begeisterung blieb nur die äußere Hülle zurück. Früh hat das Woody Allen gespürt und 1979 in „Manhattan“ einen Intellektuellen gespielt, der sich um so stärker äußerlich bemühte, mit dem Profil von Mahler auftreten zu können, je mehr die früheren Lebensideale verloren gingen.



    Nach meinem Eindruck ist die Präsenz von Mahler in den letzten Jahren fast inflationär geworden und soll eine Identität festhalten, die nicht mehr besteht. Mahler droht das gleiche Schicksal zu erleiden wie in einer früheren Generation Vivaldi oder Mozart.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Liebe Mitforianer/innen,
    ich höre seit etwa 27 Jahren Mahler.
    Ich finde Walters Beitrag sehr gut.
    Ich kam zu Mahler eher aus, sagen wir mal - anthroposophischen Interesse (ich sah Kubeliks Aufnahme von Mahlers Zweiten - Mahler??? noch nie gehört! Auferstehungssymphonie? könnte interessant sein! Kaufen!!! hören, begeistert sein und nicht von losgekommen!). Aber da war der Boden schon bereitet. Mehr über ihn zu erfahren, die Symphonien zu hören in Konzerten und auf Schallplatten war da schon leicht. Aber es mag durchaus so sein, dass die in Walters Ausführungen genannten Gründe zu Mahlers Popularisierung beigetragen haben.
    Heute, da ich über Mahlers Musik kopflastiger nachdenke, also nicht mehr so gefühlsbetont, erinnere ich mich, dass ich mich damals mit M. sehr seelenverwandt empfand. Später erfuhr ich, ich glaube, es war in dem Buch von Eggebrecht, dass dies vielen Hörern von M. Musik so oder so ähnlich ergehe, da er oft Musik komponiert habe, die man zu "kennen" glaubt.
    Walters Schlusssatz kann ich nur beipflichten.


    Liebe Grüße Bernd Hemmersbach (hemmi)

  • Dieser Thread hat eine Textstrecke, die man mit Gewinn liest.


    Wenn ich Mahler höre, ist mir seine Musik ein Aufgehen in der Natur, zuweilen ins Kosmische. Ist es das, was die Hörer in Beschlag nimmt? Zuweilen kommen mir die Klänge seiner Musik als die Natur selbst vor. Das ist sicherlich nur ein Teilaspekt in der musikalischen Welt Gustav Mahlers. Aber ein wichtiger, der sein ganzes Schaffen durchzieht.


    Das Leiden der Kreatur erscheint oft. Zwei Beispiele fallen mir ein: Zum Kondukt im 2. Satz der 1. Sinfonie soll ihn eine Darstellung eines Trauerzuges mit Tierdarstellungen inspiriert haben. Die Kreatur des Affen im Lied der Erde taucht als Bild vor mir auf.


    Denke ich an den Beginn seines Schaffens, kommt in den Liedern der Naturbezug stark zum Ausdruck. Der Wanderbursche streift durch die Natur, Naturlaute meine ich zu vernehmen. Sein Wesen wird von der Natur wiedergegeben. Der Duft eines Lindenbaumes, ein Vogelruf, das Grün der Blätter rufen Gefühle wach.


    Im Lied von der Erde für Alt und Orchester ist chinesische Lyrik enthalten. Im Schlusssatz finden sich diese Worte:


    Wohin ich geh? Ich geh, ich wandre in die Berge.

    Ich suche Ruhe für mein einsam Herz.

    Ich wandre nach der Heimat, meiner Stätte!

    Ich werde niemals in die Ferne schweifen.

    Still ist mein Herz und harret seiner Stunde:

    Die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz und grünt

    Aufs neu! Allüberall und ewig blauen licht die Fernen!

    Ewig … Ewig … Ewig … Ewig …



    Zuweilen ist es die Stille der Nacht, die Abwesenheit der Menschen, die in Mahlers Sinfonien sich spiegelt und auf die der Komponist musikalisch antwortet. So in der 3. Sinfonie


    O Mensch! Gib acht!

    Was spricht die tiefe Mitternacht?

    Ich schlief!

    Aus tiefem Traum bin ich erwacht!

    Die Welt ist tief,

    und tiefer als der Tag gedacht!

    O Mensch! Tief!

    Tief ist ihr Weh!

    Lust tiefer noch als Herzeleid!

    Weh spricht – Vergeh!

    Doch alle Lust will Ewigkeit,

    will tiefe, tiefe Ewigkeit!


    aus Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra


    Im Liedschaffen ist mir Gustav Mahler am nächsten, mehr noch als in seinen Sinfonien.

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Zitat von moderato

    Zum Kondukt im 2. Satz der 1. Sinfonie

    3.Satz


    Das Begräbnis des Jägers....

    550px-Schwind_Begraebnis.jpg

    Moritz von Schwind: Wie die Tiere den Jäger begraben. Der Holzschnitt lieferte Mahler vermutlich eine der Anregungen zur Komposition des 3. Satzes




    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Wenn ich Mahler höre, ist mir seine Musik ein Aufgehen in der Natur, zuweilen ins Kosmische. Ist es das, was die Hörer in Beschlag nimmt? Zuweilen kommen mir die Klänge seiner Musik als die Natur selbst vor. Das ist sicherlich nur ein Teilaspekt in der musikalischen Welt Gustav Mahlers. Aber ein wichtiger, der sein ganzes Schaffen durchzieht.

    Mahler erlebte und verstand "Natur" im pantheistischen Sinn. Gegenüber dem Prager Musikwissenschaftler Dr. Richard Badka betonte er (18.2.1896):

    "Mich berührt ja immer seltsam, daß die meisten, wenn sie von >Natur< sprechen, nur immer an Blumen, Vöglein, Waldesluft etc. denken. Den Gott Dionysos, den großen Pan kennt niemand.

    So: da haben Sie schon eine Art Programm - d.h. eine Probe, wie ich Musik mache. Sie ist immer und überall nur Naturlaut!

    Das scheint mir das zu sein, was Bülow zu mir einst mit dem sinnvollen Worte >Symphonisches Problem< bezeichnet hatte. Eine andere Art von Programm erkenne ich, wenigstens für meine Werke nicht an (...) Aber nun ist es die Welt, die Natur als Ganzes, welche sozusagen aus unergründlichem Schweigen zum Tönen und Klingen erweckt ist."


    Aus dieser kompositorischen Intention geht die spezifische Semantik der Mahlerschen Musiksprache hervor: Die Asymmetrie der Melodiebögen, die Reduktion der Chromatik und der so eigenartige, manchmal geradezu naiv wirkende Einsatz der Diatonik. Man könnte fast sagen, dass er mit den Naturlautlichkeit und Infantilität aufgreifenden Elementen die Musik im Sinne von Novalis "romantisiert" hat.

    Uns heutige Hörer vermag das stark anzusprechen, für die zeitgenössischen wurde es zu einem Schockerlebnis. Bei den Aufführungen seiner ersten fünf Symphonien folgte für Mahler ein Misserfolg auf den anderen. Nach einer Aufführung der "Vierten" bemerkte der - Mahler an sich wohlgesinnte - Hans von Bülow kopfschüttelnd: "Wenn das noch Musik ist". Gegenüber dem Berliner Musikschriftsteller Oskar Bie, der im April 1995 sein Berliner Konzert wohlwollend besprochen hatte, äußerte sich Mahler tief pessimistisch:

    "Wie lähmend ist dieser fortwährende Windmühlenkampf. Auf Verständnis unter meinen >Zunftgenossen< rechne ich schon lange nicht mehr, Ich fühle, daß diejenigen, welche mir einst folgen werden, nicht dort zu suchen sind, wo Musik und Ähnliches >gemacht< wird.

    Meine Musik ist >gelebt<, und wie sollen sich diejenigen zu ihr verhalten, die nicht >leben<, und zu denen nicht ein Luftzug dringt von dem Sturmflug unserer großen Zeit." (Brief vom 3.April 1895)


    Wenn man der - von moderato vorangehend aufgeworfenen - Frage nachgeht, worin für uns heute die Faszination von Mahlers Musik gründet (ich beschäftige mich zurzeit intensiv damit, möchte aber meine diesbezüglichen Erkenntnisse nicht hier ins Forum einbringen), dann sind solche Äußerungen Mahlers wie diese höchst aufschlussreich.

  • Gustav Mahler - zu Lebzeiten als Dirigent wohl anerkannt und berühmt, jedoch als Komponist auch umstritten - lange Zeit im "Abseits" (aus meiner Sicht noch bis in die 60er Jahre) zählt heute zu den Fixpunkten im "klassischen Repertoire", trotz seines eher schmalen Oeuvres.

    In der Tat, vor mir liegt ein "Schallplattenführer", ca. 350 Seiten stark, aus dem Jahr 1959, der Gustav Mahler (einschließlich Foto) sage und schreibe gerade einmal wenig mehr als eine (!) Seite widmet. Da heißt es u.a.: "Im Unterschied zu Bruckner versucht Mahler, die Vielfältigkeit der Erscheinungen des Lebens von der einfachen Volksweise bis zu den kompliziertesten, pantheistisch angehauchten Naturerlebnissen einzufangen. Hierbei ist er in einen - gelegentlich übersteigerten - Romantizismus geraten. (....) Sein Bestes bietet Mahler in den Liedern (....) Bei den Sinfonien ist dort, wo mehrere Ausgaben vorliegen, wie bei der Ersten und Vierten, den Interpretationen seines Schülers Bruno Walter der Vorzug zu geben.

    Abschließend werden noch die "Kindertotenlieder" mit Bruno Walter und Kathleen Ferrier genannt, sowie "Das Lied von der Erde", das als "Sinfonie mit obligaten Singstimmen" vorgestellt wird und die Aufnahme der "Lieder eines fahrenden Gesellen" mit Fischer-Dieskau, unter Furtwängler, als "schön und willkommen" geheißen.


    Zwanzig Jahre später schreibt Ulrich Schreiber in seinem "Schallplatten-Jahrbuch", und bestätigt damit Alfred Schmidts "nach meiner Sicht noch bis in die 60er Jahre", folgendes: "Die Mahler-Renaissance, nach 1960 sacht beginnend und sich dann fast überschlagend, ist eins der merkwürdigsten neueren Phänomene im Umkreis der Wirkungsgeschichte von Musik. Nachdem jahrzehntelang die Bemühungen von Dirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer, Willem Mengelberg und Hermann Scherchen ohne Tiefenwirkung verliefen, begann in den sechziger Jahren ein Mahler-Boom, der zu einem wahren Wettrennen um die Komplettierung der ersten GA der neun Sinfonien führte. Dank seiner schnellen Tempi in den schnellen Sätzen und unbeschadet der Tatsache, daß er in den langsamen Sätzen extrem langsame Tempi einschlug, kam Leonard Bernstein als erster durchs Ziel, gefolgt von Rafael Kubelik, Bernard Haitink, Georg Solti und - kaum bemerkt von der europäischen Musiköffentlichkeit - Maurice Abravanel. Man wird kaum fehlgehen, daß dieses Wettrennen nicht Folge eines neuen Mahler-Verständnisses war, sondern das Resultat eines harten Konkurrenzkampfes der internationalen Plattenkonzerne. Verstärkt wird diese Vermutung, wenn man die verbalen Äußerungen der zuerst durchs Ziel gehenden Dirigenten Bernstein und Kubelik liest, denn in ihnen werden letztlich alle die Vorurteile wiederholt - nur jetzt ins Positive gekehrt - was lange genug eine adäquate Mahler-Rezeption verhindert hat." So viel zu dem sensationellen Aufstieg Gustav Mahlers in das Reich der berühmtesten Symphoniker, nachdem er über viele Jahrzehnte fast keine, oder nur eine sehr marginale, Rolle im internationalen Konzertleben spielte.


    Ich gestehe freimütig, daß ich erst ziemlich spät überhaupt zu Mahler gekommen bin, bis heute aber nicht den rechten Zugang zu seiner Musik gefunden habe. Meine Sammlung umfaßt zwar sämtliche Sinfonien (einige sogar in zwei bzw. drei Versionen), doch meist habe ich sie wegen der von mir verehrten Dirigenten (Klemperer, Szell, Reiner, Abbado) angeschafft. Dazu das "Lied von der Erde" (mit Bruno Walter, Klemperer und Kletzki) und, natürlich, die "Lieder eines fahrenden Gesellen", mit Fischer-Dieskau (unter den Dirigenten Furtwängler und Böhm).


    Wenn ich einmal zu Mahler greife, so landet meist die Vierte (unter George Szell) in meinem CD-Spieler.


    LG Nemorino









    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

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  • Lieber Helmut Hofman


    Mit grosser innerer Beteiligung habe ich deine Ausführungen gelesen.

    Mahlers Musik bin ich relativ früh in meiner musikalischen Entwicklung begegnet. Ich habe sie vorallem hörend mit wenig textlichen Informationen erlebt. Die Aufnahme mit Eliahu Inbal und dem Radio-Sinfonie Frankfurter waren die ersten Aufnahmen.



    Die Booklet-Texte mussten genügen. Diese pantheistische* Sicht, (ich hatte den Ausdruck in meinem vorangegangenem Beitrag bewusst vermieden), die du mit Zitaten belegst, habe ich gefühlsmässig in seiner Musik gefunden. Die Naturlaute waren das eine, die in seine Musik einkomponiert sind. Es schwingt immer eine Ebene mit, die ich bei anderen Komponisten nicht in dieser Weise antreffe.


    Religiöse Musik fehlt in Mahlers Oeuvre. Dass der Jude Gustav Mahler keine christliche Texte vertonte, ist nachvollziehbar. Das Allumfassende ist in seiner Musik.


    LG moderato


    * Der Ausdruck Pantheismus oder Pantheïsmus (von altgriechisch πᾶν pān „alles“ sowie θεός theós „Gott“) bezeichnet religionsphilosophische Lehren, in denen die Allheit des Seins an Stelle des Gottesbegriff steht. Je nach Wortwahl wird die Natur, der Kosmos, die Welt, mit dem Begriff „Gott“ gleichgesetzt.

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Religiöse Musik fehlt in Mahlers Oeuvre. Dass der Jude Gustav Mahler keine christliche Texte vertonte, ist nachvollziehbar. Das Allumfassende ist in seiner Musik.

    Die Vertonung des Pfingsthymnus "Veni creator spiritus" im ersten Teil der 8. Symphonie ist hier allerdings eine Ausnahme.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Religiöse Musik fehlt in Mahlers Oeuvre. Dass der Jude Gustav Mahler keine christliche Texte vertonte, ist nachvollziehbar. Das Allumfassende ist in seiner Musik.

    Die Vertonung des Pfingsthymnus "Veni creator spiritus" im ersten Teil der 8. Symphonie ist hier allerdings eine Ausnahme.

    Zu Mahlers Religiosität:

    Zwei Fakten zunächst: Er war kein gläubiger Jude, also keiner, der den jüdischen Glauben vertrat und praktizierte; und am 23. Februar 1897 vollzog er in Hamburgs Michaeliskirche den Übertritt zum katholischen Glauben. Äußerer Anlass dazu war gewiss die von ihm angestrebte Stelle als Kapellmeister der Wiener Hofoper, aber für ihn selbst war es, wie er selbst bekannte, ein Schritt, den er aus innerer Überzeugung vollzog.

    Alma Mahler bekundet, dass er "christgläubig" war und eine ausgeprägte Neigung zum katholischen Mystizismus hatte:

    "Die katholische Mystik zog ihn an, und dies wurde von seinen Jugendfreunden, die sich umnennen und umtaufen ließen, gefördert. Seine Liebe zur katholischen Mystik war aber vollkommen echt."

    William Ritter meinte, katholischer als Mahler "sei nie ein katholischer Musiker gewesen."


    Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch ein Bericht Alfred Rollers, der Mahler fragte, warum er eigentlich keine Messe komponiere. Mahlers Reaktion darauf:

    ">Glauben Sie, daß ich das vermöchte? Nun, warum eigentlich nicht? Doch nein. Da kommt das Credo vor<. "Und er begann das Credo lateinisch herzusagen". >Nein, das vermag ich doch nicht<. "Aber nach der Probe der Achten in München rief er mir in Erinnerung an dieses Gespräch fröhlich zu: >Sehen Sie, das ist meine Messe<".

    Nach Alma Mahler hatte er in seinem Handexemplar des Te Deum von Bruckner die Worte "Für Chor, Soli und Orchester, Orgel ad libitum" ausgestrichen und statt dessen an diese Stelle gesetzt: "für Engelszungen, Gottselige, gequälte Herzen und feuergeläuterte Seelen!".


    Constantin Floros, der sich mit Mahlers "geistiger Welt" gründlich auseinandergesetzt hat, stellt fest:

    "Wer bereit ist, Mahlers Religiosität und Gläubigkeit nach seinen Äußerungen und nach dem Ideengehalt seiner Werke zu beurteilen, muß zu dem Schluß gelangen, daß Almas Berichte den Tatsachen entsprechen. Mahler war - freilich auf seine Art - wirklich >christgläubig<".

  • Wenn ich einmal zu Mahler greife, so landet meist die Vierte (unter George Szell) in meinem CD-Spieler.

    Heute (17.08.2022) um 17:05 Uhr auf arte könntest Du dann einmal die 6. erleben, aus Salzburg (2020) mit den Wiener Philharmonikern und Andris Nelsons. Freue mich schon auf fast 90 min Mahler.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Mahler erlebte und verstand "Natur" im pantheistischen Sinn. Gegenüber dem Prager Musikwissenschaftler Dr. Richard Badka betonte er (18.2.1896):

    "Mich berührt ja immer seltsam, daß die meisten, wenn sie von >Natur< sprechen, nur immer an Blumen, Vöglein, Waldesluft etc. denken. Den Gott Dionysos, den großen Pan kennt niemand.

    So: da haben Sie schon eine Art Programm - d.h. eine Probe, wie ich Musik mache. Sie ist immer und überall nur Naturlaut!

    Das scheint mir das zu sein, was Bülow zu mir einst mit dem sinnvollen Worte >Symphonisches Problem< bezeichnet hatte. Eine andere Art von Programm erkenne ich, wenigstens für meine Werke nicht an (...) Aber nun ist es die Welt, die Natur als Ganzes, welche sozusagen aus unergründlichem Schweigen zum Tönen und Klingen erweckt ist."


    Diese pantheistische* Sicht, (ich hatte den Ausdruck in meinem vorangegangenem Beitrag bewusst vermieden), die du mit Zitaten belegst, habe ich gefühlsmässig in seiner Musik gefunden.

    Dieses Zitat belegt allerdings weniger Mahlers Neigung zum Pantheismus, sondern etwas Anderes. Der Gott Pan ist der griechischen Mythologie zufolge derjenige Gott, der den Menschen gerne einen Schrecken einjagt. So hat etwa Maurice Ravel in seiner Ballettmusik Daphnis et Chloe den Pan mit einer Schrecksekunde durch die Windmaschine in Erscheinung treten lassen. Mahler will sagen, dass die Natur nicht nur "lieblich" ist wie Blumen und Vogelzwitschern, sondern eben auch ihre schrecklichen Seiten hat, wofür der Gott Pan steht. Das legt auch Mahlers Nennung von Dionysos zusammen mit Pan nahe. Der Nietzsche-Leser Mahler weiß natürlich, dass Dionysos bei Nietzsche für die entsetzlichen Seiten der Natur, das Leiden in der Welt, steht. Zudem ist das eine Anknüpfung an die seit dem 18. Jhd. einflussreiche Auffassung der Natur als ein Erhabenes. Mahler sagt bezeichnend "großer Gott Pan". Das Erhabene der Natur ist das Unendlich-Große, eine nicht nur Unfasslichkeit bedeutende Größe, sondern vor allem eine, welche dem Menschen Gewalt antut, für eine dem Menschen überlegene Naturgewalt steht, die ihn niederzwingt, wenigstens physisch. In der 3. Symphonie erscheinen beide Seiten. Da gibt es die liebliche Seite - das ist der 2. Satz, das Blumenstück. Zu Beginn des Kopfsatzes dominiert mit dem Hauptthema die panisch-schreckliche Größe der Natur, die unbelebte und noch menschenabweisend starre Natur, die dann durch den einmarschierenden Sommer, also das entstehende Leben, verdrängt wird.

    Religiöse Musik fehlt in Mahlers Oeuvre. Dass der Jude Gustav Mahler keine christliche Texte vertonte, ist nachvollziehbar. Das Allumfassende ist in seiner Musik.

    Mahler hat in der 2. Symphonie Klopstocks Auferstehungs-Ode vertont! Leonard Bernstein hat aber treffend finde ich darauf hingewiesen, dass auch im Spezifisch-Christlichen, der Auferstehungs-Thematik, Mahlers jüdische Identität durchscheint. Es ertönt dort nämlich das in Synagogen häufig erklingende Schofarhorn - ausgerechnet, wo es um die Auferstehung geht! Ich glaube, dass Mahlers Religiosität weniger Kirchen konventionell war, sondern - wie die Mystik - eine Frage des Geistes ist. Friedrich Schleiermacher bestimmte die Religion als "Anschauung des Universums", die auch die Kunst vermitteln kann. Das kommt Mahler sehr nahe. Zudem gibt es diesen von Alam Mahler glaube ich überlieferten Ausspruch Gustav Mahlers:


    „Ich bin dreifach heimatlos: als geborener Böhme in Österreich, als Österreicher unter Deutschen und als Jude in der ganzen Welt. Überall bin ich ein ungerufener Gast, überall unerwünscht.“


    Mahler war ja antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Im Unterschied zum religiös motivierten Antijudaismus wird das Jude-Sein im modernen Antisemitismus nicht durch die Religion, sondern durch die Nationalität oder Rasse definiert. Richard Wagner polemisiert in seiner berüchtigten Schrift Das Judentum in der Musik gegen Meyerbeer und Mendelssohn, die für ihn das "Judentum in der Musik" repräsentieren. Bezeichnend war Mendelssohn christlich - evangelisch - getauft. Das war für Wagner aber schlicht nicht relevant, weil für ihn das "Jüdische" eine jüdische Nationalität war. So ähnlich erlebt offenbar auch Mahler sein Judesein - was ihm das Gefühl vermittelt, der Welt fremd zu sein und überall unerwünscht. Er lebt sozusagen eine Paria-Existenz durch seine jüdische Identität, die er nicht ablegen kann. (Der mittelalterliche Antijudaismus ließ den Juden den Ausweg der Taufe, um der Verfolgung zu entgehen. Diesen Fluchtweg gibt es im modernen, nationalistischen und rassistischen Antisemitismus nicht mehr. Ein berühmtes, trauriges Beispiel war die Philosophin Edith Stein, die ehemalige Assistentin von Edmund Husserl, die zum Katholizismus konvertiert war und im Kloster lebte und als "Jüdin" nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde.)


    Diese Paria-Existenz und das Gefühl, dass die Türen der menschlichen Welt dem jüdischen Paria eigentlich verschlossen sind, bestimmt auch maßgeblich Mahlers Verständnis der Natur. Im Unterschied zur Menschenwelt mit ihren Vorurteilen, ihren Ausgrenzungen von Menschen, nur weil sie "anders" sind, ist in der Natur für ausnahmslos alle Menschen Platz. Die Natur macht keine Unterschiede nach Rassen und Nationen. Sie wird so zum Zufluchtsort von Parias - wie sie eben auch die Juden sind in ihrer gesellschaftlichen Existenz angesichts des Antisemitismus. "Vor der Sonne, vor Blumen, Bäumen und Kindern sind alle Menschen frei und gleich" schrieb Hannah Arendt. Wenn man Mahlers Naturverständnis verstehen will, sollte man sehen, dass die Natur bei Mahler immer die Gegenwelt zur Menschenwelt ist, deren positives Gegenbild sozusagen. Das wird schon in Mahlers Jugendbrief an seinen Freund Steiner deutlich, den H.H. Eggebrecht in seinem Mahler-Buch seiner Mahler-Deutung sehr trefflich wie ich finde zugrunde legt. Die Menschenwelt wird von Mahler in diesem Brief als "Lügenwelt" bezeichnet, in welcher der arme Mensch wie eine Mücke im Spinnennetz gefangen zappelt. Die Natur dagegen ist der Ort der Freiheit, wo sich der Mensch als im schönen Einklang mit der Welt erlebt. Der Aufeinanderprall beider Welten ereignet sich gleich in der 1. Symphonie. Das Thema entspricht dem Lied "Ging heut Morgen über´s Feld". Die Natur ist eine "schöne Welt" (Liedtext) und verleitet den naiven Menschen dazu, zu glauben, die Welt sei überhaupt schön. Bis dann im 3. Satz das böse Erwachen kommt, wenn er auf die Menschenwelt trifft. Deshalb wird bei Mahler auch oft das Naturerlebnis als ein "Durchbruch" gestaltet - eine Transzendenz des Ganz-Anderen, der Erden- und Menschenferne. Das sind die Kuhglocken im 1. Satz der 6. Symphonie. Mahler liebte, einsame Spaziergänge auf der Hochalm zu machen. Da fühlte er sich dem Himmel nah - so weit weg wie möglich von der "Lügenwelt" der Menschen mit ihren tobenden Märschen, die ihn gefangen halten...


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Lieber Dr. Holger Kaletha


    Ich danke für deinen wie immer fundierten Beitrag des Fachmannes. Du hast den Gehalt der mahlerschen Musik und ihren Ursprung sowie den Bezug zum Judentum gut herausgearbeitet.


    Als Hörer hört man in den riesigen Ausmassen der malerischen Sinfonien etwas Unerklärliches, das phasziniert und ahnt den Hintergrund, der in der Musik enthalten ist. Das mahlersche Zitat "Sie ist immer und überall Naturlaut." trifft den Kern.


    Der Titel des Threads geht von einer rätselhaften Popularität aus. Weshalb die Werke Gustav Mahlers hoch in der Gunst des Publikums stehen, scheint nicht nachvollziehbar. Es scheint eine Sehnsucht gestillt zu werden.


    Ich finde, etwas Unerklärliches ist in jedem beutenden Kunstwerk enthalten.


    Ich habe den seit 2006 (!) ruhenden Thread hervorgeholt und er wird auf dem bestehenden hohen Niveau (mit Exkurs zu Strauss) weitergeführt.


    LG moderato

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Eine Ebene in Mahlers Werken wurde noch nicht angesprochen.


    Schostakowitsch war ein Verehrer der Werke Gustav Mahlers. Beide Komponisten haben eine Gemeinsamkeit. Doppelbödigkeit mit den stilistischen Mitteln von Ironie und Groteske.


    Diese Brechung kommt mir neben der Natur in Mahlers Werk entgegen. Sie taucht nicht immer auf, aber wenn sie auftaucht, bin ich auch verunsichert und irritiert.


    Mahlers "Das Lied von der Erde" schätzte Schostakowitsch sehr. (siehe Vortrag unten in meinem Beitrag) Sie war dem Russen sicherlich ein Modell für seine 14. Sinfonie, dem Gesang eine tragende Rolle zu geben.


    * * *


    Übrigens:


    Dr. Bernd Feuchtner hat 2010 einen Vortrag zum Thema "Schostakowitsch und Mahler, Symphonik im Stalinismus" gehalten.


    https://feuchtner.de/wp-conten…takowitsch-und-Mahler.pdf

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Als Hörer hört man in den riesigen Ausmassen der malerischen Sinfonien etwas Unerklärliches, das phasziniert und ahnt den Hintergrund, der in der Musik enthalten ist. Das mahlersche Zitat "Sie ist immer und überall Naturlaut." trifft den Kern.


    Der Titel des Threads geht von einer rätselhaften Popularität aus. Weshalb die Werke Gustav Mahlers hoch in der Gunst des Publikums stehen, scheint nicht nachvollziehbar. Es scheint eine Sehnsucht gestillt zu werden.

    Lieber Moderato,


    Danke! :) Warum die sehr späte Popularität Mahlers? Es gibt vielleicht doch einen nachvollziehbaren Grund. Die Tradition der "großen" Symphonik seit Beethoven und der Romantik ist eine Verweltlichung der Musik. Beethovens 9. wollte zur Menschheit sprechen: "Alle Menschen werden Brüder..." Ich habe mich mit der Beethoven-Rezeption zur Zeit des 1. Weltkriegs und in den 20iger Jahren beschäftigt. Was auffällt in dieser Zeit ist, dass vor allem das "Kollektiverlebnis" zählte - Beethovens Musik diente der nationalen Erbauung. Alles dreht sich immer um das deutsche Volk. "Beethoven und wir (Deutschen)" (Paul Natorp). In diesem Punkt war Mahler unzeitgemäß. Seine Musik geht aus von der Perspektive eines Einzelnen, der im Widerspruch mit der Welt steht und sich mit ihr zu versöhnen sucht. Nach dem 2. Weltkrieg und seiner Katastrophe war es mit der Glorifizierung des Kollektivs endgültig vorbei. Mahler wird wohl nicht zufällig populär in der Zeit des Existenzialismus, wo es um den Einzelnen in seiner Vereinzelung geht und gerade nicht um ihn, nur sofern er Teil eines großen Ganzen, Mitglied einer Gesellschaft, ist, an die sich die Musik dann wendet und eine allgemein-humane (oder weniger humane) Botschaft verkünden will. Mahlers Musik appelliert nicht an die Menschheit wie Beethoven mit Schiller, sie schildert die Betroffenheit des Einzelnen von seiner Welt, mit der er nicht zurecht kommt für den Einzelnen, den das zur Identifikation herausfordert. Genau das finde ich auch persönlich anziehend bei Mahler - weswegen ich Mahler Bruckner letztlich vorziehe. Bruckner schreibt zwar tolle Musik - aber das ich nicht mein "Weltgefühl" sozusagen. Da fühle ich mich der Musik Mahlers verwandter. ;)

    Mahlers "Das Lied von der Erde" schätzte Schostakowitsch sehr. (siehe Vortrag unten in meinem Beitrag) Sie war dem Russen sicherlich ein Modell für seine 14. Sinfonie, dem Gesang eine tragende Rolle zu geben.

    Mahler und Schostakowitsch - ein interessantes Thema in der Tat! Schostakowitsch soll die Platte mit dem "Lied von der Erde" immer gehört haben, wenn er Selbstmordgedanken hatte.

    Danke für den Link - das werde ich lesen! :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Mich hat die Musik Gustav Mahlers vom ersten Moment an in den Bann gezogen, fasziniert, irritiert, erregt, aufgewühlt, begeistert, emotionalisiert...


    Es war auch bei mir der Zyklus des RSO Frankfurt unter Inbal,

    den ich größtenteils live im Großen Saal der Alten Oper erlebt habe (vom Bühnenrang die Ohren in den Raum und die Augen auf die Musiker; einige kannte ich, die auf der Bühne saßen, waren Lehrer, Freund, Bekannte).

    den mein Vater dann CD für CD im Phonohaus erstanden hat.

    den man auch bei der Vierten nicht mit nur einem Kunstkopf aufgenommen hatte, wie es hieß.

    der Geschichten vom Dirigenten, aus dem Orchester und von den Solisten umfasst, über die ich nicht schreiben werde/ kann/ darf.

    den ich gerne auf einer remasterten Denon-Version hätte, um die Billigschuber-Version zu ersetzen.

    dem viele weitere gefolgt sind - Zyklen auf CD und Konzerte.

    der eine Mahler-Liebe entfacht hat, die in mir auch neben Bach, Bruckner und Strauss (u.v.a.) wunderbar Platz hat. Widerspruchslos.


    Ich liebe Lenny. Ich liebe auch seinen Mahler und die Geschichten drumherum. Ich neige zu der für uns Fans unangenehmen Einsicht, dass nicht Bernstein allein den Wienern und der Welt zu Mahler verholfen hat. Und doch trübt das meine Zuneigung weniger als die Rolle Helmut Witteks (ich schaue jetzt nicht nach, ob ich den richtig geschrieben habe) in der Vierten. Was zum Teufel soll dieser völlige Fehlgriff?? Zumal es auf DVD die Version mit Edith Mathis gibt... Und ich höre ihn grummeln im Interview, die Szene mit "scheiße (sic) Musik", "wir werden kein' Mahler haben" in der Probe. Herrlich... Ich erlaube Amberson alles, was den Kult um Bernstein erhält, denn ich weiß, dass sich andere um Kritik und Perspektive kümmern.


    Mir ist Mahlers Popularität überhaupt nicht rätselhaft. Keinen Ton, keine Sekunde lang.

    Es gibt Musik von derart urwüchsiger Kraft und Überzeugung, gar Überwältigung, dass ich gar nicht anders kann, als ihr zu erliegen, zu verfallen.


    Es wartet die Partitur vom "LvdE" auf mich und meine Stifte. Sicherlich das von mir am wenigsten gehörte Werk, bei weitem nicht so populär wie die (anderen) Sinfonien oder das Klagende Lied (boah, das hatte ich auf CD zuerst gehört; mich hat's ja schier zerrissen).


    Nach dem 1. Teil der Achten heute Morgen auf der Fahrt zur PZR - Dudamel - LAPhil - nur im Stream/ Download (das ist an anderer Stelle bei Klavieraufnahmen ja Thema im Forum) wird das die nächste Runde mit Mahler bei mir sein. Ich bin gespannt und freue mich auf die Neuentdeckung.

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Hallo Accuphan, das war auch mein erster zusammenhängender Mahler Zyklus den ich erlebt!


    Zitat von Accuphan

    dann CD für CD im Phonohaus erstanden hat.

    Das waren noch Zeiten! ;( Da denkt man wehmütig zurück!


    LG palestrina

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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