Lieber Caruso41,
ich habe mich in meinem letzten Beitrag lediglich auf die Ebene der Figurenpsychologie beschränkt, da mich die Kahlschläge mancher Beiträge hierzu veranlaßten. Nenne das ruhig vordergründig.
Zu den von dir angesprochenen mythologischen Bezügen möchte ich anfügen, daß die Mondgottheit selbst ambivalent ist - sie steht, mit Diana/Artemis auch und gerade für die weibliche Keuschheit (auch dies eine geheime Gemeinsamkeit zwischen Salomé und Jochanaan). Da die antike Göttin zugleich eine Helferin bei Geburten war, liegt es nahe, in Salomé eine Repräsentantin weiblicher Sexualität par excellence zu sehen. Das aber bezweifle ich.
Es ist eine bedauerliche Schwäche von Wildes Drama, die Dekadenz des Herodeshofs (und der spätantiken Gesellschaft) ein Stückweit zu substantiieren.
Wir wissen heute, daß das fundamentalistische Argument der Dekadenz eine strategische Behauptung ist, kein Sachbefund. Ausstellungen im Gropiusbau (Hafen von Alexandria) und im Pergamonmuseum in Berlin belegen, wie kultiviert, welt- und geistesoffen die vorderasiatischen Kulturen gewesen sind (und wie zerstörerisch das frühe Christentum dort wirkte).
Auch an Herodes´ Tafel sitzen Römer neben Ägyptern, Juden neben Ungläubigen. Wir vernehmen eine gelehrten Disput über die Gegenwart Gottes, worin auch "eine sehr gefährliche Lehre aus Alexandria" anklingt. Dort ist von der Allgegenwart Jahwes (oder Allahs?) die Rede, im Guten wie im Bösen. Eine entscheidende Stelle.
Denn während die orthodoxeren Juden nach rückwärts schauen (und ihre Gegenwart als gottesfern erleben - Gott habe sein Antlitz abgewendet), predigen andere bereits die Heraufkunft des Messias.
Wildes Drama läßt offen, ob die beiden Nazarener nur weitere Absurditäten verkünden. Strauss aber findet für das Heilsgeschehen, hier und zu Jochanaans Worten, eine auratische Musik, die erfüllt ist von einem Gegendiskurs zur flirrenden Exotik der Palastwelt. Eine tiefe, sicher voranschreitende Ruhe spricht aus diesen Klängen, ein Licht aus einer anderen Welt als der mondscheingeschwängerten Wüstennacht. Schall&Wahn nennt diese evokative Musik kitschig, was mir ganz unbegreiflich ist.
Herodias fühlt sich kurz darauf von Jochanaan angegriffen, obwohl der Opernhörer weiß, daß Salomé, die Tochter Babylons, gemeint ist. Der detailliert vorausgesagte Tod der Prinzessin offenbart die heilsgeschichtliche Verwicklung, denn Salomé ist nur ein Instrument zu Jochanaans Martyrium und überlebt ihre Tat nicht lange.
Jochanaan, der in Felle gekleidet war und sich von Heuschrecken ernährte, steht mit seiner fundamentalistischen Haltung ("Daß ich alle Verruchtheit austilgen werde, daß ich alle Weiber lehren werde, nicht auf den Wegen ihrer Greuel zu wandeln!") auf alttestamentarischem Boden. Insofern gebe ich dir, Caruso41, recht, daß Salomé wie ein Blitz in diese Weltzurechtmachung einschlägt und ihr weibliches, sinnliches Recht einfordert. - Doch mit der Betonung nicht der starren altorientalischen, sondern zumal der heilsgeschichtlichen neutestamentlichen Rolle des Jochanaan als Täufer und Prophet Jesu verschiebt Strauss die Schlagrichtung des Dramas: Jochanaan ist nicht nur "möglicher Weise", sondern ohne jeden Zweifel ein heiliger Mann.
Ich weiß nicht, ob jemand hier den Roman "Sie waren Augenzeugen" von Gertrud Fussenegger kennt. Auch dort wird die Heilsgeschichte (die beiden letzten Jahre von Jesu Wirken bis zur Kreuzigung) aus der gebrochenen Perspektive der vielfältigen kleinasiatischen Lebensumstände ganz unterschiedlicher Zeitgenossen erzählt. Mit der Pointe, daß das so bedeutende und wirkungsträchtige Geschehen für die mittelbar Beteiligten nur ein ganz am Rande wahrnehmbarer Schemen gewesen ist, eine Nebensächlichkeit. - Daran muß ich bei der Lektüre der Salomé oft denken.