Hans Zender: Schuberts Winterreise - eine komponierte Interpretation

  • Liebe Forianer,


    Bei der Beurteilung des nun zur Sprache kommenden Werkes, bzw
    seiner Aufnahmen muß man sich zunächst die Frage stellen:
    Wo ordne ich es zu ?


    Hier bieten sich zwei Alternativen an:


    [list=a]
    [*]Ich sehe es als Werk Schuberts, das verfremdet, verfälscht, bearbeitet, verbessert oder verdorben wurde, je nach Standpunkt
    [*]Ich sehe es als Werk Zenders, das sich Schuberts Winterreise als Grundlage genommen hat, je die Melodie weitgehend erhalten hat, aber so tiefgreifende Einschnitte in die Substanz vorgenommen hat, daß man bereits von einem eigenen Werk sprechen kann, ähnlich wie Ravels Instrumentierung Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung", jedoch sind die Änderungen tiefgreifender.
    [/list=a]


    Ich habe mich dazu entschlossen diese Winterreise als eigenes Kunstwerk zu sehen, als Zenders Schöpfung, basierend auf Schuberts Vorlage. Das macht etliches leichter. Die Frage nach einem Sakrileg kommt ers gar nicht auf, weil was hier geschehen ist, durchaus Tradition hat.


    Die Komposition Zenders dauert etwa 20 Minuten länger als die Vorlage, was teilweise auf rigorose Tempoveränderungen, teils auf Vorspiele, und auch auf Wiederholungen zurückzuführen ist.


    Was hat der unbefangene Hörer zu erwarten ?


    Daß ich nicht unbedingt ein revolutionärer Verfechter moderner Klassik bin ist ja hinlänglich bekannt. Ich habe auch sehr lange gezögert, mir diese Einspielung zuzulegen, weil ich meinte, es handle sich zwar um eine Modeerscheinung, die man ernst nehmen sollte, aber die Aufnahme wäre bald als geschmackliche Entgleisung in Vergessenheit geraten. ich weiß nicht ob das dereinst der Fall sein wird, aber ich muß sagen die Aufnahme dieses Werks hat mich persönlich sehr beeindruckt, so daß mir egal ist, wie die Geschichte sie dereinst beurteilen wird.


    Zunächst die Instrumentation:


    kaum vorstellbar, daß jemand das mit soviel Gespür für Effekte und Stimmungen heutzutage zustandebringt.
    Manche Stimmungen sind so wirkungsvoll instrumentiert, daß es schon fast ein wenig kitschig wirkt, so schön klingt manches.
    Umso wirkungsvoller heben sich Klangeffekte, unvermutetet Temporückungen davon ab, ebenso mache absichtlich verstörenden Stellen.
    Egal wie man zu solchen Projekten steht, man wir schwer umhin kommen in den hypnotischen Bann dieser Version einzutauchen...


    Manches wirkt geringfügig übertrieben, aber das ist wohl Geschmackssache. Die wirklich lyrischen Stellen wurden lediglich äusserst wirkungsvoll instrumentiert (Der Lindenbaum)


    Es gibt von dem Werk bereits zwei Einspielungen, eine mit Blochwitz, die andere mit Pregardien. Ich besitzte jene mit Blochwitz


    Fazit: Eine hochinteressante Aufnahme, die bei aller Modernität, die Melodie über weite Teile des Werkes unangetastet lässt und somit
    auch jene zufriedenstellt, die sonst bei Moderner Musik nicht recht warm werden (euphemistisch gesagt). Die Wirkung der Gedichte
    wird jedoch drastisch verstärkt.


    Die Originalfassung ist davon nicht tangiert, sie ist nicht zu verbessern, ich sagte es schon, weitgehend ein anderes Werk....


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Sagitt meint:
    Kunstwerke sind keine Heiligtümer. Damit befinde ich mich in bester Gesellschaft mit bekanntesten Komponisten. Wie sehr hat Bach Vivaldi verarbeitet, Händel jeden brauchbaren Einfall, Mozart wieder Händel, Liszt Beethovensinfonien ebenso wie Schubertlieder, Brahms Kompositionen anderer Komponisten und eigene-dann vierhändig-.


    Deswegen stelle ich mir die Frage gar nicht, sondern nur diese, was mir das Werk von Zender bedeutet.


    Ich habe diese CD schon lange und sofort gemocht,obwoh oder weil mir die Winterreise ein so wichtiges Werk ist. Zender modernisiert das Werk- er bringt Gefühlsvaleurs von heute hinein, die einem Schubert nicht zu Gebote stehen konnten.


    Schuberts aus der Zeit Geworfen sein war sicher ein anderes als die moderne Entfremdung. Diese Dimensionen bringt Zender ein und es gelingt ihm hervorragend. Ich hatte an anderer Stelle bereits über die Brechungen im Lied "Nebensonnen" geschrieben, die einer Ver-Rückheit einen Namen geben, der Schubert und Wilhelm Müller noch nicht zu geläufig sein konnten.


    Zur Interpretation will ich nur kurz anmerken, dass ich das ensemble modern großartig, Blochwitz hingegen ziemlich farblos finde ( für als Fan dieser Stimme ein wirkliche Enttäuschung).

  • mir fällt zu zenders "kompositorischer interpretation" noch eine kleine beobachtung ein.
    es dürfte im jubiläumsjahr 1997 gewesen sein, da wurde im radiosender ö1 ein maler nationaler, oder zumindest lokaler grösse interviewt, der einen zyklus von 24 graphiken zur winterreise fertiggestellt hatte. er wurde auch nach seiner meinung zu zenders werk gefragt, das damals, so glaube ich mich zu erinnern, mit prègardien/klangforum/cambreling im wiener konzerthaus zu hören und zu sehen ("raumklang") war. der gute mann hat sich derart über den missbrauch eines grossen werkes aufgeregt, dass ich vor derartigen scheuklappen nur fassungslos grinsen konnte!
    ich meine zender ist eben ein komponist und kein maler, und beide (und einige andere, gerhard rühm z.b.) haben sich intensiv mit dem meisterwerk beschäftigt.
    das original wurde ja nicht zerstört.

  • Hallo!


    Da diese Doppel-CD



    derzeit für 7€ bei Zweitausendeins zu haben ist, frage ich nochmal nach:
    Was genau hat Zender aus der Winterreise gemacht, außer sie zu instrumentieren und Tempi zu ändern?
    Ist es (zumindest größtenteils) tonal?
    Wie stark wurde in das kompositorische Fundament von Schubert eingegriffen und auf welche Weise?


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Kaufen und hören!


    (Allerdings kenne ich nur die Prégardien / Cambreling - Aufnahme, die außerordentlich ist)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Sagitt meint:


    Die Gesangsstimme bleibt prinzipiell unverändert. Zender instrumentiert und interpretiert die Begleitung. Am Beispiel der Nebensonnen-Lied 23. Der Rhythmus wird verändert, der Eindruck entsteht, das Bewusstsein ist gespalten. Diese " Idee" konnte Schubert nicht haben, weil man keine Begriffe dafür kannte. Er konnte nur das Bild als solches vertonen.Ich finde die Zender-Version interessant,versucht sie doch, die Themen des Jahres 1827 auf die Jetzt-Zeit zu übersetzen.
    Seine eigene Interpretation mit dem ensemble modern ist großartig; Blochwitz stört nicht ( es ist gar eine meiner Lieblingsaufnahmen meines Lieblingssängers)

  • ich kann mich nur theophilus :hello: voll anschließen!


    ich hab jetzt meine beiden aufnahmen natürlich nicht am arbeitsplatz, gebe aber dem klangforum einen leichten vorzug vor dem ensemble modern (, nicht nur wegen prégardien und trotz zender! vielleicht, weil ich die live so umwerfend erlebt habe...)



    allein der beginn! wenn man's zum ersten mal hört, könnte man schon ungeduldig werden, so gespenstisch schleppend wird die szenerie aufgezogen.
    dann, wie ein sonnenstrahl durch eisige trübnis, ganz kurz ein, zwei takte des beginns der klavierstimme, aber mit gitarre oder mandoline (wenn ich mich recht erinnere :rolleyes: ).


    noch ein beispiel: lied 22 mut! "fliegt der schnee mir ins gesicht, schüttl' ich ihn herunter." dreimal muss der sänger ansetzen, um gegen den sturm sich durchzusetzen. das klingt jetzt vielleicht nach mickymausmusik, liegt aber nur an der beschreibung. daher: follow theo!


    :hello:aus schubert-town

  • Zitat

    Ich finde die Zender-Version interessant,versucht sie doch, die Themen des Jahres 1827 auf die Jetzt-Zeit zu übersetzen.


    Ich möchte hier nur kurz anmerken, dass der komplette Winterreise-Zyklus bereits in den 80er Jahren von Reiner Bredemeyer neu vertont wurde, wobei die Übersetzung der Themen von damals in die Jetztzeit auch hervorragend geklappt hat, ein wunderbar depressives Werk!


  • ... und wenn ich schon dabei bin, in einem Thread über ein Stück, das ich gar nicht kenne, mitzuposten, noch ein Verweis auf ein älteres Musikwerk, das offenbar ähnliche Aspekte aufweist:
    Re-Visionen von Dieter Schnebel aus den 70er bis 80er Jahren
    mit einer herrlich absurden Uminstrumentierung von Beethovens 5. Symphonie (Kopfsatz):


  • ja, gerade noch die kurve zum schubert gekriegt :D


    da muss man natürlich auf folgende 2 köstlichkeiten hinweisen:




    (da ist auch die schubert-phantasie von schnebel (1978 ) drauf)



    und:
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  • Hallo!


    Es hatte eine Weile gedauert, aber inzwischen kann ich mit der Zender-Winterreise viel anfangen. Ich finde die moderne Instrumentierung gelungen, besonders gut finde ich das erste Lied, "Gute Nacht", das Zender ordentlich "aufgemotzt" hat. Zudem hat er einige Passagen wie "von einem zu dem andern" mit heftigem Schlagwerk unterlegt und läßt den Sänger wie in einem Zornesausbruch singen.
    Interessant finde ich, daß Zender den Sänger an ein paar Stellen sprechen läßt, z.B. "Ihr lacht wohl über den Träumer, der Blumen im Winter sah".


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo,
    ich empfinde diese Zender-Interpretation als vollkommenen
    Unsinn.Die Interpretation hat ja schon Schubert genial
    besorgt.Wenn man das alles noch mal interpretieren muß,
    kann man natürlich auch z.B.die Beethoven-Sinfonien auf
    solche Art interpretieren,oder die Matthäus-Passion von Bach.
    Ich sehe da keinen Sinn drin.Die Gedichte von Wilhelm Müller
    hat Schubert auf einmalige,ergreifende Art vertont,
    da brauche ich zur Interpretation keinen Zender.



    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    Die Interpretation hat ja schon Schubert genial
    besorgt.


    Der Monteverdi hat ja die Noten auch schon alle genial verwendet. Warum alle späteren Komponisten nochmal dieselben Noten verwenden, kapiere ich nicht. :rolleyes:


    Oder noch besser:
    Shakespeare hat schon alle Buchstaben des lateinischen Alphabets verwendet. Warum die späteren Schriftsteller unbedingt dieselben Buchstaben benutzen müssen, ist mir nicht nachvollziehbar. Sollen die sich gefälligst ihre eigene Schrift ausdenken! :baeh01:


  • Es ist entfernt vergleichbar mit der Orchesterfassung der Bilder einer Ausstellung. Die Sinnhaftigkeit muss jeder für sich selbst entscheiden, aber ich empfinde es als eine interessante Bereicherung.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Robert,
    ich hätte nichts dagegen,wenn H.Zender die Müller-Lieder
    auch vertont hätte.Es gibt ja z.B.auch mehrere Vertonungen
    des Erlkönigs und vieler anderer Gedichte.Es gibt viele im
    Forum,die wettern gegen die Rimski-Korssakow-Fassung des
    Boris Godunow,die immerhin bei weitem näher am Original ist,
    als die Zendersche Winterreise.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Sagitt meint:


    gerade hörte ich Bierbichler, der die Winterreise,nein einige Lieder daraus in dem Film mit gleichnamigen Titel " singt". Wieder eine " Bearbeitung". Dieses Werk ist mir ein Leben lang wichtig. Sicher von allen Stücken am meisten gehört-ich postete dazu einmal. Wird mein Empfinden verletzt, wenn ich eine Bearbeitung höre ? Die Antwort ist Nein. Ich kenne so viele ergreifende Wiedergaben der Winterreise ( Anders,Fischer-Dieskau,Quasthoff), dass sich eigentlich nur die Frage stellt, was gibt mir diese Wiedergabe ? Bierbichler zeigt uns in aller Unvollkommenheit das vollkommen Zerbrochene. Zender modernsiert die Aussage,indem er Dimensionen hineinbrachte, die Schubert nicht zur Verfügung stehen konnten, Schizophrenie gab es Begriff nicht, wenn Zender im Lied Nr. 23 das so instrumentiert, ist das der Moderne geschuldet- interessant. Wenn das Henschel-Quartett das Klavier ersetzt, höre ich weitere Klangfarben, und ich bin sehr dankbar, dass es auch diese Version gibt. Die Lizst-Bearbeitung dieser Lieder hingegen finde ich eher überflüssig. Die Stimme fehlt und ist schlicht nur Klavier ersetzbar. Ansonsten- heilig ist mir Kunstwerk nicht ( so sind Komponisten mir ihren eigenen Werken auch nicht unbedingt umgegangen), sondern es bleibt immer die Frage, gibt mir diese Wiedergabe etwas .

  • Es ist kar wohl klar, daß ich - wer mich kennt weiß das - dieser Bearbeitung mit äußerster Skepsis begegnet bin.
    Aber letztlich handelt es sich um ein "Thema mit Variationen" (im weitesten Sinne des Wortes) - sowas hat es in anderer Form immer scon gegeben - Zudem halte ich das Ergebnis zumindest für beeindruckend UND musikalisch überzeugend. Das Original ist jedoch ein anderes Werk, aus einer anderen Ästetik heraus entwickelt und bleibt auch unangefochten.
    ich würde auch sagen es handelt sich um eine Komposition von Zender unter Verwendung von Schubert-Themen - Aber auch diese Bezeichnung würde dem Werk nicht gerecht......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo,
    ich finde es toll.
    Wenn ein Interpret die Winterreise von Zender interpretiert,
    interpretiert er die Interpretation einer Komposition.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Schuberts „Winterreise“
    Hans Zender: Schuberts »Winterreise« - eine komponierte Interpretation


    Ein Werk wie die ”Winterreise” ist eine Ikone unserer Musiktradition, eines der großen Meisterwerke Europas. Wird man ihm ganz gerecht, wenn man es nur in der heute üblichen Form – zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal – darstellt? (Hans Zender in: Notizen zu meiner Bearbeitung der Winterreise.)


    Die Darstellung der ”Winterreise” im Konzertsaal wird dem Werk womöglich ebensowenig gerecht, wie schon die Erstaufführung im Freundeskreis Schuberts im Herbst 1827, genau ein Jahr vor seinem Tod. Denn dort, wo üblicher Weise geselliges Beisammensein mit geistreicher Konversation und Gedankenaustausch im Künstlerkreis gepflegt wurde, wirkte der “Zyklus schauerlicher Lieder”, als welchen Schubert seine “Winterreise” selbst angekündigt haben soll, verstörend, geradezu erschreckend. Lediglich der ”Lindenbaum” soll in diesem Kreis auf positive Resonanz gestoßen sein.


    Dass ausgerechnet das ”Lindenbaum”-Lied noch am ehesten den Vorstellungen der vertraustesten Freunde Schuberts entsprach, und dass offensichtlich über dem vermeintlich idyllischen Beginn und Ende des Liedes die Abgründigkeit der mittleren Strophen vollständig überhört wurde, ist auch unter dem Gesichtspunkt seiner weiteren Rezeptionsgeschichte besonders bemerkenswert: Widerfuhr doch gerade diesem Lied bereits im 19. Jahrhundert durch die Bearbeitung für die Chorliteratur und die damit einhergehende Adaption als Volkslied eine erste Art der Neu-”Interpretation” – wenn auch in ganz anderem Sinne als dem Hans Zenders: Die im Original düstere, sich drastisch vom übrigen Kontext unterscheidende Strophe Die kalten Winde bliesen mir grad ins Angesicht, der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht wurde hier ebenso wie der Beginn der zweiten Strophe in Moll schlichtweg eliminiert, das Lied dadurch nahzu vollständig entproblematisiert. Denn gerade diese musikalischen Deutungsmomente geben sowohl dem Lied eine inhaltlich zentrale Stellung im ersten Teil des Zyklus, als auch dem Zyklus im Folgenden eine bestimmte Richtung vor: Die Todessehnsucht als letztes Manifest.


    Wie verfährt Hans Zender am Ende des 20. Jahrhunderts eingedenk seiner Interpretationsgeschichte mit dem Lindenbaumlied? Er lässt es weitgehend unangetastet, instrumentiert den Klavierpart lediglich, und zwar mit Hilfe der Bläserfarben tatsächlich auch ”romantisierend”. Doch immer wieder macht er an den Schlüsselstellen des Textes typische Mahlersche Instrumentationssymbole hörbar: Ein Becken, mit Schwammschlägel geschlagen, das für die Aura des Unheimlichen, Abgründigen, des namenlosen Entsetzens steht und das Tamtam als Todessymbol.


    Gustav Mahler, der ja zeitlich genau zwischen Schubert und Zender steht, dürfte auch als Schlüsselfigur, als Mittler der Interpretation Zenders fungieren: Ebenso wie Mahlers Musik, die das Ersterbende im Tradierten, das ideell Wahre wie auch das bereits Ausgehöhlte glasklar benennt, erst mit der Rezeption Adornos und die gesellschaftliche Befindlichkeit der Postmoderne offensichtlich genau den Nerv der Zeit traf, und Mahler dies mit seiner eigenen Aussage die Zeit für meine Musik wird erst noch kommen geradezu prophetisch voraussah, ebenso scheint auch die Zeit für Schuberts Winterreise erst mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert gekommen zu sein. Mit der Bereitschaft nämlich, sich hinter romantischem Sentiment auf die Suche zu begeben nach der eigentlichen Intention des Textdichters Wilhelm Müller und des Komponisten Franz Schubert, die auch mit der politischen und gesellschaftlichen Situation ihrer Zeit (die Zeit der sogenannten “Restauration”) zusammenhängt. Beide schufen teils aus dieser allgemeinen, teils aus ihrer persönlichen Situation heraus etwas, was ihrer eigenen Zeit noch weit voraus war.


    Zenders Kritik an der gängigen, für dieses Werk aber im Grunde überkommenen Aufführungspraxis ist für ihn Ausgangspunkt und Inspiration, dem Werk über seine missverstandene Bedeutung als unantastbares Monument unserer Musiktradition hinaus etwas von dem zurück zu erobern, was ihm im Wesentlichen diese Bedeutung im Grunde erst zukommen ließ.


    Dies gilt es - wie in jeder ”Interpretation” im Übrigen – auch nach individuellen Gesichtspunkten und Maßstäben für den heutigen Hörer gewissermaßen frei zu legen.


    Zender selbst beschreibt in seinen Notizen zu meiner Bearbeitung der Winterreise (Mai 1993) welche Gestaltungsmittel er dabei aufgriff:


    Meine “lecture” der Winterreise sucht nicht nach einer neuen expressiven Deutung, sondern macht systematisch von den Freiheiten Gebrauch, welche alle Interpreten sich normalerweise auf intuitive Weise zubilligen: Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten, Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen. Dazu kommen die Möglichkeiten des “Lesens” von Musik: innerhalb des Textes zu springen, Zeilen mehrfach zu wiederholen, die Kontinuität zu unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle zu vergleichen …


    All diese Möglichkeiten werden in meiner Version kompositorischer Disziplin unterworfen und bilden so autonome formale Abläufe, die dem Schubertschen Original übergelegt werden. Die Verwandlung des Klavierklangs in die Vielfarbigkeit des Orchesters ist dabei nur einer unter vielen Aspekten: keineswegs handelt es sich hier um eine eindimensionale “Einfärbung” sondern um Permutationen von Klangfarben, deren Ordnung von den formalen Gesetzen der Schubertschen Musik unabhängig ist. Die an wenigen Stellen auftretenden “Kontrafakturen” (also die Hinzufügung frei erfundener Klänge zur Schubertschen Musik als Vorspiele, Nachspiele, Zwischenspiele oder simultane “Zuspiele”) sind nur ein Extrem dieser Verfahrensweisen. Immerhin darf man sich erinnern, daß manche der großen Pianisten der Jahrhundertwende Überleitungen von einem Stück ihres Programmes zum nächsten zu improvisieren liebten … Eine andere extreme Möglichkeit, von der in meiner Bearbeitung Gebrauch gemacht wird, ist die Verschiebung der Klänge im Raum.


    Hier spätestens wird deutlich, daß alle beschriebenen formalen Kunstgriffe ja auch eine poetisch-symbolische Seite haben. Die Musiker selbst werden auf Wanderschaft geschickt, die Klänge “reisen” durch den Raum, ja sogar bis ins Außerhalb des Raumes. So werfen auch manche der früher beschriebenen Eingriffe ins Original ein Schlaglicht auf die poetische Idee des einzelnen Liedes. Schubert arbeitet ja in seinen Liedkompositionen mit klanglichen “Chiffren” um die magische Einheit von Text und Musik zu erreichen, welche insbesondere seine späten Zyklen auszeichnet. Er erfindet zum “Kernwort” jedes Gedichtes eine keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet. Die geschilderten strukturellen Veränderungen meiner Bearbeitung entspringen immer diesen Keimen, und entwickeln sie sozusagen über den Schubertschen Text hinaus: die Schritte in Nr. 1 und Nr. 8, das Wehen des Windes (Nr. 2, 19, 22), das Klirren des Eises (Nr. 3, 7), das verzweifelte Suchen nach Vergangenem (Nr.4, 6), Halluzinationen und Irrlichter (Nr. 9, 11, 19), der Flug der Krähe, das Zittern der fallenden Blätter, das Knurren der Hunde, die Geräusche eines ankommenden Postwagens …


    Auch stilistisch betrachtet enthalten ja die Spätwerke Schuberts Keime, welche erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung bei Bruckner, Wolf und Mahler aufgehen; an manchen Stellen der Winterreise ist man versucht zu sagen, daß der Expressionismus unseres Jahrhunderts schon avisiert wird. Auch diese Zukunftsperspektiven Schuberts will meine Bearbeitung aufzeigen – ebenso allerdings die Verwurzelung Schuberts in der Folklore. So werden schon im ersten Lied mehrere ästhetische Perspektiven überblendet: die Archaik von Akkordeon und Gitarre, die biedermeierliche Salonkultur des Streichquartetts, die extravertierte Dramatik der spätromantischen Sinfonik, die brutale Zeichenhaftigkeit moderner Klangformen …


    Für jedes Lied mußte im übrigen eine eigene Lösung gefunden werden, so daß sich die Gesamtheit des Zyklus wohl eher wie eine abenteuerliche Wanderung als wie ein wohldefinierter Spaziergang ausnehmen wird.


    Ein letzter Gedanke sei hier skizziert. Wird bei Schubert die Winterreise im zweiten Teil zunehmend zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod, der Abschied von der Geliebten zu einem Abschied vom Leben überhaupt, so zwang dies zu einer besonderen Strategie in der Gestaltung des Schlusses. Die am Anfang trotz aller Verfremdung noch eindeutige Beziehung zum historischen Original wird in meiner Bearbeitung immer labiler, die “heile Welt” der Tradition verschwindet immer mehr in eine nicht rückholbare Ferne. In Nr. 18 – “Stürmischer Morgen” – flattern die Strukturen Schuberts, analog zum Text, nur noch als (Wolken-) Fetzen “umher in mattem Streit” die freundliche Melodie von Nr. 19 – “Täuschung” – wird zu einer täuschenden Ausgeburt eines wie eine Idée fixe auftauchenden Einzeltones; in “Mut” pfeift der Wintersturm dem Leser (= Hörer) derartig um die Ohren, daß er ihn immer wieder zur Ausgangsposition zurückwirft. Der seltsame Gesang von den drei “Nebensonnen” wird als endgültiger Verlust der Realität gedeutet: der Notentext erscheint gleichzeitig in drei konkurrierenden Tempi, wobei es unmöglich ist, eines davon als Koordinatensystem für die beiden anderen zu nutzen…


    Beim “Leiermann” endlich verschwindet außer der zeitlich-metrischen Orientierung auch noch die harmonisch-räumliche Stabilität, indem durch immer neu hinzugefügte Unterquinten (abgeleitet aus dem 4. Takt des Schubert-Liedes) die Gestalten ihre “Beziehung zum Boden” verlieren und am Schluß gleichsam “in die Erde sinken”.


    Zender endet seine Erläuterungen, die er sechs Monate vor der Uraufführung formulierte, mit der Frage: Wird es möglich sein, die ästhetische Routine unserer Klassiker-Rezeption (...) zu durchbrechen, um eben diese Urimpulse [die Verstörung und den Schrecken, welche die Erstaufführungen im Freundeskreis Schuberts hervorriefen], diese existentielle Wucht des Originals neu zu erleben?


    Das Werk wurde am 21. September 1993 in Frankfurt am Main uraufgeführt und löste geradezu euphorische Publikumsreaktionen aus: Zenders “Interpretation” hat Schuberts ”Winterreise”, die in unserem allzu geschäftigen Kulturbetrieb zu reinem Kunstgenuss zu verkommen drohte, wieder etwas ihrer ursprünglichen Brisanz zurück gegeben.



    Christine Böhm aus dem Programmheft zitiert

    Freundliche Grüße Siegfried

  • danke.


    [in meinem beitrag oben, vom 17.3.06 hat sich übrigens das bild gewandelt! das jetzt zu sehende ist falsch, richtig wäre und war "schubert dialog", auch von tudor.]

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  • Sehr aufschlußreich! Ich nehme an, das Booklet ist in der Blochwitz-Aufnahme, wo Zender selbst dirigiert. Habe ich kurzentschlossen gebraucht für Euro 10 gekauft. Die Aufnahme mit Pregardien kostet erheblich mehr.

  • Zitat

    Original von observator
    danke.


    [in meinem beitrag oben, vom 17.3.06 hat sich übrigens das bild gewandelt! das jetzt zu sehende ist falsch, richtig wäre und war "schubert dialog", auch von tudor.]


    jetzt hamsies wieder korrigiert (nachdem ich sie darauf aufmerksam gemacht hatte) :]

  • Wir besprachen in der Schule kürzlich die Winterreise, und ganz kurz kam da auch dieses Werk von Zender auf den Speiseplan. Mir persönlich gefiel der Leiermann, den wir hörten, ganz außerordentlich - das ensemble modern (spielt da meines Wissens) schafft aus dieser Musik ein wirkliches Bewegen des Zuhörers (mit den Verschachtelungen der "Leier"), es taten sich zumindest mir wirklich ganz neue Wege auf - ganz subjektiv. Einfach geniale Musik!!!
    Objektiv - vielleicht fehlt uns so etwas öfter, dieser schöpferische Umgang mit vor Jahrhunderten notierter Musik, quasi die Übersetzung in die Jetzt-Zeit. Eine Verschandelung würde ich es nicht nennen - dazu ist es viel zu gut gemacht und teilweise auch zu weit weg vom Original, vielleicht fehlt uns, um das als Hörer aber auch wirklich gut annehmen zu können, oftmals aber auch die Fähigkeit, total offen an alte Dinge im neuen Gewand (was macht Jean Guillou mit seinen Orgelinterpretationen?) heran zu gehen, vielleicht durchaus (was selbige nicht konterkarieren soll!!!) alle Musikwissenschaft und alle Gewohnheit über Bord zu werfen und einfach nur empfinden zu können....
    Viele Grüße

    Bach ist Anfang und Ende aller Musik

  • Zitat

    Original von sebastian
    [...] alle Musikwissenschaft und alle Gewohnheit über Bord zu werfen und einfach nur empfinden zu können....
    Viele Grüße


    Ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass das Zenders Intention war.
    :hello:

  • Auf meiner Entdeckungsreise durchs Klassikforum bin ich auf diesen Thread gestoßen. Die CD-Einspielung mit Blochwitz besitze ich seit deren Erscheinen und sie gefiel mir damals sehr gut!


    Dieser Thread ist ein feine Erinnerung, die CD mal wieder hervorzukramen und anzuhören!


    Liebe Grüße
    vedriel

  • jetzt hatte ich auch mal die Gelegenheit diese Interpretation zu hören.


    Also ich brauche sie nicht unbedingt, es ist sicherlich mal eine interessante Erfahrung - aber ich finde gerade durch diese Instrumentierung verlieren die Lieder viel mehr als sie gewinnen.


    Dass der Sänger einfach nur von einem Klavier / Fortepiano begleitet wird erscheint mir persönlich schlüssiger. Es unterstreicht die Einsamkeit und Melancholie.


    Für mich passt das was Zender gemacht hat nicht so wirklich.



    Und wie ja schon mehrfach geschrieben wurde, die Idee an sich ist ja auch nicht neu.

  • Also - ich finde die Winterreise Zender/Schubert gelungen.......


    stellenweise irritierend, am Anfang musste ich an Brecht/Weil denken, dann wieder recht nahe am Original. Blochwitz sehr gut. Spannend ist diese "Merkwürdigkeit"auf jeden Fall.


  • Also - ich finde die Winterreise Zender/Schubert gelungen.......

    Das war meine erste Winterreise - ein Geschenk meiner Mutter. Sie bleibt mir die liebste Einspielung.

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Meine Liebste - das weiß ich nicht, viele originale finde ich auch mehr als wunderbar. Noch eine "modifizierte" mit Streichquartett ist auch sehr gelungen :


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