Johann Sebastian Bach: Das Weihnachtsoratorium

  • Ich habe Bach im alten Stil und im HIP-Stil gesungen, da denke ich, dass derjenige, der "wenig Verständnis" hat, du bist und nicht ich.

    Dieser Glaube sei dir gegönnt.

    Aber lies doch bitte mal das hier:

    Ich befürchte, dass Dr. Pingel die Ausführungen von Helmut Hofmann nicht ganz erfasst hat. Wer wie oft und in welchem Stil Bach gesungen hat, ist nämlich für Helmuts Aussage irrelevant. Er hat eine progressistische Grundhaltung der musikalischen Interpretation kritisiert, und damit liegt er m. E. richtig.

    Ich denke, Dr. Pingel, wir sollten es damit gut sein lassen. Wir sind, was das Verständnis der Interpretation klassischer Musik anbelangt, unterschiedlicher Meinung, für mich aber ist es ohne Belang, ob ich mit der meinigen im Recht bin oder nicht.

    Damit bin ich hier raus.

  • Zeitgebunden oder doch mehr individuell?

  • Wir lassen es gut sein und freuen uns schon auf die nächste Richterdebatte zu Ostern, weil da gleich zwei Passionen diskutiert werden müssen. Nur eine Sache ist mir aufgefallen. Die Richter-Fans hier sind alle mehr theoretisch begabt, während die Musiker (Sänger, Instrumentalisten) sich hier nicht betätigen; sie proben fleißig ihren hippen Bach und beschäftigen sich nicht mit Richter, den die jüngeren auch gar nicht mehr kennen.

    Was ich jetzt wieder gelernt habe, ist, dass ich offensichtlich keine Ahnung habe, was ich da singe. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich froh, dass mir das beim Singen auch nicht einfällt.

    Ein Tamino hat sich bei mir zum Interview angemeldet mit den Themen Weihnachtsoratorium und Polyphonie. Das wird nächste Woche erscheinen, natürlich nicht hier im Kloster Richtersberg.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Die Frage, wie Musik zu bestimmten Zeiten aufgeführt worden ist, ist zweifelsohne eine wissenschaftliche. Die Frage, wie wir Musik heute aufführen, ist dies aber nicht - dies ist eine ästhetische Fragestellung. Man kann diese Fragestellung mit dem Ansatz beantworten, die Musik möglichst wie zu ihrer Entstehungszeit aufführen zu wollen, muss dies aber nicht.


    Insofern ist es auch nicht zwingend ein Widerspruch, wenn die HIP-Szene solche wissenschaftlichen Erkenntnisse partiell ignoriert.

    Es ging ja ums "Progressistische". In der "Historisch informierten Praxis" ist durch den Aspekt des "Informiertseins" eben der Fortschritt drinnen. Wenn die Informiertheit fortschreitet, kann die Praxis nicht stehenbleiben, ohne den Status der Informiertheit zu verlieren.

  • Es ging ja ums "Progressistische". In der "Historisch informierten Praxis" ist durch den Aspekt des "Informiertseins" eben der Fortschritt drinnen. Wenn die Informiertheit fortschreitet, kann die Praxis nicht stehenbleiben, ohne den Status der Informiertheit zu verlieren.

    Die Praxis kann sowieso nicht stehen bleiben, weil sie auf weit mehr als nur "Informationen" beruht. Und "informiert" kann sie auch sein, wenn sie Informationen zwar hat, aber ignoriert, wie das z.B. mit dem Wissen um die historische Portamento-Praxis bei Streichinstrumenten in aller Regel gemacht wird. Heutzutage versuchen bzw. behaupten die meisten Barock-Interpreten zwar trotzdem, auf der Basis historischer Informationen zu gestalten, aber mir fällt kein Grund ein, warum der "Fortschritt" in Zukunft nicht gerade darin liegen sollte, statt der "Informationstreue", die wie gesagt ja ohnehin immer nur partiell ist, ganz andere Konzepte zu entwickeln. Das ist, wie Symbol richtig geschrieben hat, eine ästhetische Frage.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Was ich jetzt wieder gelernt habe, ist, dass ich offensichtlich keine Ahnung habe, was ich da singe.


    Wie kommst Du darauf? M. E. hat das niemand hier behauptet.


    Es ging ja ums "Progressistische". In der "Historisch informierten Praxis" ist durch den Aspekt des "Informiertseins" eben der Fortschritt drinnen. Wenn die Informiertheit fortschreitet, kann die Praxis nicht stehenbleiben, ohne den Status der Informiertheit zu verlieren.


    Das "Informiertsein" ist aber nur dann ein Fortschritt, wenn es für die ästhetische Konzeption der musikalischen Darbietung eine Rolle spielt. Anders gesagt: Wenn man Bach aufführt mit der Konnotation, dass man möglichst einer barocken Musizierweise nacheifern möchte, dann ist das historische "Informiertsein" natürlich ein Fortschritt. Wenn man Bach aufführt und sich um das Nacheifern einer barocken Musizierweise wenig schert, dann ist das "Informiertsein" von recht randständiger Bedeutung.


    Und wie ChKöhn vollkommen zutreffend geschrieben hat: Das "Informiertsein" schließt ja nicht aus, dass man die damit verbundenen Erkenntnisse für die Aufführung ignoriert. Dann ist es aber eigentlich auch nicht allzu wichtig, wie "informiert" man ist...


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Die Richter-Fans hier [...]


    Hierzu noch ein Nachtrag. Ich würde mich jetzt nicht direkt als "Richter-Fan" bezeichnen, aber ich gebe gerne zu, dass ich manchmal von diesem ganzen HIP-Gedöns mit Kleinst-Besetzungen, gehetzten Tempi, schabenden Streichern, knarzenden Bläsern und Gesangs-Solist/innen, die ziemlich nach einem Pulmologen-Wartezimmer klingen, die Nase voll habe. Dann genieße ich große Besetzungen, Streicher mit viel Vibrato und Sänger/innen, die wahrscheinlich auch Hauptpartien in italienischen Opern stemmen könnten. Polemik-Modus aus... ^^:untertauch:


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Und wie ChKöhn vollkommen zutreffend geschrieben hat: Das "Informiertsein" schließt ja nicht aus, dass man die damit verbundenen Erkenntnisse für die Aufführung ignoriert. Dann ist es aber eigentlich auch nicht allzu wichtig, wie "informiert" man ist...


    LG :hello:

    Das sind doch evidente Sophistereien :P Der Kurztückmeister hatte doch klar geschrieben, dass die Praxis nicht stehenbleiben kann. Daraus folgt für mich notwendig, dass innerhalb dieser Aussage die 'Informationen' in die Praxis eingehen und diese nach wissenschaftlichen Erkenntnissen verändern bzw. voran bringen. So verstanden ist für mich nicht das geringste gegen hippe Aufführungen zu sagen.

    Dass die erwähnten Schlüsse für die Praxis sehr unterschiedlich ausfallen und längst nicht alle der angenommenen barocken Musizierweise konsequent nachfolgen ist ein Folgeproblem. Christian erwähnte Portamento, an anderer Stelle ging es schonmal um die Knabensopräne, die bei Harnoncourt noch zu finden sind, später aber immer seltener. Auch hier wägt man ja wieder ab, ob die musikalische Qualität bzw. das Ausdruckssprektrum mit 'echten' Sopränen nicht größer ist. Heraus kommt dann ein Mix, der historisch informiert ist und aus dieser Informiertheit durchaus Konsequenzen zieht, andere Informationen aber ignoriert bzw. nach eigenen ästhetischen Konzepten variiert. Ob das wiederum verwerflich ist, ist dann die nächste Folgefrage.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Das sind doch evidente Sophistereien :P Der Kurztückmeister hatte doch klar geschrieben, dass die Praxis nicht stehenbleiben kann. Daraus folgt für mich notwendig, dass innerhalb dieser Aussage die 'Informationen' in die Praxis eingehen und diese nach wissenschaftlichen Erkenntnissen verändern bzw. voran bringen. So verstanden ist für mich nicht das geringste gegen hippe Aufführungen zu sagen.


    Es ist per se (von meiner kleinen Polemik mal abgesehen ;)) ohnehin nichts gegen "HIP-pe" Aufführungen zu sagen (es sei denn, sie sind schlecht gemacht). Es ist aber sehr wohl etwas gegen die Überlegung zu sagen, dass die HIP-pe Musizierweise eine Art von Fortschritt (gegenüber was auch immer) darstellt. Es ist ein möglicher ästhetischer Ansatz, mehr nicht.


    Der Begriff des Fortschritts ist in der Musik ohnehin nicht ganz unproblematisch, aber in Bezug auf Kompositionen kann ich zumindest eine gewisse objektive Nachvollziehbarkeit erkennen, wieso man z. B. Schönberg als "fortschrittlicher" einstuft als Richard Strauss.


    Bei musikalischen Interpretationen hingegen halte ich den Begriff des Fortschritts für nahezu unanwendbar, weil nicht klar ist, welche Parameter man damit meint. In gewisser Hinsicht könnte man einen Karl Richter sogar als fortschrittlicher ansehen als einen Harnoncourt, weil in Richters Aufführungen Erkenntnisse zu barocken Musizierweisen und seinerzeit aktuelle musikalische Strömungen sich-überlagernd eingegangen sind. Harnoncourt hingegen hat im Wesentlichen etwas zu rekreieren versucht, was es etwa 250 Jahre zuvor schon gegeben hatte. Eigentlich gehört also er ins Museum, nicht der gute Richter. :)


    Hiergegen lassen sich natürlich wiederum gute Argumente finden, was aber m. E. nur belegt, wie zeitgebunden musikalische Aufführungspraxis ist und wie ungenügend wir ihren Phänomenen mit Vorstellungen von "Fortschritt" beikommen können.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Der Kurztückmeister hatte doch klar geschrieben, dass die Praxis nicht stehenbleiben kann. Daraus folgt für mich notwendig, dass innerhalb dieser Aussage die 'Informationen' in die Praxis eingehen und diese nach wissenschaftlichen Erkenntnissen verändern bzw. voran bringen.

    Nein, das folgt daraus keineswegs notwendig: Genauso wäre es möglich, dass Musiker jetzt oder in Zukunft wissenschaftliche Informationen zur Kenntnis nehmen (oder auch nicht), aber ihre Interpretationen auf ganz anderer Basis errichten. Warum soll das prinzipiell weniger "nach vorn" bringen? Und was heißt "vorn" hier eigentlich?

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Nein, das folgt daraus keineswegs notwendig: Genauso wäre es möglich, dass Musiker jetzt oder in Zukunft wissenschaftliche Informationen zur Kenntnis nehmen (oder auch nicht), aber ihre Interpretationen auf ganz anderer Basis errichten. Warum soll das prinzipiell weniger "nach vorn" bringen? Und was heißt "vorn" hier eigentlich?

    "vorn" heißt weiter. Also in welcher Weise auch immer verändert zum vorhergehenden Modus, völlig ohne Wertung.


    In gewisser Hinsicht könnte man einen Karl Richter sogar als fortschrittlicher ansehen als einen Harnoncourt, weil in Richters Aufführungen Erkenntnisse zu barocken Musizierweisen und seinerzeit aktuelle musikalische Strömungen sich-überlagernd eingegangen sind. Harnoncourt hingegen hat im Wesentlichen etwas zu rekreieren versucht, was es etwa 250 Jahre zuvor schon gegeben hatte. Eigentlich gehört also er ins Museum, nicht der gute Richter. :)

    Der Aussage kann ich innerhalb unserer Prämissen hier zustimmen. Richters (und einiger Zeitgenossen) Bach vermischt in der Tat beides. Etwas das ich Richter übrigens - ohne dass ich ihn deshalb häufiger Hören würde - hoch anrechne, denn in seinem Musizieren und seinem Nachdenken über Bach- bzw. Barockmusik finden sich 'informierte' Elemente. Und zum Museum: Wie sagte Rheingold weiter oben: Ich gehe sehr gerne ins Museum. Ein Museum versucht ja gerade Historisches im Jetzt zu präsentieren.

    Es ist per se (von meiner kleinen Polemik mal abgesehen ;) ) ohnehin nichts gegen "HIP-pe" Aufführungen zu sagen (es sei denn, sie sind schlecht gemacht). Es ist aber sehr wohl etwas gegen die Überlegung zu sagen, dass die HIP-pe Musizierweise eine Art von Fortschritt (gegenüber was auch immer) darstellt. Es ist ein möglicher ästhetischer Ansatz, mehr nicht.

    Das "schlecht gemacht" ist ja ein interessanter Punkt. Innerhalb dieses spezifischen ästhetischen Ansatzes (den ich persönlich vor anderen deutlich präferiere) hat es in den letzten 30 bis 40 Jahren bemerkenswerte Entwicklungen gegeben. Frühen Harnoncourts bzw. Leonhards merkt man oft noch die Unsicherheit im Handling der historischen Instrumente an. Wobei diese Aufnahmen dennoch in der Regel auf einem Niveau sind, das keinesfalls als schlecht zu bezeichnen ist.

    Um beim WO zu bleiben: Interessant ist da ein Vergleich zwischen zwei Harnocourt-Einspielungen mit dem Concentus Wien. Zunächst von 1973

    und dann von 2007

    Es fällt vor allem auf, dass die späte Aufnahme nahezu alle Sätze teilweise deutlich zügiger und virtuoser nimmt. Bläserarien zeigen bei der 73er-Einspielung noch die damals nicht untypischen kleinen Unsicherheiten auf, derartiges lässt sich 2007 nicht mehr feststellen. Musikalisch gefällt mir übrigens dennoch die frühe Aufnahme größtenteils besser (auch wenn ich mir aus beiden ein Ideal-Harnoncourt- WO basteln würde), weil sie für mich tiefer geht, während in der späten manches ein wenig mit Virtuosität zugekleistert wird. Sie enthält kaum Momente in denen für mich gilt: "Gott zur Ehre und den Menschen zu Herzen"

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • "vorn" heißt weiter. Also in welcher Weise auch immer verändert zum vorhergehenden Modus, völlig ohne Wertung.

    Das entspricht zwar nicht meinem Sprachverständnis von "voranbringen", aber wenn Du es nur allgemein als "Veränderung" meinst, stimme ich zu. Wenn diese Veränderung allerdings in jeder Richtung stattfinden kann, steht das im Widerspruch zu Deiner Aussage, dass sie "notwendig" wissenschaftlichen Erkenntnissen zu folgen habe. Das wäre dann eben nur eine von vielen Möglichkeiten, unter denen die Interpreten sich entscheiden müssen. Dass der Begriff der "historischen Aufführungspraxis" durch den der "historisch informierten" abgelöst wurde, ist doch gerade Ausdruck dieser Ablehnung von wissenschaftlich begründeten Zwängen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Hierzu noch ein Nachtrag. Ich würde mich jetzt nicht direkt als "Richter-Fan" bezeichnen, aber ich gebe gerne zu, dass ich manchmal von diesem ganzen HIP-Gedöns mit Kleinst-Besetzungen, gehetzten Tempi, schabenden Streichern, knarzenden Bläsern und Gesangs-Solist/innen, die ziemlich nach einem Pulmologen-Wartezimmer klingen, die Nase voll habe. Dann genieße ich große Besetzungen, Streicher mit viel Vibrato und Sänger/innen, die wahrscheinlich auch Hauptpartien in italienischen Opern stemmen könnten. Polemik-Modus aus... ^^:untertauch:


    LG :hello:

    Das ist ja eine erfrischende Provokation, die durchaus Merkmale beschreibt, die von von Anfang an auch mein Missfallen erregt haben. Die erste Serie von Harnoncourts Bachkantaten fand ich mehr als befremdlich; dünn besetzt, gehetzt, zu schnell im Sinne von hastig. Dazu auch nicht immer gute Sänger (bei Kurt Equiluz musste ich immer sofort weg schalten).

    Nun, die Zeiten haben sich gewandelt. Ich gehe seit Jahren hier in der Philharmonie in die Reihe "Alte Musik bei Kerzenschein". Da findet man die besten Alte-Musik-Ensembles Europas, z.T. durchaus große Ensembles, z.B. die "Musiciens du Louvre".

    An Pracht und Präzision, also an Qualität, habe ich noch nie einen Ausrutscher, wie du ihn beschreibst, erlebt. Allerdings kenne ich die meisten Ensembles oder sehe bei YT nach. Aber gerade auch bei YT findet man durchaus die von dir beschriebenen Untugenden.

    Nur: manche dieser oben genannten Merkmale treffen auch auf Richters Aufführungen zu, etwa die "Opernarien" in der Matthäuspassion. Dort ist auch der Bachchor, besonders der Sopran, nicht immer auf der Höhe, sei es wegen der Masse oder wegen der Überalterung.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich vermute, dass besonders beim WO (Familien-)Traditionen und liebgewonnene Hörrituale eine besonders große Rolle spielen. Eben weil die Advents- und Weihnachtszeit aus vielen solcher persönlichen und allgemeinen Traditionen besteht.

    Genau, derartige Prägung ist auch für meine Begriffe das Stichwort, lieber Tristan. Du verweist dann auf die Einspielung unter Martin Flämig aus Dresden, die mittlerweile ohne Frage ebenfalls schon den Status eines Klassikers besitzt. Sie war von Eterna 1974/75 wohl als Ergänzung zur von mir genannten 1958er Leipziger Aufnahme unter Kurt Thomas konzipiert und ist in ihrem Ansatz wohl dezent "moderner". Wahrscheinlich wollte man zudem auch den zweiten berühmten Knabenchor der DDR zum Zuge kommen lassen. Wir hatten mal ein Mitglied im Forum, das durch die Thomas-Einspielung so geprägt war, dass es bei Flämig bereits den Eingangschor unerhört schnell empfand. Nüchtern betrachtet, ist Flämig mit 8 Minuten moderat unterwegs; Thomas kommt auf knapp 9 Minuten. Das zeigt wiederum, wie sehr die seit Kindheitstagen verinnerlichte Interpretation prägen kann.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium BWV 248 war für die Zeit zwischen dem 24. Dezember und 6. Januar konzipiert.


    Die sechs Teile wurden vom Thomanerchor in Leipzig in den sechs Gottesdiensten zwischen dem ersten Weihnachtsfeiertag 1734 und dem Epiphaniasfest 1735 in der Nikolaikirche und der Thomaskirche aufgeführt.


    Den Bauplan finde ich hilfreich, wenn man die einzelnen Teile in Bezug zueinander setzt. Der schwarze Balken gibt an, dass Bach musikalisches Material aus bereits bestehenden Werken verwendet hatte.

    Wikipedia klärt uns auf: Beim sogenannten Parodie-Verfahren handelt es sich nicht um eine „Eins-zu-eins“-Übernahme der früheren Komposition mit neu unterlegtem Text. Bach transponiert die Stücke in andere Tonarten, verlangt dann auch andere Vokal- und Instrumentalbesetzungen und deutet den neuen Text an verschiedenen Stellen musikalisch neu aus.


    Eine gewisse Ökomonie der Kräfte finde ich legitim. Bach hatte wöchentlich für Musik im Gottesdienst zu sorgen. Er war ein fleissiger Komponist, doch muss man bei aller Kunstfertigkeit auch bedenken, dass seine Musik Gebrauchsmusik war.


    2560px-Bach_Weihnachtsoratorium_Struktur.svg.png

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Hallo moderato,

    vorab: alles Gute zum neuen Jahr.

    "Eine gewisse Ökomonie der Kräfte finde ich legitim. Bach hatte wöchentlich für Musik im Gottesdienst zu sorgen. Er war ein fleissiger Komponist, doch muss man bei aller Kunstfertigkeit auch bedenken, dass seine Musik Gebrauchsmusik war."

    Vielleicht kannst Du nun verraten, welche Musik keine "Gebrauchsmusik" ist. Die Kirche brauchte ihre Musik wie die Höfe. Unzählige Noten wurden gedruckt, damit Schüler und Liebhaber (vulgo "Dilettanten") etwas zum Spielen hatten, die Komponisten hingegen brauchten das Geld. Selbiges gilt für die öffentlichen Konzerte: Hauptsache für den Komponisten war, dass die Kasse klingelte, also reine Gebrauchsmusik.

    Man sollte sich vor Idealisierungen hüten.

  • Vielleicht kannst Du nun verraten, welche Musik keine "Gebrauchsmusik" ist. Die Kirche brauchte ihre Musik wie die Höfe. Unzählige Noten wurden gedruckt, damit Schüler und Liebhaber (vulgo "Dilettanten") etwas zum Spielen hatten, die Komponisten hingegen brauchten das Geld.

    Dass Musik Gebrauchsmusik ist, ist sicher oberflächlich (in Teilen) richtig, aber ja gerade der Aspekt, der mich heute nicht mehr interessiert. Was sollte mich an Musik interessieren, solange sie sich im Gebrauch für einen Gottesdienst des 17. oder 18 Jahrhunderts erschöpft. Dass Bach heute noch gehört wird, liegt eben daran, dass seine Musik den angedachten Zweck transzendiert.


    Dazu muss man auch konstatieren, dass zum Beispiel mit Beethovens späten Streichquartetten Musik zur Verfügung stand, bei der der Titel "Gebrauchsmusik" abwertend ist. Natürlich kann der eine oder andere die "Große Fuge" rezipieren, aber ihr Sinn erschöpft sich nicht im Ansatz darin, dass sie für einen vordefinierten Zweck gebraucht wird.


    Die Musik Alkans ist mit ziemlicher Sicherheit einfach aus dem musikalischen Bedürfnis des Komponisten entstanden. Eine einfache Verwendung war zur Entstehungszeit ausgeschlossen. Milton Babbitt schreibt Musik, die sich einem "Gebrauch" sofort entzieht. Schönbergs Musik entstand aus wesentlich musikalischen Überlegungen, obwohl Schönberg es sicher geliebt hätte, wenn man seine Musik verstanden und genossen hätte :)

  • Lieber Bachianer


    Gebrauchsmusik für die Dienstherren wurde von mir im Gegensatz zu den Werken des 19. Jahrhunderts verwendet, die anderen ökonomischen Gegebenheiten folgten. Der Musiker des Barocks war verpflichtet abzuliefern. Das stelle ich mir als harte Seite des damaligen Komponistendaseins vor. Es ist damit auch nichts über die Qualität der Musik gesagt. Mit dem aufkommenden Notendruck änderte sich die wirtschaftliche Basis der komponierenden Musiker. Man konnte ausserhalb des Dienstverhältnisses Geld verdienen. Der zur Zeit Johann Sebastian Bachs lebende Georg PhilippTelemann war Meister in der Vermarktung seiner gedruckten Werke.

    Die idealisierte Vorstellung des Musikers, der für die Schublade schrieb, kam später auf.

    Das Parodie-Verfahren ist in meiner Einschätzung ein legitimes Mittel zum Zweck. Es ist bemerkenswert, wie viel bestehendes musikalisches Material Johann Sebastian Bach verwendet hatte, wenn man die Grafik studiert.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Lieber astewes, moderato,

    schon bei dem Anführen der späten Quartette Beethovens kommen hinsichtlich "keine Gebrauchsmusik" schwere Bedenken auf. Die Opera 127, 130, 132 wurden für den Fürsten Galitzin komponiert. Wörtlich aus dem Brief Galitzins an Beethoven: "un, deux ou trois nouveaux Quatuors AVEC RECONNAISSANCE!!! Klartext: dafür gab es Kohle! Opus 133 und 134 (große Fuge) ging an Erzherzog Rudolph, Opus 135 an Johann Wolfmayer. Das waren also Gebrauchsmusiken für "Kenner". Das "Dienstverhältnis" waren eben nicht mehr Kirche oder Hof, sondern das Portemonnaie!

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Das Parodie-Verfahren ist in meiner Einschätzung ein legitimes Mittel zum Zweck. Es ist bemerkenswert, wie viel bestehendes musikalisches Material Johann Sebastian Bach verwendet hatte, wenn man die Grafik studiert.

    Ich kann mich erinnern, als ich im Radio zum ersten Male "Herkules am Scheidewege" hörte und das meiste aus dem Weihnachtsoratorium kannte. Auch "Tönet, ihr Pauken" kennt man ja inzwischen, wobei dieser Text ja auch besser zur Musik passt.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)