Heute gilt Varèse als wichtigster amerikanischer Komponist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben Ives, obwohl er kein Amerikaner ist.
Außerdem gilt er mitunter als der radikal-modernste dieser Zeit und einflußreichste für die Nachkriegsavantgarde neben Webern obwohl im Gegensatz zu dessen kristalliner Reihenmusik die Vorbildfunktion Varèses weniger deutlich zutage tritt.
Angenehmerweise hinterlies er uns nur ein überschaubares Werk (auch das wie Webern), allerdings weil er 1. alles, was vor seiner Einreise in die USA entstand, vernichtete und 2. lange Komponierpausen hatte (nicht wie Webern).
Sein radikaler Neubeginn ist allerdings doch nicht so punktuell, wie die Vernichterei älterer Werke vermuten ließe, in Ameriques für Orchester und Offrandes für Sopran und Ensemble ist noch mach impressionistischer Klangeffekt neben dem dominierenden Blech und Schlagzeug, das die traditionelle Ballance des Orchesters umdreht und in Verbindung mit der Vorliebe für möglichst laute Instrumentnutzung einen radikal neuen Gesamtklang anstrebt, der dem starken Eindruck der amerikanischen Großstadt angemessener sein sollte und dürfte, als impressionistische Düfte.
Der "Reinigungsprozess" der Varèseschen Musik ist erst in Hyperprism abgeschlossen, einem 4-minütigen Werk für kleine (aber laute) Besetzung, in der die knappen, anrufungsartigen Motive, die dissonanten Akkordballungen, die vielleicht bisweilen eher als (agressive) Klänge denn als Akkorde wahrgenommen werden, und die gleichmäßige Schlagzeug(über)präsenz ohne Zutaten aus traditioneller Gestaltung musikalischer Abläufe auskommen.
Erstaunlicherweise folgt mit Octandre ein Werk, das sowohl in Besetzung (7 Bläser + Kontrabaß) als auch in der Form (Mehrsätzigkeit, Fugato(?)elemente im letzten Satz) Klassizismen aufweist. Diese erfüllen aber ihre Funktion m.E. vorbildlich, indem die Rolle der einzelnen Instrumente pro Stück z.T. gut durchhörbar ist und Entwicklungsmöglichkeiten angeschnitten werden, die das etwas monolithische Hyperprism vielleicht nicht direkt verspricht.
Diese Mutationen einfacher Motive erreicht ihren Höhepunkt in dem absolut umwerfenden Arcana für großes Orchester, in dem die Gewaltexzesse entfesselter Orchestermassen oft in nachvollziehbarem Zusammenhang zum Urmotiv und seinen Ableitungen stehen. Aber welch emotionale Macht er mit seinen karg-strengen Materialien entfaltet ist unfassbar.
Für seine Motivarbeit hat er das Bild des gleichnamigen Werks Intégrales geprägt, das Projiziertwerden des Materials auf unterschiedliche Ebenen. Leider nicht immer hörend nachvollziehbar und gerade in Intégrales etwas trocken und langatmig.
Um in der Physik zu bleiben: Ionisation für Schlagzeug allein (jaaa, das Klavier ist ein Schlaginstrument) ist wieder eine klassizistische Sache: Ein Sonatenhauptsatz ohne bestimmbare Tonhöhen vor der Coda.
Vielleicht das kusioseste aus Varèses Feder ist Ecuatorial für Männerchor, Orgel, Ondes-martenots und natürlich Blech und Schlagzeug. Der Männerchor archaisiert vor sich hin während die schrillen Ondes-martenots und weniger schrillen Orgeleinwürfe ganz eigenartige Verbindungen mit dem klassischen Varèse-Instrumentarium eingehen.
Density 21.5 für Flöte ist dann ein Ausnahmewerk, bevor Varèse in der Hoffnung auf elektronisches Equipment, das seinen Intentionen weitere Möglichkeiten bieten solle, in Komponierpause geht.
Der ausbrechende Tonband-Boom der 50er sieht dann in Poeme electronique Varèse dabei, seine Träume zu realisieren, wobei er gewissermaßen stilistisch wieder nach Frankreich zurückkehrt, nämlich zur musique concrète ...
Glücklicherweise nahm er sich aber auch noch einmal der guten alten (Blechblas- und Schlag)instrumente an (jaja ich weiß, Holz ist auch dabei) und schaffte mit Deserts eine weitere Steigerung an Kargheit was Melodie(un)seeligkeit betrifft. Die (eventuell durch Tonbandpassagen getrennten) musikalischen Wüsten sind in ihrer abweisenden Blockhaftigkeit tatsächlich den viel jüngeren Nachkriegsavantgardekollegen (Xenakis) viel näher als den Werken der Gleichaltrigen (aus Varèses Jahrgang stammen Bax, Casella, Klenau, Hauer und Webern).
Welche Werke habt ihr lieber, welche weniger lieb (ranking), welche Aufnahmen sind besser/schlechter, über welches Werk habe ich nur Käse verzapft?